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Barrierefreiheit im World Wide Web

Analysen zu Bedarf und Umsetzbarkeit

©2007 Doktorarbeit / Dissertation 258 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
‘Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind’.
In der Öffentlichkeit ist der Begriff der Barrierefreiheit (BF) spätestens seit In-Kraft-Treten des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) im April 2002 allgemein bekannt. Jedoch ist die Vorstellung davon, was er bedeutet, offenbar noch recht diffus. Jede Person, die der Autor bislang über Barrierefreiheit befragte, antwortete mit vagen Beispiele, die lediglich die Stichworte ‘Rollstuhlfahrer” und ‘Blinde’ gemeinsam hatten.
Dabei hat der Gesetzgeber das BGG recht unmissverständlich formuliert. Die Definitionen der Begriffe Behinderung (§ 3), Barrierefreiheit (wie vor) sowie Barrierefreie Informationstechnik (§ 11) sind erfreulich kurz und klar. Das deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber eben nicht besondere Maßnahmen für Randgruppen vorschreiben will. Vielmehr möchte er sozusagen ‘mit sanftem Druck’ darauf hinwirken, dass alle Einrichtungen für alle Menschen gleich gut zugänglich gemacht werden.
Ein Beispiel: Ein Hauseingang, zu dem man von der Straße aus nur über drei Stufen gelangt, ist für einen Rollstuhlfahrer nicht erreichbar. Der Hauseigentümer weigert sich aus Kostengründen, die Barriere zu beseitigen. Schließlich überredet man ihn, wenigstens eine einfache, preiswerte Rampe anzulegen, die die Straße mit dem obersten Treppenabsatz verbindet. Nun kann der Rollstuhlfalirer die Tür aus eigener Kraft erreichen ó und bleibt nicht der Einzige, der sich freut: Auch der Postbote kommt jetzt mit seiner schweren Sackkarre viel besser ins Haus. Der Vertriebschef muss seinen Rollkoffer nicht mehr anheben. Der Buchhalter kann sein Fahrrad besser in den Hinterhof bringen. Ein Mehrwert für viele Menschen ist entstanden, den es ohne Barrierefreiheit nicht gegeben hätte.
Ähnlich verhält es sich mit der Barrierefreiheit im World Wide Web (kurz: Web). Der Autor kann sich an die Anfänge dieses Internet-Dienstes erinnern. Die ersten Webseiten sollten einfach nur Inhalte transportieren und bestanden nur aus Textpassagen und Überschriften zur Strukturierung. Durch Anpassung der Schriftgröße oder -farbe waren diese Dokumente für […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Michael Meron
Barrierefreiheit im World Wide Web
Analysen zu Bedarf und Umsetzbarkeit
ISBN: 978-3-8366-3590-5
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2009
Zugl. Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland, Dissertation / Doktorarbeit, 2007
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2009

v
Zusammenfassung
Im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) steht, barrierefrei seien
,,bauliche und sonstige Anlagen [...], wenn sie für behinderte Men-
schen in der allgemein üblichen Weise [...] und grundsätzlich ohne
fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind". In der Öffentlichkeit
jedoch ist der Begriff der Barrierefreiheit noch immer klischeehaft
mit ,,Rollstuhlfahrer" und ,,Blinde" assoziiert. Die Barrierefreiheit
im World Wide Web, die sich mit barrierefreien Internetseiten be-
schäftigt, macht da keine Ausnahme.
Deshalb wird zunächst gezeigt, dass barrierefreie Seiten solche sind,
die leichteren Zugriff für alle bieten ­ egal ob behindert oder nicht.
Hierzu wird das Thema ganzheitlich, d. h. von allen beteiligten Seiten
betrachtet: politisch, medizinisch, betriebswirtschaftlich und freilich
aus Sicht des Informatikers. Eine betriebswirtschaftliche Betrach-
tung leitet eine Erklärung dafür ab, warum die Barrierefreiheit bis-
lang für Großfirmen noch nicht so interessant ist. Eine große Fall-
studie berichtet über die Vorgehensweise eines Projektteams zur
Umstellung der eigenen Website auf Barrierefreiheit.
Für Firmen, die sich einen solchen Aufwand nicht erlauben können,
wird eine neue Methode vorgestellt, der Trichter-Test (TT). Der TT
ermöglicht eine zuverlässige Aussage über die Barrierefreiheit einer
gegebenen Website in nur wenigen Minuten. Er wird in Form des
Expertensystems ESRA in Software entworfen und implementiert.
Nun kann sich jeder Laie von ESRA durch ein Interview führen las-
sen und die Barrierefreiheit seiner Website selbst ermitteln: Ist sie
barrierefrei, -arm, -reduziert oder -behaftet? Für fachliche Rückfra-
gen enthält ESRA ein Erklärungsmodul.

vi
Zum Schluss wird die Barrierefreiheit-Pyramide vorgestellt, die zeigt,
wie sich alle interdisziplinären Ansätze zu einem systematischen
und harmonischen Ganzen zusammenfügen.

vii
Abstract
According to the German Behindertengleichstellungsgesetz (Disabil-
ities Act), things are accessible if they can be used by disabled people
in exactly the same ,usual` way as by non-disabled people. In the
general public, however, the term accessibility is still associated with
,wheelchair users` and ,blind people`. Unfortunately this association
applies just as well to accessible web sites, the term that this thesis is
dealing with.
So the first thing to do is to show that accessible web sites are ones
that are easy to cope with for everybody. They are neither different
nor special in any way; they just do not lock anybody out. Conse-
quently, it has to be found out why only so few web sites are al-
ready accessible. In order to find both the cause and the cure, acces-
sibility must be approached in a new, holistic way, that regards it
from all possible sides ­ politically, medically, economically and, of
course, from the view of the computer scientist.
The political aspects of accessibility in Germany are being researched
and compiled into a very comprehensive list, which provides a pro-
found knowledge of both historical and current regulations. The
medical aspect is considered. The term indication classes is first de-
fined, then matched against ,live` statistical data, to verify that ac-
cessibility in theory and in practice are not different. The economical
aspects are approached from two sides: First, a big case study shows
how a big global company managed to make their web sites accessi-
ble. Second, the introduction of a new tool called the Funnel Test
makes it possible to verify a given web site`s accessibility level in
just a couple of minutes. In the experimental part of the thesis, the
Funnel Test is implemented in software: The Expert System for Rating

viii
Accessibility (ESRA) gives expert-level accessibility advice to every-
body who has got a browser and internet access.
Last but not least, the Accessibility Pyramid is introduced, showing
how all former interdisciplinary aspects join to form the new holistic
view of web accessibility.

ix
Danksagung
Ich danke allen, die mich bei der Erstellung meiner Dissertation be-
gleitet haben.
Mein erster und ganz besonderer Dank geht an meinen Doktorvater,
Herrn Prof. Horst Oberquelle: Danke für die Chance, die Sie mir ga-
ben, für die stets offene Tür und für die viele Zeit, die Sie sich für
mich nahmen. Ein herzliches Dankeschön auch an Herrn Prof. Wolf-
gang Wünschmann für das Zweitgutachten.
Für die Prüfung der in der Arbeit beschriebenen medizinischen
Sachverhalte bedanke ich mich bei den Herren Dres. med. Enno Bia-
las, Claus Blanke-Roeser und Thomas Hofmann. Herrn Dipl.-Kfm. An-
dré Schütze danke ich für die kaufmännische Expertise, mit der er
mir zur Spurensuche im Bilanzrecht und im Sarbanes-Oxley-Act
den Weg wies. Mein Dank geht auch an Herrn Prof. Franz Sturm für
das Lektorat, an Herrn Philipp Becker für die Beschaffung vieler Lan-
desgesetze, Verordnungen und Beschlüsse, sowie an Herrn Thomas
Mayer vom BIK für seine Auskünfte zu den Kurztests.
Meiner Frau Andrea und meinen Töchtern Dana, Katharina und Jo-
hanna danke ich für ihre Nachsicht, wenn ich schon wieder am
Rechner saß, um zu arbeiten. Und auch einfach dafür, dass sie da
sind.
Hamburg, im Sommer 2007
Michael Meron

x
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung ... 1
1.1
Barrierefreiheit ... 1
1.2
Motivation ... 3
1.3
Ziele ... 4
1.4
Aufbau der Arbeit ... 5
1.5
Hinweise ... 6
2
Bestandsaufnahme: Barrierefreiheit ... 8
2.1
Überblick ... 8
2.2
Medizinische Basis ... 11
2.3
Gesetze und Verordnungen ... 12
2.4
Selbsthilfegruppen, Initiativen und Stiftungen ... 22
2.5
Kommerzielle Angebote ... 28
2.6
Zertifizierung nach DIN CERTCO ... 30
2.7
Statistische Basis ... 32
2.8
Zusammenfassung ... 35
3
Bestandsaufnahme: Betriebswirtschaftslehre ... 38
3.1
Betriebswirtschaftliche Basis ... 38
3.2
Typische Erfolgsmessung - allgemein ... 46
3.3
Typische Erfolgsmessung - Web ... 48
3.4
Zusammenfassung ... 51
4
Fallstudie: PharmaCorp ... 52
4.1
Vorstellung und Umfeld ... 52
4.2
Spezielle Rahmenbedingungen ... 62
4.3
Projektphasen zur Umstellung auf Barrierefreiheit ... 64
4.4
Zusammenfassung ... 83

xi
5
Tools zur Analyse der Barrierefreiheit ... 86
5.1
Bobby ... 87
5.2
LIFT ... 90
5.3
BIK-Kurztest ... 92
5.4
BIENE Award ... 94
5.5
Zusammenfassung ... 95
6
Der Trichter-Test ... 96
6.1
Überblick ... 96
6.2
Filter-Stufen ... 97
6.3
Vollständigkeit ... 105
6.4
Zusammenfassung ... 107
7
Weitere Fallstudien ... 108
7.1
Manchester Guitar Tech ... 108
7.2
Vergleich: Trichter- vs. BIK-Kurztest ... 120
7.3
Zusammenfassung ... 125
8
Exkurs: Expertensysteme ... 128
8.1
Einführung ... 128
8.2
Datenstrukturen und Inferenz ... 132
8.3
Umgang mit unsicherem Wissen ... 138
8.4
Zusammenfassung ... 140
9
ESRA ­ Ein Expertensystem zur Bewertung von Barrierefrei-
heit im Web ... 142
9.1
Auswahl der Entwicklungsumgebung ... 142
9.2
Implementierung ... 144
9.3
Test: Analyse ausgewählter Sites ... 164
9.4
Zusammenfassung ... 173

xii
Kap. 1 ­ Einleitung
10
Zusammenfassung und Ausblick ... 176
10.1 Barrierefreiheit/BITV Korrelationen ... 176
10.2 Die Barrierefreiheit-Pyramide ... 180
10.3 Leitsätze ... 182
10.4 Ausblick ... 185
11
Quellenverzeichnis ... 188
Anhang ... 198
A
Abkürzungen ... 198
B
Glossar ... 202
C
Abbildungsverzeichnis ... 210
D
Tabellen- u. Listenverzeichnis ... 213
E
Formulare ... 216
F
Fragebogen ... 233
G
Sitzungsprotokolle ... 235
H
e2glite Dokumentation ... 247

1.1 Barrierefreiheit
1
1
Einleitung
1.1
Barrierefreiheit
,,Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrs-
mittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Infor-
mationsverarbeitung, akustische und visuelle Informations-
quellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere ge-
staltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in
der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis
und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar
sind." (Bundesgleichstellungsgesetz 2002 §4)
In der Öffentlichkeit ist der Begriff der Barrierefreiheit (BF) spätestens
seit In-Kraft-Treten des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG)
im April 2002 allgemein bekannt. Jedoch ist die Vorstellung davon,
was er bedeutet, offenbar noch recht diffus. Jede Person, die der Au-
tor bislang über Barrierefreiheit befragte, antwortete mit vagen Bei-
spielen ­ die lediglich die Stichworte ,,Rollstuhlfahrer" und ,,Blinde"
gemeinsam hatten.
Dabei hat der Gesetzgeber das BGG recht unmissverständlich for-
muliert. Die Definitionen der Begriffe Behinderung (§ 3), Barrierefrei-
heit (wie vor) sowie Barrierefreie Informationstechnik (§ 11) sind erfreu-
lich kurz und klar (BGG 2002). Das deutet darauf hin, dass der Ge-
setzgeber eben nicht besondere Maßnahmen für Randgruppen vor-
schreiben will. Vielmehr möchte er sozusagen ,,mit sanftem Druck"
darauf hinwirken, dass alle Einrichtungen für alle Menschen gleich
gut zugänglich gemacht werden.
Ein Beispiel: Ein Hauseingang, zu dem man von der Straße aus nur
über drei Stufen gelangt, ist für einen Rollstuhlfahrer nicht erreich-
bar. Der Hauseigentümer weigert sich aus Kostengründen, die Bar-

2
Kap. 1 ­ Einleitung
riere zu beseitigen. Schließlich überredet man ihn, wenigstens eine
einfache, preiswerte Rampe anzulegen, die die Straße mit dem ober-
sten Treppenabsatz verbindet. Nun kann der Rollstuhlfahrer die Tür
aus eigener Kraft erreichen ­ und bleibt nicht der Einzige, der sich
freut: Auch der Postbote kommt jetzt mit seiner schweren Sackkarre
viel besser ins Haus. Der Vertriebschef muss seinen Rollkoffer nicht
mehr anheben. Der Buchhalter kann sein Fahrrad besser in den Hin-
terhof bringen. Ein Mehrwert für viele Menschen ist entstanden, den
es ohne Barrierefreiheit nicht gegeben hätte.
Ähnlich verhält es sich mit der Barrierefreiheit im World Wide Web
(kurz: Web). Der Autor kann sich an die Anfänge dieses Internet-
Dienstes erinnern. Die ersten Webseiten sollten einfach nur Inhalte
transportieren und bestanden nur aus Textpassagen und Überschrif-
ten zur Strukturierung. Durch Anpassung der Schriftgröße oder -
farbe waren diese Dokumente für sehbehinderte Menschen pro-
blemlos zugänglich. Leider ging dieser Zustand im Laufe der Kom-
merzialisierung des Web verloren. Screen Designer setzten Tabellen
zweckfremd zur Layoutgestaltung ein, verwendeten feste Schrift-
größen und versahen Grafiken nicht mit den sog. Alternativ-Texten,
welche sich Sehbehinderte vorlesen lassen können. Dabei müssen
ein ansprechendes Layout und Barrierefreiheit keine Widersprüche
sein. Im Grunde genommen ist eine barrierefreie Website ja nur eine
solche, die (a) syntaktisch korrekt ist und (b) ausschließlich mit den dafür
vorgesehenen Mitteln strukturiert wurde.

1.2 Motivation
3
1.2
Motivation
Im Herbst 2006 ist es immer noch so, dass sich die Erkenntnis der im
vorangegangenen Absatz beschriebenen ,,Win-Win-Situation", in
der alle Beteiligten von der Barrierefreiheit im Web profitieren, noch
nicht durchgesetzt hat. In der Praxis bedeutet das: Wer seine Web-
sites nicht umstellen muss (wie die Bundesbehörden, vgl. Abs. 2.3),
der tut es auch nicht, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Das
möchte der Autor, der wiederholt Erfahrungen mit Behinderungen
machen musste, ändern.
Dazu muss ergründet werden, warum selbst so bekannte Werke der
Fachliteratur wie z. B. Homepage Usability (Nielsen 2002), Barrierefrei-
es Webdesign (Hellbusch 2005) oder Cost-Justifying Usability (Bias
2005) bislang so relativ wenig ausrichten konnten. Eventuell senden
die Barrierefreiheit-Befürworter zwar die richtigen Botschaften, aber
in die falschen Ohren? Es wird ein Schwerpunkt dieser Arbeit sein,
die gewohnte technische Sicht um die kaufmännische Sicht zu er-
weitern, um daraus Argumente abzuleiten, die die Entscheider in
der Wirtschaft von der Investition in Barrierefreiheit überzeugen
können.
Aber auch die Betriebswirtschaftslehre hilft nicht allein. Auch der
Stand der Politik, manifestiert durch Gesetze und Verordnungen in
Bund und Ländern, ist genau zu dokumentieren, um die gültigen
Vorschriften zu kennen.
Sobald die Vorschriften bekannt sind, sind sie auch zu hinterfragen.
Wird denn das BGG wirklich allen Behinderten gleichermaßen ge-
recht? Beispiel: Forderung nach kontrastreicher Darstellung. Eine
Bildschirmdarstellung mit grünen Zeichen auf schwarzem Grund
behagt dem ±Glaukom-Patienten sehr, ist aber für den depressiven
Patienten ±kontraindiziert. Viele ähnliche Beispiele existieren. Ein
medizinisches Klassifikationsschema, mit dessen Hilfe Maßnahmen

4
Kap. 1 ­ Einleitung
zur Barrierefreiheit nach medizinischer ±Indikation abgegrenzt
werden können, existiert bislang nicht. Das ist zu ändern.
Die Barrierefreiheit im Web ist ein interdisziplinäres Projekt. Es ist
von Informatikern, Kaufleuten, Medizinern oder Politikern, jeweils
auf sich alleine gestellt, nicht voranzutreiben, aber ein ganzheitlicher
Ansatz verspricht Erfolg.
1.3
Ziele
Aufgrund der beschriebenen Motivation soll die vorliegende Arbeit
die folgenden wissenschaftlichen Fragestellungen beantworten:
1. Vollständige Zusammenstellung der Daten und Fakten zum
Thema Barrierefreiheit in Deutschland, mit Schwerpunkt Bar-
rierefreiheit im Web. Vom historischen Überblick über die ak-
tuelle Lage der Gesetze und Verordnungen in Bund und Län-
dern bis hin zu Organisationen, Statistiken und Zertifizierung.
2. Untersuchung, warum große kommerzielle Organisationen der
Barrierefreiheit im Web vorwiegend reserviert gegenüberste-
hen. Herausarbeitung von Lösungsansätzen zur Verbesserung
der Situation.
3. Entwicklung einer neuen, effizienten Methode zur Analyse der
Barrierefreiheit gegebener Websites. Verifikation dieser Metho-
de im Vergleich mit konkurrierenden Methoden. Implementie-
rung der neuen Methode in Form von Software zur freien Be-
nutzung durch Jedermann.
4. Definition von Prädikaten für den Grad der Barrierefreiheit
einer gegebenen Website: Barrierebehaftet, barrierereduziert,
barrierearm bzw. barrierefrei.
5. Entwicklung eines Modells, an dem sich (a) die einzelnen Bei-
träge der an der Barrierefreiheit im Web beteiligten Wissen-

1.4 Aufbau der Arbeit
5
schaften, sowie (b) eine übergeordnete (Meta-) Sicht auf das
gesamte Thema veranschaulichen lassen.
1.4
Aufbau der Arbeit
Zu Beginn wird das Basiswissen aufbereitet, welches im weiteren
Verlauf benötigt und vorausgesetzt wird. Betrachtet werden nach-
einander Historie und aktueller Stand der Barrierefreiheit im
Web, Methoden der Betriebswirtschaftslehre (BWL) zur Anwen-
dung auf die Barrierefreiheit im Web, sowie weitere zu berücksichti-
gende Beteiligte und Gesichtspunkte. Insbesondere soll das BWL-
orientierte Kapitel einen Eindruck davon vermitteln, wie die Mana-
ger in den Chefetagen von Großfirmen und Konzernen ,,funktionie-
ren" ­ woraus folgt, warum so manch rein technisches Argument
fehl geht. Trotz der Erkenntnis des Ist-Zustands, der Vorschriften
und der Wirtschaftlichkeit wird aber nicht, wie es viele Interessens-
und Projektgruppen tun, gleich nach operativen Lösungen oder
Vorschriften gesucht oder verlangt, sondern es wird erst eine medi-
zinische sowie statistische Grundlage erarbeitet.
Eine anschließende große Fallstudie illustriert alle vorbenannten
Grundlagen in der Praxis. Die deutsche Niederlassung eines welt-
weiten Pharmakonzerns erkennt die Möglichkeiten der Integration
der Barrierefreiheit in den Marketing Mix. Die Vorgehensweise ist
systematisch, aber aufwändig. Viele Erkenntnisse werden gewon-
nen.
Es folgt ein Überblick über aktuelle Tools zur Barrierefreiheit-Ana-
lyse im Web, sowie der wissenschaftliche Hauptbeitrag dieser Ar-
beit, der Trichter-Test. Auf diese neue Methode, mit der sich vor-
handene Websites wesentlich effizienter hinsichtlich Barrierefreiheit
analysieren lassen als bisher, wird sehr ausführlich eingegangen.
Im Anschluss wird das bis dahin Erarbeitete wieder in der Praxis
angewandt. Eine Kleinstfirma hat sich bereits um Barrierefreiheit

6
Kap. 1 ­ Einleitung
bemüht und sucht für weitere Operationen nach einer schnellen,
zuverlässigen und preiswerten Methode zur Barrierefreiheit Analy-
se.
Es folgt die Implementierung des Trichter-Tests in Form des Exper-
tensystems ESRA (Expert System for Rating Accessibility).
Abschließend werden alle Fäden wieder zusammengeführt: die
theoretische Basis, die projektbegleitend vorgestellten Erkenntnisse
und Methoden, die Ergebnisse und verbleibenden Aufgaben des
Expertensystems. Was war alles neu, was war anders als bisher, wo
stehen die Benutzer und wo der Gesetzgeber, was kann man mit-
nehmen in den alltäglichen Umgang mit der Barrierefreiheit? Was
bleibt offen und noch zu tun?
Im Anhang befindet sich unter Anderem ein Glossar, gedacht für
den Informatiker zum Nachschlagen fachfremder Begriffe und
Themen.
1.5
Hinweise
Es gelten die folgenden Hinweise über diese Arbeit:
1. Geschlechtsneutralität: Zur besseren Lesbarkeit verwendet die-
se Arbeit bei der Bezeichnung von Personen nur die maskuline
Form, z. B. ,,der Bediener", ,,der Leser". Gemeint sind freilich
stets beide Geschlechter.
2. Verweise in das Glossar sind mit einem Pfeil vor dem Anfangs-
buchstaben gekennzeichnet, z. B. ±Stakeholder, ±Stoma.
3. Stichtag: Die Barrierefreiheit im Web ist ein andauernder Pro-
zess. Um dennoch diese Arbeit abschließen zu können, hat der
Autor ab dem 31. Oktober 2006 keine Veränderungen mehr
berücksichtigt.

8
Kap. 2 ­ Bestandsaufnahme: Barrierefreiheit
2
Bestandsaufnahme:
Barrierefreiheit
2.1
Überblick
Verfolgt man das Thema Barrierefreiheit im allgemeinen Sinne, fin-
det man erste Ansätze zur Definition bereits zu Beginn des vorheri-
gen Jahrhunderts. Die Evangelische Stiftung Volmarstein ist seit
1904 in der Körperbehinderten- und Altenarbeit tätig. Sie ist die äl-
teste noch existierende Einrichtung, die sich aktiv mit der Barriere-
freiheit beschäftigt (ESV 2005).
Die Gründung der Aktion Sorgenkind (seit März 2000: Aktion Mensch)
1964 ist ein weiterer Meilenstein; im gleichen Jahr wird erstmals die
gleichnamige Fernsehsendung ausgestrahlt (Aktion-Mensch 2005).
Sie klärt mit eindringlichen Bildern über die Lebenssituation von
Menschen mit Behinderung auf.
Das Thema Barrierefreiheit im Web ist viel jünger, insbesondere wenn
man nicht nur nach Interessensgruppen und Eigeninitiativen, son-
dern nach ,,handfesten" Gesetzen und/oder Verordnungen sucht. In
der US-amerikanischen bzw. deutschen Gesetzgebung kann man
erst seit dem Jahr 1998 (Federal Disabilities Act) bzw. 2001 (Neuntes
Sozialgesetzbuch) hiervon sprechen.
Seitdem hat sich der Gesetzgeber mit dem Thema offenkundig stär-
ker befasst; die Tabelle 1 fasst die wichtigsten Meilensteine zusam-
men.

2.1 Überblick
9
Tabelle 1: Barrierefreiheit-Gesetze, -Verordnungen und -Initiativen in Deutschland und den USA
Datum
Gesetze, Verordnungen und ...
Initiativen
1904
ESV Evangelische Stiftung Volmarstein, Gründung
1949
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 3 Abs. 3:
,,Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden"
1964
Aktion Sorgenkind, Gründung
1990
ADA
American Disabilities Act (Gesetz, kommerzieller Bereich)
,
effektiv seit 26.07.1992
1991
FTB Forschungsinstitut Technologie-Behindertenhilfe, Gründung
1998
FDA
Federal Disabilities Act FDA (Gesetz auf U.S. Bundesebene)
1998
Section 508
Rehabilitation Act (,,Section 508") (dto.)
5.05.1999
WCAG1
Web Content Accessibility Guidelines 1.0
Empfehlung (W3C)
18.05.1999 LGBG***
LGG Berlin
3.02.2000
ATAG1
Authoring Tool Accessibility Guidelines 1.0
Empfehlung (W3C)
1.03.2000
Aktion Mensch: Umbenennung (vorher Aktion Sorgenkind)
Aug. 2000
WEB for ALL - Projekt für Barrierefreiheit im Internet, Projektstart
Dez. 2000
ThürGiG ***
LGG Thüringen, Entwurf
März 2001
Netzwerk Digitale Chancen (Universität Bremen), Projektstart
21.07.2001 SGB IX *
Neuntes Sozialgesetzbuch
20.11.2001 BGStG LSA ***
LGG Sachsen-Anhalt
Jan. 2002
Stiftung Digitale Chancen, Gründung (?)
1.05.2002
BGG *
Bundesbehindertengleichstellungsgesetz
24.07.2002 BITV**
Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung
3.10.2002
XAG
XML Accessibility Guidelines
Empfehlung (W3C)
Okt. 2002
AbI Aktionsbündnis für barrierefreie Informationstechnik, Gründung
3.12.2002
NBGG ***
LGG Niedersachsen, Entwurf
17.12.2002 UAAG1
User Agent Accessibility Guidelines 1.0
Empfehlung (W3C)
21.12.2002 LBGG ***
LGG Schleswig-Holstein
31.12.2002 LGGBehM ***
LGG Rheinland-Pfalz
2002
Mehrwert für @alle - Portal für ein Internet ohne Barrieren, Aktions-
start
2003
Europäisches Jahr der Menschen mit Behinderungen (ganzjährig)
6.02.2003
eAccessibility - Beschluss des europäischen Rates zur Verbesserung
des Zugangs von Menschen mit Behinderungen zur Wissensgesell-
schaft
20.03.2003 BbgBGG ***
LGG Brandenburg
1.08.2003
BayBGG ***
LGG Bayern
26.11.2003 SBGG ***
LGG Saarland

10
Kap. 2 ­ Bestandsaufnahme: Barrierefreiheit
Datum
Gesetze, Verordnungen und ...
Initiativen
16.12.2003 BGG NRW ***
LGG Nordrhein-Westfalen
Dez. 2003
BremBGG ***
LGG Bremen
31.12.2003 BITV**
Ende der Umsetzungspflicht
5.01.2004
Leitfaden "Barrierefreies E-eGovernment" (Modul im Handbuch e-
EGovernment), Erstmalige Veröffentlichung durch BSI
29.05.2004 SächsBGG ***
LGG Sachsen
24.06.2004 BITV NRW
****
BITV Nordrhein-Westfalen
15.07.2004 BbgBITV ****
BITV Brandenburg
30.07.2004 WCAG2
Web Content Accessibility Guidelines 2.0, Arbeitsentwurf
1.01.2005
HessBGG ***
LGG Hessen
21.03.2005 HmbGGbM ***
LGG Hamburg
Mai 2005
Leitfaden "Barrierefreies E-eGovernment", Überarbeitung
1.06.2005
LBGG ***
LGG Baden-Württemberg
16.12.2005 ThürGIG ***
LGG Thüringen
31.12.2005 BITV **
Ende der Umsetzungsfrist für alle Bundesbehörden
27.04.2006 WCAG 2
,,Last call" ­ letzter Vorschlag = letzte Möglichkeit zur Diskussion
1.08.2006
LBGG ***
LGG Mecklenburg-Vorpommern
Anmerkungen zur Tabelle
*
Gesetz auf Bundesebene
**
Rechtsverordnung auf Bundesebene
***
Gesetz auf Landesebene
**** Rechtsverordnung auf Landesebene
Die genannten Gesetze, Verordnungen und Initiativen werden im
weiteren Verlauf ausführlich vorgestellt. Vorher ist jedoch zu klären,
wer eigentlich als Behinderter in Frage kommt.

2.2 Medizinische Basis: Die Indikationsklassen (IK)
11
2.2
Medizinische Basis
Betroffen im Sinne der Barrierefreiheit ist, wer unter einer Behinde-
rung leidet. Das ist sicher soweit unstrittig. Diese Feststellung führt
auf das medizinisch schwierige Terrain der Beurteilung, bei welcher
±Indikation man von einer Behinderung im Sinne der Barrierefreiheit
sprechen kann und bei welcher nicht.
Es gibt zu viele medizinische Indikationen, um sie alle hinsichtlich
Barrierefreiheit zu beurteilen. Der Autor definiert daher den in der
Medizin noch nicht belegten Begriff der ±Indikationsklassen (IK).
In vorgegebenen IK (vgl. Tab. 2) sind zunächst alle Behinderungen
der medizinischen Praxis zusammenzufassen; anschließend ist vom
±Ärzteteam jeweils zu beurteilen, ob diese IK für die weitere Be-
trachtung relevant ist oder nicht. Hierbei sollte sich der Befragte je-
weils zu einer klaren ja- (ist relevant) oder nein-Aussage entschlie-
ßen.
Tabelle 2: Indikationsklassen (IK)
IK
Kürzel
IK Volltext;, ggf. Beispiele
BF-Rele-
vanz ?
hör
Hörschwäche bis zur Taubheit
ja
(*)
inf
Infektionskrankheiten
nein
(*)
kog
Kognitive Behinderungen: Lernschwäche,
Autismus, Demenz, ...
ja
(*)
mot
Motorische Schwächen: Lähmungen, (Teil-)-
Verlust von Gliedmaßen, Funktionseinschrän-
kung von Gliedmaßen, Wirbelsäule oder
Rumpf, auch falls akut / unfallbedingt, ...
ja
(*)
neu/psy
Neuronale, zentralnervöse oder
psychisch/seelische Probleme: Epilepsie, Bi-
polare (Schizophrenie) oder unipolare (De-
pression) Störungen, Angst, ...
ja
(*)
onk
Onkologischer Befund (Krebs)
nein
(*)
org
Organische (internistische) Befunde: Herz-
/Kreislauf-, Magen-/Darm-Probleme, Asthma,
Diabetes, Dialysepatienten, Organspender, ...
nein
(**)

12
Kap. 2 ­ Bestandsaufnahme: Barrierefreiheit
IK
Kürzel
IK Volltext;, ggf. Beispiele
BF-Rele-
vanz ?
seh
Sehbehinderungen bis zur Blindheit
ja
(*)
suc
Suchtkrankheiten
nein
(*)
---
Sonstige Indikationen, die keine Behinderung
i. S. v. § 3 BGG darstellen (z. B. Akne, grip-
paler Infekt)
nein
(***)
Anmerkungen zur Tabelle
*
Unstrittig im ±Ärzteteam.
**
Teilweise Dissens, da diese IK in ihrer Konsequenz zu erheblichen Störungen vor
allem motorischer Art führen kann. Konsens jedoch war, dass man den Patienten
gegebenenfalls in die entsprechende andere IK, z. B. mot, umgruppieren kann.
***
Autor und Ärzte waren einstimmig der Ansicht, in den vorangegangenen Zeilen
weitestgehend alle IK abgedeckt zu haben.
Fazit. Eine Beurteilung der Barrierefreiheit-Relevanz aus medizi-
nischer Sicht zwecks Einordnung in Indikationsklassen (IK) ist mög-
lich. Zu unterscheiden ist zwischen folgenden IK (in alphabetischer
Folge): hör, kog, mot, neu/psy und seh. Diese Aufzählung ist
abschließend.
2.3
Gesetze und Verordnungen
2.3.1
Das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz (BGG)
Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behinderten-
gleichstellungsgesetz - BGG) wurde am 27. April 2002 in Deutsch-
land vom Bundestag verabschiedet und trat am 1. Mai 2002 in Kraft.
Der Artikel 1 des BGG enthält insgesamt 4 Abschnitte, davon sind
für die Thematik Barrierefreiheit in der Informationstechnik zunächst
nur die ersten beiden Abschnitte und die darin enthaltenen Paragra-
phen 1, 3, 5, 7 und 11 von Interesse.

2.3 Gesetze und Verordnungen
13
In Abschnitt 1 ,,Allgemeine Bestimmungen" wird zunächst die Ziel-
setzung des Gesetzes festgeschrieben:
,,Ziel dieses Gesetzes ist es, die Benachteiligung von behinder-
ten Menschen zu beseitigen und zu verhindern sowie die
gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Le-
ben in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbst-
bestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Dabei wird beson-
deren Bedürfnissen Rechnung getragen." (§1 BGG).
In den folgenden Abschnitten 3 und 4 werden als Grundlage für ein
eindeutiges Verständnis die Begriffe ,,Behinderung" und ,,Barriere-
freiheit" definiert:
,,Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion,
geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahr-
scheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Le-
bensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilha-
be am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist." (§3 BGG)
,,Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrs-
mittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Infor-
mationsverarbeitung, akustische und visuelle Informations-
quellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere ge-
staltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in
der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis
und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar
sind." (§4 BGG)
§5 gewährt den nach §13 Abs. 3 anerkannten Verbänden gegenüber
Unternehmen oder Unternehmensverbänden das Recht, die Auf-
nahme von sogenannten Zielvereinbarungen zur Herstellung der
Barrierefreiheit verlangen zu können.
Abschnitt 2 Verpflichtung zur Gleichstellung und Barrierefreiheit macht
mit §7 für Träger öffentlicher Gewalt in Abs. 2 ein Benachteiligungs-

14
Kap. 2 ­ Bestandsaufnahme: Barrierefreiheit
verbot in der Behandlung von Behinderten gegenüber nicht behin-
derten Menschen ,,ohne zwingenden Grund" verbindlich. Damit
sind gemäß Abs. 1 sämtliche Einrichtungen der Bundesverwaltung
sowie bundesrechtausübende Landesverwaltungen aufgefordert,
,,im Rahmen ihres jeweiligen Aufgabenbereiches die in §1 genannten Ziele
zu fördern und bei der Planung von Maßnahmen zu beachten."
In §11 wird Barrierefreiheit auch für die Informationstechnik für
zuvor genannte ,,Träger öffentlicher Gewalt", für deren Internetauf-
tritte und -angebote sowie die von ihnen zur Verfügung gestellten
grafischen Programmoberflächen nach den Vorgaben einer noch zu
erlassenden Verordnung festgeschrieben. Diese liegt inzwischen
vor, ist Dreh- und Angelpunkt der Betrachtungen im Rahmen dieser
Arbeit und wird daher im folgenden Abschnitt ausführlich vorge-
stellt.
2.3.2
Die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung
(BITV)
Die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV) wurde
aufgrund des §11 des BGG notwendigerweise erlassen und trat be-
reits am 24. Juli 2002 in Kraft.
Sie regelt die praktische Umsetzung des BGG, speziell des darin ent-
haltenen Paragraphen 11 (vgl. BITV 2002). Im §4 BITV sind die Um-
setzungsfristen, bis wann Webseiten an die im BITV-Anhang aufge-
listeten Richtlinien anzupassen sind, genau definiert wie folgt:
1. ,,... Angebote, die nach In-Kraft-Treten dieser Verordnung neu
gestaltet ... werden, sind gemäß [der BITV-Anlage] zu erstellen.
Mindestens ein Zugangspfad ... soll ... die Anforderungen ... er-
füllen. Spätestens bis zum 31. Dezember 2005 müssen alle Zugangs-
pfade zu den genannten Angeboten die Anforderungen [...] erfüllen.

2.3 Gesetze und Verordnungen
15
2. Angebote, die vor In-Kraft-Treten dieser Verordnung ... veröf-
fentlich wurden, sind bis zum 31. Dezember 2003 gemäß [der
BITV-Anlage] zu gestalten, wenn diese Angebote sich speziell an
behinderte Menschen ... richten.
3. Soweit nicht Absatz 2 gilt, sind die Angebote, die vor In-Kraft-
Treten dieser Verordnung ... veröffentlicht wurden, bis zum 31.
Dezember 2005 ... zu gestalten."
Die BITV ist entstanden auf Grundlage der Empfehlungen der Web
Accessibility Initiative (WAI), einer Initiative des World Wide Web Con-
sortiums (W3C). BITV und WAI -Richtlinien (WCAG) unterscheiden
sich lediglich in einigen Formulierungen und unterschiedlicher
Strukturierung. Sie sind inhaltlich jedoch fast identisch (WOB11
2005).
Im Anhang der BITV werden zwei Prioritätsstufen unterschieden,
die verbindliche (,,Priorität 1") bzw. wünschenswerte (,,Priorität 2")
Standards für die Gestaltung betroffener Internetauftritte enthalten.
Winkler fasst wie folgt zusammen:
,,Bei der Definition, welcher Standard welcher Prioritätsstufe
zuzuordnen ist, [hat man] sich an den WAI-Richtlinien und
deren drei Prioritäten orientiert. Die BITV definiert die Priori-
tät 1 und einen Großteil der Priorität 2 der WAI-Richtlinien
als Pflicht (= Priorität 1 der BITV). [...] Priorität 2 der
BITV-Standards umfasst den Rest der Priorität 2 und die
komplette Priorität 3 der WAI-Richtlinien und sind nur für
zentrale Navigations- und Einstiegsangebote zwingend. Doch
trotz dieser recht detaillierten Angaben, welche Punkte bei der
Umsetzung der BITV berücksichtigt werden müssen, bleibt
der Interpretationsspielraum der Verordnung groß. [...] Unter
Begriffen wie z. B. 'übersichtliche Navigationsmechanismen'
und 'neuere Technologien' versteht jeder Entwickler etwas

16
Kap. 2 ­ Bestandsaufnahme: Barrierefreiheit
anderes, so dass bisher keine universale, allgemeingültige Lö-
sung gefunden wurde." (Winkler 2003, S. 230)
Die Anlage zur BITV bildet eine Checkliste, die in 14 konkreten An-
forderungen, verteilt auf die zwei Prioritätsstufen, die Bedingungen
beschreibt, die barrierefreie Internetseiten hierfür erfüllen müssen.
Diese Checkliste ist von zentraler Bedeutung für alle weiteren Be-
trachtungen, erlaubt sie doch eine ­ von Ausnahmen abgesehen ­
klare Quantifizierung der Barrierefreiheit für eine gegebene Websi-
te.
Aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für die Barrierefreiheit im All-
gemeinen sowie für diese Arbeit im Speziellen seien in der folgen-
den Tabelle alle Forderungen der BITV stichwortartig aufgelistet. In
Vorbereitung einer späteren Betrachtung der Frage, ob dieser Forde-
rungskatalog hinsichtlich seiner Berücksichtigung der IK den Reali-
täten entspricht oder nicht, wird auch jeder Regel eine oder mehrere
IK lt. Tabelle 2 zugeordnet. Es ergeben sich (prozentuale) Anteile
pro IK.
Tabelle 3: Forderungen der BITV mit zugeordneten Indikationsklassen (IK)
Forderung lt. Anhang I der BITV
IK-Zuordnungen (Punkte)
Ggf. Kommentar
Zif-
fer
Text (Stichworte)
Prio-
rität
hör kog mot
neu/
psy
seh ohne
1
Äquivalente Inhalte für jeden Audio- oder visuellen Inhalt
1.1
Äquivalenten Text für
Nicht-Text-Elemente
1
1
1
1.2
Serverseitige Imagemaps: Redundante
Texthyperlinks
1
0,5
1
Bessere Übersicht kommt auch
der IK 'mot' zu Gute
1.3
Audio-Beschreibung der Videospur bei
Multimedia
1
1
1.4
Äquivalente Alternativen für zeitgesteu-
erte Präsentationen
1
1
1
Untertitel gut für 'hör';
Audiobeschr. gut für 'seh'
1.5
Redund. Hyperlinks für clientseitige
Imagemaps
2
0,5
1
wie 1.2
2
Verständliche Texte und Graphiken auch ohne Farbe
2.1
Farbliche Darstellungen auch ohne Far-
be verfügb.
1
1
2.2
Bilder: Kontrast auch bei
S/W-Bildschirm / Farbf.
1
1
2.3
Texte: Kontrast auch bei
S/W-Bildschirm / Farbf.
2
1
3
Korrekter Einsatz von Markup-Sprachen und Stylesheets
3.1
Markup statt Bilder einsetzen falls mög-
lich
1
0,5
1
Vorlesbarkeit kommt auch 'hör' zu
Gute

2.3 Gesetze und Verordnungen
17
Forderung lt. Anhang I der BITV
IK-Zuordnungen (Punkte)
Ggf. Kommentar
Zif-
fer
Text (Stichworte)
Prio-
rität
hör kog mot
neu/
psy
seh ohne
3.2
Markup-Dokumente gegen Grammati-
ken validieren
1
1
3.3
Stylesheets einsetzen zur Text- und
Bildgestaltung
1
1
3.4
Relative statt absolute Einheiten ver-
wenden
1
0,5
1
Skalierbarkeit kommt auch 'mot'
zu Gute
3.5
Überschriften-Elemente zur Struk-
tur-Darstellung
1
0,5
Screenreader können zu <Hx>
Tags springen
3.6
Listen mittels Markup-Sprache darstel-
len
1
1
3.7
Zitate mittels Markup-Sprache kenn-
zeichnen
1
1
4
Sprachliche Besonderheiten erkennbar machen
4.1
Wechsel der natürlichen Sprache kennt-
lich machen
1
1
1
Hilfreich für Personen mit Lese-
oder Lernschwäche
4.2
Abkürzungen/Akronyme bei 1. Verwen-
dung mark.
2
1
1
wie 4.1
4.3
Vorherrschend verwendete natürliche
Sprache kennz.
2
1
1
wie 4.1
5
Tabellen nur für tabellarische Aufstellungen verwenden
5.1
Zeilen- und Spaltenüberschriften kenn-
zeichnen
1
1
5.2
Mehrere Überschriftsebenen: Daten zu-
ordnen
1
1
5.3
Falls vermeidbar, Tabellen nicht zu
Layoutzwecken verwenden
1
1
Zwar positive Auswirkungen auf
Screenreader, aber nur...
5.4
Falls doch, keine Struktur-Elemente ver-
wenden
1
1
...sehr mittelbar, deshalb keine
Zuordnung
5.5
Zusammenfassungen für Tabellen be-
reitstellen
2
1
Erleichtert das Begreifen der Ta-
belle bei Lernschwäche
5.6
Abkürzungen bereitstellen für Über-
schriftenzellen
2
0,5
Erleichtert die Zuordnung von
Tastatur-Shortcuts
6
Kompatibilität mit alten Browsern und deaktivierten Features
6.1
Verwendbarkeit auch bei deaktivierten
Stylesheets
1
1
6.2
Äquivalente für dynamischen Inhalt ak-
tualisieren
1
0,5
0,5
0,5
wie 6.5
6.3
Verwendbarkeit auch bei deaktivierten
Scripts
1
1
6.4
Unabhängigkeit vom Eingabegerät bei
Scripts
1
1
6.5
Für dynamische Inhalte notwendigen-
falls Alternativen bereitstellen
1
0,5
0,5
0,5
Kommt zugute dem, der Prob. z.
B. mit Flash hat
7
Zeitgesteuerte Inhaltsänderungen kontrollierbar machen
7.1 Bildschirmflackern vermeiden
1
1
Kann u. U. Epilepsie auslösen
7.2 Blinkenden Inhalt vermeiden
1
1
wie 7.1
7.3
Bewegung vermeiden oder Einfrieren
der Bewegung ermöglichen
1
1
0,5
0,5
Erleichterung für Personen mit
Lese- oder Lernschwäche
7.4
Automatische Aktualisierungen vermei-
den
1
1
7.5
Automatische Weiterleitungen höch-
stens serverseitig verwenden
1
0,5
0,5
0,5
Könnte bei Verw. assist. Techn.
desorientierend wirken
8
Zugänglichkeit eingebetteter Schnittstellen sicherstellen
8.1
Scripts kompatibel mit assistiven Tech-
nologien halten
1
1
1
1
Unmittelbar Unterstützung für
assist. Techn.
9
Funktionalität von Ein-/Ausgabegeräten unabhängig halten

18
Kap. 2 ­ Bestandsaufnahme: Barrierefreiheit
Forderung lt. Anhang I der BITV
IK-Zuordnungen (Punkte)
Ggf. Kommentar
Zif-
fer
Text (Stichworte)
Prio-
rität
hör kog mot
neu/
psy
seh ohne
9.1
Clientseitige Imagemaps bereitstellen,
falls möglich
1
0,5
1
wie 1.2
9.2 Geräteunabhängigkeit aller Elemente
1
1
1
1
wie 8.1
9.3
Logische statt geräteabhängige
Event-Handler
1
1
9.4
Navigation von Links, Formularen etc.
mit Tab.
2
1
9.5
Tastaturkurzbefehle für wichtige Hyper-
links etc.
2
1
10
Kompatibilität mit veralteter assistiver Technologie
10.1
Erscheinen von Pop-Ups vermeiden
1
0,5
0,5
Könnte verwirrend bzw. störend
wirken
10.2
Formulare: Implizit Beschriftungen kor-
rekt positionieren
1
1
Erleichtert Mausnavigation (Klick
auf Label wird möglich)
10.3
Alternativen für Text in parallelen Spal-
ten
2
1
10.4 Platzhalter für leere Kontrollelemente
2
1
10.5
Nebeneinanderliegende Hyperlinks tren-
nen
2
1
1
Erleichtert Mausnavigation, er-
höht Lesbarkeit
11
Öffentlich zugängliche Technologien verwenden
11.1
Öffentlich zugängliche Technologien
verwenden
1
1
Zielt nicht auf assistive Technolo-
gien
11.2
Verwendung veralteter Funktionen ver-
meiden
1
1
wie 11.1
11.3
Alternative barrierefreies Zugänge ­
notfalls (!)
1
1
wie 11.1
11.4
Nutzer-seitige Vorgaben (z. B. Sprache)
ermöglichen
2
1
12
Informationen zum Kontext und zur Orientierung bereitstellen
12.1 Jeden Frame mit einem Titel versehen
1
1
12.2
Frames: Zweck und Beziehung zueinan-
der beschr.
1
1
12.3
Große Informationsblöcke in handhab-
bare Gruppen
1
0,5
0,5
Evtl. leichter navigier- oder be-
greifbar
12.4
Beschriftungen genau Kontrollelemen-
ten zuordnen
1
1
wie 10.2
13
Navigation übersichtlich und schlüssig gestalten
13.1
Eindeutig identifizierbare Ziele für Hy-
perlinks
1
1
Für Screenreader, die Links zu-
sammenfassen
13.2
Semantische Informationen mittels Me-
tadaten
1
1
13.3
Informationen zu Anordnung (Sitemap)
und Konzeption bereitstellen
1
1
Sitemap ist oft letzte
Fallback-Mögl. für Tastaturbenut-
zer
13.4
Navigationsmechanismen schlüssig ein-
setzen
1
1
Keine Zuordnung, da reiner Usa-
bility-Aspekt
13.5 Navigationsleisten bereitstellen
2
1
wie 13.4
13.6
Verwandte Hyperlinks gruppieren, Um-
gehung ermöglichen
2
1
1
Erleichtert manu. Navi und ver-
hindert mehrfaches Vorlesen
13.7
Verschiedene Arten der Suche bereit-
stellen
2
1
13.8
Differenzierung zusammenh. Informa-
tionsblöcke
2
0,5
wie 3.5
13.9
Zusammenstellungen sonst getrennter
Dok. anbieten
2
1

2.3 Gesetze und Verordnungen
19
Forderung lt. Anhang I der BITV
IK-Zuordnungen (Punkte)
Ggf. Kommentar
Zif-
fer
Text (Stichworte)
Prio-
rität
hör kog mot
neu/
psy
seh ohne
13.1
0
Umgehung von ASCII-Zeichnungen
ermöglichen
2
1
wie 3.5, nur mit größerem Vorteil,
daher höhere Wertung
14
Das allgemeine inhaltliche Verständnis fördern
14.1
Verwendung der klarsten und einfachs-
ten angemessenen Sprache
1
1
Wendet sich an Benutzer m. ge-
ringer Sprachkompetenz
14.2
Text mit Grafik oder Audio ergänzen,
soweit sinnvoll
2
1
wie 14.2
14.3
Gewählten Präsentationsstil durchgän-
gig beibehalten
2
1
Summen
Nur
Prio.
1
3,5
7,5
8,5
3,0 15,5
26
Anteil (%)
5,5 11,7 13,3 4,7 24,2 40,6
Summen Prio.
1 u. 2
3,5 11,5 13,5 3,0 23,0
26
Anteil (%)
4,3 14,3 16,8 3,7 28,6 32,3
2.3.3
Die Landesgleichstellungsgesetze (LGG)
Wie beschrieben, gilt das Bundesgleichstellungsgesetz (und in des-
sen Zuge die BITV) auf Bundesebene, allerdings ­ bedingt durch die
föderative Struktur Deutschlands ­ auch nur dort. Der Verantwor-
tungsbereich der Bundesländer (ab jetzt in diesem Kontext kurz:
,,Länder") bleibt davon unberührt und erfordert eine separate Rege-
lung durch Landesbehindertengleichstellungsgesetze (LGG) und
landesweite BIT Verordnungen (LBITV).
Trotz der Bedeutung, die die LGG bzw. LBITV dadurch notwendi-
gerweise erlangen, ist dem Autor aus der Literatur keine Übersicht
über den Stand der Dinge in den einzelnen Bundesländern bekannt.
Dabei sind gerade die LGG speziell für diese Arbeit wichtig, da sie
eine Analyse erlauben, welche Priorität ihre Umsetzung des Bun-
desgleichstellungsgesetzes den jeweiligen Landesregierungen er-
scheint, gleichwohl sozusagen als Ersatz für Wirtschaftlichkeitsüber-
legungen, die ja dort nicht vorrangig anzustellen sind. Es sind also
geeignete Übersichten im Folgenden selbst herzustellen.
Um sich am Bundesgleichstellungsgesetz orientieren zu können,
hatten die meisten Länder die Verabschiedung ihrer LGG bis zur

20
Kap. 2 ­ Bestandsaufnahme: Barrierefreiheit
Verabschiedung des Bundesgleichstellungsgesetz zurückgestellt.
Seitdem sind in 13 von 16 Bundesländern LGG in Kraft getreten
(Stand: November 2005).
Abbildung 1 zeigt für jedes der 16 Bundesländer den Status der Lan-
desgesetzgebung mit Hinweis auf den Paragrafen, der auf die In-
formationstechnik Bezug nimmt sowie mit Hinweis auf die zugehö-
rige Rechtsverordnung zur Durchführung.
Schwarze Pfeile zeigen von den Landesgesetzen auf die jeweils er-
folgreich in Kraft gesetzten Verordnungen. Graue Pfeile gehen von
den Ländern aus, die sich statt einer eigenen Gesetzgebung an das
Bundesgleichstellungsgesetz ,,anhängen".
Abb. 1: LGG in den einzelnen Bundesländern: Status Quo (per November 2005).
Erläuterungen der Linien und Pfeile siehe Text, Erläuterungen der Stern-
chen s. Abb. 2.

2.3 Gesetze und Verordnungen
21
Zwar sehen die meisten Lä nder, die bereits ein
Landesgleichstellungsgesetz vorweisen können, parallel zum Bun-
desgleichstellungsgesetz vor, dass eine Verordnung für die Informa-
tionstechnik erlassen werden muss. Allerdings sind Brandenburg
und Nordrhein-Westfalen bisher die einzigen Länder, in denen eine
solche Verordnung tatsächlich verabschiedet wurde.
Diese heterogene Situation lässt sich geografisch veranschaulichen:
Die zum größten Teil dunkelgraue Fläche gibt Anlass zum Optimis-
mus. Hier sind Landesgesetzgebungen in Kraft. Nachholbedarf be-
steht nur in drei Bundesländern, und zwei davon stehen kurz vor
Alte Bundesländer
1. Baden-Württemberg
2. Bayern
3. Berlin
4. Bremen
5. Hamburg
6. Hessen
7. Niedersachsen
8. Nordrhein-Westfalen
9. Rheinland-Pfalz
10. Saarland
11. Schleswig-Holstein
Neue Bundesländer
12. Brandenburg
13. Mecklenburg-Vorpommern
14. Sachsen
15. Sachsen-Anhalt
16. Thüringen
Kennzeichnung
* Landesgesetz in Kraft (dunkelgrau)
** Landesverordnung in Kraft (dto.)
*** bisher nur Entwurf (hellgrau)
**** bisher nur vorgeschlagen (weiß)
Abb. 2: LGG in den einzelnen Bundesländern: Geografische Übersicht (Stand per
November 2005)

22
Kap. 2 ­ Bestandsaufnahme: Barrierefreiheit
der Schließung der Lücke. Warum gerade Mecklenburg-Vorpom-
mern so arg zurückfällt, konnte der Autor bislang nicht in Erfah-
rung bringen; weder existieren hier besondere politische noch
verfahrenstechnische Hindernisse. Eventuell liegt einfach mensch-
liches Versagen vor.
2.4
Selbsthilfegruppen, Initiativen und Stiftungen
2.4.1
Aktionsbündnis für barrierefreie Informationstech-
nik
Das Aktionsbündnis für barrierefreie Informationstechnik (AbI)
wurde im Oktober 2002 von der ±Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe
für Behinderte (BAGH Selbsthilfe), dem ±Forschungsinstitut Tech-
nologie Behindertenhilfe (FTB), dem Projekt WEB for ALL (vgl. Abs.
2.4) sowie mit Unterstützung des Bundesministeriums für Gesund-
heit und soziale Sicherung (BMGS) in Rahmen einer dreijährigen
Förderung gegründet.
Ziel des Aktionsbündnisses ist es, die Umsetzung der gesetzlichen
Vorgaben laut Sozialgesetzbuch IX und Bundesgleichstellungsge-
setz (vgl. Abs. 2.3) zum Abbau von Barrieren in der Informations-
technik, insbesondere dem Internet, zu unterstützen und voranzu-
treiben (vgl. AbI 2005). Mit dem Aktionsbündnis als Zusammen-
schluss aus existierenden Initiativen und Projekten soll die Öffent-
lichkeit für die Thematik und Problematik sensibilisiert und über
den Sinn und Zweck des Ziels informiert werden. Entscheidern in
der Wirtschaft soll der Nutzen und die Vorgehensweise für ein bar-
rierefreies Angebot deutlich gemacht werden, damit Zugangsbarrie-
ren für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen im Web zu
berufsrelevanten Informations- und Kommunikationsangeboten
weitestgehend abgebaut werden können. Darüber hinaus will AbI
bei der Schaffung eines deutschen Kontaktzentrums im ±Europäi-

2.4 Selbsthilfegruppen, Initiativen und Stiftungen
23
schen Netzwerk Design für alle in der Informationsgesellschaft
(EDeAN) unterstützen.
Allgemein bekannt wurde das AbI durch mehrere Veröffentlichun-
gen, die sich gleichsam zu de facto Standards entwickelt haben:
­ Das Buch Barrierefreies Webdesign - ein Praxishandbuch für barrie-
refreie Webgestaltung und grafische Programmoberflächen von Jan
Eric Hellbusch (2005), herausgegeben vom Mitglied des AbI
Prof. Christian Bühler (FTB), gilt in Fachkreisen als das deutsch-
sprachige Standard-Werk zum Thema.
­ Das kostenlose Programm ±A-Prompt (für: Accessibility--
Prompt) ist ein Test- und Korrekturwerkzeug für barrierefreies
Webdesign. Ursprünglich aus Kanada stammend, wurde es
vom AbI auf Wunsch vieler Webentwickler und -designer für
den deutschsprachigen Raum überarbeitet und gilt als erste
deutschsprachige Software in diesem Bereich. A-Prompt prüft
und korrigiert auf Wunsch wahlweise nach den deutschen
Richtlinien der BITV oder nach den Richtlinien der WAI.
­ Die AbI CD-ROM - enthält neben einer Fülle von Informatio-
nen und Artikeln zum Thema barrierefreies Webdesign auch
die deutsche Version von ±A-Prompt sowie den Leitfaden
±Barrierefreies eGovernment.
Als Projekt von den Mitgliedern getragen, ergänzen aktive Partner
und Unterstützer das Aktionsbündnis als Netzwerk. Seit der Grün-
dung haben sich dem Aktionsbündnis bisher 60 Organisationen,
Verbände, Institutionen und Firmen angeschlossen. Weitere (ge-
meinnützige) Initiativen, Institutionen und Firmen sind eingeladen,
dem Bündnis als Mitglied, Partner oder Unterstützer beizutreten.
Die Rollen werden wie folgt vergeben:

24
Kap. 2 ­ Bestandsaufnahme: Barrierefreiheit
­ Der Kreis der Mitglieder ist klein und steht fest. Besonders er-
wähnt seien hier WEB for ALL, worauf noch gesondert einge-
gangen wird, sowie der Sozialverband VdK Deutschland.
­ Partner können sich an Initiativen aktiv beteiligen; sie sollten
bereits eigene, fortgesetzte Aktivitäten und Kompetenz im Be-
reich "Barrierefreier Zugang zum Internet" vorweisen können.
Bekanntester Partner ist sicherlich die Aktion Mensch e. V.
­ Unterstützer sind passiv beteiligt. Sie sollten das Aktionsbünd-
nis aus Überzeugung von dessen Zielen unterstützen. Dafür
gilt es vorab den konkreten Unterstützungsbeitrag in Abspra-
che und im Sinne des Aktionsbündnisses selbst zu definieren
und im Verlauf konkrete Maßnahmen mitzugestalten oder
durchzuführen, die die Barrierefreiheit fördern. Unterstüt-
zungsbeiträge könnten z. B. darin bestehen, die Öffentlichkeits-
arbeit durch Verbreitung von AbI- Informationen im Verband
zu unterstützen, einem Behindertenverband zu einem barriere-
freien Internetauftritt zu verhelfen, den dieser sich allein nicht
leisten könnte oder Räume für AbI Schulungen bereitzustellen.
Von der Wirtschaftskraft her herausragender Unterstützer ist
die IBM Deutschland GmbH.
2.4.2
WEB for ALL
Dieses Projekt für Barrierefreiheit im Internet (http://www.
webforall.info) des ±Vereins zur beruflichen Qualifizierung e.V.
(VbI) mit Sitz in Heidelberg existiert seit August 2000. Es wird ge-
fördert durch die Bundesanstalt für Arbeit (BfA), den Europäischen
Sozialfonds und das Sozialministerium des Landes Baden-Württem-
berg.
Es verfolgt einerseits das Ziel, die gesellschaftliche Integration, die
Selbständigkeit und Eigenständigkeit von Menschen mit Behinde-
rung zu unterstützen und andererseits den Behinderten langfristig

2.4 Selbsthilfegruppen, Initiativen und Stiftungen
25
eine bessere Ausgangsbasis bei der Stellensuche auf dem Arbeits-
markt zu verschaffen.
Als Gründungsmitglied des in Abs. 2.4 vorgestellten Aktionsbünd-
nisses für barrierefreie Informationstechnik (AbI) trägt WEB for ALL
das Bündnis als Projekt zusammen mit der ±Bundesarbeitsgemein-
schaft Hilfe für Behinderte (BAGH) und dem ±Forschungsinstitut
Technologie Behindertenhilfe (FTB) und unterstützt dessen Ziele
mit eigenen speziellen Aktivitäten und Angeboten.
WEB for ALL betreibt Öffentlichkeitsarbeit mit Infoveranstaltungen,
Vorträgen und Seminaren zum Thema "Barrierefreiheit im Inter-
net", hält Mitarbeiter-Workshops und zeigt Messepräsenz, z.B. auf
der ±KOMCOM. Den Entscheidern in Bundesbehörden und Wirt-
schaft werden die Barrieren im Internet für Menschen mit unter-
schiedlichsten Behinderungen vorgestellt. Anhand dessen wird über
die Gestaltung barrierefreier Websites informiert.
Im Dienstleistungsbereich bietet WEB for ALL Interessenten an, ihre
bestehenden Webseiten auf Barrierefreiheit hin zu prüfen. Die eige-
nen behinderten Mitarbeiter nutzen hierbei ihre unterschiedlichen
Behinderungen gewissermaßen als Qualifikation für den jeweiligen
Test. Außerdem begleitet und betreut man die Gestaltung und Um-
setzung von barrierefreien Internetangeboten bis hin zur online Stel-
lung, im Bedarfsfall auch die Pflege der Webseiten.
Im Projekt Barrierefreiheit lernen (http://www.barrierefreiheitlernen.
webforall.info) gibt es ein umfangreiches Schulungsangebot, das
Screendesignern und Webprogrammierern die Möglichkeit gibt,
sich intensiv mit dem Thema "Barrierefreiheit im Internet" zu befas-
sen und fortzubilden. Es werden Aufgaben in Übungsprojekten und
Praktika mit zwei unterschiedlichen Schwerpunkten angeboten. Im
Bereich Programmierung wird vermittelt, wie dynamische Websites

26
Kap. 2 ­ Bestandsaufnahme: Barrierefreiheit
programmiert werden; im Bereich Screendesign geht es um Gestal-
tung und Umsetzung; beides in Hinblick auf BITV-Konformität.
WEB for ALL engagiert sich ferner aktiv im Bereich E-Government.
In Zusammenarbeit mit dem AbI-Gründungsmitglied FTB erarbeite-
te das Projekt den Leitfaden Barrierefreies E-EGovernment als Modul
innerhalb des Handbuches "E-Government" (BSI 2005). Entschei-
dungsträger, Grafiker und Programmierer werden in 5 Abschnitten
über alle wichtigen Aspekte eines barrierefreien E-Governments
informiert.
In Kooperation mit dem paritätischen Wohlfahrtsverband und mit
finanzieller Unterstützung der Stadt Heidelberg wurde der Internet-
auftritt des Heidelberger Stadtführer für Menschen mit Behinderung mit
besonderem Augenmerk auf barrierefreie Gestaltung erstellt. Für
Touristen und Bürger der Stadt Heidelberg gleichermaßen interes-
sant, profitieren insbesondere Behinderte von der Webpräsenz. In
Abstimmung mit Behindertenverbänden und behinderten Heidel-
berger Bürgern und Bürgerinnen wurden nützliche Inhalte erarbei-
tet. So werden blinden Menschen wichtige Stadtrouten beschrieben,
und Rollstuhlfahrer sowie Menschen mit Hörbehinderungen kön-
nen sich über vorhandene Zugangsmöglichkeiten und Höranlagen
bei öffentlichen Einrichtungen informieren.
2.4.3
Aktion Mensch
Einfach für alle (EFA) ist eine Initiative der Aktion Mensch. Sie ist im
Web erreichbar unter http://einfachfueralle.de. Die farbliche Gestal-
tung dieser Site ist teilweise recht kontrastarm und erschließt sich
daher der IK seh (vgl. Abs. 2.2) nicht uneingeschränkt. Hiervon ab-
gesehen ist EFA jedoch eine besonders vorbildlich gelungene Inter-
netseite. Das Informationsangebot ist stets up-to-date, sehr vielfältig
und wird in mehreren Datei-, Video- und Audio-Formaten angebo-
ten. Die Navigation ist selbsterklärend und ausgesprochen

2.5 Kommerzielle Angebote
27
behindertenfreundlich. Auch an ergänzenden Medienangeboten, z.
B. RSS-Feed, Podcasts, und Newsletter mangelt es nicht.
2.4.4
Zugang für alle
Das Angebot der Schweizerischen Stiftung zur behindertengerech-
ten Technologienutzung, Zürich, heißt Zugang für alle (http://www.
label4all.ch). Die Forderungen des schweizerischen Behindertenge-
setzes BeHiG an öffentliche Websites sind mit denen des deutschen
Bundesgleichstellungsgesetz (vgl. Abs. 2.3) vergleichbar; die Durch-
führungsverordnung BeHiV orientiert sich, wie die BITV, an den
WCAG 1.0.
Interessant ist der Vergleich mit dem eben vorgestellten deutschen
Pendant, Einfach für alle (vgl. Abs. 2.4). Beide Autoren-Teams beste-
hen zweifellos aus Experten zum Thema Barrierefreiheit, in der
Schweiz sogar aus Behinderten. Beide Angebote bieten die Protokol-
le der von ihnen durchgeführten Prüfungen zum Download an.
Auch je eine freiwillige Barrierefreiheit-Zertifizierung wird angebo-
ten (DIN CERTCO bzw. Schweizer Zertifikat, beide vgl. Abs. 2.6).
Unterschiedlich ist die Art des Auftretens.
Da das deutsche Umfeld im Fokus dieser Arbeit liegt und nicht das
schweizerische, wird der Vergleich nicht weiter vertieft. Allerdings
sei diese sympathische Site zum Besuch empfohlen.
2.5
Kommerzielle Angebote
Die Barrierefreiheit im Web ist nicht mehr nur Domäne der Selbst-
hilfegruppen und gemeinnützigen Organisationen. Gerade im Laufe
der letzten ca. 2-3 Jahre erkennen immer mehr kommerzielle Anbie-
ter die Barrierefreiheit als Chance. Nachfolgend werden exempla-
risch vier Agenturen vorgestellt. Besonders hingewiesen sei auf das
unterschiedliche Umfeld dieser Anbieter.

28
Kap. 2 ­ Bestandsaufnahme: Barrierefreiheit
2.5.1
Watchfire
Die Watchfire Corporation in Waltham, Massachusetts, ist der Her-
steller von Bobby, einem der weltweit am meisten eingesetzten Tools
zur Analyse von Websites auf Barrierefreiheit. Dabei ist accessibility
nicht das Kerngeschäft der Firma, sondern Beratung rund um die
Themen Security und Privacy. Nach eigenen Angaben (Watchfire
2006) wurden bereis über 500 große Firmen- und Behördenseiten
mit Hilfe von Watchfire hinsichtlich Barrierefreiheit optimiert, dar-
unter AXA und Dell.
2.5.2
namics
Die namics AG ist ein IT- und Webdienstleister mit Hauptsitz in St.
Gallen, Schweiz. Angeboten werden Dienstleistungen in den Berei-
chen Consulting, Technologie und Design (namics 2005).
Erwähnenswert ist die namics AG an dieser Stelle, da sie es seit Be-
stehen schafft, ihren Auftraggebern (und auch sich selbst) Websei-
ten zu erstellen, die sowohl weitgehend barrierefrei als auch (i. S. v.
Kap. 3) sehr erfolgreich am Markt sind. Der Autor hat sich alle 58
auf der Homepage vorgestellten Referenz-Sites kritisch angeschaut,
d.h. unter Prüfung gegen die BITV, darunter die Sites so bekannter
Auftraggeber wie Advocard, Maggi, Nestlé und Opel (namics
2005a). Auch der weltweit größte Pharmakonzern, die Pfizer AG, ist
in der Referenzliste vertreten.
2.5.3
Wertewerk
Die Wertewerk GbR wurde 2004 in Tübingen gegründet und ist ,,ein
inhabergeführter Full-Service-Dienstleister, der sich in Beratung, Konzep-
tion, Produktion und Publikationen für barrierefreies Kommunikations-
design und Wertemarketing einsetzt" (wertewerk 2005).

2.5 Kommerzielle Angebote
29
Wertewerk ist Unterstützer der ±AbI, verfügt aber auch selbst über
feste Kooperationspartner. Bestechend ist hier die Klarheit und Äs-
thetik der geschaffenen Seiten, und die Liebe zu Details, wie bei-
spielsweise die ,,pfiffige" Kennzeichnung externer Links oder Ta-
staturshortcuts. Vorbildlich ist das Bestellformular für die Fa. Gra-
phik International, Stuttgart, erreichbar über http://www.graphik-
international.de (Stand November 2005).
2.5.4
Bertelsmann-Springer Medicine Online (BSMO)
BSMO mit Sitz in Berlin entwickelt seit 2001 multimediale Kommu-
nikations-Konzepte für die Medizin- und Pharma-Branche und ar-
beitet dabei als redaktionelle und technische Full-Service-Agentur.
Zum Angebotsspektrum gehören auch Service-Center inklusive
Call-Center für Ärzte und Patienten. Die Online-Dienste werden
technisch und redaktionell von einem festen Stamm von über 50
Mitarbeitern gepflegt, darunter auch Ärzte und weiteres medizini-
sches Fachpersonal (BSMO 2006).
Zur Zeit ist das Barrierefreiheit Know-How der Agentur nach Da-
fürhalten des Autors noch nicht gar so ausgeprägt wie bei namics
oder Wertewerk. Zweifellos aber ist es hoch und führend im
medizinisch-gesundheitlichen Markt. Zu empfehlen ist ein Besuch
auf www.lifeline.de.

30
Kap. 2 ­ Bestandsaufnahme: Barrierefreiheit
2.6
Zertifizierung nach DIN CERTCO
Die Diskussion über ein Zertifikat zur Barrierefreiheit wird seit In-
Kraft-Treten der BITV geführt. Sollte es eine wie auch immer gearte-
te Stelle geben, die ermächtigt ist, Barrierefreiheit per Zertifikat zu
bescheinigen? In einem diesbezüglichen Artikel der Zeitschrift Wirt-
schaftsinformatik (2005, S. 378-382) fassen Algermissen, Dermann und
Niehaves zusammen: ,,Da die BITV keinen Katalog technischer Anforde-
rungen beschreibt, welche Möglichkeiten der Quellcode einer Internetseite
den Besuchern bieten muss, konnte sich bisher kein Zertifizierungsansatz
durchsetzen. Zudem ist zu beachten, dass ein Zertifikat die Barrierefreiheit
der getesteten Seiten nur in dem Moment attestieren kann (Zertifikat mit
Zeitstempel), da bereits die Änderung des Inhalts durch Redakteure dazu
führen kann, dass die Seiten nicht mehr der BITV entsprechen, obwohl das
Redaktionssystem dies hergeben würde."
Diese Diskussion hat auch ein kaufmännisches Moment. Die Befür-
worter sehen in der Zertifizierung einen Anreiz zur Investition für
Öffentlichkeit und Industrie, hervorgerufen durch den
,,Stiftung-Warentest-Effekt" ­ gute oder sehr gute Bewertung natür-
lich vorausgesetzt. Die Gegner befürchten eine Kommerzialisierung
der ursprünglich guten Absicht (,,Zertifikat gegen Geld").
Die DIN CERTCO, eine Organisation der TÜV Rheinland Gruppe
und des DIN Deutsches Institut für Normung e.V., ist seit Juli 2006
vom Bund und von den Interessensgruppen AbI und BIK (beide vgl.
2.4) mit der Zertifizierung der Barrierefreiheit von Webseiten beauf-
tragt. Sie stellt sich auf ihrer Homepage (http://www.dincertco.de)
vor als ,,Partner für alle Aspekte der Konformitätsbewertung. Wir zertifi-
zieren ein breites Spektrum von Produkten, Dienstleistungen, Fachbetrie-
ben und Personal" und wirbt mit der ,,Möglichkeit, die Überein-
stimmung mit festgelegten Anforderungen zu dokumentieren und dem

2.6 Zertifizierung nach DIN CERTCO
31
Anwender die nötige Hilfestellung bei der Wahl eines Produktes oder einer
Dienstleistung zu geben." (DINCERTCO 2006)
Dieser Anspruch hält jedoch einer Prüfung nicht stand, denn das
Angebot ist ...
­ ... nicht speziell genug. Das Thema Barrierefreiheit im Web er-
fordert spezialisiertes Know-How. Eine Stelle damit zu beauf-
tragen, die ansonsten Deckenstrahlplatten begutachtet
(DINCERTCO 2006), Dentalprodukte oder Kfz-Zubehör, hält
der Autor für problematisch.
­ ... unvollständig. Die gebotene Information ist sehr lückenhaft.
Der interessierte Besucher erhält keine Gebührenliste, keine
Liste der Prüfschritte, keine Aussage darüber, was die verliehe-
nen 1 bis 5 ,,Sterne" in Hinblick auf Bundesgleich-stellungs-
gesetz und BITV bedeuten. Auch fehlt ein allgemeiner Downlo-
adbereich zum Thema Barrierefreiheit.
­ ... unglaubwürdig. Die Website der DIN CERTCO ist hoch-
gradig barrierebehaftet. Der Quellcode validiert nicht, sondern
weist 20 (!) teils schwere Mängel auf (z. B. fehlt das
<HEAD>
Tag). Links werden nicht hervorgehoben, wenn der Mauszei-
ger darüber fährt. Grafiken wurden nicht durchgängig mit
sinnvollen ALT-Texten versehen. Der sprachliche Duktus ist
unnötig ,,behördlich". Diese Aufzählung ist nicht ab-
schließend.
­ ... teuer. ,,Ob dieses Zertifikat die allgemeine Anerkennung finden
wird, ist fraglich, da die Städte die hohen zum Teil auch laufenden
Kosten scheuen werden." (Algermissen et al 2005, S. 378-382)
Fazit. Die Implementierung einer Zertifizierungsstelle ist grundsätz-
lich zu begrüßen, da sie der guten Sache dringend benötigte Impul-

32
Kap. 2 ­ Bestandsaufnahme: Barrierefreiheit
se geben kann. Die DIN CERTCO wird allerdings dem Anspruch
nicht gerecht.
2.7
Statistische Basis
Von Gegnern der Barrierefreiheit oft gehörte Fragen sind: Für wen
macht man das alles? Wird es nicht alles maßlos übertrieben für ein paar
Randgruppen?
Statistisch ist zu zeigen, wieviele Personen in Deutschland jeweils
unter welchen Behinderungen (besser: relevanten ±Indikationen)
leiden.
Geeignete demographische Daten werden vom Statistischen Bun-
desamt erhoben. Unter allen Zahlenwerken, die hier (StatBA 2005)
zum Download bereitliegen, liefert die Tabelle Statistik der schwerbe-
hinderten Menschen 2003 die gesuchten Daten.
Tabelle 4 zeigt diese Daten des Statistischen Bundesamts für das
Jahr 2003 auszugsweise. Sie wurden in Zusammenarbeit mit dem
±Ärzteteam so kurz wie möglich gehalten. Redundante und irrele-
vante Tabellenreihen des Originals wurden gestrichen. In den ver-
bliebenen Reihen wurden die bereits erarbeiteten Indikationsklassen
(vgl. Abs. 2.2) jeweils zugeordnet. Das zeigt dass die BITV nicht al-
lein ,,am grünen Tisch entstand", sondern den tatsächlichen medizi-
nischen Indikationsstellungen der Schwerbehinderten in Deutsch-
land weitgehend gerecht wird.
Tabelle 4: Behinderungen lt. Bundesamt 2003 mit Zuordnungen zu den Indikationsklassen
Angaben gem. Statistischem Bundesamt
Erhebung
Zugeordnete
IK/BITV
Anm.
Zeile
Behinderung bzw. Indikation
N
Anteil
0
Keine Behinderung
---
0
1-7
Verlust oder Teilverlust von Gliedmaßen
83407
1,3%
mot
8-15
Funktionseinschränkung von Gliedmaßen
953.082
14,4%
mot
16-20
Funktionseinschränkung der Wirbelsäule
907.005
13,7%
mot

2.7 Statistische Basis
33
Angaben gem. Statistischem Bundesamt
Erhebung
Zugeordnete
IK/BITV
Anm.
Zeile
Behinderung bzw. Indikation
N
Anteil
und des Rumpfes, Deformierung des
Brustkorbes
21-24
Blindheit und Sehbehinderung
344.367
5,2%
seh
25-30
Sprach- oder Sprechstörungen, Taubheit, Schwerhörigkeit,
Gleichgewichtsstörungen
25
Sprach- oder Sprechstörungen
7.017
0,1%
kog
1
26
Taubheit 25.296
0,4%
hör
27
Taubheit kombiniert mit Störungen
der Sprachentwicklung und
entsprechenden Störungen der geis-
tigen Entwicklung
22.202
0,3%
hör
2
28
Schwerhörigkeit, auch kombiniert
mit Gleichgewichtsstörungen
208248
3,1%
hör
2
29
Gleichgewichtsstörungen 9.137
0,1%
mot
3
30
Zusammen (Zeilen 25-30)
271.900
4,1%
31-34
Verlust einer Brust oder beider Brüste,
Entstellungen u.a.
174.798
2,6%
---
4
35-51
Beeinträchtigung der Funktion von inne-
ren Organen bzw. Organsystemen
1.747.996
26,3%
---
5
52-61
Querschnittlähmung, zerebrale Störungen, geistig-seelische Be-
hinderungen, Suchtkrankheiten
52
Querschnittlähmung 16.794
0,3%
mot
53
hirnorganische Anfälle (auch mit
geistig-seelischen Störungen) ohne
neurologische
96.637
1,5%
neu/psy
54
hirnorganische Anfälle (auch mit
geistig-seelischen Störungen) mit
neurologischen
58.171
0,9%
neu/psy
55
hirnorganisches Psychosyndrom
(Hirnleistungsschwäche, organische
Wesensänderung)
165.528
2,5%
neu/psy
56
hirnorganisches Psychosyndrom
(Hirnleistungsschwäche, organische
Wesensänderung)
251.372
3,8%
neu/psy
57
Störungen der geistigen Entwick-
lung (z.B. Lernbehinderung, geisti-
ge Behinderung)
259.165
3,9%
kog
58
körperlich nicht begründbare (endo-
gene) Psychosen (Schizophrenie,
affektive Psychosen)
162.164
2,4%
neu/psy
59
Neurosen, Persönlichkeits- und Ver-
haltensstörungen
105.355
1,6%
neu/psy
60
Suchtkrankheiten 37657
0,6%
---
5
61
Zusammen (Zeilen 52-61)
1.152.843
17,4%
62-64
Sonstige und ungenügend bezeichnete Be-
hinderungen
1.003.494
15,1%
---
6

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2007
ISBN (eBook)
9783836635905
DOI
10.3239/9783836635905
Dateigröße
8.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Hamburg – Informatik
Erscheinungsdatum
2009 (September)
Note
2,0
Schlagworte
accessibility trichter-test pyramide barrierefreiheit
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Titel: Barrierefreiheit im World Wide Web
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