Lade Inhalt...

Llega y pon oder Sal si puedes?

Havannas Slums zwischen Marginalität und Exklusion

©2008 Magisterarbeit 111 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Am 1. Januar 2009 feiert die kubanische Revolution ihr fünfzigjähriges Bestehen. Das schon oft vorausgesagte und von der Exilgemeinde in Miami in enthusiastischer Vorfreude gefeierte Ende des Tropensozialismus lässt nach wie vor auf sich warten: Weder der Zerfall des Ostblocks, noch Erkrankung und Rücktritt des charismatischen máximo líder führten zu einem Zusammenbruch des Inselregimes. Jedoch stürzte das Ende des Kalten Krieges die Revolution in die schwerste Krise seit ihrem Bestehen und setzte einen Transformationsprozess in Gang, dessen Ausgang bisher unklar ist. Verschiedene Reformen zu Beginn der 1990er Jahre verhinderten zwar einen ökonomischen Kollaps des kubanischen Systems, führten aber zu einer dualen Wirtschaft, welche in zunehmendem Maße die sozialen Disparitäten in der ehemals sehr homogenen Gesellschaft anwachsen lässt. Die strukturelle Verfestigung von Ungleichheiten, die bestimmte Bevölkerungsgruppen dauerhaft benachteiligen, würde das Revolutionsprojekt einer egalitären Gesellschaft untergraben und damit langfristig nicht nur die Legitimation der Regierung, sondern auch die soziale Stabilität des Landes gefährden.
Durch den Wegfall der sozialistischen Bruderhilfe nach Auflösung des RGW brach die kubanische Wirtschaft völlig ein. Die Bevölkerung litt vor allem unter den Engpässen in der Lebensmittel- und Energieversorgung. Besonders die im Vergleich zu Havanna weniger entwickelten östlichen Provinzen Kubas wurden von der ‘Sonderperiode in Friedenszeiten’ (período especial en tiempos de paz) hart getroffen. Eine der Folgen war die zunehmende Landflucht in die Hauptstadt. Durch den eklatanten Wohnungsmangel in Havanna ließen sich viele der Migranten in provisorischen Behausungen auf ungenutzten Flächen nieder – es bildeten sich Squattersiedlungen. 1997 wurde die interne Migration per Dekret reguliert, was die Illegalisierung aller kubanischen Staatsbürger zufolge hatte, die nicht über einen offiziellen Wohnsitz in der Hauptstadt verfügen. Für die Bewohner der ‘Llega y pon’, wie die informellen Siedlungen genannt werden, bedeutete dies eine weitere Prekarisierung ihrer Lebensverhältnisse, da dieser illegale Status mit konkreten sozioökonomischen Benachteiligungen verbunden ist: Die Betroffenen haben de facto keine Möglichkeit, einer legalen Beschäftigung nachzugehen und erhalten keine Rationierungskarte (libreta), die zum Kauf von stark subventionierten Lebensmitteln berechtigt und über die in Kuba etwa […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Ines Thomssen
Llega y pon oder Sal si puedes?
Havannas Slums zwischen Marginalität und Exklusion
ISBN: 978-3-8366-3530-1
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2009
Zugl. Universität Kassel, Kassel, Deutschland, Magisterarbeit, 2008
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,
insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von
Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der
Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen,
bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung
dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen
der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich
vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des
Urheberrechtes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in
diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,
dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei
zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können
Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden und der Verlag, die Autoren oder
Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für evtl.
verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2009

DANKESCHÖN...
...Hans-Jürgen Burchardt für die intensive Betreuung dieser Arbeit und die vielfältige
Unterstützung während der letzten Jahre sowie Clarita Müller-Plantenberg als zweiter
Gutachterin der Arbeit.
...meiner Familie für ihr Vertrauen und ihre Unterstützung in allen Bereichen.
...dem DAAD für die großzügige Förderung des Forschungsaufenthaltes.
...allen, die ihren Beitrag zu dieser Arbeit geleistet haben; vor allem Daniela für den
regelmäßigen Gedankenaustausch und Sönke Widderich für die langen und hilfreichen
Telefonate.
Y GRACIAS A...
...Pablo Rodríguez, Mayra Espina mit ihrer Forschungsgruppe des CIPS und Luisa Iñiguez für die
fachliche Betreuung auf kubanischer Seite, für interessante Gespräche und das Bereitstellen
unveröffentlichter Texte.
...Alina für das ungeschnittene Filmmaterial.
...allen meinen Freundinnen und Freunden in Kuba, die in der einen oder anderen Weise dazu
beigetragen haben, dass ich die sonderbare Insel ein wenig zu verstehen gelernt habe. Das
gilt besonders für Gabriel Calaforra, ohne den meine Zeit in Kuba komplett anders verlaufen
wäre, William für viele Diskussionen, Carlos für seine unermüdliche Hilfsbereitschaft und
Felipe, dem der Rest der Welt immer wichtiger ist als er selbst.
...den ProtagonistInnen der vorliegenden Studie ­ den Bewohnerinnen und Bewohnern des Llega y
pon von Casablanca, die mich so herzlich und unkompliziert an ihrem Leben teilnehmen lassen
haben. Ihnen widme ich diese Arbeit und wünsche ihnen alles Gute für die Zukunft.

Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis ...
3
1
Einführung ...
4
1.1 Einleitung ...
4
1.2
Zur Existenz und Verlässlichkeit kubanischer Daten ...
7
1.3
Methodisches Vorgehen und Auswahl des Untersuchungs-
gegenstandes ...
8
1.4 Theoretische
Vorüberlegungen ...
10
1.4.1
Relevante Dimensionen sozialer Ungleichheit im kubanischen
Kontext ...
11
1.4.2
Urbane Marginalität ...
14
1.5
Operationalisierung ... 16
2 Ungleichheit
­
Gleich(heit) ­ Ungleichheit? Sozioökonomi-
sche Entwicklung Kubas im letzten Jahrhundert ...
22
2.1 Abhängige
Unabhängigkeit:
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ...
22
2.2
Auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft:
Die ,,Periode der Entstratifizierung" 1959 ­ 1989 ...
26
2.3
Die Rückkehr der Ungleichheit:
Reform und soziale Restratifikation seit 1990 ...
33
2.4
Zwischenfazit: Duale Wirtschaft = Duale Gesellschaft? ...
51
3
"Llega y Pon" oder "Sal si puedes"?
Barrios ilegales in Havanna
53
3.1
Havanna: Stadt des Lichtes ­ Stadt des Schattens.
Soziale Disparitäten innerhalb der Hauptstadt ...
53
3.2
Der Llega y pon ...
59
3.2.1
Sie kamen und bauten: Historische Genese der barrios ...
59
3.2.2 Materielle
Marginalität:
Bausubstanz und Infrastruktur ...
60
3.2.3 Soziodemografische
Struktur des Mirador ...
64
1

Inhaltsverzeichnis
3.2.4
CDR im Llega y pon: kontrollierte Partizipation in der Illegalität ...
69
3.2.5 Konsequenzen
der
Illegalität ...
71
3.2.5.1
Ökonomische Marginalität I: Erwerbstätigkeit ...
72
3.2.5.2 Ökonomische
Marginalität II: Einkommenshöhe und libreta ...
74
3.2.5.3
Insecure residential status I: Geldstrafen und Abschiebungen ...
77
3.2.5.4
Die Universalität sozialer Güter: Zugang zum Gesundheits- und
Bildungssystem ...
79
3.2.5.5
Insecure residential status II und unverfasste Partizipation:
Räumungsaktionen und Widerstand im Namen der Revolution ...
81
3.2.6 Horizontale
Ungleichheiten
innerhalb der Llega y pon ...
84
3.2.6.1
Gender ...
84
3.2.6.2
Ethnizität ...
86
4
Fazit ­ Vom Rand auf dem Weg nach draußen? ...
87
5
Literaturverzeichnis ...
96
6
Abkürzungsverzeichnis ... 105
Anhang
... 106
Glossar der in der Arbeit verwendeten spanischen Begriffe ... 106
Liste der geführten Interviews ...
107
2

Abbildungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Dimensionen sozialer Ungleichheit
11
Abb. 2 In der Arbeit verwendete Indizes (Kasten)
19
Abb. 3 Entwicklung der Nominal- und Reallöhne 1989 - 2006
35
Abb. 4 Einkommensschichtzugehörigkeit der Devisenempfänger
35
Abb. 5 Einkommensstruktur der Bevölkerung nach Quellen
36
Abb. 6 Beschäftigungsstruktur im sector emergente 43
Abb. 7 Gender Gap Subindizes (Tabelle)
45
Abb. 8 Sozioökonomische Indikatoren ausgewählter Provinzen (Tabelle) 47
Abb. 9 Interne Migrationsrate nach Provinzen
51
Abb. 10 Havannas Munizipien
53
Abb. 11 Zustand der Wohneinheiten (Tabelle)
56
Abb. 12 Geburtsort/ -provinz der Bewohner des Mirador (Tabelle)
67
Abb. 13 Altersstruktur im Mirador
67
Abb. 14 Bildungsniveau im Mirador
68
Abb. 15 Beschäftigungsstruktur im Mirador
73
Abb. 16 Einkommenskategorien (Mirador und Stichprobe Havanna)
75
Abb. 17
Wirtschaftlich aktiver Anteil der Bevölkerung im arbeitsfähigen
Alter (Mirador)
84
Abb. 18 Wohnstruktur (Mirador)
85
Abb. 19 Ethnische Struktur (Mirador)
86
3

1 Einführung
1 Einführung
1.1 Einleitung
Am 1. Januar 2009 feiert die kubanische Revolution ihr fünfzigjähriges Bestehen.
Das schon oft vorausgesagte und von der Exilgemeinde in Miami in enthusiasti-
scher Vorfreude gefeierte Ende des Tropensozialismus lässt nach wie vor auf sich
warten: Weder der Zerfall des Ostblocks, noch Erkrankung und Rücktritt des cha-
rismatischen máximo líder führten zu einem Zusammenbruch des Inselregimes.
Jedoch stürzte das Ende des Kalten Krieges die Revolution in die schwerste Krise
seit ihrem Bestehen und setzte einen Transformationsprozess in Gang, dessen
Ausgang bisher unklar ist. Verschiedene Reformen zu Beginn der 1990er Jahre
verhinderten zwar einen ökonomischen Kollaps des kubanischen Systems, führten
aber zu einer dualen Wirtschaft, welche in zunehmendem Maße die sozialen Dis-
paritäten in der ehemals sehr homogenen Gesellschaft anwachsen lässt. Die
strukturelle Verfestigung von Ungleichheiten, die bestimmte Bevölkerungsgruppen
dauerhaft benachteiligen, würde das Revolutionsprojekt einer egalitären Gesell-
schaft untergraben und damit langfristig nicht nur die Legitimation der Regierung,
sondern auch die soziale Stabilität des Landes gefährden.
Durch den Wegfall der sozialistischen Bruderhilfe nach Auflösung des RGW brach
die kubanische Wirtschaft völlig ein. Die Bevölkerung litt vor allem unter den Eng-
pässen in der Lebensmittel- und Energieversorgung. Besonders die im Vergleich
zu Havanna weniger entwickelten östlichen Provinzen Kubas wurden von der
,,Sonderperiode in Friedenszeiten" (período especial en tiempos de paz) hart ge-
troffen. Eine der Folgen war die zunehmende Landflucht in die Hauptstadt. Durch
den eklatanten Wohnungsmangel in Havanna ließen sich viele der Migranten
1
in
provisorischen Behausungen auf ungenutzten Flächen nieder ­ es bildeten sich
Squattersiedlungen
2
. 1997 wurde die interne Migration per Dekret reguliert, was
die Illegalisierung aller kubanischen Staatsbürger zufolge hatte, die nicht über ei-
nen offiziellen Wohnsitz in der Hauptstadt verfügen. Für die Bewohner der ,,Llega y
1
Auf das Gendern von Personenbezeichnungen wird in dieser Arbeit aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtet, die
weibliche Form soll jedoch jeweils mitgedacht werden.
2
Informelle Hüttenviertel
4

1 Einführung
pon"
3
, wie die informellen Siedlungen genannt werden, bedeutete dies eine weite-
re Prekarisierung ihrer Lebensverhältnisse, da dieser illegale Status mit konkreten
sozioökonomischen Benachteiligungen verbunden ist: Die Betroffenen haben de
facto keine Möglichkeit, einer legalen Beschäftigung nachzugehen und erhalten
keine Rationierungskarte (libreta), die zum Kauf von stark subventionierten Le-
bensmitteln berechtigt und über die in Kuba etwa die Hälfte des monatlichen Be-
darfs an Grundnahrungsmitteln gedeckt wird. Hinzukommen repressive Maßnah-
men der Regierung gegen die Illegalen, wie gelegentliche Räumungsaktionen in
den barrios und Abschiebungen der Einwohner in ihre Heimatprovinzen.
Diese informellen Siedlungen in der Peripherie Havannas und ihre sozialen Impli-
kationen sind der Forschungsgegenstand der vorliegenden Magisterarbeit. Es soll
untersucht werden, ob die Llega y pon Räume darstellen, in denen die bereits be-
stehenden sozialen Disparitäten in Kuba besonders stark in Erscheinung treten:
Da sich in diesen barrios mehrere benachteiligende, aus der Illegalität resultieren-
de Faktoren bündeln, stellen sie einen möglichen Kristallisationspunkt für die
strukturelle Verfestigung sozialer Ungleichheiten dar, welche zu einer verstärkten
gesellschaftlichen Marginalisierung oder im Extremfall zu Prozessen sozialer Ex-
klusion führen könnte. Somit lässt sich durch eine Analyse dieser Siedlungen ex-
emplarisch erkennen, ob sich hier eine neue Qualität der sozialen Ungleichheit
innerhalb der kubanischen Gesellschaft abzeichnet.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in einen einführenden Teil, zwei Hauptkapitel
und ein abschließendes Fazit:
Im einführenden Teil wird das methodische Vorgehen beschrieben und die theore-
tischen Grundlagen der Arbeit sowie die Auswahl der verwendeten Dimensionen
von sozialer Ungleichheit und Marginalität im kubanischen Kontext begründet und
operationalisiert.
Im ersten Hauptkapitel, der Länderstudie, wird das sozioökonomische Panorama
Kubas unter dem Fokus verschiedener Dimensionen sozialer Ungleichheit be-
schrieben. Ziel dieses Kapitels ist, den Analyserahmen für eine Untersuchung der
wachsenden Disparitäten im Land zu liefern. Somit dient das Kapitel als Be-
3
sinngemäß etwa: "Komm und bau"
5

1 Einführung
standsaufnahme der Entwicklung sozialer Ungleichheiten in Kuba, um das Phä-
nomen der Llega y pon im gesamtgesellschaftlichen Kontext einordnen zu können.
Das Kapitel ist chronologisch in drei Perioden gegliedert:
Die Zeit der Republik bis zum Triumph der Revolution (1902-1959), die Konsolidie-
rungsphase 1959-1989, sowie die Krise der 1990er Jahre nach dem Zusammen-
bruch des Ostblocks bis heute.
Die Einteilung in diese Perioden begründet sich damit, dass sowohl der Sieg der
Revolution als auch der Beginn der período especial nach Ende des Kalten Krie-
ges Schlüsselmomente des Umbruchs in der kubanischen Gesellschaft darstellen,
in denen sich jeweils auch die Entwicklung der sozialen Ungleichheiten änderte,
auf die hier Bezug genommen wird.
Die Periode vor der Revolution wird nur vergleichsweise knapp umrissen, da hier
nicht die historische Entwicklung Kubas sondern vornehmlich der sozioökonomi-
sche Hintergrund dieser Zeit dargestellt werden soll, um die wirtschaftlichen, so-
zialen und politischen Entwicklungen nach 1959 bis heute einordnen und verglei-
chen zu können.
Die Periode der Konsolidierungsphase der Revolution beschreibt den Wandel von
einem System des abhängigen Kapitalismus mit ausgeprägten sozialen Disparitä-
ten zu einer relativ homogenen Gesellschaft. Wichtig in diesem Kontext sind bei-
spielsweise die Beschreibung und kritische Analyse der Entwicklungsstrategie und
Sozialpolitik der Castro-Regierung als zentrale Punkte beim Abbau bestehender
Ungleichheiten.
Der Fokus der Periode seit 1990 ist auf die wirtschaftlichen Reformen in den ers-
ten Jahren der Krise und ihre Auswirkungen auf die Sozialstruktur des Landes ge-
richtet. Zu diesen Auswirkungen zählen insbesondere die zunehmende Heteroge-
nisierung der Gesellschaft durch Veränderungen in der Einkommens- und Be-
schäftigungsstruktur, die gestiegene Armut, aber auch die zunehmende Binnen-
migration nach Havanna.
Um in das zweite Kapitel, den empirischen Teil der Arbeit, einzuführen, wird durch
die kurze Darstellung der Entwicklung räumlicher Disparitäten innerhalb Havan-
nas, der Probleme im Wohnsektor und der Geschichte kubanischer Marginalsied-
lungen zum Forschungsgegenstand hingeführt und dieser dann ausführlich be-
schrieben. Hierbei wird versucht, ein möglichst umfassendes Bild der Llega y pon
6

1 Einführung
zu vermitteln, der Fokus liegt dabei auf der Analyse der möglichen Auswirkungen
von Marginalität und Illegalität auf sich abzeichnende neue Ungleichheitsstrukturen.
Das Fazit beleuchtet den Grad der Marginalität (vgl. unten) der Llega y pon und
analysiert, ob, ,,wo" (in welchen Dimensionen) und wie sich in diesen barrios neue
Ungleichheitsstrukturen herausbilden. Abschließend wird ein vorsichtiger Ausblick
auf die möglichen sozioökonomischen Zunkunftsszenarien für die kubanischen
Marginalsiedlungen und ihre Bewohner gewagt.
1.2
Zur Existenz und Verlässlichkeit kubanischer Daten
Das Phänomen der wachsenden sozialen Ungleichheiten gewinnt in Kuba seit
Mitte der 1990er Jahre zunehmend an Bedeutung in der sozial- und wirtschafts-
wissenschaftlichen Forschung. Während eng mit der Regierung verknüpfte Institu-
tionen wie etwa das Instituto Nacional de Investigaciones Económicas (INIE) ge-
nerell relativ optimistische Einschätzungen zu wachsenden sozialen Problemen
wie Armut und Ungleichheit abgeben, existiert an anderen wissenschaftlichen In-
stituten durchaus eine verhältnismäßig kritische Forschung ­ wenn auch stets in-
nerhalb des ideologischen Grundrahmens des Sozialismus, mit eingeschränktem
Zugang zu Statistiken und einem gewissen Maß an Selbstzensur.
(Makro-)Ökonomische und soziodemografische Daten werden praktisch nur vom
Nationalen Statistikinstitut (ONE) erhoben. Frei zugänglich sind lediglich Statisti-
ken, die nicht als politisch brisant eingestuft werden. Obwohl kubanische Wissen-
schaftler auf mehr Daten zugreifen können als Ausländer, ist auch ihnen der Zu-
gang zu einigen Erhebungen nicht (oder nur mit komplizierten Sondergenehmi-
gungen) gestattet. Auch internationale Institutionen, die Statistiken zu Kuba veröf-
fentlichen (CEPAL, UNDP u.a.) müssen zumeist auf die offiziellen Daten zurück-
greifen, geben aber teilweise zusätzlich eigene Schätzungen mit an (vgl. Mesa-
Lago 2008).
Ein Problem in der Kubaforschung ist die ideologische Einfärbung vieler Daten.
Das gilt besonders für Quellen, die entweder der kubanischen Regierung nahe
stehen oder aus dem Umfeld der anti-castristischen Exilgemeinde in Miami bzw.
der US-amerikanischen Kubapolitik stammen. Texte und Statistiken aus diesen
Quellen sind in der Regel stark tendenziös und besitzen deshalb nur eine be-
schränkte wissenschaftliche Verlässlickeit. Dennoch können sie gelegentlich auf-
7

1 Einführung
schlussreich sein und eine ungefähre Einschätzung bestimmter Problematiken
ermöglichen. Hierbei ist jedoch wichtig, die politische Ausrichtung der jeweiligen
Quellen zu kennen, um eine kritische und reflektierte Einschätzung zu ermöglichen.
Am umfassendsten in der kubanischen Sozialforschung befasst sich mit dem
Themengebiet sozialer Ungleichheiten die bereits 1983 gegründete und von der
Soziologin Mayra Espina geleitete Forschungsgruppe ,,Estructura Social y Desigu-
aldades" des Centro de Investigaciones Psicológicas y Sociológicas (CIPS) in Ha-
vanna (Espina 1997, 2004, 2007; Espina et al. 2002; Martín et al. 1999; Togores
1999, 2007 u.a.).
In der deutschsprachigen Kubaforschung wurden die sozialen Auswirkungen der
wachsenden Disparitäten vor allem von Hans-Jürgen Burchardt und Sönke Widde-
rich untersucht (Burchardt 1998, 1999, 2002; Widderich 2002).
Die bisher einzige Studie zum Thema der Llega y pon stammt von dem kubani-
schen Soziologen Pablo Rodríguez des Instituto de Antropología in Havanna
(Rodríguez 2004). Bisher wurden nur Teile der Fallstudie in kubanischen Fach-
zeitschriften publiziert; für die vorliegende Arbeit wurde die unveröffentlichte Origi-
nalfassung des Manuskriptes verwendet.
2007 sorgte der ebenfalls die Problematik der Llega y pon behandelnde Dokumen-
tarfilm ,,Buscandote Havana" der Filmstudentin Alina Rodríguez Abreu (Instituto
Superior de Arte, Havanna), für Aufsehen als er - trotz des heiklen Themas - auf
dem Nachwuchsfilmfestival in Havanna mit einem Preis ausgezeichnet wurde.
1.3
Methodisches Vorgehen und Auswahl des Untersuchungsgegenstandes
In der Länderstudie wird vornehmlich mit Text- und Dokumentenanalyse von Pri-
mär- und Sekundärliteratur gearbeitet. Hinzukommt eine Analyse demografischer,
sozialer und ökonomischer Statistiken sowie die Auswertung und Interpretation
von Primärdaten (z.B. Volkszählung 2002).
Die Analyse der informellen Siedlungen basiert vornehmlich auf den Daten einer
umfangreichen Fallstudie des kubanischen Soziologen Pablo Rodríguez
4
über den
Llega y pon ,,Alturas del Mirador" (Mirador) im Munizip San Miguel del Padrón. Zur
empirischen Unterfütterung werden ergänzend ausgewählte Zitate und Beobach-
4
Rodriguez, Pablo (2004): ¿Pobreza, marginalidad o exclusión?: un estudio sobre el barrio Alturas del Mirador.
Unveröffentlichtes Manuskript, Centro de Antropología, La Habana.
8

1 Einführung
tungen eigener qualitativer Erhebungen herangezogen, die während zwei For-
schungsaufenthalten in Havanna zwischen 2007 und 2008 in der illegalen Sied-
lung ,,Llega y pon de Casablanca" (Casablanca) im Munizip Regla durchgeführt
wurden.
Der Llega y pon de Casablanca im Osten Havannas wurde für die eigene Feldar-
beit als Fallbeispiel ausgewählt, da er eigenen Recherchen zufolge, in Bezug auf
seine Größe, Entstehungsgeschichte, Alter, Qualität der Behausungen, sowie die
Sozialstruktur vergleichbar mit dem Mirador ist. Die Sichtung ungeschnittenen Ma-
terials des Dokumentarfilms ,,Buscandote Havana", der in Casablanca und ande-
ren Llega y pon Havannas gedreht wurde, sowie Gespräche mit der Regisseurin
und Pablo Rodríguez bildeten die Grundlage für die Annahme einer generellen
Vergleichbarkeit der Siedlungen. Diese Annahme fußt selbstverständlich nicht auf
quantitativen Daten, jedoch ähneln sich die einzelnen barrios sowohl in ihren ma-
teriellen und soziodemografischen Strukturen, als auch in den von den Bewohnern
benannten Problemen. Forschungspragmatisches Kriterium für die Auswahl des
Llega y pon de Casablanca war außerdem die verhältnismäßig gute Erreichbarkeit
mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
Durch den begrenzten Rahmen einer Magisterarbeit sowie den Mangel an wis-
senschaftlichen Publikationen zur konkreten Thematik der Llega y pon sind die
eigenen empirischen Erhebungen explorativen Charakters, die nicht den Anspruch
auf eine erschöpfende Analyse des Gegenstandes erheben. Vielmehr soll die
Feldstudie einen ersten Zugang zu dem bisher weder in der internationalen Kuba-
forschung noch im Land selbst intensiv untersuchten Phänomen der informellen
Marginalsiedlungen in Kuba öffnen.
Aufgrund des explorativen Charakters der Fallstudie und des begrenzten Rah-
mens für diese Arbeit wurden für die eigenen Erhebungen die qualitativen Metho-
den der teilnehmenden Beobachtung sowie Leitfaden- und Experteninterviews
angewandt. Hierzu wurden Leitfadeninterviews in insgesamt 13 Haushalten im
Llega y pon von Casablanca sowie drei offene Experteninterviews durchgeführt
(Anhang). Die Auswahl der Interviewpartner im Llega y pon erfolgte nach dem
Schneeballprinzip um eine gewisse Vertrauensgrundlage bei der Befragung zu
gewährleisten.
9

1 Einführung
Die Experteninterviews wurden ,,explorativ-felderschließend" eingesetzt, um ,,zu-
sätzliche Informationen wie Hintergrundwissen und Augenzeugenberichte [zu] lie-
fern und zur Illustrierung und Kommentierung der Aussagen der Forscherin zum
Untersuchungsgegenstand [zu] dienen" (Meuser/Nagel 2002: 75). Als ExpertInnen
ausgewählt wurden:
- Alina Rodríguez Abreu (Regisseurin von "Buscandote Havana",
ehemalige Filmstudentin des Instituto Superior de Arte (ISA), Havanna)
- Pablo Rodríguez (Soziologe, Instituto de Antropología, Havanna)
- Barbara Suárez (Jefa de la Vivienda de Casablanca: zuständige
Wohnungsinspekteurin für den Llega y pon de Casablanca, Instituto de la
Vivienda)
Zusätzlich wurden zahlreiche informelle Interviews mit Kubanern innerhalb und
außerhalb der Siedlung geführt, um kubanische Denkweisen und Alltagsrealitäten
besser verstehen zu lernen und dadurch die Fragestellung zu konkretisieren und
den Forschungsgegenstand sowohl aus der Innen- als auch Außenperspektive
breiter erfassen zu können.
Aufgrund der relativen Brisanz des Themas war es nicht möglich, Interviews auf-
zuzeichnen, da dies möglicherweise für alle Beteiligten zu Problemen mit den ku-
banischen Autoritäten geführt hätte. Dieses Risiko hätte außerdem die Durchfüh-
rung der Interviews erschwert und sicherlich die Offenheit der Aussagen beein-
trächtigt. Zur Anonymisierung wird bei Zitaten jeweils nur der Vorname der Inter-
viewten genannt.
1.4
Theoretische Vorüberlegungen
Von herkömmlichen Klassen- oder Schichtmodellen ausgehende Theorien der
Ungleichheitsforschung untersuchen vertikale Formen sozialer Ungleichheit, also
das ,,soziale Höher und Tiefer" (Kreckel 1992: 17) innerhalb einer Gesellschaft. Als
klassische Dimensionen dieser vertikalen Ungleichheiten gelten typischerweise
ökonomische Ungleichheiten wie Einkommen und Besitz, aber auch die Kategorien
Bildung, Beruf, sozialer Status (Prestige) und Macht (vgl. Hradil 1987). Seit den
1980er Jahren wird in der Ungleichheitsforschung zunehmend erkannt, dass die
vertikalen Ungleichheitsmodelle dort zu kurz greifen, wo ökonomische, soziale und
politische Benachteiligungen mit askriptiven Merkmalen (z.B. Geschlecht, Hautfar-
be, Religion, Nationalität, Alter) verknüpft sind. Diese an sich nicht-hierarchischen
10

1 Einführung
Differenzen zwischen Personengruppen
werden als horizontale Ungleichheiten be-
zeichnet (vgl. Hradil 1987; Kreckel 1992).
Horizontale Ungleichheiten manifestieren
sich nicht zwangsläufig in vertikalen Di-
mensionen, können aber durch Prozesse
gesellschaftlicher Diskriminierung, Vorurtei-
le oder sozialen Ausschluss die Grundlage
für solche sein. Damit stellen horizontale
Ungleichheiten eine zentrale Dimension zur
Untersuchung von benachteiligten gesell-
schaftlichen Gruppen und Marginalität dar.
vertikal
Besitz
Einkommen
Bildung
Beruf
Status
Macht
horizontal
Geschlecht, Ethnizität, Region,
Nationalität, Alter, Religion
Abb. 1: Dimensionen sozialer Ungleichheit
Quelle: Eigene Darstellung
Als theoretische Verankerung für die Analyse der soziostrukturellen Entwicklungen
in Kuba dient in dieser Arbeit darüber hinaus der mehrdimensionale Ungleich-
heitsbegriff Reinhard Kreckels, einem der bekanntesten deutschen Vertreter der
Ungleichheitsforschung, der ,,sozial strukturierte Ungleichheit" definiert als ,,lang-
fristig wirksame, die Lebenschancen ganzer Generationen prägende Ungleich-
heitsverhältnisse" (Kreckel 1992: 19).
Kreckel geht es vornehmlich um den ungleichen Zugang zu ,,erstrebenswerten
sozialen Gütern" (ebd. 20) einer Gesellschaft. Zu diesen sozialen Gütern zählt
Kreckel zum einen die klassische Dimension Einkommen/Besitz (,,materieller
Reichtum"). Hinzukommt als gleichwertige Dimension das ,,symbolische Wissen"
5
.
Hierzu zählt vor allem formale Bildung, aber auch der ungleich verteilte Zugang zu
,,Elementen symbolischer Kultur" (ebd.: 79). Ferner gehören Sozialleistungen des
Staates, etwa in den Bereichen Gesundheit, Wohnen und Soziale Sicherung zu
den "erstrebenswerten sozialen Gütern" einer Gesellschaft.
1.4.1 Relevante Dimensionen sozialer Ungleichheit im kubanischen Kontext
Da die gängigen Ungleichheitskonzepte im Kontext für ,,fortgeschrittene kapitalisti-
sche Staatsgesellschaft[en] westlichen Typs" (Kreckel 1992: 9) entwickelt wurden,
5
Kreckel beschreibt das ,,symbolische Wissen" als Äquivalent zu Pierre Bourdieus Begriff des kulturellen Kapitals ,,als
Ressource für die Verwirklichung individueller und auch kollektiver Lebenschancen" (Kreckel 1992: 80), die u.U. auch in
materiellen Reichtum (bzw. ökonomisches Kapital bei Bourdieu) ,,konvertiert" werden kann (z.B. Mehrverdienst durch eine
höhere Qualifikation) (ebd. 81).
11

1 Einführung
ist ihre Reichweite und somit die Anwendbarkeit auf Kuba als sozialistischem
,,Entwicklungsland" begrenzt. Aus diesem Grund werden zwar Kreckels Dimensio-
nen des materiellen Reichtums und des symbolischen Wissens in dieser Arbeit
erklärend mit eingesetzt, um durch diese gleichwertige Unterscheidung über die
ökonomische Fixierung der Ungleichheitsanalyse hinauszukommen und dem uni-
versal-egalitären Sozialsystem Kubas gerecht zu werden. Der eigentliche Fokus
liegt jedoch auf den beiden allgemeineren Kategorien der vertikalen und horizonta-
len Ungleichheiten, da diese zur Analyse des kubanischen Kontextes geeigneter
erscheinen, wie im Folgenden kurz erklärt werden soll:
Auf einem egalitären Gesellschaftsmodell basierend, konzentrierte sich die Ent-
wicklungsstrategie der kubanischen Regierung nach dem Sieg der Revolution vor-
nehmlich auf die Nivellierung der alten Klassenstruktur zum Abbau der ausgepräg-
ten sozialen Disparitäten.
Im Mittelpunkt dieses ökonomistischen Ansatzes stand demnach die Eliminierung
vertikaler Ungleichheiten in Dimensionen wie Einkommen, Besitz, Bildung und
wohlfahrtsstaatlichen Leistungen. Des Weiteren sollten allerdings durch eine
gleichberechtigte Einbindung (und z.T. bewusste Förderung) traditionell benachtei-
ligter Bevölkerungsgruppen auch die bestehenden horizontalen Ungleichheiten
abgeschafft werden. Zu den wichtigsten benachteiligten Gruppen zählten in Kuba
wie in den meisten Gesellschaften die Frauen; aufgrund der kolonialen Sklaven-
haltervergangenheit die afrokubanische Bevölkerung, sowie die durch ungleiche
Besitzverhältnisse und Abhängigkeitsstrukturen verarmte Bevölkerung der ländli-
chen Provinzen. Das Hauptaugenmerk der Revolution richtete sich auf horizonta-
ler Ebene demnach auf ethnische und geschlechtsspezifische Ungleichheiten so-
wie auf die extremen regionalen Disparitäten zwischen Havanna und den übrigen
Provinzen.
Obwohl in allen drei horizontalen Dimensionen auf institutioneller Ebene beachtli-
che Fortschritte erzielt wurden, verfehlte es die Regierung jedoch, wesentliche
Ursachen der ökonomischen und gesellschaftlichen Benachteiligung wie Vorurtei-
le, Rassismus und Diskriminierung gegenüber den oben genannten Gruppen zu
bekämpfen: Indem man sich darauf konzentrierte, die Klassengegensätze, also
die ökonomisch begründeten, vertikalen Ungleichheiten innerhalb der Gesamtge-
sellschaft abzubauen, in der die benachteiligten Gruppen zumeist den ökonomi-
12

1 Einführung
schen Klassen zugeordnet wurden, anstatt Geschlecht, Hautfarbe und Region als
eigenständige Kategorien zu betrachten, ignorierte man die kulturellen Wurzeln
der sich vertikal manifestierenden horizontalen Ungleichheiten. Das Fehlen eines
politischen und gesellschaftlichen Diskurses in diesem Bereich unterstützte die
Reproduktion von (sich ohnehin nur sehr langsam verändernden) Denkstrukturen
und Vorurteilen in der Gesellschaft.
Für die vorliegende Untersuchung ist die Frage der Diskriminierung bestimmter
Gesellschaftsgruppen (Frauen, Schwarze, illegale Migranten) wichtig, da sie so-
ziokulturelle und ideologische Wurzeln sozialer Ungleichheit (wie Rassismus oder
durch den machismo geprägte Geschlechterrollen) aufdeckt, die mit der Analyse
rein vertikaler Ungleichheit nicht erfasst werden. Zum anderen können horizontale
Ungleichheiten durch Diskriminierungsprozesse Benachteiligungen der betroffe-
nen Gruppen beim Zugang zu ,,sozialen Gütern" bewirken, also vertikale (im ku-
banischen Kontext primär ökonomische) Ungleichheiten hervorrufen. Soziale Dis-
kriminierung ist zudem eine wichtige Dimension zur Untersuchung von Marginali-
tät (vgl. unten).
Im Zusammenhang mit horizontalen Ungleichheiten und Marginalität ist auch die
Analyse der Optionen politischer Teilhabe von Bedeutung: Partizipation galt und
gilt als zentraler Punkt in der kubanischen Entwicklungsstrategie nach dem Sieg
der Revolution und stellt zudem ­ hier in Bezug auf die Llega y pon ­ eine wichti-
ge Dimension zur Untersuchung gesellschaftlicher Marginalität und Exklusion dar
(vgl. z.B. Berg-Schlosser/Kersting 2000).
Ohne detaillierter auf den breiten Partizipationsdiskurs einzugehen, muss an die-
ser Stelle auf die Besonderheit des kubanischen Partizipationsverständnisses
hingewiesen werden:
Dem demokratietheoretischen Diskurs entstammende ,,westliche" Partizipations-
konzepte beruhen vor allem auf der Teilhabe an politischer Willensbildung und
Entscheidungsprozessen sowie der Einbindung in politische Institutionen. Hilfreich
zum Verständnis von Partizipation ,,á la cubana" ist die Unterscheidung von ,,ver-
fasster" und ,,unverfasster" Partizipation: als verfasste Partizipation werden ,,Hand-
lungen [verstanden], die in einem institutionell klar definierten Kontext eingebettet
sind", während unverfasste Partizipation definiert wird als ,,jene Aktionsformen, die
13

1 Einführung
in einem spontanen oder geplanten Mobilisierungsprozess außerhalb eines institu-
tionellen Rahmens stehen" (Kaase 2003: 498).
Neben der
-
angesichts des Einparteiensystems und der quasi-Wahlpflicht wenig
aussagekräftigen
-
elektoralen Partizipation
6
bedeutet verfasste politische Teilha-
be im kubanischen Kontext vor allem die Einbindung der Bürger in staatliche Mas-
senorganisationen. Die Beteiligung ist nicht auf einen pluralistischen Diskurs von
unten ausgelegt, sondern ein vom Staat gelenkter Prozess innerhalb des ideologi-
schen Rahmens des sozialistischen Systems. Unverfasste Formen der Bürgerbe-
teiligung wie Demonstrationen und soziale Basisbewegungen sind im kubanischen
Partizipationskonzept nicht vorgesehen, in der Regel nicht geduldet und somit
praktisch inexistent; oder wie der Kubaexperte Bert Hoffmann es ausdrückt:
,,Wenn in Kubas offiziellen Medien von sozialen Bewegungen (movimientos so-
ciales) die Rede ist, dann kann man sicher sein, dass es um ausländische The-
men geht: Straßenproteste gegen Liberalisierungsmaßnahmen in Costa Rica, die
Landlosenbewegung in Brasilien oder streikende Gewerkschafter in Chile. Für Ku-
ba selbst existiert dieser Begriff nicht." (Hoffmann 2008)
Vor dem Hintergrund dieses Partizipationsverständnisses sollen die Möglichkeiten
und Beschränkungen der politischen Teilhabe für die untersuchten Gesellschafts-
gruppen kritisch betrachtet werden.
1.4.2 Urbane Marginalität
Um die Llega y pon nicht nur im kubanischen Kontext zu verstehen, sondern auch
den Grad ihrer Marginalität im Vergleich zu informellen ,,Slums" bzw. Squattersied-
lungen anderer Länder des Südens einordnen zu können, liegt dem empirischen
Teil der Arbeit zusätzlich zu den oben genannten Ungleichheitsdimensionen eine
Definition urbaner Marginalität zugrunde.
Mit zunehmender Urbanisierung in den 1960er Jahren wurden die wachsenden
Marginalsiedlungen in Metropolen der ,,Dritten Welt" zum Forschungsgegenstand
der Stadtplanung, Stadt- und Sozialgeografie. Im sozialwissenschaftlichen Diskurs
wird urbane Marginalität etwa seit den 1970er Jahren vor allem aus entwicklungs-
6
Die prozentuale Wahlbeteiligung wird in kubanischen Statistiken und Studien jedoch gelegentlich als Indikator für
politische Partizipation verwendet, um aus der hohen Wahlbeteiligung von ca. 98% den bizarr anmutenden Schluss zu
ziehen, bezüglich der politischen Partizipation liege Kuba weit vor den anderen Ländern der Region (CIEM/PNUD 2000:
143,149).
14

1 Einführung
politischer, sozialanthropologischer, soziologischer und politikwissenschaftlicher
Sicht untersucht (vgl. Pachner 1982: Kap. 2,4; Berg-Schlosser/Kersting 2000: Kap. 1).
Ausgewählt wurde für diese Arbeit aufgrund ihres mehrdimensionalen Konzeptes
und der regionalen Eingrenzung, eine aus der Stadt- und Sozialgeografie stam-
mende Charakterisierung randstädtischer Marginalviertel lateinamerikanischer
Großstädte von Jürgen Bähr und Günther Mertins. Marginalität bezieht sich in die-
sem Konzept sowohl auf die Siedlungen als auch auf die dort lebenden Men-
schen:
-
räumliche Marginalität, d.h. die periphere Lage der Siedlungen
-
materielle Marginalität der Siedlung: mangelhafte Bausubstanz, im-
provisierte Behausungen aus einfachen Materialien, sowie man-
gelnde technische und soziale Infrastruktur
7
-
ökonomische Marginalität der Bewohner: hohe Beschäftigungsrate
im informellen Sektor, hohe Armutsrate
-
gesellschaftliche Marginalität: Unterprivilegierung/Diskriminierung
im gesellschaftlichen und soziokulturellen Bereich (vgl.
Bähr/Mertins 1995: 139f)
Als Kriterien zur Typisierung einer Siedlung als illegal oder semi-legal werden feh-
lende Boden-/Besitzrechte sowie der informelle Charakter ihrer Genese genannt:
Die Besiedelung agrarisch oder nicht genutzter Flächen ist vom Staat (bzw. Land-
eigentümer in anderen lateinamerikanischen Ländern) nicht autorisiert; Auf- und
Ausbauprozesse der Behausungen und Infrastruktur geschehen durch Selbsthilfe
und sind informeller Natur (keine Baugenehmigungen, Anzapfen von Wasser und
Strom) (ebd.: 140f).
Da Partizipation bereits seit den 1970er Jahren eine wichtige Dimension beim
Messen von Marginalität darstellt (vgl. Pachner 1982: 37ff; Berg-Schlosser/Kersting
2000: Kap. 1), wird auch im empirischen Abschnitt ausführlicher auf die Möglich-
keiten politischer Teilhabe in den Llega y pon als Teil der von Bähr und Mertins
benannten gesellschaftlichen Marginalität eingegangen, da fehlende Partizipati-
7
technische Infrastruktur: Straßen, Elektrizität, Trinkwasserversorgung, Abwasser- und Müllentsorgung; soziale
Infrastruktur: Schulen, medizinisch-hygienische Einrichtungen (Bähr/Mertins 1995: 140)
15

1 Einführung
onsmöglichkeiten wie bereits erwähnt als Dimension von Armut, Marginalisierung
und sozialer Exklusion gelten.
8
Eine Teildimension von Marginalität und wichtig für die Analyse der sozialen Un-
gleichheiten im Untersuchungskontext der Llega y pon ist der unsichere Rechts-
status (insecure residential status [UN-HABITAT 2003]) der Migranten als Haupt-
quelle der möglichen vertikalen Ungleichheiten jenseits der materiellen Wohnbe-
dingungen in den barrios. Hierzu werden vor allem die direkt aus der Illegalität re-
sultierenden Einschränkungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt und den staatlichen
Sozialleistungen untersucht als auch rechtliche Probleme und staatliche Repressi-
on wie Geldstrafen, Siedlungsräumungen und Abschiebungen.
1.5 Operationalisierung
In den einzelnen Abschnitten der Länderanalyse wird zunächst eine Beschreibung
der Entwicklung sozialer Ungleichheiten im gesamtgesellschaftlichen Kontext Ku-
bas vorgenommen.
In Bezug auf vertikale Ungleichheiten beschränke ich mich in der Arbeit auf den
systematischen Vergleich der Dimensionen Einkommen/Reichtum, Bildung und
Gesundheit.
Materielle Ungleichheit stellt die ,,klassische" Form vertikaler Ungleichheit dar, die
sich seit den 1990er Jahren auch in der kubanischen Gesellschaft wieder verstärkt
abzeichnet. Da Bildung und Gesundheit als Standpfeiler der (kubanischen) Sozi-
alpolitik gelten, wird formale Bildung für die Analyse der möglichen Ungleichheiten
in der Dimension des symbolischen Wissens verwendet, während die Kategorie
,,Gesundheit" exemplarisch für den Zugang zu den Sozialleistungen des Staates
analysiert wird.
9
Der Zugang zum Gesundheitssystem umfasst zum einen die Ge-
samtgesellschaft (anders als etwa Sozialhilfe oder Pensionen) und zum anderen
lassen Gesundheitsindikatoren natürlich auch immer Rückschlüsse auf den allge-
meinen Lebensstandard und das ,,Entwicklungsniveau" einer Gesellschaft zu.
Während im nationalen Kontext die exemplarische Beschränkung auf die Dimension
,,Gesundheit" ausreicht, da für die Sozialleistungen das Universalitätsprinzip gilt und
8
Auch hier wird Partizipation vor dem Hintergrund der ohnehin für die gesamte Bevölkerung eingeschränkten
Teilhabemöglichkeiten betrachtet
9
Das Bildungssystem gehört selbstverständlich ebenfalls zu den Sozialleistungen. Die Kategorie ,,Formale Bildung" meint
hier jedoch das schulische Qualifikationsniveau, das die institutionelle Ebene des Zugangs zu Bildung als sozialer Leistung
mit einschließt.
16

1 Einführung
es keinerlei Hinweise auf einen ungleich verteilten Zugang zu spezifischen sozialen
Gütern gibt, wurden für die empirische Untersuchung der Llega y pon aufgrund der
Relevanz für die Forschungsfrage auch andere Sozialleistungen des Staates mit ein-
bezogen. Dem begrenzten Rahmen der Arbeit geschuldet, wird in der Auswertung
jedoch nur auf diejenigen Teilbereiche ausführlicher eingegangen, in denen sich tat-
sächlich Benachteiligungen für die Bewohner der informellen barrios abzeichneten.
Zusätzlich wird in jeder Periode gesondert auf regionale, ethnische und ge-
schlechtsspezifische Disparitäten als horizontale Formen sozialer Ungleichheit
eingegangen. Diese drei Dimensionen stellen nicht nur wie oben erwähnt im kuba-
nischen Kontext, sondern auch in der Ungleichheitsforschung allgemein wichtige
Kategorien traditionell benachteiligter Gruppen dar. Die Analyse regionaler Dispari-
täten ist hier zudem wichtig, da diese als eine Hauptursache für die Entstehung der
Llega y pon in den 1990er Jahren betrachtet werden müssen.
Durch eine möglichst kohärente Betrachtung relevanter Indikatoren innerhalb der
einzelnen Perioden soll dieser Gliederungsaufbau einen systematischen Vergleich
der Disparitäten und ihrer Entwicklung ermöglichen.
Für jede der angeführten Perioden werden, soweit verfügbar und der jeweiligen
Kategorie angemessen, ausgehend von gängigen Methoden zum Messen von
Ungleichheit, folgende Indikatoren und Indizes verwendet:
-
Reichtum: Einkommensverteilung in der Gesellschaft, wirtschaftlicher Pri-
vatbesitz (Land, Industrie), GINI-Index
-
Bildung: Analphabetismus, Grundschul-Einschulungsrate, Hochschul-
immatrikulationsrate
-
Gesundheit: Einwohner pro Arzt, Kindersterblichkeitsrate pro 1000 Lebend-
geburten; (für die Kategorie Gender): Müttersterblichkeitsrate pro 100.000
Lebendgeburten
10
-
Politische Partizipation (für die Kategorien Ethnie und Gender): Sitze im
Parlament, Ministerposten
-
Aggregierte Indizes für regionale und geschlechtsspezifische Disparitäten:
Human Development Index (HDI), Gender Empowerment Measure (GEM),
Global Gender Gap Index (GGG)
11
10
Da dieser Indikator aufgrund der niedrigen Gesamtzahl an Todesfällen hohen Schwankungen unterliegt, werden hier
jeweils die Durchschnittswerte eines Jahrzehnts genannt.
11
Die aggregierten Indizes werden erst seit 1990 (HDI), 1995 (GEM) und 2005 (GGG) erhoben und aus diesem Grund
lediglich für die dritte Zeitperiode (1990 - heute) verwendet, um Entwicklungen seit der período especial darzustellen.
17

1 Einführung
Bei fehlenden oder zu widersprüchlichen Daten wird versucht, durch alternative
Indikatoren zumindest einen annähernden Vergleich zu liefern (z.B. Pro-Kopf-
Geldzirkulation in einzelnen Provinzen oder Havannas Anteil aller Ärzte und Kran-
kenhäuser des Landes zum Messen regionaler Ungleichheiten).
Für die horizontalen Kategorien Ethnie, Gender und Region werden die Indikato-
ren je nach verfügbaren Daten und Zweckmäßigkeit der jeweiligen Kategorie an-
gepasst und ggf. modifiziert: Für die traditionell benachteiligen Gruppen der Frau-
en und Schwarzen
12
werden beispielsweise Indikatoren wirtschaftlicher Partizipa-
tion wie ihr prozentualer Anteil in Führungspositionen angeführt.
In der Kategorie der ethnischen Ungleichheiten wird auf die Dimension Gesund-
heit verzichtet, da nach dem Triumph der Revolution das Gesundheitssystem allen
Kubanern frei zugänglich gemacht wurde, so dass zumindest für die Zeit nach
1959 keinerlei Ungleichheiten in diesem Bereich zu erwarten sind.
13
Zum Darstellen der regionalen Ungleichheiten werden, wo möglich, ebenfalls oben
angeführte Indikatoren für die einzelnen Ungleichheitsdimensionen verwendet.
Konkrete Zahlen zur politischen Partizipation in den einzelnen Provinzen sind nicht
vorhanden, Möglichkeiten und Einschränkungen der politischen Teilhabe werden
jedoch auch in dieser Kategorie kurz beschrieben.
Regionale Ungleichheiten bedeuten im kubanischen Kontext einerseits das Stadt-
Land-Gefälle, vor allem aber Disparitäten zwischen Havanna-Stadt (Provinz Ciu-
dad de La Habana) und den übrigen Provinzen. Da zwar nach Provinzen geordne-
te Informationen existieren, aber außer demografischen Statistiken kaum getrenn-
te Daten für urbane und ländliche Regionen erhoben werden, werden hier die in-
terprovinzialen Ungleichheiten untersucht, die außerdem die relevante Dimension
regionaler Ungleichheiten im Untersuchungskontext der Llega y pon darstellen.
Zugleich wird anhand des Vergleichs zwischen Havanna und besonders den östli-
chen Provinzen auch immer das Stadt-Land-Gefälle in Kuba mit zum Ausdruck
gebracht, da Havanna-Stadt als einzige rein urbane Provinz Kubas mit einer Be-
12
Um unnötige Verkomplizierung zu vermeiden, werden bei ethnischen Vergleichen Schwarze und Mestizen (Mulatten) als
Schwarze zusammengefasst. Erstere machen in den offiziellen Statistiken etwa 10% der Gesamtbevölkerung aus, letztere
knapp 25% (ONE 2005a). Der tatsächliche Anteil an Afrokubanern wird jedoch in der Regel wesentlich höher auf ca. 50%
geschätzt, da die offizielle Zuordnung durch Eigendefinition geschieht und hier die Tendenz zur ,,Aufhellung" besteht (vgl.
z.B. Thomas 1971: 335; CIA Factbook 2008).
,,Mestizo" ist im kubanischen Kontext der amtlich verwendete Terminus für Menschen afrikanischer und europäischer
Abstammung. Umgangssprachlich wird zwar ,,mulato" wesentlich häufiger verwendet als ,,mestizo", besitzt jedoch
gelegentlich eine pejorative Konnotation.
13
Da im allgemeinen Homogenisierungsprozess, wie erwähnt, die Kategorie ,,Ethnizität" der Kategorie ,,Klasse" untergeord-
net wurde, existieren ohnehin kaum nach Hautfarbe getrennten Statistiken in Kuba.
18

1 Einführung
völkerung von ca. zwei Millionen dieselbe Einwohnerzahl hat wie die elf nächst
größten Städte gemeinsam (mit Einwohnerzahlen zwischen 100.000 und 500.000)
(ONE 2006). Ein Indikator für die Ranggröße Havannas ist der Index of Primacy,
der das Verhältnis der größten zur zweitgrößten Stadt eines Landes angibt. Auch
wenn dieser Index lediglich die relative Einwohnerzahl einer Stadt misst
14
, gibt die
Veränderung der Primatstruktur in dieser Arbeit jedoch Aufschluss über die Regi-
onalentwicklung in den Provinzen.
Auf räumliche Disparitäten innerhalb Havannas, ein zentraler Aspekt für den For-
schungsgegenstand der illegalen Siedlungen, wird im zweiten Teil der Arbeit nä-
her eingegangen.
Abb. 2: In der Arbeit verwendete Indizes
GINI-Index:
Maß zur Ungleichverteilung von Einkommen oder Vermögen innerhalb einer Gesellschaft (Maß-
einheit 0-1, je höher der Wert, desto ungleicher ist die Verteilung)
Human Development Index (HDI):
Misst das Niveau menschlicher Entwicklung in den Dimensionen ,,Gesundheit", ,,Bildung", ,,ange-
messener Lebensstandard".
Niedriges Entwicklungsniveau: 0-0,5; mittleres Entwicklungsniveau: 0,5-0,8; hohes Entwicklungsni-
veau: 0,8 -1.
Der hier verwendete HDI der kubanischen Human Development Reports verwendet zum Messen
regionaler Unterschiede folgende Indikatoren:
Lebenserwartung, Kindersterblichkeitsrate, Müttersterblichkeitsrate, Trinkwasserversorgung und
Abwasserentsorgung; Schulbesuch (6-14 Jahre), kombinierte Einschulungsrate; Durchschnittsein-
kommen, Pro-Kopf-Sozialausgaben.
Für Details zu GINI-Index, GEM und HDI vgl. Human Development Report 2007/08 des UNDP:
http://hdr.undp.org/en/reports/global/hdr2007-2008/
Gender Empowerment Measure (GEM):
Misst geschlechtsbedingte Chancenungleichheiten in den Dimensionen ,,politische Partizipation
und Entscheidungsgewalt", ,,ökonomische Partizipation und Entscheidungsgewalt", ,,Verfügung
über wirtschaftliche Ressourcen".
Indikatoren: Sitze im Parlament, Führungspositionen und Anteil der wissenschaftlichen und tech-
nischen Fachkräfte, geschätztes Monatseinkommen.
Global Gender Gap Index (GGG):
Misst die relative Benachteiligung von Frauen in den Dimensionen ,,Wirtschaftliche Partizipation
und Chancen", ,,Bildungsabschluss, ,,Gesundheit und Überleben", ,,Politisches Empowerment".
Für Details vgl. Global Gender Gap Report 2007 des Weltwirtschaftsforums:
http://www.weforum.org/pdf/gendergap/report2007.pdf
Index of Primacy: Quotient aus der Einwohnerzahl der größten und der zweitgrößten Stadt eines
Landes zum Messen der Ranggröße einer Stadt. Gemäßigte primacy: 2 - 5, höchste primacy: 5.
14
Zur Unterscheidung zwischen der hier verwendeten demografischen primacy und funktionaler primacy vgl. Bähr/Mertins
1995: Kap. 3.3
19

1 Einführung
Um in den empirischen Teil der Arbeit einzuführen, wird durch die kurze Darstel-
lung der Entwicklung räumlicher Disparitäten innerhalb Havannas, der Probleme im
Wohnsektor und der Geschichte kubanischer Marginalsiedlungen zum Forschungs-
gegenstand hingeführt und dieser dann ausführlich beschrieben.
Aufbauend auf der verwendeten Marginalitätsdefinition und den Ungleichheitsdimen-
sionen des ersten Abschnitts erfolgt die Analyse der Siedlungen in zwei Schritten:
Zunächst wird nach einer kurzen Darstellung der historischen Genese der barrios
die räumliche und materielle Marginalität der Siedlungen beschrieben. Hierzu zäh-
len das äußere Erscheinungsbild, die materiellen Wohnbedingungen sowie die Inf-
rastruktur (Ver- und Entsorgung von Wasser, Elektrizität, Abwasser und Müll).
Anschließend wird die soziodemografische Struktur des Mirador im Kontext der ö-
konomischen und gesellschaftlichen Marginalität der dort lebenden Menschen un-
tersucht. In diesem Zusammenhang wird zunächst auf die Herkunft der Bewohner
und ihre individuellen Migrationsgründe eingegangen, zum anderen werden das
Bildungsniveau sowie die Beschäftigungsstruktur beschrieben und mit der Gesamt-
gesellschaft verglichen. Zusätzlich werden wie auch in der Länderstudie die Formen
politischer Partizipation in beiden informellen barrios als eine weitere Dimension der
gesellschaftlichen Marginalität beleuchtet.
In einem zweiten Schritt wird der ,,insecure residential status" (UN-HABITAT 2003)
und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Migranten in den Llega y pon
untersucht. Hier werden potentielle Benachteiligungen in den ausgewählten vertika-
len Ungleichheitskategorien Beschäftigung und Einkommen und Zugang zu den
Sozialleistungen des Staates (vor allem zum subventionierten Lebensmittelmarkt,
dem Bildungs- und Gesundheitsystem) analysiert. Hinzukommen rechtliche Prob-
leme als Konsequenz der Illegalität sowie Formen des Widerstandes als eine im
kubanischen Kontext seltene, unverfasste Art der Partizipation ,,von unten".
Wie im ersten Kapitel wird auch im empirischen Teil auf ethnische und Gender-
Disparitäten als horizontalen Formen der Ungleichheit innerhalb der Llega y pon
eingegangen.
20

1 Einführung
Ein systematischer und repräsentativer Vergleich der einzelnen Ungleichheitsdi-
mensionen zwischen dem Llega y pon und der Gesamtgesellschaft ist aufgrund der
eigenen qualitativen sowie der begrenzten quantitativen Erhebungen der verwen-
deten Fallstudie selbstverständlich nur extrem eingeschränkt möglich. Dies wurde
auch nicht angestrebt: Bei der vorliegenden Arbeit geht es weniger darum zu
messen ,,wie viel" Ungleichheit vorhanden ist als vielmehr darum, ,,wo" (in welchen
Dimensionen) und ,,bei wem" sie zu finden ist, also darum mögliche Bruchstellen
für eine Verfestigung der Ungleichheitsstruktur aufzudecken. An dieser Stelle
könnten zukünftige Untersuchungen ansetzen, um die hier gefundenen Ergebnis-
se zu quantifizieren.
21

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783836635301
Dateigröße
974 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Kassel – Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften, Soziologie
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,0
Schlagworte
kuba ungleichheit marginalsiedlungen slums migration
Zurück

Titel: Llega y pon oder Sal si puedes?
Cookie-Einstellungen