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Das Paradigma des systemischen Beratungsansatzes in pädagogischen Handlungsfeldern

©2009 Magisterarbeit 88 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
In modernen Gesellschaften zeichnet sich als Konsequenz zunehmender Spezialisierung und Komplexität ein stetig steigender Beratungsbedarf ab, der in einer wachsenden Beratungsnachfrage Ausdruck findet. Auf dieses Phänomen versucht die Beratergemeinschaft mit der Entwicklung und Anwendung angemessener Beratungsformen zu reagieren. So existieren mittlerweile für den pädagogischen Aktionsraum vielfältige Beratungsansätze, unter denen der systemische Ansatz eine bedeutende Rolle spielt. Die systemische Beratung befindet sich nicht erst seit der Anerkennung der systemischen Therapie als wissenschaftliches Psychotherapieverfahren im Dezember des Jahres 2008 auf dem Vormarsch. Mit dem systemischen Ansatz hat sich eine innovative Vorgehensweise herausgebildet, Beratung in den verschiedensten Bereichen zu konzipieren und zu praktizieren. Aufgrund der hohen Praxisrelevanz für den pädagogischen Bereich und der interessanten, theoriereichen Geschichte systemischer Beratung, richtet die vorliegende Arbeit ihr Augenmerk auf diesen speziellen Beratungsansatz.
Will man den Begriff der systemischen Beratung tiefenscharf begreifen und kommunizierbar machen, so stellt dich dieses Vorhaben als durchaus anspruchsvoll heraus. Je mehr man sich dem Phänomen nähert, desto schwieriger fassbar erscheint es Weidenbach beschrieb die Quintessenz dieser Art des Sachverhalts folgendermaßen: ‘Die Begriffe weisen uns einen Weg zu immer schwereren Rätseln, zu immer paradoxeren Situationen. Die Geschichte der Wissenschaften ist wie ein einziges großes Beispiel dafür: Die ‚Existenz‘ flieht vor dem Begriff’. Ob die sogenannte Existenz vor dem Begriff des Systemischen flieht, ist fragwürdig. Es kann jedoch festgestellt werden, dass sich durch den inflationären Gebrauch des Begriffes eine Form von Pseudoplausibilität eingeschlichen und etabliert hat, die das Systemische zu einem Teil des unwissenschaftlichen Kulturbetriebes herabsetzt und es schließlich im schlimmsten Falle der Beliebigkeit preis gibt. Diese Popularisierungs- und Inflationstendenz ist durchaus bedenklich, da sie die geschichtliche Eigentlichkeit des Systemischen verschleiert, verfälscht und somit unterminiert. Die wissenschaftliche Reaktion auf diese, wie auf jede derartige Pseudoplausibilitäts-Entwicklung, kann in erster Linie nur eine sein: Problemfokussierung, Recherche und Aufklärung. Die Fokussierung der Problematik kann dabei den Problemhorizont feststellen. Diesen setzt die Arbeit durch […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Mathias Conrad
Das Paradigma des systemischen Beratungsansatzes in pädagogischen
Handlungsfeldern
ISBN: 978-3-8366-3650-6
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2009
Zugl. Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland, Magisterarbeit, 2009
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2009

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DANKSAGUNG
Besonderer Dank gebührt meiner Mutter Angelika Conrad, meinen Großeltern Hans und
Maria Wolf und Helmut Conrad sowie meinen Geschwistern Thomas und Michael Con-
rad, die mir dieses Studium intellektuell und finanziell ermöglicht haben und mich in
jeder Lebenslage unterstützten.
Mein Dank gilt Professor Ewald Johannes Brunner, der mir den Weg zum systemischen
Denken bereitet hat. Ich danke Professor Michael Behr, der mir vielfältige Einsichten in
die soziologische Theorie und Praxis ermöglichte. Ebenso möchte ich Professor Wolf-
gang Kienzler danken, der mein Interesse für Wissenschaftsgeschichte geweckt und ge-
fördert hat. Zudem sei meinen Lektoren Maria Ehrenberg, Jens Stölzel und Lars Vogel
für ihr bereitwilliges und hilfreiches Engagement gedankt.
Nicht minder gebührt meinen Freunden Dank, die mich während des Studiums emotio-
nal begleiteten und mir mit produktiver Kraft und Kritik zur Seite standen. Ich möchte
dabei vor allem Benjamin Büttner, Aileen Müller, Jens Stölzel und Ricky Wagner her-
vorheben.

4
GELEITWORT
Die vorliegende Arbeit gründet auf dem langjährigen Interesse an und der Auseinander-
setzung mit systemischer Beratung sowie erkenntnistheoretischen und naturwissen-
schaftlichen Fragestellungen. Das Anliegen, pädagogisches Gedankengut, soziologische
Theorien, psychologische Perspektiven, biologische Erklärungen und wissenschaftsge-
schichtliche Betrachtungen zu verknüpfen, drückt sich im interdisziplinären Charakter
dieser Abschlussarbeit aus, die damit zugleich ein Spiegelbild des Disziplinenreichtums
der Geschichte systemischer Beratung verkörpert. Das Werk entstand aus der Motivati-
on heraus, die inflationäre Verwendung des Begriffs systemisch zu thematisieren und
dieser Tendenz durch die Fokussierung einer stärkeren Rückbesinnung der systemi-
schen Beratungspraxis auf ihre theoretischen Wurzeln entgegen zu wirken.

5
INHALT
1. EINLEITUNG ... 7
2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN SYSTEMISCHER BERATUNG ... 10
2.1 Grundlegendes ... 10
2.2 Systemtheorie ... 11
2.3 Kybernetik 1. und 2. Ordnung ... 14
2.4 Familientherapie ... 17
2.5 Konstruktivismus... 19
2.6 Erkennen und Autopoiesis ... 23
2.7 Theorie sozialer Systeme ... 27
3. SYSTEMISCHE BERATUNG IN PÄDAGOGISCHEN HANDLUNGSFELDERN ... 30
3.1 Dimensionen der Beratung ... 30
3.1.1 Etymologie und Institutionalisierung ... 30
3.1.2 Bedeutung des Beratungsbegriffs und Abgrenzung zur Therapie ... 31
3.1.3 Voraussetzungen und Ziele der Beratung ... 31
3.1.4 Anspruch an Berater und Beratung ... 32
3.1.5 Freiwilligkeit versus Zwang ... 33
3.1.6 Das Verhältnis von Pädagogik und Beratung ... 34
3.2 Systemisches Denken ... 38
3.2.1 Der Begriff systemisch ­ Verständnis, Etymologie und Bedeutung ... 38
3.2.2 Ein Beispiel für einen Ansatz systemischen Vorgehens ... 42
3.3 Systemische Beratung ... 43
3.3.1 Voraussetzungen und Prinzipien ... 43

6
3.3.2 Bestimmung essenzieller Begriffe und Merkmale systemischer Beratung ... 45
3.3.3 Beratungs-Professionalität ... 52
3.3.4 Methoden systemischer Beratung ... 54
3.3.5 Rückbezug systemischer Beratungspraxis auf theoretische Grundlagen ... 60
3.3.6 Verortung systemischer Beratung in pädagogischen Handlungsfeldern ... 64
4. DAS PARADIGMA DES SYSTEMISCHEN BERATUNGSANSATZES ... 66
4. 1 Allgemeiner Paradigmenbegriff ... 66
4.2 Das systemische Paradigma ... 68
5. FAZIT UND AUSBLICK ... 72
6. ANHANG ... 73
7. BIBLIOGRAPHIE... 75

7
1. EINLEITUNG
In modernen Gesellschaften zeichnet sich als Konsequenz zunehmender Spezialisierung
und Komplexität ein stetig steigender Beratungsbedarf ab, der in einer wachsenden Be-
ratungsnachfrage Ausdruck findet. Auf dieses Phänomen versucht die Beratergemein-
schaft mit der Entwicklung und Anwendung angemessener Beratungsformen zu reagie-
ren. So existieren mittlerweile für den pädagogischen Aktionsraum vielfältige Bera-
tungsansätze, unter denen der systemische Ansatz eine bedeutende Rolle spielt. Die
systemische Beratung befindet sich nicht erst seit der Anerkennung der systemischen
Therapie als wissenschaftliches Psychotherapieverfahren im Dezember des Jahres 2008
auf dem Vormarsch.
1
Mit dem systemischen Ansatz hat sich eine innovative Vorge-
hensweise herausgebildet, Beratung in den verschiedensten Bereichen zu konzipieren
und zu praktizieren. Aufgrund der hohen Praxisrelevanz für den pädagogischen Bereich
und der interessanten, theoriereichen Geschichte systemischer Beratung, richtet die vor-
liegende Arbeit ihr Augenmerk auf diesen speziellen Beratungsansatz.
Will man den Begriff der systemischen Beratung tiefenscharf begreifen und kommuni-
zierbar machen, so stellt dich dieses Vorhaben als durchaus anspruchsvoll heraus. Je
mehr man sich dem Phänomen nähert, desto schwieriger fassbar erscheint es (vgl. Loth
2006, S. 207). Weidenbach beschrieb die Quintessenz dieser Art des Sachverhalts fol-
gendermaßen: ,,Die Begriffe weisen uns einen Weg zu immer schwereren Rätseln, zu
immer paradoxeren Situationen. Die Geschichte der Wissenschaften ist wie ein einzi-
ges großes Beispiel dafür: Die ,Existenz` flieht vor dem Begriff" (Weidenbach 1948, S.
92). Ob die sogenannte Existenz vor dem Begriff des Systemischen flieht, ist fragwür-
dig. Es kann jedoch festgestellt werden, dass sich durch den inflationären Gebrauch des
Begriffes eine Form von Pseudoplausibilität eingeschlichen und etabliert hat, die das
Systemische zu einem Teil des unwissenschaftlichen Kulturbetriebes herabsetzt und es
schließlich im schlimmsten Falle der Beliebigkeit preis gibt (vgl. Handler 2007, S. 284;
Barthelmess 2005, S. 11).
2
Diese Popularisierungs- und Inflationstendenz ist durchaus
1
Nachzulesen unter http://idw-online.de/pages/de/news295509.
2
Zur Problematik der Konsequenzen von Begriffspopularität sei auf von Glasersfeld 1997, S. 310f.
verwiesen, der im Rahmen des dritten Siegener Gesprächs über Konstruktivismus vor aufkommen-
den Schlagworten und Fehlinterpretationen warnt. Vergleiche hierzu auch den Internetartikel von
Weiss (1996): Familientherapie zwischen Fundamentalismus und Beliebigkeit. Zum Kongress der

8
bedenklich, da sie die geschichtliche Eigentlichkeit des Systemischen verschleiert, ver-
fälscht und somit unterminiert. Die wissenschaftliche Reaktion auf diese, wie auf jede
derartige Pseudoplausibilitäts-Entwicklung, kann in erster Linie nur eine sein: Problem-
fokussierung, Recherche und Aufklärung. Die Fokussierung der Problematik kann dabei
den Problemhorizont feststellen. Diesen setzt die Arbeit durch die Erläuterungen Hand-
lers, Elbings und Loths, die eine inflationäre Entwicklung des systemischen Beratungs-
begriffes feststellen und begründen, als gegeben voraus (vgl. Handler 2007, S. 284; El-
bing 2000, S. 200f.; Loth 2006, S. 207).
3
Die Aufklärung soll im vorliegenden Fall
durch die Rückbesinnung auf, die Recherche von und die Ausführungen über die Ent-
wicklung der theoretischen Wurzeln systemischer Beratung realisiert werden.
Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Entwicklung impliziert per Definition eine
Komponente der Geschichtlichkeit (vgl. Wermke et al. 2001, S. 183, S. 926f.). Will
man also einen Begriff in vollem Umfang von seiner Ursprünglichkeit ausgehend be-
greifen, muss man in seine Entstehungsgeschichte eintauchen. Im anderen Falle kann
dem Betrachter nur das Gewordene des Begriffs zuteil werden, das seine Geschichte
bestenfalls erahnen lässt. So, wie es ohne Mann und Frau keine auf natürlichem Wege
gezeugten Kinder geben kann, könnte es auch die systemische Beratung nicht ohne ihre
"Erzeuger" geben, sie wäre ohne ihre theoretischen Grundlagen in ihrer jetzt existieren-
den Form undenkbar. Um zu einem fundamentalen Verständnis systemischer Beratung
zu gelangen, sind ihre Begriffsklärung als auch die Fokussierung und Hervorhebung
ihrer Entstehungsgeschichte nicht nur angemessen, sondern stellen in der Tat eine Not-
wendigkeit dar.
Heidelberger Familientherapeuten. Zweischneidigkeit und Toleranzbegriff. unter http://www.zeit-
fragen.ch/ARCHIV/ZF_29/T08.HTM. Auch Loth 2006, S. 207 diagnostiziert eine inflationäre Ver-
mehrung des Begriffs systemisch. Interessant erscheinen an dieser Stelle ebenso die Ausführungen
Schindlers (1997), dessen Zukunftsentwurf über die Verwendung des systemischen Beratungsbe-
griffs eine inflationäre Verbreitung desselben prognostiziert. Vgl. dazu http://www.systemische-
therapie-bremen.de/cms/upload/bilder/20jahre.pdf.
3
Handler referiert über die nach außen hin teils unprofessionell erscheinende systemische Bera-
tung, deren Renommee unter der Vielzahl systemischer Ansätze und deren weiterhin wachsenden
Inflation Schaden leidet. Elbing führt die inflationäre Entwicklung verschiedener Beratungsbegriffe
ins Feld und schließt dabei auch systemische Ansätze ein. Loth leitet die Entstehung der Pseudo-
plausibilität des Begriffs systemisch her und beschreibt ihn dabei in seiner Verwendung als ,,modi-
sches Kürzel" (Loth 2006, S. 207).

9
Im Rahmen dieser Magisterarbeit soll die These geprüft werden, dass verschiedene
Theorien und Ansätze die Konstitution der systemischen Beratung maßgeblich geprägt
haben, wobei die Systemtheorie einen fundamentalen Einfluss ausübte.
Zu Beginn wird eine grundlegende Erörterung einiger der für die systemische Beratung
relevanten Theorien vorgenommen. Dadurch soll ein theoretisches Fundament geschaf-
fen werden, auf das die weiterführenden Erklärungen bezüglich des systemischen Bera-
tungsansatzes aufbauen können. Ziel der Arbeit ist es nicht, die vollständige Entwick-
lung der für die systemische Beratung relevanten wissenschaftlichen Theorien en détail
zu rekonstruieren. Stattdessen konzentriert sich der Autor im ersten Teil der Arbeit dar-
auf, ausgewählte elementare Grundpfeiler der Wissenschaftsgeschichte, die zum heuti-
gen Verständnis von systemischer Beratung essenziell beigetragen haben, in Auszügen
vorzustellen. Das geschichtliche Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem 20. Jahrhundert,
im Speziellen auf der allgemeinen Systemtheorie, der Kybernetik 1. und 2. Ordnung,
dem Konstruktivismus, Erkenntnis- und Autopoiesisbegriffen und der Theorie sozialer
Systeme. Im Anschluss daran wird eine detaillierte Klärung des Beratungsbegriffs vor-
genommen, bei der verschiedene Dimensionen von Beratung behandelt werden. Um die
Relevanz von Beratung im Rahmen der Pädagogik deutlich zu machen, schließt sich
eine Betrachtung des Verhältnisses von Pädagogik und Beratung an. Danach folgt eine
Erörterung des Begriffs systemisch, an die sich eine Beschäftigung mit der konzeptio-
nellen und methodischen Besonderheit systemischer Beratung anschließt. Desweiteren
wird der Bezug dieser Beratungsform zu den erörterten Theorien und Ansätzen explizit
dargelegt. Ein Kapitel zur Beratungs-Professionalität soll den Qualitätsanspruch an pro-
fessionelle Beratungsleistungen verdeutlichen, der auch im Rahmen des systemischen
Beratungsansatzes als Garantiebedingung für Seriosität funktioniert. Abschließend wird
der Paradigmenbegriff Kuhns vorgestellt, um daran anknüpfend die Frage zu behandeln,
wodurch das Paradigma des systemischen Beratungsansatzes gekennzeichnet ist.
Die ausführliche Klärung der Begriffe Beratung, systemisch und Paradigma soll ein
möglichst präzises Bild ihrer jeweiligen Charakteristiken zeichnen, um das Paradigma
systemischer Beratung für den Leser möglichst anschaulich darzustellen.

10
2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN SYSTEMISCHER BERATUNG
2.1 GRUNDLEGENDES
Dieser Teil der Arbeit behandelt die Frage nach der geschichtlichen Konstituierung des
systemischen Weltbildes, sprich die Grundlagen systemischer Beratung. Der systemi-
sche Beratungsansatz ist multidisziplinär geprägt und aufgrund dessen auch nur in der
Auseinandersetzung mit den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen rekonstruierbar,
aus denen er Anleihen bezieht. Zu diesen Disziplinen zählen die Biologie, die Physik,
die Neurowissenschaften, die Philosophie, der Konstruktivismus, die Psychologie, die
naturwissenschaftliche Systemtheorie, die Soziologie, die Familientherapie, die Organi-
sationstheorie, die Kommunikationstheorie, die Theorie der Gruppendynamik, die Ky-
bernetik, die Psychoanalyse, die Ökonomie und die Ökologie, um die wichtigsten zu
nennen (vgl. Königswieser/Hillebrand 2004, S. 25, S. 35).
4
Dem systemischen Weltbild liegen Fragen nach menschlicher Erkenntnisfähigkeit und
Beschreibungsmöglichkeit von Wirklichkeit
5
zu Grunde: Können wir erkennen? Was
können wir erkennen? Wie können wir erkennen? Wie können wir uns des Erkennens
sicher sein? Oder - kantisch gefragt: Was sind die Bedingungen der Möglichkeit von
Erkenntnis?
6
Der Berater fragt sich in Bezug darauf: Wie können wir das, was wir zu
erkennen glauben, adäquat beschreiben und welcher Nutzen ergibt sich daraus für die
Beratung? Auszüge historischer wissenschaftlicher Theorien, die für das Thema der
Arbeit hohe Relevanz besitzen, sollen Aufschluss über Standpunkte und Antwortmög-
lichkeiten zu diesen Fragen liefern.
Es folgt, nach einigen einleitenden Worten, ein Exkurs in die Geschichte der Wissen-
schaft, der sich auf das für die systemische Beratung wichtige 20. Jahrhundert konzent-
riert.
4
Vgl. dazu auch Simons Werk Einführung in die Systemtheorie und Konstruktivismus (2008), das
einen Überblick über die Anleihen der für die systemische Beratung höchst bedeutsamen System-
theorie gibt.
5
Zur Diversität von Wirklichkeitsbegriffen u. a. von Berger/Luckmann, van Fraassens, Dummett,
Putnam, Glasersfeld, Maturana und Luhmann vgl. Riegler 2008, S. 322-324.
6
Vertiefend hierzu sei auf Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) verwiesen.

11
Anders als in den tiefenanalytischen Schulen, bei denen jeweils ein Gründer und ein
Zentrum ausgewiesen werden konnte
7
, hat die systemische Beratung vielfältige Ur-
sprünge. Ein früher Zeuge systemischer, also ganzheitlicher Überlegungen ist Hippo-
krates
, der bereits um 400 vor Christus einen Bruch eines Armes zu heilen wusste und
sich dabei aber fragte, ob es nicht die verminderte Sehfähigkeit des Patienten sei, auf-
grund der er stolperte und sich darauf hin den Arm brach (vgl. v. Foerster 2004, S. 59).
Aristoteles
, der als einer der großen Systematiker und Begründer der abendländischen
Wissenschaft gilt, schrieb: ,,Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile"
(Aristote-
les, 1041 b, in Anlehnung an die Übersetzung Ackrills 1987, S. 312f.). Damit wies er ­
auch oder gerade aus heutiger Sicht nachvollziehbar ­ auf bestimmte Eigenschaften von
Systemen hin, die sich moderne Theorien noch gut 2350 Jahre später zu Nutze machen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das Systemdenken im Zuge militäri-
scher, ökonomischer und logistischer Probleme des Ersten Weltkrieges (vgl. Rit-
ter/Gründer 1998, S. 863). Als in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts die bis dato an-
gewandten linearen Modelle dem wissenschaftlichen Anspruch zur Erklärung kom-
plexer Sachverhalte nicht mehr genügten, kam es zur Herausbildung eines adäquateren
Modells, des Systemmodells (vgl. König/Volmer 2000, S. 23). Lineare Modelle waren
lediglich in der Lage, auf geradlinig-kausale Weise Objekte zu beschreiben (vgl. Simon
2008, S. 13). Im Gegensatz dazu wurden auf Basis des Systemmodells Teile eines Gan-
zen auf ihre Funktionen hin erforscht und die Wechselwirkungen zwischen funktional
zusammenhängenden Teilen und ihre Beziehung zur Umwelt untersucht (vgl. Simon
2008, S. 15f.). An der Schaffung dieses bedeutsamen Erklärungsansatzes war der öster-
reichisch-amerikanische Biologe Bertalanffy maßgeblich beteiligt, weswegen seinen
Überlegungen im folgenden Kapitel eine eingehende Betrachtung gewidmet ist.
2.2 SYSTEMTHEORIE
Mitte des 20. Jahrhunderts beschleunigten Bertalanffy und der Mathematiker Rapoport
durch die Etablierung der "Gesellschaft für allgemeine Systemforschung" und des Year-
book of the Society for the Advancement of General Systems Theory
die Formierung
7
Exemplarisch sei auf Freud, Adler und Jung hingewiesen. Weiterführend zu diesem Thema vgl.
Roback 1970, S. 270-282. der Standard, online-Ausgabe. http://derstandard.at/?url=/?id=2291098.

12
einer allgemeinen Systemtheorie (vgl. Werning et al. 2002, S. 77). Es ist ein gravieren-
der Moment für die Entwicklungsbedingungen systemischen Denkens und somit auch
systemischer Beratung, als Bertalanffy seine wissenschaftshistorisch höchst bedeuten-
den Werke Der Organismus als physikalisches System betrachtet. Die Naturwissen-
schaften
1940 und Zu einer allgemeinen Systemlehre, Biologia Generalis 1949
veröffentlicht (vgl. v. Ameln 2004, S. 27). Vor allem das zweite Werk wird als
Grundstein der modernen Systemtheorie betrachtet (vgl. König/Volmer 2000, S. 24).
Als die hervorragendste Leistung seines OEuvres gilt die von biologischen Erkenntnissen
ausgehende Entwicklung der Systemtheorie als ein allgemein­gültiges, auf verschie-
denste als Systeme definierte Phänomene anwendbares Modell. Durch die Herausarbei-
tung der gemeinsamen Gesetzmäßigkeiten verschiedener Wissensgebiete und das Beo-
bachten deren gemeinsamer Prinzipien gelingt es Bertalanffy, eine in dieser Form nie da
gewesene Metatheorie zu schaffen (vgl. König/Volmer 2000, S. 24). Er konnte somit
einen großen Erfolg gegen die vom linearen Weltbild hingenommenen ,,blind laws of
nature"
(Bertalanffy 1968, S. 33) verbuchen, mit denen er sich nicht abfinden wollte
(vgl. Bertalanffy 1968, S. 33).
Die allgemeine Systemtheorie erlaubt es, unterschiedliche Arten von Wissen zu integrie-
ren und verschiedenste Funktionalismen als Systeme zu beschreiben. Mit Bertalanffys
Modell entsteht ein elementarer Grundstein systemischer Beratung (vgl. v. Ameln 2004,
S. 27). Systeme konstituieren sich in diesem Sinne als Einheiten von Elementen und
sind dabei ­ um wieder auf Aristoteles zurückzukommen ­ mehr als deren bloße
Summe. Dieses Phänomen bezeichnet man heute als Übersummation (vgl. Stengel
2003, S. 58). Es existieren Beziehungen zwischen verschiedenen Elementen eines Sys-
tems und auch zwischen Elementen eines Systems zu anderen Systemen. Dabei können
Wechselwirkungen erzielt werden, die über die begrenzten Eigenschaften der Elemente
hinausgehen (vgl. Bertalanffy 1969, S. 30 - 38). Bertalanffy wollte die allgemeine Sys-
temtheorie als ,,general science of ,wholeness`" (Bertalanffy 1969, S. 37), als allgemeine
Wissenschaft der Ganzheitlichkeit verstanden wissen. Sein Anspruch lag darin, eine
allgemeine Theorie der Systeme auf einem logisch-mathematischen Konzept basieren
zu lassen, das rein formal und auf alle empirischen Wissenschaften anwendbar ist. Bis
zu seinem systemtheoretischen Durchbruch wurde dieses Vorhaben als vages,
gefährliches und halb metaphysisches Konzept betrachtet (vgl. Bertalanffy 1969, S. 37).

13
Die Voraussetzungen und Anforderungen an eine allgemeine Systemtheorie fasst Berta-
lanffy in fünf Punkten zusammen. Erstens diagnostiziert er dabei den Natur- und So-
zialwissenschaften eine allgemeine Integrationstendenz: ,,There is a general tendency
towards integration in the various sciences, natural and social"
(Bertalanffy 1969, S.
38).
8
Zweitens vermutet Bertalanffy die Möglichkeit der Bündelung dieser Integrations-
tendenzen in einer allgemeinen Theorie der Systeme (vgl. Bertalanffy 1969, S. 38).
Drittens
geht er davon aus, dass eine allgemeine Systemtheorie einen bedeutenden Bei-
trag zur Schaffung einer exakten Theorie in den Sozial- und Geisteswissenschaften leis-
ten kann, was sich später bestätigte
9
: ,,Such theory may be an important means for
aiming at exact theory in the nonphysical fields of science"
(Bertalanffy 1969, S. 38).
Viertens: Da die allgemeine Systemtheorie vereinheitlichende Prinzipien entwickelt,
die vertikal durch das Universum der Einzelwissenschaften verlaufen, bringt sie den
Forscher dem Ziel der Einheitlichkeit der Wissenschaften näher (vgl. Bertalanffy 1969,
S. 38). Fünftens wird schließlich eine Prognose hinsichtlich der benötigten Integration
der allgemeinen Systemtheorie in die wissenschaftliche Ausbildung als mögliche Kon-
sequenz der Entwicklung vereinheitlichender, wissenschaftlicher Prinzipien gegeben:
,,This can lead to a much-needed integration in scientific education" (Bertalanffy
1969, S. 38).
Durch die positive Rezeption Bertalanffys wissenschaftlicher Überlegungen kommt es
zu einer raschen Verbreitung der allgemeinen Systemtheorie. Anschließend an diese
avanciert der Systembegriff zu einer Gemeinsamkeit verschiedenster wissenschaftlicher
Disziplinen, so zum Beispiel der Ökologie, der Soziologie, der Familientherapie und der
Organisationstheorie (vgl. Saldern 1991, S. 67ff.). Mit der Ausweitung systemtheoreti-
scher Ansätze entstand gleichzeitig ein Unschärfeproblem, da Unterschiede zwischen
physikalischen und sozialen Systemen teilweise verschleiert oder ausgeblendet wurden.
Speziell im Bezug auf die Anwendung systemischer Ansätze im Feld der Organisa-
tionsberatung bemerkt Wimmer eine ,,mehr vernebelnde als erklärende Begrifflichkeit"
(Wimmer 1992, S. 62). Als Konsequenz dieses Unschärfeproblems erscheint die Unter-
teilung Königs und Volmers in technische, biologische sowie soziale Systeme angeb-
8
In Organismic Psychology and Systems Theory (1968, S. 36) geht Bertalanffy weiter, als nur eine
Integrationstendenz in Natur- und Sozialwissenschaften zu diagnostizieren. Er beschreibt stattdes-
sen eine Notwendigkeit der Neukonzeptualisierung und die Einführung neuer Modelle in Biologie
und Sozial- und Verhaltenswissenschaften.
9
Hier sei stellvertretend auf die Theorie sozialer Systeme Luhmanns von 1984 verwiesen.

14
racht (vgl. König/Volmer 2000, S. 25). Eine Erweiterung um den Begriff der psychi-
schen Systeme, der sich ausschließlich auf Lebewesen mit Bewusstsein bezieht und in
dieser Arbeit eine wichtige Rolle einnehmen wird, erscheint notwendig.
Auch bei der Herausbildung der Kybernetik 1. und 2. Ordnung, die als praktische Um-
setzungen systemtheoretischer Überlegungen gelten, spielte der Systembegriff eine zen-
trale Rolle.
2.3 KYBERNETIK 1. UND 2. ORDNUNG
Die Systemtheorie gewann durch die Kybernetik praktische Bedeutung (vgl. v. Foerster
1979, S. 5-8). Der Begriff Kybernetik wurde 1948 von Wiener als Neologismus in den
wissenschaftlichen Diskurs eingebracht und bedeutet soviel wie Steuerungskunst (vgl.
Wiener, 1948). Simon definiert Kybernetik als ,,Erforschung der Steuerung und Rege-
lung des Verhaltens von Systemen, die von ihrer Umwelt und vom Beobachter isoliert
sind" (Simon 2008, S. 41). Dieses Verständnis wird auch als Kybernetik 1. Ordnung
bezeichnet, die in der Geschichtsschreibung etwa der Phase von 1950 bis 1980 zu-
geordnet wird (vgl. Schlippe/Schweitzer 2003, S. 53). Die Basis des kybernetischen
Modells ist die Feedback-Schleife (Rückkopplungsschleife), die später ein grundlegen-
der Bestandteil systemischer Beratungsarbeit wurde (vgl. Bertalanffy 1969, S. 150; Kö-
nigswieser/Hillebrand 2004, S. 50ff.). Mit der Entwicklung der Steuerungstechnik er-
möglicht es die Kybernetik, Rezeptoren mit Effektoren zu koppeln und Eingriffe in
technische Systeme kontrolliert zu steuern (vgl. v. Glasersfeld 1997, S. 244-248). Ein
Beispiel hierfür ist eine Heizung, die automatisch mittels Sensoren und Effektoren die
Temperatur misst und einem Sollwert anpasst, falls diese über oder unter diesem be-
stimmten Temperaturgrenzwert registriert wird. Dahinter steckt die Idee der Homöosta-
se, sprich der Erhaltung von Gleichgewicht (vgl. Schlippe/Schweitzer 2003, S. 61f.).
Es kommt neben der technisch ausgerichteten auch zu einer kognitiv orientierten Sys-
temforschung in den Humanwissenschaften (vgl. Ackoff 1963, S. 117-121; Bateson
1992; Luhmann 2005; Watzlawick 1981). Vorerst werden im Rahmen der Kybernetik 1.
Ordnung auch Menschen als kybernetische Regelkreise interpretiert und als quasi
"steuerbare Maschinen-Systeme" behandelt. Es stellt sich heraus, dass man den Mensch

15
nicht als "triviale Maschine" behandeln kann. Der Begriff triviale Maschine geht auf
von Foerster zurück, der damit ein festgelegtes Prozedere in bezug auf Maschinen be-
schriebt: Triviale Maschinen wandlen inputs aus ihrer Umwelt nach einem immer glei-
chen internen Verarbeitungsschema in outputs (vgl. v. Foerster 1984, S. 9-13). Deshalb
ergeben stets gleiche inputs auch stets gleiche outputs. Die praktische Nicht-
Anwendbarkeit dieses Ansatzes auf Menschen hat Powers (1978) gründlich herausar-
beitet. Er weist dabei auf Fehlfunktionen von Rückkopplungsmechanismen in lebenden
Organismen hin (vgl. Powers 1978, S. 417-435). Die kybernetische Annahme, dass
Modelle eine reale Existenz abbilden, wird später durch die Überlegungen zur Operati-
on Beobachtung verworfen (vgl. Luhmann 1990, S. 51ff.). Beobachtung ist dabei ,,Un-
terscheiden und Bezeichnen"
(Luhmann 1997, S. 69). Die Kybernetik 1. Ordnung prok-
lamierte die objektive Gegebenheit von Gegenständen der Beobachtung. Die modernere
kybernetische Perspektive (etwa ab 1980) sieht im Gegensatz dazu ein System erst
durch die Beobachtung als Resultat seiner Konstruktion entstehen (vgl. Schlip-
pe/Schweitzer 2003, S. 53; Luhmann 1987, S. 408f.). In dieser Konzeption ist die Sys-
temtheorie eine Theorie der Systeme, die Beobachtungssysteme als Prämissen voraus-
setzt (vgl. Baraldi et al. 1998, S. 196). Diesbezüglich kritisiert v. Foerster die "Absurdi-
tät" des Konzepts der Objektivität, das eine Trennung von Beobachter und Beobachte-
tem vornimmt (vgl. v. Foerster 2002, S. 44). Er begründet dies mit der Erklärung, dass
weder Beobachtung noch Beschreibung übrig bleiben, wenn man die Eigenschaften des
Beobachters (Beobachten und Beschreiben) ausschließt (vgl. v. Foerster 2002, S. 44).
Aufgrund des Rückbezuges auf sich selbst werden Systeme zu einem mehrstufigen
Schema: Erst durch die Beobachtung kommt es zur Entstehung von Systemen und dabei
wird der Beobachtende zu einem Teil des von ihm beobachteten Systems. Im Rahmen
der Kybernetik 2. Ordnung werden diese Erkenntnisse durch den kognitiven Zirkel der
Selbstbezüglichkeit als kybernetische Schleife dargestellt (vgl. Ritter/Gründer 1998, S.
864).
10
Der von Bateson gedanklich angestoßene Begriff der systemischen Analyse spielt hier-
bei eine entscheidende, wenn nicht sogar revolutionäre Rolle für die Herausbildung des
systemischen Beratungsansatzes. Er steht für den Wechsel von intrapsychischen Analy-
10
Der Begriff Kybernetik 2. Ordnung, auch Kybernetik der Kybernetik genannt, wurde 1979 von
Heinz von Foerster sowie der Palo Alto-Gruppe (Bateson, Haley, Watzlawick) geprägt (vgl. von
Foerster 1979).

16
sen zu Beobachtungen von Relationen in Sozialsystemen, woraus auch die Familienthe-
rapie und die Kommunikationstherapie hervorgegangen sind (vgl. Ritter/Gründer 1998,
S. 864). Man kann die systemische Analyse nach Bertalanffys Formulierung der allge-
meinen Systemtheorie als zweite Geburtsstunde des systemischen Beratungsansatzes
bezeichnen.
Im Zuge der Praktizierung der Kybernetik 2. Ordnung in sozialen Umgebungen wurde
das maschinelle Leitbild der "steuerbaren Maschine Mensch" durch die systemische
Analyse ersetzt. Diese Entwicklung wird auch durch die Überlegungen Erismanns
nachvollziehbar. Er kommt in seiner Abhandlung über den Homunculus Sapiens Cyber-
netes (etwa: künstlich geschaffener, kluger und kybernetischer Mensch) zu dem
Schluss, dass der Mensch unter Umständen in einer gewissen Weise maschinell nach-
gebaut werden könnte, jedoch nicht mit einer menschlichen Art des Denkens und schon
gar nicht mit Bewusstsein und Gefühlen ausgerüstet werden könnte (vgl. Erismann
1972, S. 173-175). Dies weist indirekt auf die Unmöglichkeit einer komplett funktionie-
renden Anwendung einer für Maschinen konzipierten Kybernetik auf Menschen hin.
Diesem Anspruch versucht die Kybernetik 2. Ordnung gerecht zu werden, in dem sie
sich nicht auf die Eigenschaften, die angeblich den Objekten innewohnen konzentriert,
sondern auf die Eigenschaften des Beobachters dieser Objekte. Der Ausgangspunkt ist
dabei also die Beobachtung eines Beobachters, die mit einer Endlosschleife an Rekur-
sionen und Selbstreferenz einhergeht (vgl. v. Foerster 2002, S. 71).
Es folgte eine Reihe von für die systemische Beratung relevanten Innovationen, die ver-
suchten, Bertalanffys systemtheoretisches Modell weiter zu entwickeln und es auf be-
stimmte wissenschaftliche Bereiche anzuwenden. Beginnend bei Batesons Double-
Bind-Theory über Jacksons Ansatz der Familienhomöostase und Interaktionstheorie bis
hin zur Familientherapie Satirs kam es zu einer Adaption der allgemeinen Systemtheo-
rie in Fachgebieten, die sich mit menschlicher Interaktion, Kommunikation und Bera-
tungs- und Therapieverfahren befassen.
11
Da die Familientherapie eine entscheidende
Rolle bei der Herausbildung des systemischen Beratungsansatzes spielte, beschäftigt
sich das folgende Kapitel ausführlicher mit dem Konzept dieser speziellen Therapie-
form (vgl. Saam 2002, S. 117; Schlippe/Schweitzer 2003, S. 17; Kriz 1985).
11
Das Prinzip der Double-Bind-Theory ist nachzulesen in Bateson et al. 1956, S. 251-264. Als
Grundlegendes Werk zur Familienhomöostase vgl. Jackson (1957). Einen Überblick über die Inter-
aktionstheorie vermittelt Jackson 1959, S. 121-141.

17
2.4 FAMILIENTHERAPIE
Systemische Therapie beziehungsweise Familientherapie gelten als Vorläufer der sys-
temischen Beratung (vgl. Brunner 2004, S. 655). Da die systemische Beratung entschei-
dend durch die Familientherapie geprägt ist, die wiederum von der allgemeinen System-
theorie Anleihen bezieht, wirken sich Bertalanffys Ideen indirekt auf die Konstitution
des systemischen Beratungsansatzes aus, indem sie dieser Konsultationsform die
Grundlage für ein Systemverständnis vermitteln (vgl. Saam 2002, S. 117).
Mitte des 20. Jahrhunderts kam es zu ersten Versuchen der Familientherapie, indem
einzelne Therapie-Avantgardisten über die Einzel- und Gruppentherapie hinaus neue
Konzepte ausprobierten (vgl. Schlippe/Schweitzer 2003, S. 17). Die Familientherapie,
die auf Grundlagen der Systemtheorie zurückgreift, versucht die Probleme einzelner
Familienmitglieder im ,,Gefüge des Familien-Ganzen" (Brunner 2004, S. 655) zu be-
trachten und wendet sich von einer isolierten Betrachtung einzelner Personen ab. Das
kommt dadurch zum Ausdruck, dass beim Versuch der Klärung von Problemursachen
eines Familienmitglieds alle Mitglieder der Familie integriert werden (vgl. Brunner
2004, S. 655). Eben diesen ganzheitlichen, auf die systemische Analyse aufbauenden
Ansatz, werden die systemische Beratung und Therapie später weiter verfolgen, indem
sie die psychischen und sozialen Systeme im Umfeld der Klienten mit in den Bera-
tungsprozess einbezieht. Die Veröffentlichung von Richardsons Buch Patients have
Families
(1945) leitete diesen Wandel ein. Die Inhalte des Werkes wurden zur damali-
gen Zeit von der Fachwelt als Sensation erfahren, sie waren laut Schlippe und Schweit-
zer die Vorstufe zu einem Paradigmenwechsel, einer grundlegenden Veränderung der
Weltsicht (vgl. Schlippe/Schweitzer 2003, S. 19).
Als herausragende Vertreter des Ansatzes der Familientherapie sind unter anderen Satir,
Minuchin und Selvini Palazzoli zu nennen, die jeweils als Vertreter für eine andere
Ausrichtung der Familientherapie stehen: Satir für eine humanistische und erlebnis-
orientierte, Minuchin für eine strukturell-strategische Variante und Selvini Palazzoli mit
dem Mailänder Modell für eine interaktionsorientierte Variante (vgl. Schlip-
pe/Schweitzer 2003, S. 18-23).
12
Minuchin und Selvini Palazzoli orientierten beide ihr
Konzept am Homöostase-Prinzip. Dabei gingen sie von einem Ideal-Zustand der Fami-
12
Einen Überblick über die verschiedenen Orientierungen und weitere Vertreter der Familienthe-
rapie geben Schlippe/Schweitzer 2003, S. 18-23.

18
lie, einem funktionalen Familiensystem aus, das als erstrebenwert galt. So wurde ­ ähn-
lich den Prinzipien der Kybernetik 1. Ordnung ­ durch therapeutisch oft massive Ein-
griffe versucht, das dysfunktionale Familiensystem zu einem funktionalen Zustand zu
bewegen (vgl. Schlippe/Schweitzer 2003, S. 50).
Im deutschen Raum stechen insbesondere zwei Persönlichkeiten hervor: zum einen
Stierlin, der als Begründer der Heidelberger Familientherapie gilt und sich als Verfech-
ter des psychoanalytisch orientierten narrativen Ansatzes auf Mehrgenerationenperspek-
tive und Paartherapie spezialisiert hat (vgl. Stierlin 1979, S. 106-116); zum anderen
Hellinger, der durch seine Ultra-Kurztherapie, eine Art Skulpturarbeit, für Aufsehen
sorgte und die neuere Diskussion in der systemischen Therapie entfachte (vgl. Krüll
1995, S. 27).
Als Folge der Etablierung des Konzepts der Familientherapie in den 1960er und 1970er
Jahren, kam es zu einer verstärkten Hinterfragung der ,,Orientierung an der Familie als
Behandlungseinheit"
(Schlippe/Schweitzer 2003, S. 17). Da die Familie nur eine Art
sozialer Organisation von Menschen darstellt, konzentrierte man sich verstärkt auf die
strukturelle Funktionsweise der Familientherapie und versuchte eine perspektivische
Ebene zu erreichen, die losgelöst vom sozialen System Familie existieren kann. Darauf-
hin emanzipierte sich die systemische Sichtweise mehr und mehr vom konkreten Kon-
zept der Familientherapie (vgl. Brunner 2004, S. 656). Reiter beschreibt diese bewusste
Abstraktion der Methode vom Familien-Setting par excellence: ,,Von der Familienthe-
rapie zur systemischen Perspektive"
(Reiter 1988, S. 24). Anders formuliert, kann man
die systemische Beratung als ein Derivat der Familientherapie begreifen. Eben diese
Emanzipierung systemischer Therapie- und Beratungsarbeit kann als die dritte Geburts-
stunde systemischer Beratung begriffen werden. Zwei weitere Folgen dieser Entwick-
lung waren, dass man zunehmend den Terminus "systemische Therapie"
13
anstatt "Fa-
milientherapie" im Sprachgebrauch führte und innerhalb der Systemtheorie den Fokus
vom Zentralbegriff des Gleichgewichts auf die Veränderung von Systemen setzte (vgl.
Schlippe/Schweitzer 2003, S. 17).
13
Zwischen systemischer Therapie und systemischer Beratung bestehen keine grundsätzlichen
theoretischen und methodischen Differenzen. Unterschiede resultieren aus den Handlungsfeldern,
die divergierende Eigen-Logiken aufweisen wie beispielsweise Medizin, Psychotherapie und Sozial-
arbeit (vgl. Schlippe/Schweitzer 2003, S. 15).

19
Die Familientherapie bezieht sich in ihren Methoden unter anderem auf den Konstrukti-
vismus, dessen Annahmen im nächsten Kapitel beleuchtet werden (vgl. Schlip-
pe/Schweitzer 2003, S. 28f.).
2.5 KONSTRUKTIVISMUS
Das Gedankengut des Konstruktivismus ist grundlegend für das Konzept des systemi-
schen Denkens (vgl. Saam 2002, S. 117). Für die vorliegende Arbeit haben jedoch die
Annahmen des radikalen Konstruktivismus von Glasersfelds (vgl. von Glasersfeld 1995,
1997) und die Annahmen des Sozialkonstruktivismus mehr Gewicht als etwa der Erlan-
ger Konstruktivismus.
14
,,Die Welt ist für uns stets eine Antwort, die von der Frage abhängt, die wir an sie
stellen" (Brzozowski 1984, S. 145). Dieses Zitat Brzozowskis bringt zum Ausdruck,
dass die Bedingungen der Antwort auf eine Frage immer schon in der jeweiligen ge-
stellten Frage liegen. Adaptiert man dieses Zitat analog und formuliert es folgenderma-
ßen neu, kann die Aussage vordergründiger auf einer konstruktivistisch-
perspektivischen Ebene wirken: Die Welt tritt uns stets so in Erscheinung, wie wir sie
als Betrachter aus unserem jeweiligen Blickwinkel heraus konstruieren. Stimmt man
dem zu und nimmt an, dass der Mensch an seiner Wirklichkeitskonstruktion maßgeblich
Teil hat, so bescheinigt man ihm eine Art Einfluss auf die Wahrnehmung seiner Welt.
Weitet man diesen Einfluss aus auf die Anerkennung der Notwendigkeit innerer Wirk-
lichkeitskonstruktion, so könnte man sich in der Theorie des Konstruktivismus wieder
finden.
Als erkenntnistheoretische Position steht der Konstruktivismus für die Auffassung, dass
Menschen Wirklichkeit subjektiv konstruieren und nicht wie nach den Ideen des Rea-
lismus objektiv entdecken (vgl. v. Glasersfeld 1997, S. 190).
15
Das konstruktivistische
Programm drückt sich anschaulich im Titel eines Buches von Watzlawick aus: Die er-
fundene Wirklichkeit
(1981). Anstelle des Begriffs der Realität arbeitet man mit Bildern,
14
Trotz dessen soll der Sinn der Methodologie der von Kamlah und Lorenzen begründeten Art des
Konstruktivismus in keiner Weise in Abrede gestellt werden (vgl. Lorenzen 1974). Diese konstruk-
tivistische Variante beschäftigte sich mit dem Anspruch der methodischen Rekapitulierbarkeit
wissenschaftlichen Arbeitens.
15
Vergleiche zu Grundlegendem und neueren Diskussionen zum Realismus Lyre, H. (2004).

20
sprich subjektiven Deutungen oder Konstruktionen der Realität (vgl. v. Glasersfeld
1997, S. 193). Dass es eine Welt außerhalb unserer Wahrnehmung gibt, wird von den
Konstruktivisten nicht verneint. In ihren Ansätzen betonen sie vordergründig die aus-
schließliche Zugänglichkeit zur Welt via Konzeption statt Perzeption (vgl. v. Glasers-
feld 1997, S. 265f.). Das impliziert die Unmöglichkeit der Existenz einer objektiv er-
fahrbaren Wirklichkeit, da die Welt, wie wir sie wahrnehmen, immer eine bereits inter-
pretierte Welt ist. V. Foerster bringt diesen Sachverhalt folgendermaßen auf den Punkt
und verdeutlicht den konstruktivistischen Charakter dessen, was man als Wirklichkeit
begreifen könnte: ,,Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung" (von
Foerster 1981b, S. 40). Unter Bezug auf Wittgenstein, der bis zu seinem Tod vergeblich
versuchte, das subjektive Element in seinen Erklärungen zu eliminieren, behauptet v.
Glasersfeld die Unvermeidbarkeit des Subjektiven im Wahrnehmen und Denken (vgl. v.
Glasersfeld 1997, S. 219). Dieses Postulat ist grundlegend für den Konstruktivismus, da
es unter der Annahme permanenter Subjektivität keine Objektivität geben kann, die als
Bedingung objektiver Erfahrbarkeit von Realität gedacht wird.
16
Dieser Sachverhalt
gründet schon in der Überlegung der Skeptiker, ,,daß menschliche Erkenntnis nicht
durch ein Verfahren bewahrheitet werden kann, das selbst die Mechanismen der
menschlichen Erkenntnis beansprucht"
(v. Glasersfeld 1997, S. 190f.). Die konstrukti-
vistische Theorie kann auf viele geistige Wegbereiter zurückblicken, zu denen unter
anderen Descartes, Locke, Berkeley, Hume, Bentham, Vico und Kant zu zählen sind
(vgl. v. Glasersfeld 1997, S. 65-82; v. Ameln 2004, S. 11-16).
Radikaler Konstruktivismus
Aus konstruktivistischer Sicht ist es grundlegend fraglich, ob es ­ unabhängig von ihrer
Erkennbarkeit ­ überhaupt eine objektive Welt gibt, was der radikale Konstruktivismus
im Gegensatz zum Konstruktivismus von Grund auf bezweifelt. Die Radikalität des
radikalen Konstruktivismus erstreckt sich allerdings nicht auf die Ablehnung neuer Er-
klärungsmodelle. Er steht der Entwicklung neuer, sogenannter viablerer (gangbarer)
Theorien offen gegenüber (vgl. v. Glasersfeld 1997, S. 13). Beim Viabilitäts-Konzept
wird davon ausgegangen, dass andere Erklärungsansätze nicht minder gut funktionieren
könnten (vgl. v. Glasersfeld 1997, S. 13). Die Viabilität von Theorien schließt in diesem
16
Zur Abgrenzung des Konstruktivismus von anderen wissenschaftstheoretischen Ansätzen sei auf
Hacker 1978, S. 87-122 verwiesen, der eine ausführliche inhaltliche Verortung des Konstruktivis-
mus vornimmt.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836636506
DOI
10.3239/9783836636506
Dateigröße
951 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena – Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften, Erziehungswissenschaften
Erscheinungsdatum
2009 (Oktober)
Note
1,6
Schlagworte
wissenschaft sozialpädagogik kybernetik psychologie verhaltenswissenschaft beratung
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Titel: Das Paradigma des systemischen Beratungsansatzes in pädagogischen Handlungsfeldern
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