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Die historische und gesellschaftliche Kontroverse zur Substitution Opiatabhängiger

Vom Morphin zur Substitution

©2004 Diplomarbeit 83 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Das Ziel dieser Arbeit stellt sich für mich als Auseinandersetzung mit der historischen und gesellschaftlichen Kontroverse um eine Substitution von Opiatabhängigen dar. In chronologischer Reihenfolge werden in dieser Arbeit die historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge beschrieben, in denen Opioide konsumiert wurden. Dabei soll der Einfluß politischer, kultureller und gesellschaftlicher Interessen auf den Umgang mit den Opiaten und den Konsumenten untersucht werden.
Im jeweiligen historischen Kontext kam es immer wieder zu gesellschaftlichen Prozessen der Ausgrenzung, Kriminalisierung und/oder Pathologisierung von süchtigen Menschen.
Die Drogenpolitik, verstanden als ‚politischer Umgang mit dem Drogenproblem’, die Gesetzgebung und die wirtschaftlichen Interessen die sich auf dem Schwarzmarkt und in der ‘legalen’ Wirtschaft, bzw. Pharmazie niederschlagen, bestimm(t)en die gesellschaftliche Kontroverse um eine Substitution der Opiatabhängigen. Im Laufe der Geschichte hat es eine lange Reihe von verschiedenen Opioiden gegeben, die sich auf dem Markt ablösten, um das Suchtproblem (in Bezug auf Opiate) auf chemischen Wege zu lösen. Ebenso wurden Substitutionsmittel eingesetzt, die anschließend oft wieder aus der Verfügung genommen und damit ‘illegal’ wie auch interessant für den Schwarzmarkt wurden.
Nach Schätzungen wurden im Jahr 2001 bereits 30– 50% der Heroinabhängigen in Deutschland substituiert. Die Gesamtzahl der mit Methadon substituierten Patienten stieg von 1000 im Jahr 1991 auf geschätzte 40 bis 45.000 im Jahr 2001. Dabei zeigt sich eine stark steigende Tendenz: von 2000 bis 2001 kamen ca. 10.000 Methadon- Patienten hinzu Die Zahl der mit Codein/Dihydrocodein bzw. mit Buprenorphin (Subutex®) substituierten Patienten wurde im Jahre 2001 mit 4000 bzw. 700 veranschlagt.
Meiner Ansicht nach hat sich parallel zum ‘Abstinenzparadigma’ ein ‘Substitutionsparadigma’ mit Methadon als Mittel der Wahl etabliert, was die Ursachen der Sucht und das Leiden der Süchtigen nicht beheben kann. Ohne mich gegen die Ermöglichung von Methadon als Substitutionsmittel aussprechen zu wollen, habe ich mich in dieser Arbeit mit den Auswirkungen der Methadonbehandlung auf die Heroinabhängigen kritisch auseinandergesetzt.
Zunächst sollen einige Begriffsbestimmungen vorgenommen werden, die das weitere Verständnis der behandelten Themen vereinfachen sollen (Kap.1); dann wird ein historischer Überblick über die Opiate, die Entwicklung […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Begriffsbestimmungen
1.1 Alkaloide
1.2 Opium
1.3 Opiate und Opioide:
1.4 Opiat-Rezeptoren (=spezifische Bindungsstellen für Opioide im ZNS)
1.5 Sucht
1.6 Abhängigkeit (nach ICD10)
1.7 Entzugserscheinungen
1.8 Kreuztoleranz
1.9 Substitution

2 Historischer Überblick
2.1 Opiate und Entwicklung des Konsumverhaltens
2.1.1 Die Geschichte des Opiums
2.1.2 Von der Entwicklung des Morphiums zum Morphinismus
2.1.3 Das Heroin kommt auf den Markt
2.2 Die gesellschaftliche Kontroverse
2.2.1 Internationale Abkommen und nationale Gesetzgebung
2.2.2 Der Heroinschwarzmarkt
2.2.3 Die Entwicklung der Drogenszene in der Bundesrepublik Deutschland
2.2.4 Die Kriminalisierung von Drogenkonsumenten in der BRD
2.2.5 Therapie statt Strafe
2.2.6 Die Entwicklung der Heroinszene der 80er Jahre bis heute

3 Substitution
3.1 Substitution - Rahmenbedingungen und Stoffe
3.1.1 Das „Verstärkungs- und Ausweichmittel“ Rohypnol®
3.1.2 Substitution im Graubereich der Gesetzgebung
3.1.3 Dr. Grimm und die gesellschaftliche Kontroverse um die Substitution von Heroinabhängigen
3.2 Der Wandel von der Abstinenz- zur Substititutions-„behandlung“
3.3 Methadon
3.3.1 Das Methadon: ein synthetisches Opiat
3.3.2 Nebenwirkungen des Methadons
3.3.3 Toleranz, Überdosierung und Abhängigkeit
3.3.4 Methadon und Schwangerschaft
3.3.5 Die Anfänge der Substitution mit Methadon
3.4 Aktuelle Substitutionspraxis
3.4.1 Gesetzlich relevante Rahmenbedingungen
3.4.2 Veränderungen in der Substitutionsbehandlung

4 Substitution aus der Klientensicht
4.1 Wissenschaftliche Forschungsergebnisse und Nebenwirkungen
4.2 Negative Aspekte zur psychischen Situation der Methadon- Klienten
4.3 Die Problematik des Beigebrauchs im Zusammenhang mit psychischen Störungen während der Metadon- Substitution
4.4 Die „soziale Kontrolle“

5 Alternative Vorstellungen
5.1 Das Modellprojekt zur heroingestützten Behandlung Opiatabhängiger
5.2 Ausblick für die Substitutionspraxis

6 Konsequenzen für die soziale Arbeit
6.1 Akzeptierende Drogenarbeit
6.2 Soziale Begleitung bei einer Substitution durch Heroin

7 Literaturverzeichnis

8 Anhang

Einleitung

Das Ziel dieser Arbeit stellt sich für mich als Auseinandersetzung mit der historischen und gesellschaftlichen Kontroverse um eine Substitution von Opiatabhängigen dar. In chronologischer Reihenfolge werden in dieser Arbeit die historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge beschrieben, in denen Opioide konsumiert wurden. Dabei soll der Einfluß politischer, kultureller und gesellschaftlicher Interessen auf den Umgang mit den Opiaten und den Konsumenten untersucht werden.

Im jeweiligen historischen Kontext kam es immer wieder zu gesellschaftlichen Prozessen der Ausgrenzung, Kriminalisierung und/oder Pathologisierung von süchtigen Menschen.

Die Drogenpolitik, verstanden als ‚politischer Umgang mit dem Drogenproblem’, die Gesetzgebung und die wirtschaftlichen Interessen die sich auf dem Schwarzmarkt und in der „legalen“ Wirtschaft, bzw. Pharmazie niederschlagen, bestimm(t)en die gesellschaftliche Kontroverse um eine Substitution der Opiatabhängigen. Im Laufe der Geschichte hat es eine lange Reihe von verschiedenen Opioiden gegeben, die sich auf dem Markt ablösten, um das Suchtproblem (in Bezug auf Opiate) auf chemischen Wege zu lösen. Ebenso wurden Substitutionsmittel eingesetzt, die anschließend oft wieder aus der Verfügung genommen und damit „illegal“ wie auch interessant für den Schwarzmarkt wurden.

Nach Schätzungen wurden im Jahr 2001 bereits 30– 50% der Heroinabhängigen in Deutschland substituiert. Die Gesamtzahl der mit Methadon substituierten Patienten stieg von 1000 im Jahr 1991 auf geschätzte 40 bis 45.000 im Jahr 2001. Dabei zeigt sich eine stark steigende Tendenz: von 2000 bis 2001 kamen ca. 10.000 Methadon- Patienten hinzu.[1]. Die Zahl der mit Codein/Dihydrocodein bzw. mit Buprenorphin (Subutex®) substituierten Patienten wurde im Jahre 2001 mit 4000 bzw. 700 veranschlagt.

Meiner Ansicht nach hat sich parallel zum „Abstinenzparadigma“ ein „Substitutionsparadigma“ mit Methadon als Mittel der Wahl etabliert, was die Ursachen der Sucht und das Leiden der Süchtigen nicht beheben kann. Ohne mich gegen die Ermöglichung von Methadon als Substitutionsmittel aussprechen zu wollen, habe ich mich in dieser Arbeit mit den Auswirkungen der Methadonbehandlung auf die Heroinabhängigen kritisch auseinandergesetzt.

Zunächst sollen einige Begriffsbestimmungen vorgenommen werden, die das weitere Verständnis der behandelten Themen vereinfachen sollen (Kap.1); dann wird ein historischer Überblick über die Opiate, die Entwicklung des Konsumverhaltens und die Entwicklung der gesellschaftlichen Kontroverse um den Umgang mit Opiatabhängigen vorgenommen (Kap. 2). Es schließt sich eine Beschreibung des gesellschaftlichen Wandels weg vom sog. Abstinenzparadigma bis zur heutigen Methadon-Substitutionsbehandlung an (Kap. 3). Schließlich sollen anhand eigener Thesen, Interviewaussagen und wissenschaftlicher Forschungsergebnisse die aktuellen Probleme von Methadon- Patienten verdeutlicht werden (Kap. 4). Als eine mögliche Alternative wird das Modellprojekt zur heroingestützten Behandlung Opiatabhängiger vorgestellt (Kap. 5). Abschließend werden Konsequenzen für die soziale Arbeit im Hinblick auf eine akzeptierende Drogenhilfe erörtert (Kap. 6). In der Arbeit verwertete Interviews sind im Anhang zu finden.

1 Begriffsbestimmungen

Nachstehend werden einige Begriffsbestimmungen vorgenommen, die dem Leser ein besseres Verständnis der weiteren Darstellungen ermöglichen sollen.

1.1 Alkaloide

Alkaloide sind überwiegend kompliziert strukturierte basische Pflanzenstoffe, die Stickstoff meist heterocyclisch gebunden enthalten. Sie haben ausgeprägt spezifische und starke physiologische Wirkungen. Da diese uneinheitlich sind, können sie physiologisch und pharmakologisch nicht klassifiziert werden. Die Einteilung erfolgt nach chemischen Gesichtspunkten. Die isolierten bzw. synthetisch gewonnenen Alkaloidbasen und –salze werden als Arzneistoffe vielfältig verwendet. Alkaloide sind sehr stark wirksame Stoffe. Viele Alkaloide beeinflussen besonders das Nervensystem. Einige gehören zu den Suchtmitteln, wie das Morphin und das Cocain. Alkaloide kommen im Pflanzenreich verbreitet vor, zahlreich in Pflanzen der Familien Mohngewächse, Hahnenfußgewächse, Krappgewächse, Hundsgiftgewächse, Liliengewächse und Strychnosgewächse. Die in einer Pflanze vorrangig enthaltenen Alkaloide werden als Hauptalkaloide bezeichnet, die übrigen, oft chemisch ähnlich gebauten, als Nebenalkaloide.[2]

1.2 Opium

Opium heißt der getrocknete Milchsaft von Kapseln des Schlafmohns, welcher prinzipiell überall in subtropischen und gemäßigten Zonen gedeiht. Das Naturprodukt Opium enthält mehr als 20 verschiedene Alkaloide.

Ein Hauptalkaloid ist Morphin, mit einer Quantität von zehn bis zwölf Prozent. Andere Alkaloide sind Narkotin (5- 6%), Codein (0,15- 1%), Papaverin (0,1- 0,4%), sowie Narcein, Thebain, Laudanosin, Xanthalin, Noscapin. Die narkotisierende, schmerzstillende Wirkung geht nur von Morphin, Codein und Thebain aus. Der Opiatrausch wird hauptsächlich vom Morphin verursacht. Die anderen Wirkstoffe (Alkaloide) können die Morphinwirkung allerdings steigern oder auch schwächen.[3]

1.3 Opiate und Opioide:

Der Begriff „Opiate bezeichnete ursprünglich alle natürlichen Alkaloide des Opiums und die davon abgeleiteten halbsynthetischen Derivate. Später wurden dann vollsynthetische Substanzen mit einem dem Morphin vergleichbaren Wirkungsspektrum entwickelt.

Unter dem Begriff „Opioide“ werden alle natürlichen und synthetischen Medikamente mit morphinartigen Eigenschaften zusammengefasst. Heute werden die Begriffe „Opiate“ und „Opioide“ häufig synonym verwendet

Synthetische Opioide, die als Morphinersatz in Frage kommen: Phethidin, Fentanyl, Sulfentanyl (=Methadon)[4]

1.4 Opiat-Rezeptoren (=spezifische Bindungsstellen für Opioide im ZNS)

Es gibt zahllose Opiat-Rezeptoren in unterschiedlicher Konzentrationsdichte in verschiedenen Bereichen des Gehirns und im zentralen Nervensystem. Stark wirkende Opioide haben eine stärkere Affinität zu den Rezeptoren als schwach wirkende Substanzen. Im Gehirn und vor allem in den Synapsen zwischen den Neuronen befinden sich zudem zahllose Rezeptoren für verschiedene Neurotransmitter und andere Stoffe, die die Reizübertragung auf unterschiedliche Weise beeinflussen oder abwandeln. Es ist häufig untersucht worden, auf welche Art und Weise die Weiterleitung von Reizen durch Opioide über eine Verbindung mit den Opiat-Rezeptoren beeinflußt wird. Im allgemeinen üben Opioide eine hemmende Wirkung auf die Reizübertragung in den Bereichen aus, in denen sich ihre Rezeptoren befinden.[5]

1.5 Sucht

Im deutschen Sprachgebrauch wird das Wort „Sucht“ einerseits von „suchen“, andererseits von seiner geschichtlichen Bedeutung im Sinne von „siechen“ (=krank) abgeleitet. Nach dem 16. Jahrhundert trat das Wort immer häufiger im Zusammenhang mit einer Krankheit auf, um ein spezielles Symptom zu beschreiben. So ist es u.a. als Sammelbegriff für fiebrige Krankheiten und für Auszehrungen des Körpers („Schwindsucht“) verwendet worden. Im weiteren Sinne bezeichnete das Wort auch sittliche, seelische bzw. geistige Krankheiten. Im Laufe der Zeit hat sich der Suchtbegriff erweitert. Er wurde auch für übersteigerte Verhaltensweisen (z.B. Rachsucht) und für „die übertriebene Liebe zum übermäßigen Trinken bis zum Rausch“(„Trunksucht“) eingesetzt. Trunk- und Opiatsüchtige wurden und werden moralisch verurteilt; Nach dieser bis heute allgemein gültigen Meinung ist die „Sucht“ auf eine Willenschwäche, z.T. auch genetische Disposition zurückzuführen.[6].

Neben der umgangssprachlichen Verwendung des Wortes „Sucht“ für Krankheiten, bezieht sich die Erklärung der „klassischen Sucht“ auf eine Droge. Im zwanzigsten Jahrhundert kam dabei der Zwangscharakter der chronischen Krankheit in den Blickpunkt. Erst wurde der Alkoholismus, dann auch die Opiatsucht als Krankheit offiziell anerkannt. Seit Mitte der 80er Jahre läßt sich von einer „Inflation des Suchtbegriffes“ sprechen. So entstand ein Bewusstsein für „neue Süchte“, wie Spielsucht, Arbeitssucht, Fernsehsucht, Kaufsucht oder Sexsucht.[7]

In einer ersten international verbindlichen Kodifizierung (1952) durch die World Health Organisation (WHO) heißt es:

„Sucht (drug addiction) ist ein Zustand periodischer oder chronischer Intoxikation, der durch die wiederholte Einnahme einer (natürlichen oder synthetischen) Droge hervorgerufen wird. Ihre Charakteristika sind (1) ein überwältigendes Verlangen oder Bedürfnis (zwanghafter Art), die Drogeneinnahme fortzusetzen und sich diese mit allen Mitteln zu verschaffen; (2) eine Tendenz zur Dosissteigerung; (3) eine psychische (psychologische) und allgemein eine physische Abhängigkeit von den Drogenwirkungen; (4) zerstörerische Wirkungen auf das Individuum und die Gesellschaft.“[8]

Der Suchtbegriff von 1952 war zu eng an den Opiaten orientiert. Die WHO- Definitionen waren und sind eine Synthese wissenschaftlicher Ansätze zur terminologischen Klärung mit den Anforderungen der internationalen Suchtstoffabkommen. „Da immer mehr Substanzen deren strengen Kontrollen unterworfen wurden, mußte der Suchtbegriff immer weiter und notwendigerweise auch immer vager gefaßt werden.“[9]

Die Definitionsproblematik suchtrelevanter Begriffe hat sich bis heute fortgesetzt und äußert sich in einer allgemeinen „Begriffsverwirrung“. Der Verzicht auf eine inhaltliche Abgrenzung der Stoffe, die in die internationalen Kontrollabkommen aufgenommen werden sollen, läßt eine Kontrolle je nach Interessenlage offen:

„Es werden immer mehr Substanzen in die internationalen Abkommen zur Suchtstoffkontrolle aufgenommen, ohne dass deren Vergleichbarkeit im Hinblick auf das Suchtpotential nachgewiesen wird. Dieser Tatsache der nahezu beliebigen Ausdehnung der Anzahl kontrollierter Stoffe haben sich die Definitionsbemühungen der WHO und der Mitgliedsstaaten der Suchtstoff-Kontroll-Abkommen anzupassen.“[10]

1964 wurde auf den Terminus der Sucht verzichtet. Als Rahmenbegriff löste „Drogenabhängigkeit“ (=drug dependence) die älteren Begriffe „Sucht“ (=addiction) und „Gewöhnung“ (=habituation) ab.

„Der Begriff der Sucht ist heute allerdings unklarer denn je. Relative Klarheit besteht bestenfalls dann, wenn man ihn auf schwere Formen körperlicher Abhängigkeit begrenzt“.[11]

1.6 Abhängigkeit (nach ICD10)

„In der letzten Fassung der ICD (Internationale Klassifikation der psychischen Störungen), der 10. Ausgabe der WHO von 1993, ist Abhängigkeit zu diagnostizieren, wenn 3 oder mehr der folgenden Kriterien zutreffen:

1. Der starke und gelegentlich übermächtige Wunsch, Suchtmittel zu konsumieren.
2. Verminderte Kontrolle bezüglich Konsumstil und –menge.
3. Fortgesetzter Konsum zur Verhütung von Entzugserscheinungen, Entwicklung eines körperlichen Entzugssyndroms.
4. Entwicklung von Toleranz gegenüber dem Suchtstoff und daraus resultierende Dosissteigerung.
5. Zunehmende Ausrichtung des Verhaltens auf den Substanzkonsum. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen.
6. Fortgesetzter Konsum trotz schädlicher Folgen körperlicher, psychischer oder sozialer Art.“[12]

Werden Opiate wie Heroin regelmäßig konsumiert, entsteht sowohl eine psychische, als auch eine körperliche Abhängigkeit. Um die anfängliche Wirkung des Heroins zu verspüren, muss die Dosis gesteigert werden. Bei Absetzen der Droge treten Entzugserscheinungen auf.

Im ICD 10 werden zur Handhabung einer operationalen Diagnostik in Kapitel V (F) Kriterien für Psychische und Verhaltensstörungen beschrieben. Im Abschnitt F 1 werden Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen eingegrenzt. Durch die 3. Stelle werden die verursachenden Substanzen kodiert, z.B. F10 Störungen durch Alkohol, F11 Störungen durch Opioide oder F19 Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen. Die klinischen Erscheinungsbilder werden durch die 4. Stelle kodiert und können allen psychotropen Substanzen zugeordnet werden, allerdings nur, wenn diese für eine Substanzgruppe auch relevant sind, z.B. F1x.0 akute Intoxikation; F1x.1 schädlicher Gebrauch; F1x.2 Abhängigkeitssyndrom; F1x.3 Entzugssyndrom; F1x.5 psychotische Störung. Mit der 5. Und 6. Stelle können die klinischen Zustandsbilder näher bezeichnet werden. So kann z.B. die Diagnose Abhängigkeitssyndrom (F1x.2) weiter differenziert werden z.B. F1x.20 gegenwärtig abstinent; F1x.22 gegenwärtige Teilnahme an einem ärztlich überwachten Ersatzdrogenprogramm (z.B. Methadon, Nikotinkaugummi oder Pflaster); F1x.24 gegenwärtiger Substanzgebrauch (aktive Abhängigkeit) und dieser durch F1x.240 ohne-, und durch F1x.241 mit körperliche(n) Symptome(n). Die Hauptdiagnose soll möglichst nach der Substanz (- klasse) erfolgen, die zu dem gegenwärtigen klinischen Syndrom hauptsächlich beigetragen hat oder dies verursacht hat. Wenn weitere Substanzen oder Substanzklassen klinische Erscheinungsbilder (F1x.0- F1x.9) verursacht haben, soll eine Zusatzdiagnose kodiert werden. Die Kategorie sollte dann verwendet werden, wenn nicht zu klären ist, welche Substanz am meisten zur vorliegenden Störung beiträgt, oder auch, wenn Art und Menge der verwendeten Substanzen nicht zu identifizieren sind (Polytoxikomanie).[13]

1.7 Entzugserscheinungen

Diese werden von Heroinabhängigen „Affe“ und „Turkey“ genannt.

1 bei Entzug von Morphin und Heroin:

- nach 8- 12 Stunden:
- Tränenfluß, Schweißausbrüche, Sekretion der Nasenschleimhäute, Gähnen.
- Nach einem etwas längeren Zeitraum:
- Geweitete Pupillen, Frösteln („cold turkey“).
- Nach 2- 3 Tagen zusätzlich:
- Ruhelosigkeit, Schlaflosigkeit, Angst, Diarrhö, Übelkeit, Erbrechen.
- Tremor und Muskspasmen im Rücken und in den Gliedmaßen.
- Hoher Puls, Hypertonie.
- Austrocknen, Acidose.
- Die Beschwerden klingen nach 7 bis 10 Tagen langsam ab.

2 beim Entzug von Methadon:

- Die oben genannten Symptome treten allmählich nach 1-3 Tagen auf. Sie sind in ihrer Intensität lange nicht so „brachial“, d.h. milder. Dafür halten sie aber wesentlich länger an. Besonders Schlaflosigkeit und Frösteln können sich 2 Monate und mehr hinziehen.[14]

„Die Vermeidung von Entzugserscheinungen ist u.a. ein Grund für fortgesetzten Gebrauch von Opioiden. Die Ausbildung körperlicher Abhängigkeit und die Entzugserscheinungen sind die Folge davon, dass sich bei längerem Konsum dieser Stoffe Toleranz gegenüber ihrer Wirkung entwickelt. „[15]

Der Entzug wird bei Seefelder: „Opium- Eine Kulturgeschichte“ plastisch geschildert:

„Etwa zwölf Stunden nach der letzten Dosis Morphium oder Heroin beginnt der Süchtige unruhig zu werden. Ein Schwächegefühl überkommt ihn, er gähnt, erschauert und schwitzt gleichzeitig, während ihm eine wässerige Flüssigkeit aus den Augen und durch die Nase rinnt, was ihm vorkommt, als „liefe heißes Wasser den Mund empor“. Für ein paar Stunden fällt er, sich ruhelos wälzend, in einen abnormen Schlaf, den die Süchtigen als „Gierschlaf“ bezeichnen. Beim Erwachen, etwa 18 bis 24 Stunden nach Einnehmen der letzten Dosis, betritt er die tieferen Regionen seiner „persönlichen“ Hölle. Das Gähnen kann so heftig werden, dass er sich die Kiefer verrenkt. Aus der Nase fließt dünner Schleim, die Augen tränen stark, die Därme beginnen mit unerhörter Gewalt zu arbeiten. Die Magenwände ziehen sich ruckweise stark zusammen und verursachen explosives Erbrechen, wobei auch Blut mit austritt. So gewaltig sind die Kontraktionen der Eingeweide, dass der Leib außen ganz geriffelt und knotig aussieht, als seien unter der Haut Schlangen in einen Kampf verwickelt. Die starken Leibschmerzen steigern sich rapid. Der Darm wird immerfort entleert, so dass es bis zu 60 wässerigen Stuhlentleerungen am Tag kommen kann.“[16]

1.8 Kreuztoleranz

Der Konsum eines Opiats führt zu Kreuzabhängigkeit und Kreuztoleranz gegenüber anderen Opioiden. „Das bedeutet, dass Toleranz gegenüber den Wirkungen des einen Opiats gleichzeitig Toleranz gegenüber den Wirkungen eines anderen Opiats zur Folge hat und dass die Entzugserscheinungen nach Absetzen des einen Opiats in gewissem Sinne durch ein anderes Opioid bekämpft werden können.“[17]

1.9 Substitution

Substitution bedeutet, ein Ding durch ein anderes zu ersetzen. Im Zusammenhang mit Drogenabhängigkeit wird als Substitution die ärztliche Vergabe der „Ersatzdrogen“ Methadon oder l-Polamidon® an Opiatabhängige mit gleichzeitig stattfindender psychosozialer Begleitung (PSB) bezeichnet. Eine illegale wird also durch eine legale Droge ersetzt.

2 Historischer Überblick

2.1 Opiate und Entwicklung des Konsumverhaltens

2.1.1 Die Geschichte des Opiums

Nach Annahmen der heutigen Archäologie könnte der Schlafmohn ( Papaver somniferum ), und dessen Nutzung, schon zur Zeit des Mesolithikums, ca. 8000– 5000 v. Christus, bekannt gewesen sein.[18]Inwieweit in diesem Zeitalter der Schlafmohn für medizinische, kulturelle oder rituelle Zwecke verwendet wurde, ist Spekulation. Auch Funde in Europa, datiert vor 4000 Jahren, weisen eher darauf hin, dass die Pflanze zwar kultiviert war, aber in erster Linie zur Gewinnung von Öl genutzt wurde, nicht jedoch wegen der narkotischen Wirkung.

Um auf die Geschichte des Opiums einzugehen, muß man eine Zeitreise begehen, bis hin zu den Ursprüngen der heutigen Zivilisation, zwischen Euphrat und Tigris. Vom Zweistromland, der Heimat der Sumerer, etwa 3500 Jahre v. Christus, verbreitete sich der Gebrauch vom Opium zuerst nach Ägypten und Persien aus. Hierbei ist zu erwähnen, dass schon den Sumerern die analgetische und die narkotisierende Wirkung bekannt war. Von diesen wurde der Mohn als „ Pflanze der Freuden „ bezeichnet.[19]

Ägyptische Händler sollen schon sehr früh das Wissen um die Zubereitung des Schlafmohns als betäubendes Heilmittel in das antike Griechenland gebracht haben. Im sechsten und siebten Jahrhundert machten die Araber das Opium auf ihren Kriegszügen nach Persien, Indien und China bekannt. Unter dem Einfluß des Islam, der Alkohol, aber andere Drogen nicht verbot, verbreitete es sich sehr rasch. Um das Jahr 1000 wurde Opium im gesamten islamisch geprägten Raum hoch geschätzt.

Im Griechenland der Antike spielte der Schlafmohn eine kulturelle Rolle, auch in den Mythen und Epen.

Um die ambivalente Wirkung und Bedeutung des Mohnsaftes als Heil- und Rauschmittel in der Antike zu erfassen, ist es sinnvoll, einen Einblick in die Götter- und Sagenwelt des klassischen Griechenland zu gewinnen. Die Mohnkapsel war Symbol des Schlafgottes Hypnos, seines Sohnes Morpheus, der Gott der Träume, aber auch das Zeichen des Todesgottes Thanatos. Diese Einbindung in die Götterwelt verdankt das Opium seiner Verwendung als Heilmittel.

Es wurde sogar der Arzt Asklepios zur Gottheit erhoben. In seiner Lehre fand die Heilung im Schlaf statt. Hier ist anzunehmen, dass bekannt war, dass Opium die Traumtätigkeit beeinflußt. Schon vorher war die Zubereitung der Droge durch den griechischen Arzt Theophrast von Eresos ( ca.350 v. Christus ) geschichtlich belegt.[20]

In Homers Odyssee ( 800 v. Christus ) wird die Wirkung des Opiums, auch Nepenthes, der „Trank der Vergessenheit“ genannt, treffend beschrieben :

„Dann benetzet den Tag ihm keine Träne die Wangen,

Wär ihm auch sein Vater und seine Mutter gestorben,

Würde vor ihm sein Bruder und sein geliebter Sohn auch

Mit dem Schwerte getötet, dass seine Augen es sähen.“[21]

Da durch die Expansion des römischen Reiches Griechenland erobert wurde, gelangte das Opium weiter nach Westen. Nach Norden war die Ausbreitung bis zum Mittelalter durch die natürliche Grenze der Alpen nicht gegeben. Der Leibarzt Kaiser Neros ( 54- 58 n. Christus ) erfand ein mit Opium versetztes Allheilmittel namens „ Theriak „.Dieses Mittel wurde von den Leibärzten nachfolgender römischer Kaiser als Wundermittel zur Heilung verschiedenster Krankheiten verordnet.

Hervorzuheben ist Kaiser Marcus Aurelius Antoninus, über die Aufzeichnungen seines Leibarztes Galenus aus Pergamon, wo die erste Krankengeschichte eines Opiatsüchtigen und die Auswirkungen des täglichen Dauergebrauches bekannt wurden. Der „Theriak“ war Marc Aurel ursprünglich zur Immunisierung und vorbeugend gegen allgemeine Beschwerden verordnet worden. Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass die anfängliche Dosis nach täglichem Dauergebrauch erhöht werden mußte. Dabei stellte sich heraus, dass dieser bei seinen Schreibtischtätigkeiten einschlief. Nach Trennung des Opiates vom Theriak kam es zu den opiattypischen Entzugssymptomen. Bei Genuß der Originaltinktur verschwanden diese wieder. Daraufhin verlangte Marc Aurel ausdrücklich die richtige Zusammenstellung

„nach alter Gewohnheit der kaiserlichen Leibärzte.“[22]

Der Gebrauch von Opium war in der klassischen Antike weitgehend eingebettet in religiöse, rituelle Gegebenheiten, und wurde zu medizinischen Zwecken genutzt. Er unterlag somit einer „natürlichen“, sozialen Kontrolle; ein Drogenmißbrauch wurde noch nicht problematisiert.

Die betäubende Wirkung der sogenannten „heiligen“ psychoaktiven Pflanzen bzw. Drogen dürfte in den urzeitlichen Gesellschaftsformen sowie in den alten Hochkulturen von der rein medizinischen kaum zu trennen gewesen sein. In der Gedankenwelt dieser Kulturen war der Rauschzustand von sakraler Bedeutung und stellte die seelische Erregung zur Erlangung der Offenbarung des Göttlichen her.

Gegen Ende des Mittelalters gelangte das Opium über Handelswege zum Orient auch nach Mitteleuropa. Es war Paracelsus ( 1493 – 1541 ), der als Medizinpionier und Geschäftsmann, auf seinen Reisen durch Europa für die Verbreitung von opuimhaltigen Tinkturen sorgte. Diese fehlten bald in keiner Apotheke des Mittelalters. Paracelsus hatte die Namen „ Arkanum“ und „Laudanum“ für diese Wunderarzneien erfunden. 1665 übernahm der englische Pionier der klinischen Medizin, Thomas Sydenham , die Bezeichnung „Laudanum“ als Synonym für seine neue Mixtur von Opium und Portwein. Sie sollte gegen Durchfall, Erbrechen und Schmerzen helfen.

Die Folgen des Absetzens opiumhaltiger Tinkturen waren bekannt, und bis zum Beginn des 19. Jahrhundert blieb die Zahl der Opiatabhängigen noch gering.[23]

Die Scheu der Menschen vor Drogenmißbrauch wird wohl auch in der kirchlichen Hetze gegen die Konkurrentinnen der Mediziner, den „Kräuterweiblein“ und „Hexen“ gelegen haben. Diese waren „ personas non grata „ und wurden mit allen Mitteln ausgegrenzt, diskriminiert, und mit Hilfe der „heiligen Inquisition“ vernichtet.

Burkhard Schröder beschreibt die Konsequenzen der Hexenverfolgungen noch weitreichender :

„Die Verdammung der „Hexen“ und ihrer Heilkunde hat auch für viele Kranke schmerzhafte Folgen: Im 17. Jahrhundert weigern sich Ärzte, bei Schmerzen oder vor chirurgischen Eingriffen Drogen wie Opiate oder Nachtschattengewächse zu verordnen. Da das Wissen um die richtige Dosierung verlorengegangen ist, haben sie Angst vor Todesfällen. Außerdem fürchten sie wegen der zum Teil halluzinatorischen Nebenwirkungen bei den Patienten, sie könnten der Hexerei angeklagt werden.“[24]

Opium wurde durch mehrere zusammenhängende Ereignisse im18. Jahrhundert für die europäischen Welthandelsgesellschaften zu einer interessanten Ware und trug zur weltweiten Verbreitung des Opiumkonsums bei. Zum einen hatte sich in der Folge des Tabakrauchens und dessen Prohibition in China das Opiumrauchen zu einer neuen Konsumsitte im ostasiatischen Raum entwickelt. In China , das selbst Anbauland des Opiums war, stellte sich die Problematik der Opiumsucht zuerst.

Zum anderen zerbrach in Indien die Herrschaft der Moghul-Dynastie. Das staatliche Opiummonopol fiel unter die Kontrolle der Kolonialmacht England und seiner „East India Company“ ( EIC ). Es entwickelte sich ein britisches Opiumhandelsmonopol,

Nach der kaiserlichen Prohibition von Opium in China ( 1725 ) übernahmen die Engländer den Opiumschmuggel. Trotz Schmuggelverboten seitens Chinas stieg der Opiumschmuggel von 4000 Kisten 1790 auf 40 000 Kisten 1838.[25]

Seit der verstärkten Zufuhr indischen Opiums nach China um 1800 durch die EIC nahmen die Klagen über den Opiummißbrauch zu, so dass die chinesische Regierung Gegenmaßnahmen ergriff, die kaum Erfolg brachten.

Die Bekämpfung des Opiumschmuggels führte zu den Opiumkriegen ( 1839 – 1842 und 1856 –1860 ) mit England, als deren Ergebnis China gezwungen wurde, den Opiumhandel zu legalisieren, so dass der Handel und damit auftretende Abusus zunahmen. Die folgenden Jahrzehnte wurden vom größten Opiumhandel der Weltgeschichte geprägt: „1879 kamen 100 000 Opiumkisten (= 6702 Tonnen ) nach China. Eine Menge, die in etwa der vierfachen Menge der gesamten illegalen Opiumweltproduktion (= Goldenes Dreieck + Goldener Halbmond + Mexiko ) des Jahres 1979 entsprach !“[26]

Parallel zu diesem expandierenden Rauschgifthandel nahm die Zahl der chinesischen Opiumsüchtigen explosionsartig zu: 1850 waren es rund 2 Millionen; 1878 über 20 Millionen; 1900 wurden 20 bis 40 Millionen geschätzt. Weltweit soll es zusätzlich mehrere Millionen Opiumkonsumenten um die Jahrhundertwende gegeben haben.

Der Mißbrauch von Opium breitete sich von den asiatischen Ländern weltweit aus. Dies entwickelte sich zeitgleich mit der kolonialistischen und imperialistischen Außenpolitik Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika, welche die Vorraussetzungen für diese Entwicklung geschaffen hatte. Gleichzeitig entwickelte sich auch ein Abwehrkampf gegen den wachsenden, globalen Opiummißbrauch.

Der Verlierer der beiden Opiumkriege, das chinesische Kaiserhaus, machte eine Kehrtwendung in seiner Drogenpolitik: Um die Attraktivität für den Import von Opium zu verringern, wurde ein sogenanntes erstes „Drogen-Erhaltungsprogramm“ ins Leben gerufen. So förderte China den Mohnanbau und die Opiumgewinnung im eigenen Lande, was zur Folge hatte, dass die Opiumimporte seit 1888 zurückgingen. Das Problem des weiter um sich greifenden Opiumkonsums war damit nicht gelöst, aber ähnlich den heutigen Substitutionsprogrammen, unter staatlicher ( Kontrolle ) gebracht. Der schwarze Markt mit seinen Folgeproblemen für den Staat und die Gesellschaft wurde ausgetrocknet; er war nicht mehr lukrativ. Als China ein Abkommen mit England über eine progressive Verminderung der Opiumexporte erzielt hatte, wurde der Mohnanbau im eigenen Lande ab 1906 reduziert. 1917 war der britische Opiumexport nach China offiziell beendet.[27]

Die Briten hatten das Opium aber auch nach Europa und Nordamerika gebracht, zur Deckung des medizinischen und pharmazeutischen Bedarfes. Besonders im eigenen Land entwickelte sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine wachsende „Opiumkultur“ auf mehreren Ebenen. Der medizinischen Gebrauch als Heilmittel für alle denkbaren Indikationen hatte das Opium schon seit Ende des17. Jahrhunderts für Ärzte und Apotheker interessant werden lassen. Seit 1762 war 150 Jahre lang das „Dovers Pulver“, u.a. zur Behandlung der Volkskrankheit Gicht, auf dem Markt. Es wurde als ein „schweißtreibendes Pulver“ verkauft.

Die Seefahrer, die Soldaten und die Kaufleute der „EIC“ hatten die Praxis des Opiumessens und –trinkens kennengelernt. Über diese Leute aus den Kolonien fand es zu Beginn des 19. Jahrhunderts Zugang zur gesellschaftlichen Oberschicht, zu Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern. In dieser Zeit des ausklingenden Romantizismus wurde es in diesen Kreisen zur Mode, sich für alles Orientalische und für okkulte Strömungen zu begeistern. Der Genuß des Opiumrausches war in der verklärten Abkehr von einer sich rasant verändernden westlichen Welt begründet.

Der „Drogenrausch“ wurde dabei auch als Katalysator künstlerischer Produktivität genutzt. Das Opiat wurde folglich auch damals schon zur Anregung und zum Lustgewinn, aber auch zur Realitätsflucht und Problembewältigung benutzt.

„Der romantische Opiumkult hat vieles gemein mit der von Timothy LEARY ausgelösten LSD- Schwärmerei der 60er Jahre. Tatsächlich war die romantische Bewegung ja auch eine Bewegung der enttäuschten Abkehr vom Bürgertum, (...). Mit der Zurückweisung des zentralen bürgerlichen[28]Ethos´, wonach Genuß nur als wohlverdienter Lohn nüchterner Arbeit legitim war, verband sich die Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft als ganzer. Diese -–im bürgerlichen Sinne – asozialen Motive der Opiumverherrlichung trugen freilich auch dazu bei, dass das Opium seine Unschuld als alltägliches Hausmittel verlor. Ungewollt formulierte die romantische Bewegung so die Angstphantasien der Herrschenden vor den Rauschdrogen als Mittel zu Ungehorsam und Aufruhr vor.“

Opium konsumierende Schriftsteller jener Zeit, die sicher auch abhängig von der Droge waren, sind: Edgar Allen Poe, Berlioz, Charles Baudelaire (Ein Opiumesser, 1860), Samuel Taylor Coleridge (Kublai Khan, 1816), S. Hedayat, Honore´de Balzac. Der Einfluß der Auswirkungen ihrer Opiatsucht läßt sich in ihren Werken erkennen; zum Teil machten sie das Opium auch zum hauptgegenständlichen Thema. Ein regelrechter Kult bildete sich um Thomas de Quincey, der mit seinem erstmals 1921 erschienenen „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“, eine damalige literarische Sensation. Viele Menschen sollen durch das Lesen des Buches auf die Wirkung der Droge neugierig worden sein, welches die Zahl der Opiatabhängigen bis ins 20. Jh. hinein vergrößert haben soll.[29]

Ein besonderes Phänomen in dieser Zeitepoche stellt die massenhafte Verbreitung des Opiumkonsums im englischen Proletariat dar. Opium war für die hart arbeitenden Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze lebten, z.T. billiger als Alkohol zu erstehen. Die veränderten Lebensbedingungen waren durch den Arbeitstakt der Industrieproduktion bestimmt. Für das neugebildete Industrieproletariat gab es wenig freie Zeit; auch weniger Freizeit, um sich in den Wirtshäusern zu versammeln.

England hatte die meisten Kolonien und die größte Handelsflotte , Opium war hier ,anders als auf dem europäischen Kontinent, in großen Mengen mit niedrigem Preis auf dem Markt.

Auch im übrigen Europa und Nordamerika verbreitete sich der Opiumgenuß.

Frankreich hatte, ebenso wie weitere Kolonialmächte, Interesse am Opiumhandel. 1887 wurden die südostasiatischen Einflußgebiete zu Französisch- Indochina zusammengefaßt. Die Hauptstadt war Saigon, von wo ein staatliches Monopol ( Re´gie francaise de l´opium ) zur Herstellung von Rauch-Opium und dessen Export aufgebaut wurde. Besonders auch in Frankreich verbreitete sich der Opiumgenuß. Von Beginn des 19. Jahrhunderts an, etablierten sich die meist illegalen „Opiumhöhlen“ in Hafenstädten wie Le Havre, Bordeaux, Marseille und Paris.

In den englischen Seehäfen befanden sich ebenfalls zahlreiche „Opiumhöhlen“. Später weitete sich der Opiummißbrauch auch auf Großstädte anderer Staaten aus, wie Hamburg, Amsterdam, New York und San Francisco.

In den Vereinigten Staaten fand das durch die eingewanderten Chinesen eingeschleppte Opium ebenfalls seine Anhängerschaft. Der Einfluß der sozial-ökonomischen Verhältnisse führte, wie auch in China dazu, dass die am Rande des Existenzminimums lebenden Chinesen die Hauptkonsumenten der Droge waren.

Ein Mißbrauch von Sucht- oder Betäubungsmitteln trat im 19. Jahrhundert in Europa und Nordamerika verstärkt auf. Außerdem entwickelte sich eine massenhafte Verbreitung des Opiums als Heilmittel. Bei den unterschiedlichsten Indikationen wurden Opiumarzneien eingesetzt:

Gegen Pocken, Ruhr, Cholera, Gicht, Pest, Masern, Durchfall, Asthma, Katarrh, Epilepsie, Angina, Fieber- und Reisekrankheiten, Verwundungen, Brüche und Amputationen. In Deutschland gab es die „ Frankfurter Hauptpille“, bestehend aus Opium und Zucker, „Aachener Schlafhonig“, „Mutter Baileys Beruhigungssyrup“. Besonders auch Kindern und Babys wurden opiumhaltige Arzneien verordnet. Diese wurden als Hustenmittel, zur Beruhigung, und zum besseren Einschlafen der Kinder verabreicht. Wegen Überdosierung von „Doktor Zohrers Kinderglück“ kam es häufig zu Todesfällen. Daraufhin wurden die „Hoffmannstropfen“ für den Markt entwickelt, die allerdings immer noch fünf Prozent Opium enthielten.

In England war das Opiumpräparat „Godfrey´s Cordial“ äußerst populär. Erste Untersuchungen auf Opiatvergiftungen bei Kindern im Jahre 1843 belegen eine hohe Kindersterblichkeit. Nach einer Dauermedikation soll nur jedes sechste Kind ein abruptes Absetzen der Droge überlebt haben.[30]

Um die unkontrollierbaren Überdosierungen und die Entzugssymptomatik auszuschalten, wurde nach nebenwirkungsfreieren Ersatzmitteln, also damals schon nach Substitutionsmitteln geforscht.

1803 isolierte der deutsche Apotheker Friedrich Sertürner das wichtigste Hauptalkaloid des Opiums. Er nannte es „Morphin“.

2.1.2 Von der Entwicklung des Morphiums zum Morphinismus

Die Gefährlichkeit der Morphinanwendung, die über eine am Anfang nur psychische Abhängigkeit zu einer chronischen Morphinvergiftung, dem sogenannten Morphinismus, führt, liegt in der anfänglichen Euphorie und dem damit verbundenen suchterregenden Effekt.

Das dominierende Symptom ist der „Morphinhunger“, der den Süchtigen dazu zwingt, sich weiteres Morphin oder andere Opiate zuzuführen, die mit diesem eine Kreuztoleranz aufweisen.

Gelingt erneutes Zuführen nicht, so stellen sich die erschreckendsten Abstinenzsymptome ein. Der Morphinist greift im fortgeschrittenen Stadium nicht mehr wegen der euphorisierenden Wirkung zu immer höheren Dosen, sondern um dem peinigenden Entzugsgeschehen zu entgehen. Dabei ist es ihm gleich, auf welche Weise er sich seine Droge verschafft.

Nachdem das Morphin seit 1827 von der Pharmafirma E. Merck & Co, einer ehemaligen Apotheke, kommerziell hergestellt wurde, und nach der Erfindung der Injektionsspritze um 1850, wurde die Substanz unter dem Namen „Morphium“ zur schnell wirksamen Schmerzeindämmung eingesetzt. Das erste Mal kam es massenweise in Kriegen zum Einsatz:

- Türkisch-Russischer Krimkrieg ( 1853-1856 )
- Amerikanischer Bürgerkrieg ( 1861-1865 )
- Deutsch-Französischer Krieg ( 1870-1871 )

Die Folge war eine erste Morphiumwelle bis zur Jahrhundertwende, die als „Soldatenkrankheit bezeichnet wurde. Nach den Kriegen hatten die Soldaten die Sucht in das zivile Leben mitgebracht, was zur gesellschaftlichen Verbreitung des Morphiums geführt hat.

Um 1900 soll der Morphinismus in avantgardistischen und Künstlerkreisen, beeinflußt durch die Psychoanalyse von S. Freud, als unkonventioneller Lebensstil gelebt worden sein. In Deutschland hatte sich so eine regelrechte Drogensubkultur herausgebildet, die aber eher noch individualistische Züge aufwies. In diesen vom „Expressionismus“ geprägten Zirkeln wurden Kokain und auch Morphium als Reizmittel und zur mystischen Versenkung genußvoll konsumiert.

Eine weiterer Konsumentenkreis wurde von der Berufsgruppe der Mediziner und Pharmakologen gebildet. Sie hatten leichte Zugriffsmöglichkeiten zu Morphium und konnten unauffällig bleiben. Von offizieller Seite her wurde in Deutschland der Morphinismus lange nicht problematisiert. Die seit dem deutsch-französischen Krieg gemachten Erfahrungen über die Morphiumsucht wurden in einer fundierten Lehre über Sucht und Gewöhnung von der medizinischen Profession sorgsam gehütet.

Morphinismus wurde als ein „Laster“ der Gebildeten angesehen. Der medizinische Charakter der Opioide wurde demgegenüber positiv hervorgehoben.

Die intravenöse Applikation galt als ein Zeichen „höherer Kultur“. Heute gilt das Gegenteil: Wer Drogen spritzt, fällt unter die abwertend verstandene Kategorie „Junkie“ und „Fixer“; er wird mit Klischees wie „link“, „unzuverlässig“, „verwahrlost“ und „kriminell“ vorverurteilt.[31]

Eine weitere Drogenwelle entwickelte sich in den zwanziger Jahren:

Die während des Ersten Weltkrieges bei Kriegsversehrten applizierten viel zu hohen Dosen von Morphin, das Elend des Krieges und der Nachkriegsjahre in Deutschland erzeugten ein Bedürfnis nach Opiaten ( auch nach Kokain ).

„Diese anfangs eher unpolitische Haltung nahm in einem Teil der expressionistischen Bewegung angesichts der Kriegsereignisse und der Oktoberrevolution radikale, umstürzlerische, pazifistische und anarchistische Züge an, und der Drogenkonsum selbst erhielt dadurch auch eine gewisse symbolisch- politische Bedeutung. Die anfangs nur auf Intellektuellenkreise beschränkte Vorliebe für Kokain und Morphium übertrug sich nach Ende des Weltkrieges auf weitere Kreise der Gesellschaft.“[32]

So herrschte während der 20er Jahre in den Arbeitervierteln Berlins ungeheures Elend. Über die Wohnungsnot schrieb 1927 der Lichtenberger Arzt Dr. Georg Loewenstein: „Nicht ein Fünftel der Bevölkerung wohnt in einigermaßen menschenwürdigen Bedingungen.“ Mit dem wachsenden Alkohol- und Drogenkonsum, gerade auch in den niedrigen gesellschaftlichen Schichten, sank die Toleranz gegenüber den süchtigen Menschen; das „soziale Klima“ wurde kälter.[33]

Vor diesem Hintergrund muß das Engagement der Berliner Ärzte Dr. Ernst Joel und Dr. Ernst Haase gesehen werden, die in dieser Zeit als Nonkonformisten und Außenseiter des Ärztestandes galten. Beide waren Mitglieder des „Vereins sozialistischer Ärzte“: Dr. Joel, gründete 1925 die erste Alkohol- und

[...]


[1]Vgl. BÖLLINGER, L. / STÖVER, H. (Hrsg.), 2002, S. 277

[2]Vgl. DIENER, Harry, 1987, S. 15/16

[3]Vgl. SCHMIDBAUER, Wolfgang / SCHEIDT, Jürgen vom, 1993, S. 309

[4]Vgl. SCHEERER, Sebastian / VOGT, Irmgard (Hrsg.), 1989, S.299/300

[5]ebd., S. 305/306

[6]ebd.; S. 11-14

[7]THAMM, Berndt Georg, 1991, S. 72

[8]SCHEERER, S./VOGT, I. (Hrsg.), 1989, S.14

[9]ebd., S. 14/15

[10]ebd., S. 16/17

[11]ebd., S.12

[12]Handbuch Sucht, 17. Liefrg.- Stand Juni 2001

[13]Vgl. DILLING, H./FREYBERGER, H. J. (Hrsg.), 2001, S. 59- 65/S. 71- 76

[14]Vgl. SCHEERER, S. / VOGT, I. (Hrsg.) 1989, S. 308

[15]ebd., S. 308

[16]SEEFELDER, Matthias, 1996, S. 195

[17]SCHEERER, S./VOGT, I. (Hrsg.), 1989, S. 308

[18]Vgl. THAMM, B. G.1992, S.25

[19]Vgl. SCHEERER, S. /Vogt, I. (Hrsg.), 1989, S. 277

[20]Vgl. SCHMIDBAUER, W:/SCHEIDT, J. vom, 1989, S. 299

[21]SCHRÖDER, Burkhard, 1993, S.33

[22]Ebd. S. 32/33

[23]Vgl. SCHEERER, S./VOGT, I. (Hrsg.), 1989, S.279

[24]SCHRÖDER, Burkhard, 1993, S.41

[25]Vgl. THAMM, B. G., 1989, S.43/44

[26]THAMM, B: G., 1989, S. 47

[27]Vgl. SCHEERER, S./VOGT, I. (Hrsg.), 1989, S.279

[28]SCHEERER, S. /VOGT, I. (Hrsg.), 1989, S. 280

[29]ebd., S.280

[30]Vgl. SCHRÖDER, Burkhard, 1993, S. 42

[31]Vgl. SCHRÖDER, B., 1993, S. 46

[32]SCHEERER, S./VOGT, I. (Hrsg.), 1989, S. 285

[33]siehe Informationstafel im Bezirksamt Berlin- Tiergarten

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783836637213
DOI
10.3239/9783836637213
Dateigröße
599 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin – Gesundheit, Studiengang Sozialarbeit / -pädagogik
Erscheinungsdatum
2009 (Oktober)
Note
1,7
Schlagworte
opiatabhängigkeit lebenssituationen nebenwirkungen drogenkonsum substitution
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Titel: Die historische und gesellschaftliche Kontroverse zur Substitution Opiatabhängiger
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