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Zur Bedeutung interkultureller Kompetenz in der Beratung

©2008 Diplomarbeit 94 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Ich glaube, dass tatsächlich wir es sind, die uns selber Schranken setzen, indem wir fälschlicherweise und über Gebühr Nachdruck legen auf das, was der menschlichen Gesellschaft wichtig ist, und das Wie kaum in Betracht ziehen. Allzu oft wird übergangen, wie dem einzelnen zu seiner Einmaligkeit zu verhelfen wäre, dass er einmalig werden könnte in seinem Beitrag und seiner Bedeutung sowohl für sich selbst als auch für die Gesellschaft’.
(Moshé Feldenkrais)
Moshé Feldenkrais spricht in diesem Zitat von der Erhaltung und der Bedeutung der Einmaligkeit eines jeden Menschen für sich selbst und für die Gesellschaft. Das beinhaltet auch den Menschen so anzunehmen, wie er ist und ihn in seiner Würde nicht zu verletzen. Er hat ein Recht auf Integration in einem Land, welches sich 2004 politisch zu einem Einwanderungsland bekannt hat. Die veränderte Einwanderungsrealität in Deutschland, womit sich auch die Soziale Arbeit und somit die Dienste der Regelversorgung konfrontiert sehen, stehen vor neuen Herausforderungen. Die Akteure der Sozialen Arbeit müssen mit diesen Umwandlungsprozessen umgehen, haben sie doch den Anspruch, auf sozioökonomischer und rechtlicher Basis Gerechtigkeit und Fairness für jedenMenschen, gleich seiner Herkunft, zu schaffen. Migranten, zu denen beispielsweise Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, Spätaussiedler, EU-Binnenmigranten, Asylzuwanderer, Werksvertrags- undSaisonarbeitnehmer und dessen Familienangehörige zählen, sind zu einem festen Bestandteil der deutschen Gesellschaft und infolgedessen zu einem weitaus heterogeneren Klientel geworden, als dass es die Soziale Arbeit gewöhnt war. 6.744.879 Ausländer zählte das Jahr 2007in Deutschland. Das macht einen Ausländeranteil von 8,2 Prozent aus. Der Begriff der Integration stellt eine der großen Herausforderungen an die Bundesrepublik dar.
Auf rechtlicher Basis genießt jeder Migrant mit oder ohne deutschen Pass einen gleichberechtigten Zugang zu sozialen, sowie gesundheitlichen Versorgungsstrukturen.
Doch wie kommt es, dass gerade Migranten, die zweifelsohne einen gewissen Frage- und Informationsbedarf haben, nur sehr geringen Zugang zu Beratungsdiensten
finden? Diese Frage wirft auf, inwiefern sich Beratungsdienste und Versorgungsstrukturen ändern müssen, damit sie Menschen unterschiedlicher Herkunft besser erreichen können. So werden interkulturelle Kompetenzen, im Folgenden i.K. genannt, in der sozialarbeiterischen Berufswelt verlangt, die dazu […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Anke von Heiden
Zur Bedeutung interkultureller Kompetenz in der Beratung
ISBN: 978-3-8366-3246-1
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2009
Zugl. Fachhochschule Frankfurt am Main - University of Applied Sciences, Frankfurt am
Main, Deutschland, Diplomarbeit, 2008
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2009

1. Einleitung...1
2. Interkulturelle Kompetenz in der Sozialen Arbeit...3
2.1 Von der Ausländerpädagogik zur interkulturellen Pädagogik...4
2.2 Ansätze zur Erfassung von Kultur...7
2.2.1 Kulturstandards...11
2.2.3 Der kulturalistische und der strukturalistische Denkansatz...14
2.3 Interkulturelle Kompetenz...18
3. Von der allgemeinen zur interkulturellen Beratung...23
3.1 Beratung in der Sozialen Arbeit...24
3.2 Psychosoziale Beratung...25
3.3 Interkulturelle Beratung... 27
3.3.1 Zur Bedeutung von interkultureller Beratung...31
4. Interkulturelle Herausforderungen und Handlungsansätze in der Beratung...36
4.1 Interkulturelle Beratung unter Voraussetzung einer interkulturellen Öffnung...37
4.2. Interkulturelle Kommunikation...40
4.2.1 Interkulturelle Kommunikation nach Auernheimer...43
4.3. Ethnozentrismus und Vorurteilsbildung...55
4.4 (Interkulturelles) Empowerment als Haltung in der Beratung...59
5. Zukunftsperspektiven für eine interkulturell-sensible Soziale Arbeit...67
5.1 Zukünftige Veränderungsprozesse in der Praxis der Sozialen Arbeit...68
6. Schlussbetrachtung... 74
7. Anhang: Interview...77
8. Literaturverzeichnis...86

1
1. Einleitung
,,Ich glaube, dass tatsächlich wir es sind, die uns selber Schranken setzen,
indem wir fälschlicherweise und über Gebühr Nachdruck legen auf das,
was der menschlichen Gesellschaft wichtig ist, und das Wie kaum in Betracht
ziehen. Allzu oft wird übergangen, wie dem einzelnen zu seiner Einmaligkeit zu
verhelfen wäre, dass er einmalig werden könnte in seinem Beitrag und seiner
Bedeutung sowohl für sich selbst als auch für die Gesellschaft."
(Moshé Feldenkrais)
Moshé Feldenkrais spricht in diesem Zitat von der Erhaltung und der Bedeutung der
Einmaligkeit eines jeden Menschen für sich selbst und für die Gesellschaft. Das
beinhaltet auch den Menschen so anzunehmen, wie er ist und ihn in seiner Würde
nicht zu verletzen. Er hat ein Recht auf Integration in einem Land, welches sich 2004
politisch
zu
einem
Einwanderungsland
bekannt
hat.
Die
veränderte
Einwanderungsrealität in Deutschland, womit sich auch die Soziale Arbeit und somit
die
Dienste
der
Regelversorgung
konfrontiert
sehen,
stehen
vor
neuen
Herausforderungen.
Die
Akteure
der Sozialen
Arbeit müssen
mit
diesen
Umwandlungsprozessen
umgehen,
haben
sie
doch
den
Anspruch,
auf
sozioökonomischer und rechtlicher Basis Gerechtigkeit und Fairness für jeden
Menschen, gleich seiner Herkunft, zu schaffen. Migranten
1
, zu denen beispielsweise
Kriegs-
und
Bürgerkriegsflüchtlinge,
Spätaussiedler,
EU-Binnenmigranten,
Asylzuwanderer,
Werksvertrags-
und
Saisonarbeitnehmer
und
dessen
Familienangehörige zählen, sind zu einem festen Bestandteil der deutschen
Gesellschaft und infolgedessen zu einem weitaus heterogeneren Klientel geworden,
als dass es die Soziale Arbeit gewöhnt war. 6.744.879 Ausländer zählte das Jahr 2007
in Deutschland. Das macht einen Ausländeranteil von 8,2% aus.
2
Der Begriff der
Integration stellt eine der großen Herausforderungen an die Bundesrepublik dar.
Auf rechtlicher Basis genießt jeder Migrant mit oder ohne deutschen Pass einen
gleichberechtigten Zugang zu sozialen, sowie gesundheitlichen Versorgungsstrukturen.
Doch wie kommt es, dass gerade Migranten, die zweifelsohne einen gewissen Frage-
und Informationsbedarf haben, nur sehr geringen Zugang zu Beratungsdiensten
1
Anm.: Ich habe in dieser Arbeit auf Genderaspekte und der Verwendung einer gendergerech-
ten Sprache weitestgehend verzichtet. Wenn z.B. von Migrant oder Sozialarbeiter gesprochen
wird, so meine ich nicht nur die männliche Person, sondern immer auch die weibliche Person
gleichermaßen.
2
vgl. Destatis 2008

2
finden?
Diese
Frage
wirft
auf,
inwiefern
sich
Beratungsdienste
und
Versorgungsstrukturen ändern müssen, damit sie Menschen unterschiedlicher Herkunft
besser erreichen können. So werden interkulturelle Kompetenzen, im Folgenden i.K.
genannt, in der sozialarbeiterischen Berufswelt verlangt, die dazu beitragen sollen, die
Zusammenarbeit von Migranten und Mitarbeitern (nicht nur) der sozialen Praxis
integrativer, aufbauender, verständnisvoller und wohlwollender zu gestalten. Der
Bedarf nach i.K. verstärkt sich sukzessiv, aber welcher Anspruch geht damit eigentlich
einher?
In dieser Arbeit soll herausgearbeitet werden, inwiefern i.K. in der sozialen
Beratungspraxis vonnöten ist. Dabei geht es darum, eine differenzierte Position
einzunehmen. Äußerungen, Meinungen und Beurteilungen von Autoren werden in
vielen Fällen immer auch kritisch betrachtet. Der Leser soll ein fundiertes Wissen über
Ansätze, Meinungen, Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten im Umgang mit Kultur und
einer kulturell-sensiblen Arbeit erhalten. Dabei wird der Standpunkt vertreten, dass
interkulturelle Interaktion und somit der Anspruch nach i.K. nicht nur auf der Basis von
persönlichen Fähigkeiten, sondern auch auf institutioneller Ebene geschieht und
umgesetzt werden kann.
Moshé Feldenkrais erwähnt die Erhaltung der Individualität des Menschen. Wenn man
sich mit einem solchen Thema befasst, bleiben Zuschreibungen und kollektive
Pauschalisierungen nicht aus. Inwiefern geschieht dies unter dem Aspekt von i.K.?
Begründet sich i.K. auf der Basis einer Fokussierung von kulturellen Unterschieden
oder begründet sie sich auf einer universellen Haltung und Einstellung anderer Länder
Kulturen gegenüber? Wie wichtig sind interkulturelle Fähigkeiten im Umgang mit
Migranten, ganz besonders in Beratungseinrichtungen? Diese Fragen sollen hier
beantwortet werden.
Um die gegenwärtige Situation zu verstehen, muss man auch die Vergangenheit
kennen. Veränderungsprozesse der Ausländerpädagogik hin zu einer kulturell-
orientierten Pädagogik werden erläutert. Anschließend werden Definitionen des
Kulturbegriffs, der i.K., sowie zwei unterschiedliche Herangehensweisen im Umgang
mit Kultur beschrieben. Des Weiteren wird eine Übersicht über Beratung im
sozialarbeiterischen­ und interkulturellen Sinn dargelegt und der Frage nachgegangen,
inwiefern eine interkulturelle Beratung wichtig ist. Im Anschluss daran sollen
Herausforderungen auf persönlicher und institutioneller Ebene aufgezeigt werden. Es
geht darum zu erkennen, an welchen Kriterien die Arbeit mit Migranten scheitern bzw.
schlecht laufen kann. Zu nennen wären hierbei, neben den institutionellen-, auch die
kommunikativen Faktoren. Dem Leser soll zudem die Basis einer jeden Beratung,
nämlich die eigene Einstellung zur Arbeit und zum Klientel auf Grundlage des

3
Empowerment Ansatzes erläutert werden. Gegen Ende befasst sich die Arbeit mit
einem Blick in die Zukunft einer interkulturell-sensiblen Sozialen Arbeit.
2. Interkulturelle Kompetenz in der Sozialen Arbeit
Generell ist der Begriff der i. K. nicht ganz einfach zu definieren. Das hängt zum einen
daran, dass gegenwärtig noch immer rege diskutiert wird, inwiefern kulturelle
Unterschiede im Umgang mit Menschen unterschiedlicher Herkunft eine Rolle spielen.
Zum anderen herrschen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt Diskussionen über den
korrekten
Begriffsgebrauch
. Es gibt den Begriff der ,,transkulturellen Kompetenz", der
sich ganz besonders in der Psychotherapie und der Psychoanalyse etabliert hat. In der
Sozialen Arbeit und auch in der Politik hat man sich weitestgehend auf den Begriff der
i. K. geeinigt. In dieser Arbeit wird ausschließlich der Begriff der i.K. verwendet.
Zudem wurde das Konzept der i.K. in der Sozialen Arbeit in den 1970ern und 1980ern
mit größerer Skepsis aufgenommen, als das es z.B. in der Betriebswirtschaft (z.B
interkulturelles Management) der Fall gewesen war. Missfallen herrscht auch über die
Definition bzw. die
Präzisierung des Begriffes
der i.K. Denn dahinter vermuten Kritiker
eine Gefahr der ethnisierenden Miss-Deutung sozial und politisch verursachter
Konflikte durch Kulturzuschreibung. In erster Linie verspricht man sich durch die
Aneignung von i.K. eine Verbesserung in Bereichen der kultursensiblen sozialen
Praxis: Wahrnehmungsverzerrungen,
Fehlzuschreibungen,
Fehldiagnosen
und
unsachgemäßen Intervention, Missachtung der eigenen Zugehörigkeit und der
Zugehörigkeit des Gegenübers sollen mithilfe einer i.K. reduziert bzw. vermieden
werden.
3
Der leitende Gedanke der interkulturellen Pädagogik und somit das Verlangen nach
interkulturellen Kompetenz gibt vor, nicht die Defizite von Ausländern zu betonen,
sondern
stattdessen
ihre
Potenziale
zu
erkennen
und
dadurch
den
Bereicherungsaspekt von kultureller Vielfalt in den Vordergrund zu stellen. Auch
möchte interkulturelle Pädagogik auf Fremd- und Eigenbilder aufmerksam machen, die
aufgrund von Stereotypisierungen durch die Sozialisation des Menschen und das Bild
der Medien konstruiert werden. I.K. ist dabei nur ein Baustein.
4
Zuerst wird erziehungspolitisch beschrieben, wie sich die Pädagogik zu Gunsten der
3
vgl. Leenen/Groß/Grosch 2008, S. 101
4
vgl. Gaitanides 2003, S. 40 f.

4
Migranten
5
entwickelt hat. Darauf folgend wird der Kulturbegriff näher erläutert, um
zumindest einen kleinen Einblick in die Komplexität des Bedeutungsinhaltes zu geben.
Einhergehend mit diesem Definitionsversuch, werden Kulturstandards vorgestellt und
darauf hin zwei immer noch aktuelle, äußerst konträre Meinungen zur Umgehensweise
mit Kultur dargelegt. Schließlich wird auf die Begrifflichkeit von i.K. näher
eingegangen.
2.1 Von der Ausländerpädagogik zur interkulturellen Pädagogik
Die kulturellen Heterogenisierungsprozesse in Deutschland und Gesamteuropa in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, stützen sich auf die Folgen der Arbeitsmigration.
Diese Prozesse ließen ein Deutschland entstehen, welches erstmals politisch 2004
durch die Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes und des neuen Mikrozensus
6
als ein Zuwanderungsland anerkannt wurde.
Als einer der drei Hauptgründe zur Herausbildung von interkultureller Bildung und Er-
ziehung kann die innergesellschaftliche und migrationsbedingte Kulturheterogenität,
die Vereinigung Europas und das Entstehen einer Weltgesellschaft mit ihrer
Mehrkulturalität angesehen werden. Im Folgenden seien die migrationsbedingten
Umdenkungsprozesse dargestellt.
7
Die Anfänge der interkulturellen Erziehung hatten ihren Ursprung in den 1980er
Jahren, als die Ausländerpädagogik stark kritisiert wurde und nach und nach dem
Begriff und Konzept der interkulturellen Bildung wich. Der erstmalig 1979 in einem Tit el
eines Buches auftauchende Begriff ,,interkulturell" brachte ein Bewusstsein zu Tage,
welches sich nicht mehr an dem defizitären Denken gegenüber Ausländern messen
5
Anm.: In dieser Arbeit wird grundsätzlich der Begriff ,,Migrant" benutzt. Dabei bin ich mir be-
wusst, eine sehr heterogene Gruppe anzusprechen, sei es hinsichtlich ihres rechtlichen,
sozialen oder wirtschaftlichen (Bildungs)Status. Ich habe mich einerseits für den Begriff
,,Migrant" entschieden, da dieser weniger diskriminierend als ,,Ausländer" klingt, andererseits,
um der Vielfältigkeit in Form diesen Ausdrucks Raum zu gewähren. Migrationsfamilien können
inzwischen der ersten (alle Familienmitglieder sind zugewandert), der zweiten (alle
Familienmitglieder sind im Aufnahmeland geboren), sogar der dritten Generation angehören.
Zusätzlich
gibt
es
Migrationsfamilien,
mit
unterschiedlichen
Rechtsstatus
(einige
Familienmitglieder haben Aufenthaltserlaubnis, andere nicht). Wo Differenzierungen notwendig
sind, werde ich dies mit Ausländer, Flüchtlingen etc. beschreiben.
6
Anm.: Der Mikrozensus ist eine vom statistischen Bundesamt in Auftrag gegebene
Repräsentativstatistik und gleichzeitig die größte Haushaltsbewohnerbefragung Europas,
welche wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Lagen von Familien in Deutschland näher
beleuchtet. Zusätzlich wurden erstmals mit dem Mikrozensus 2005 Daten von Bürgern und
Bürgerinnen mit Migrationshintergrund erhoben. (vgl. Statistisches Bundesamt o.J.)
7
vgl. Auernheimer 2007, S. 7ff.

5
wollte.
8
Denn ein großer Kritikpunkt gegenüber der damaligen Ausländerpädagogik
war, dass Akkulturationsforderungen, also Anpassungsanforderungen an den
Arbeitsmigranten gestellt wurden, die er nur schwer erfüllen konnte. Kulturelle
Diversität war zu Zeiten der Ausländerpädagogik unerwünscht und wurde von
sogenannten ,,ausländerpädagogischen Konzepten" weitestgehend ignoriert. Nieke
(2007) unterscheidet demnach sechs (zeitlich nicht erwähnte) Phasen der
Entwicklungskonzeptualisierung
in
Deutschland,
ausgehend
von
der
Ausländerpädagogik bis hin zur Interkulturellen Erziehung:
1. Gastarbeiterkinder an deutschen Schulen: Ausländerpädagogik als Nothilfe
2. Kritik an der Ausländerpädagogik
3. Konsequenzen aus der Kritik: Differenzierung von Förderpädagogik und Interkultu-
reller Erziehung
4. Erweiterung des Blickes auf ethnische Minderheiten
5. Interkulturelle Erziehung und Bildung als Bestandteil von Allgemeinbildung
6. Neo-Assimilation.
Zu Beginn, als die ersten Angeworbenen (und später deren Familien) nach
Deutschland
kamen,
stellte
sich
schnell
das
Problem
unzureichender
Artikulationsmöglichkeiten ein. Deutschkenntnisse waren nicht vorhanden und sollten
zügig erlernt werden. Also sollten auch die Kinder in der Schule, die von den Eltern
aus der Heimat nachgeholt wurden, so schnell wie möglich die deutsche Sprache
erlernen, um dem Unterricht folgen zu können. Es wurden neue Didaktikmethoden
angewandt, um bessere Lernerfolge zu erzielen, doch alsbald merkte man, dass es
förderlicher war, Kinder bilingual zu unterrichten. Sie sollten ihre Muttersprache
beibehalten und sich ihrer nationalen Herkunft bewusst bleiben, auch unter dem Ziel
der Rückkehrfähigkeit in die jeweiligen Heimat-/Herkunftsländer. Stattdessen sollte
Deutsch als Fremdsprache, im Rahmen des Deutschunterrichts, dazugelernt werden.
Da sich nicht nur die Schulpädagogik neuen Herausforderungen stellen musste,
sondern auch andere pädagogische Einrichtungen und Arbeitsfelder, wie die
Erwachsenenbildung und die Soziale Arbeit, entwickelte sich so ein neues
Zielgruppenfeld: Der Begriff der Ausländerpädagogik und deren Aufgabengebiet
konnte sich etablieren. Doch diese Art der Pädagogik rief nach einiger Zeit Kritik der
Stigmatisierung von Ausländern auf den Plan: Wenn sie zur Zielgruppe intensiver
theoretischer und praktischer Bemühungen gemacht wurden, musste dies auf eine
8
ebd. 2007, S. 34

6
besondere Bedürftigkeit und somit auf Defizite zurückzuführen sein. Auch wurde der
Ausländerpädagogik vorgeworfen, sie wäre politisch zu wenig abgesichert und könnte
ohne eine grundlegende politische Sicherheit nicht existieren (z.B. durch geringe oder
fehlende Rechte der Arbeitsmigranten). Die Ausländer waren immer die ,,Schuldigen",
diejenigen, die Probleme verursachten, diejenigen, die sich anpassen sollten,
diejenigen, die ,,anders" waren.
,,Mit dem Begriff ,Ausländerpädagogik' werden pädagogische Handlungskonzepte
bezeichnet, in denen die Besonderheiten der Zielgruppe (...) als Legitimation für die
Ausgrenzung gegenüber anderen Handlungskonzepten dienen."
9
Über die Entstehung einer vielfältig kulturellen Gesellschaft wurde bis dato noch nicht
nachgedacht.
10
Anfang der 1980er Jahre wollte man dann auf eine ,,interkulturelle Pädagogik"
zusteuern, allerdings unter der Berücksichtigung einer wichtigen Einsicht: Mit der
Abkehr
einer
baldigen
Rückkehrperspektive
war
Deutschland
durch
die
Arbeitsmigration zu einem Einwanderungsland geworden. In den frühen 1980er Jahren
wurden infolgedessen Konzepte einer ,,interkulturellen Erziehung" entwickelt. Ab etwa
Mitte der 1980er Jahre fing man erstmalig an, sich mit der Thematik der Kulturalität zu
befassen: Welchen Stellenwert hatte die Anwesenheit von unterschiedlichen
Nationalitäten und was bedeutete diese kulturelle Diversität, Herkunft und auch
Fremdheit für die Gesellschaft? Dies rief insbesondere konstruktivistische Kritik hervor,
die sich gegen eine übertriebene Popularität des Kulturbegriffs wandten. Ausländer
sollten in der Gesellschaft und vor dem Gesetz gleichberechtigt angesehen und nicht
aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt oder diskriminiert werden. Kritisch artikulierte
man, dass das Grundproblem die Haltung der Politik und der Gesellschaft sei: Das
Kulturbewusstsein hatte gegenüber der Persönlichkeit des Menschen einen zu hohen
Stellenwert. In den frühen 1990er Jahren fielen insbesondere rechtsextreme
Jugendliche ins Auge, mit denen sich die Gesellschaft nun auseinandersetzte, ohne
jedoch
Parallelen
zur
interkulturellen
Erziehung
zu
ziehen.
Zahlreiche
Auseinandersetzungen, bis hin zu Überfällen und Brandstiftungen an Wohnungen und
Flüchtlingsunterkünften, unterstrichen die Dringlichkeit von pädagogischen und
antirassistischen Konzepten und lenkten von der aktuellen Debatte der interkulturellen
Pädagogik ab. Nach einiger Zeit wendete sich das Blatt und die Deutsche
Forschungsgemeinschaft veröffentlichte den Programmentwurf
FABER,
,Folgen der
Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung', der sich mit der Verbesserung von
pädagogischen Institutionen befasste und somit den Fokus auf Migranten abzulegen
9
Hamburger 1994, S. 7
10
vgl. Nieke 2008, S. 13 -16

7
versuchte. Auch fing man an, sich mit einer interkulturellen Öffnung von sozialen
Diensten zu beschäftigen. Gegen Mitte der 1990er Jahre nahm man die i.K.
pädagogischer Fachkräfte genauer unter die Lupe. Der Begriff i.K. wird nun zu einem
grundlegenden Begriff in der interkulturellen Pädagogik.
11
Um die Kritik am
Kulturbegriff zu verstehen und sich mit dem Begriff der i.K. auseinandersetzen zu
können, ist es vorerst wichtig, Kultur in seiner Vielfalt und Vieldeutigkeit zu verstehen.
2.2 Ansätze zur Erfassung von Kultur
,,Von Natur aus sind die Menschen fast gleich; erst die Gewohnheiten entfernen sie
voneinander."
12
Kultur (lat. cultus = ,,Bearbeitung", ,,Bebauung", ,,Ausbildung") ist im Alltag ein vielfältig
verwendeter Begriff.
,,Will man die Welt beschreiben, so reichen dafür die Begriffe Natur und Kultur (...).
Dabei umfasst Natur (...) was an Materie vorhanden ist und was in dieser geschieht.
Kultur hingegen umfasst alles menschliche Wissen und alle Haltungen, alles Handeln
und alle Produkte des Handelns. Allerdings gehört als Kriterium dazu, dass es sich
dabei nicht um von der Natur vorgegebene, sondern um offene, also variable
Erscheinungen handeln muss".
13
Aufgrund der Komplexität ist es unmöglich, den Kulturbegriff in seiner vollkommenen
Tiefe zu beschreiben. Kultur ist vieldeutig und bedarf je nach Kontext und Benutzer
variierten spezifischen Bedeutungen. Eine genaue Definition bliebe immer lückenhaft.
14
1952 haben Alfred Kroeber und Clyde Kluckhohn 150
15
verschiedene Definitionen über
Kultur recherchiert und zusammengetragen. Folglich wird versucht, eine Überschau-
barkeit dessen zu geben, was Kultur beinhalten kann, um eine Sensibilisierung dafür
zu schaffen.
Ein oft verbreiteter Trugschluss lautet, dass Kultur ein Daseinszustand ist: Kultur
ist;
zu
hören in Sätzen wie ,,die Spanier
sind
eben nun mal so laut" oder ,,die Italiener
sind
alle
temperamentvoll." Aber Kultur
existiert
durch ihre täglich praktizierenden Akteure, die
in ihr leben
.
Man könnte sie als
die
dynamisch soziale Alltagspraxis ansehen. Kultur ist
eine aktive Auseinandersetzung mit sich wandelnden ökonomischen, sozialen und
politischen Umständen in der Umwelt und übt sich durch Prozesshaftigkeit. Sie dient
als ein verbindendes Element zwischen Personengruppen und kann als ein
11
vgl. Auernheimer 2007, S. 39-42
12
Konfuzius nach Engel/Dobbin 2007, S. 5
13
Marschall 1993, S. 17
14
vgl. Maletzke 1996, S. 15
15
vgl. hierzu: Alfred Kroeber&Clyde Kluchhohn.Cultur: A critical review of concepts and
definitions

8
Handlungs- und Interpretationssystem angesehen werden. Kultur kann metaphorisch
mit einem Eisberg verglichen werden, von dem wir nur die Spitze sehen können,
während sich 90% davon unter der Oberfläche befinden. Sie wird so selbstverständlich
ausgeübt, dass sie nicht hinterfragt und auch nicht beschrieben werden kann.
16
Hierzu
zählen beispielsweise Erziehungsstile, religiöse Handlungen und gesellschaftliche Er-
wartungen, die täglich er- und gelebt werden. Wenn Kultur folglich also nicht gelebt
wird, stirbt sie nach einiger Zeit aus.
Wie die Sozialisationstheorie nach u.a. Klaus-Jürgen Tillmann (2004) u. begründet,
wird der Mensch durch seine Umgebung, seine Familie und Freunde, seine
Erfahrungen und Enttäuschungen geformt (jedoch nicht determiniert) und handelt als
geprägtes Individuum.
,,Jeder an einer interkulturellen Interaktionssituation Beteiligte, muss sich der Tatsache
bewusst sein, dass er oder sie in seinem oder ihrem Sozialisationsprozess kulturelle
Standards verinnerlicht hat, die Wesen und Werte der Gruppe bestimmen, der er oder
sie angehört".
17
Ein wichtiger Punkt ist, dass Kultur nicht unbedingt
eine
Kultur ist, sondern sozusagen
aus verschiedenen Kulturen entstehen kann. Sie ist wie ein vielfältiges Gebilde. Eine
Deutsche, deren Eltern Türken sind, wird bikulturell denken und handeln, da sie in zwei
Kulturen lebt und aufgewachsen ist.
Freise (2007) unterscheidet vier Arten von Kultur: 1. Die Kunstkultur, 2. die
Alltagskultur, 3. die ,,Institutionalisierte Kultur" und 4. die ,,internalisierte Kultur".
Am Anfang steht die Kunstkultur.
Es ist die Art von Kultur, die wie
selbstverständlich
im
heutigen
Sprachgebrauch als Kultur defi-
niert ist. Man zählt dazu Schau-
spiel, Musik, Oper, Lesungen,
Malerei
etc.
Darauf
folgt
die
Alltagskultur, also die Kultur, die
jeden Tag bewusst und unbewusst
ausgeführt wird. Darunter fallen
Gewohnheiten wie Essen, Kleiden,
Wohnen, Arbeiten etc.
16
vgl. Reinhold 2000, S. 375
17
Thomas 1993 zit.n. Fischer 2006, S. 41
Kunstkultur
,,Institutionalisierte Kultur"
Alltagskultu
r
,,Internalisierte
Kultur"

9
,,Institutionalisierte Kultur" ist eine Kultur, die durch Menschenhand geschaffen wurde,
um eine bestimmte Ordnung aufrecht zu erhalten. Dies drückt sich in Sprachen,
Gesetzen und Vorschriften aus, die allesamt einer bestimmten Werte- und
Normenvorstellung unterliegen. Die vierte Form von Kultur, von Freise benannt als
,,internalisierte Kultur", ist die Art von Kultur, die nicht oberflächlich verankert ist,
sondern unbewusst stattfindet. Dazu zählen geschlechtsspezifische Rollenmuster,
Zeitwahrnehmung und Raumgefühl, Gestik, Mimik, kulturelle Codes, Sinnhorizonte
aber auch Vorstellungen von Reinheit, Sauberkeit und Ästhetik spielen eine Rolle.
Diese Art von Kultur gibt bspw. vor, in welchem Abstand man in einem Gespräch
zueinander steht. Steht man sich nah oder fern? Schaut man sich während des
Gesprächs in die Augen oder wird der Blick gesenkt?
18
Kultur kann gesehen werden als ,,eine Bewegung des Sich-Öffnens und Sich-
Schließens",
19
denn erst durch ein Öffnen kann es zu einem Austausch von neuen
Ideen, Werten und Verhaltensweisen kommen. Eine Schließung hingegen beinhaltet
immer auch die eigene Identität
20
als Maßstab und hat zudem eine abgrenzende
Funktion, denn ohne die Andersartigkeit des Anderen, ist man selbst nicht anders. Man
braucht die Sicherheit, anders zu sein um sich selbst zu definieren. Ein Kulturbegriff,
der darauf abzielt, Stereotypen zu formulieren, übersieht die Pluralität innerhalb einer
Kultur.
21
Andere Autoren wie Mühlberg (1964), Greverus (1978) spezifizieren drei Arten
von Kultur: Die materielle, die soziale und die geistige Kultur.
22
Um der Komplexität verschiedenster Kulturen Herr zu werden, hat man mit der Zeit den
Begriff der Subkultur, der ,Unter-kultur' eingebracht. Subkulturen sind Teilkulturen, ein-
gebettet in einer Gemeinschaftskultur, die sich durch eigene Werte, Handlungen,
Überzeugungen etc. zusammengefunden haben. Zu nennen wären bspw. ,,Studenten"
und ,,Nicht-Studenten", ,,Sozialarbeiter" und ,,BWLer" oder auch ,,junge Mütter" und
,,wohlhabende Frauen". In jeder Untergruppierung von Menschen gibt es verbindende
Elemente, die sie zusammenhalten und von anderen Subkulturen unterscheiden.
Infolgedessen gehört jeder Mensch mehrdimensionalen Kulturen und Subkulturen an.
Oft unterliegt der Mensch jedoch dem Missverständnis, dass Alles irgendwie Kultur ist.
18
vgl. Freise 2007, S. 16
19
ebd. 2007, S. 18
20
Anm.: Wenn in dieser Arbeit von Identität die Rede ist, so schließt Identität nicht nur die
Zugehörigkeit einer bzw. zweier oder mehrerer Kulturen ein, sondern beinhaltet ebenso alle
Merkmale einer Person, die individuell die Persönlichkeit und das Wesen einer Person
ausmachen und sich von anderen Menschen unterscheiden. Ich habe mich bemüht, den
Begriff ,,Identität" aufgrund von differenten Meinungen (u.a. Hahn 2008, S. 60) zu
unterbinden,
möchte
jedoch
davon
Gebrauch
machen,
wenn
der
,,kulturelle
Identitätsgedanke" hervorgehoben werden soll.
21
vgl. Freise 2007, S. 18
22
vgl. Reisch 1991, S. 74

10
Nassehi (2006) beispielsweise spricht von Kultur als ein ,,Un-Begriff", weil sich letztlich
nichts identifizieren ließe, was nicht unter Kultur anzusiedeln wäre.
23
Dem Kulturbegriff
unterliegt zwar ein breites Spektrum an Definitionsmerkmalen, jedoch nicht im Sinne
einer Verallgemeinerung von Kultur. Zu leicht wird übersehen, dass außer der Kultur
noch
weitere
Indikatoren,
wie
soziale
Herkunft,
Lebensalter,
körperliche
Leistungsfähigkeit oder Bildungsniveau, den Menschen maßgeblich beeinflussen. Eine
Missachtung
dieser
Differenzierungsmerkmale
würde
den
Verlust
an
Herstellungsmöglichkeiten von analytischen Kategorien bedingen. Diese lebt jedoch
von einer Differenzanerkennung.
24
Für die interkulturelle Arbeit ist von Bedeutung
,
dass jeder Mensch verschiedenste
Kulturen und Subkulturen in seiner Zugehörigkeit vereint und sich z.B. nicht nur einer
Länderkultur zuordnen kann. Fühlt ein Mensch sich zu zwei Kulturen hingezogen (z.B.
ein Spanier, der mit 20 Jahren nach Deutschland kam), so spricht man von hybriden
Identitäten ­ Identitäten also, für deren Entwurf zwei oder mehrere kulturelle
Bezugssysteme bedeutsam sind.
25
Kultur ist nicht determiniert, sondern Kultur ist ein
aktiver Prozess, der ständig in Bewegung ist, der sich selbst im Laufe der Zeit
verändert und sich mit anderen Kulturwerten vereinen kann. Kultur dient dem
Menschen als Orientierungssystem. In diesem System werden Werte, Handlungen,
Sprache, Gestik, Mimik, Symbole, Rituale etc. abgeglichen und tradiert, und somit
immer wieder an die nachfolgende Generation weitergegeben. Dadurch können
Gemeinsamkeiten entwickelt werden, die sich dann in einer Gesellschaft vereinen und
somit am Leben erhalten werden.
Im gesamten kulturellen Kontext gibt es jedoch ein Problem: Einerseits ist man der
Meinung, dass Kultur die Wahrnehmung, das Denken und Fühlen und daraus
resultierend das Verhalten nachhaltig ändert und beeinflusst, andererseits hat man
Schwierigkeiten damit, Kulturen methodologisch voneinander abzugrenzen und
Persönlichkeit von Kultur in ihrem jeweiligen Einfluss sozialer und situativer Art zu
trennen.
26
Trotz dieses Gedankens sub- und mehrkultureller Individuen gibt es
Forscher, die durch die Ergründung von ,,Kulturstandards" versucht haben, gewisse
nationale Gemeinsamkeiten zu definieren.
23
vgl. Nassehi 2006, S. 33
24
vgl. Engel/Dobbin 2008, S. 98
25
Anm.: Gleichwohl gibt es auch Autoren, die der Meinung sind, dass es nicht nur hybride, also
,,zweiheimmische" Identitäten, sondern auch ,,vielheimische" gibt (vgl. u.a. Hahn 2008,
S. 60, Badawia 2006, S. 186).
26
vgl. Reisch 1991, S. 72f.

11
2.2.1 Kulturstandards
Der Sozial- und Organisationspsychologe Alexander Thomas (2003) beschreibt Kultur
generell als ein universelles, jedoch für eine bestimmte Gruppe oder Gesellschaft
bestimmtes Orientierungssystem. In diesem Orientierungssystem gibt es zentrale
Merkmale, die von der Mehrheit der Gruppe als selbstverständlich angesehen werden.
Mit diesen Standards bzw. normativen Werten soll eine Sensibilisierung für gewisse,
häufig auftretende kulturelle Unterschiede geschaffen werden. Diese Standards
können sich z.B. mit Distanzregulationen, Einstellungen zum Zeitempfinden,
Begrüßungsritualen, Körpersprache etc. auseinandersetzen.
Thomas definiert fünf allgemeine Merkmale von Kulturstandards:
u
Kulturstandards sind Arten des Wahrnehmens, Denkens, Wertens und Handelns,
die von der Mehrheit der Mitglieder einer bestimmten Kultur für sich und andere als
normal, typisch und verbindlich angesehen werden
u
Eigenes Verhalten wird aufgrund dieser Kulturstandards gesteuert, fremdes
Verhalten wird beurteilt
u
Kulturstandards besitzen Regulationsfunktion in einem weiten Bereich der
Situationsbewältigung und des Umgangs mit Personengruppen
u
Innerhalb eines gewissen Toleranzbereiches kann die individuelle und gruppenspe-
zifische Art und Weise des Umgangs mit diesen Standards variieren
u
Verhaltensweisen, die sich von den üblichen und bekannten Verhaltensweisen
abheben, werden abgelehnt und sanktioniert
27
Nach Reisch (1991) haben Kulturstandards folgende Gültigkeit:
u
Sie dienen in erster Linie als Orientierungssystem, denn sie machen (Re)-Aktionen
voraussehbar
u
Kulturstandards
sind
,,kulturspezifisch
beschreibbare
rollen-
und
situationsspezifische Verhaltenserwartungen, welchen (kulturspezifische) Normen
zugrunde liegen, deren Nichterfüllung zur Störung der Interaktion und ggf. Sanktion
des/r Interaktionspartner/s führen."
28
Kulturstandards kommen häufig in Konfliktsituationen und Krisensituationen zum Vor-
schein. Sie können in der alltäglichen Praxis angewandt werden (unter der Gefahr der
Vorurteilsbildung und Stereotypisierung), weil sie Erklärungsversuche für Probleme in
der interkulturellen Begegnungspraxis abgeben.
27
vgl. Thomas 2003, S. 25
28
Reisch 1991, S. 82

12
Erwähnenswert hierbei sei die psychologische und kulturanthropologische Frage zur
Existenz eines
Nationalcharakters
, die der These obliegt, dass jede Kultur einem
eigenen Grundmuster (oder auch Basispersönlichkeit) von Erleben und Verhalten folgt.
Mithilfe eines Nationalcharakters sollen Eigenheiten einer Nation beschrieben werden.
Doch wie lässt sich ein Nationalcharakter empirisch erfassen? Und wie kann man uni-
verselle Verhaltensweisen wie die sieben Grundemotionen (Freude, Erstaunen, Wut,
Ekel, Angst, Traurigkeit und Verachtung) von rein kulturellen Verhaltensweisen
getrennt ermitteln? Die Methoden zur Untersuchung dieses Konzeptes waren zu dieser
Zeit sehr statisch und vergaßen dabei einen wichtigen und variablen Faktor, nämlich
den Situationskontext, in dem sich die Person mit ihrem individuellen Charakter und
Persönlichkeit zu diesem Zeitpunkt befand. Was bereits in der Problematik des
Kulturbegriffes angesprochen wurde, kommt hier wieder zum tragen: Aufgrund hoch
komplexer, in sich differenzierter Nationen war es nur möglich auf einer sehr
abstrakten Ebene, Menschen als Angehörige einer gemeinsamen Sozialgruppierung
zuzuordnen. Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis für die Existenz eines
Nationalcharakters,
zu
groß
ist
sein
provinzieller
Unterschied.
Wenn
es
charakteristische Unterschiede zwischen Deutschen und Indern, Mexikanern und
Amerikanern gibt, wird die Sache insofern schwierig zu klären,
worin
sie sich denn nun
und im Einzelnen unterscheiden. Aufgrund dieser mehrkulturellen Gesellschaft wäre es
analytisch schwierig zu erfassen was mit
dem
Deutschen oder
der
Chinesin genau
gemeint ist.
29
Einige Autoren schreiben darüber:
,,Die einmal übernommene Rolle kann der Einzelne nicht mehr abwerfen: Er ist
Deutscher, Franzose, Türke oder Italiener. (...), d.h. Sprache, Gestik, Denkweisen,
Werthaltungen, Gefühle, Reaktionen und Verhaltensmuster etc. sind intrakulturell und
zumeist subkulturell determiniert".
30
Parallelen zur Theorie von Kulturstandards und Nationalcharaktere finden sich aus
meiner Sicht zu
Geert Hofstede
wieder, der sich in gewisser Weise durch die
Klassifizierungen seiner
cultural dimensions,
,kulturelle Dimensionen' ebenso mit
Nationalcharakteren befasste, die er später mit u.a. kollektivistischen und
individualistischen Kulturdimensionen zu erklären versuchte.
Cultural dimensions nach Geert Hofstede
Geert Hofstede
31
war ein niederländischer Sozialpsychologe, der in den 1960er und
1970er Jahren für die multinationale Firma IBM tätig war und versuchte,
29
vgl. Maletzke 1996, S. 43 - 47
30
Schrader/Nikles/G riese 1976 nach Radtke/Höhne/Kunz 1999, S. 9f.
31
Anm.:Vollständiger Name ist Gerard Hendrik Hofstede

13
Zusammenhänge bzw. Unterschiede zwischen nationalen Kulturen auf Basis der
Unternehmenskultur in insgesamt 71 Ländern zu erforschen. Zu diesem Zweck
interviewte er weltweit 88.000 Mitarbeiter mithilfe von 117.000 Fragebögen, die sich mit
den Themen Zufriedenheit, Wahrnehmung, persönliche Ziele und Einstellungen und
Demographie befassten.
Neben rein äußerlichen Erscheinungen von Kultur durch Symbole, Vorbilder oder Riten
war Hofstede ganz besonders an der Erforschung von
Werten
interessiert. Nach Hof-
stede sind Werte verinnerlichte Präferenzen für gesellschaftliche Situationen und
Beziehungen und nur sehr mühsam zu ermitteln, da sie nicht äußerlich erkennbar sind.
Hofstedes These besagte (gleichsam nach Edward T. Hall), dass sich alle Menschen
weltweit mit denselben Problemen befassen, es universelle Motive dafür gibt (z.B.
Hunger
Õ
Arbeit), dafür jedoch
individuelle Lösungen
gefunden werden. So entstanden
insgesamt fünf ,,kulturelle Dimensionen". Aber allen Dimensionen liegt das Motiv der
Lebenserhaltung und des Überlebens zugrunde und die Werte einer Kultur geben die
Umstände, die Methoden und das Verhalten vor, mit denen das Überleben
gewährleistet werden kann. Hofstede fokussierte sich hauptsächlich auf Fragen zur
Wahrnehmung von gesellschaftlichen Strukturen und Verhaltensweisen und deren
Bevorzugung oder Ablehnung. Darüber hinaus ist prägnant für diese Studie, dass die
befragten Menschen in einem Unternehmen mit ausgeprägter Firmenkultur arbeiteten
und zudem in gleichen oder ähnlichen Arbeitsbereichen eingesetzt waren.
32
Es
ergaben sich aus der Studie fünf unabhängige Kulturdimensionen:
1. Machtdistanz, 2. Individualismus und Kollektivismus, 3. Maskuline und feminine
Werte, 4. Vermeidung von Unsicherheit und Ambiguität, 5. Zeitliche Orientierung;
An dieser Stelle kann aufgrund der zu komplexen Thematik der jeweiligen
Dimensionen jedoch nicht intensiver darauf eingegangen werden.
33
Hofstede konnte mit seiner Untersuchung aufzeigen, dass man überall auf der Welt
regionale und nationale Kulturgruppen findet. Es gibt beispielsweise Gesellschaften,
die individualistisch empfinden und handeln. In diesen wird tendenziell erwartet, dass
man sich um sich selbst kümmert und auf sich selbst aufpasst. In kollektivistischen
Gesellschaften hingegen, sind die Menschen von Geburt an in starke Gruppengefüge
integriert. Es wird nicht erwartet, dass das Problem individuell zu lösen sei, sondern
32
vgl. Heumann 2005/2006, o.S.
33
Anm.: weiterführende Literatur zu diesem Thema u.a.: Geert Hofstede: Lokales Denken,
globales Handeln. München 2006

14
dass die ganze Familie, Verwandte und Freunde gemeinsam an einem Strang ziehen.
Es herrscht insgesamt eine ausgesprochene, unhinterfragte Loyalität. Individualismus
existiert in zumeist ,,entwickelten" und ,,westlichen"
34
Ländern, während der
Kollektivismus hauptsächlich in ,,weniger entwickelten" und ,,östlichen" Ländern
ausgelebt wird.
35
Hofstede wurde in diesem Kontext auch kritisiert: Wie schon im Punkt des
Nationalcharakters deutlich wurde, ist es wissenschaftlich sehr schwierig, die
Einheitlichkeit von Nationalkulturen und damit die Kausalität von Wertevorstellungen
nachzuweisen, da es innerhalb eines Landes mehrere Kulturgruppen geben kann. In
Kanada gibt es eine Französisch sprechende Minderheit von Kanadiern in Quebec,
während der größere Anteil Englisch spricht. Hofstedes Modell jedoch ignoriert
(weitestgehend) jegliche Unterschiede einer Nation. Das Modell behandelt eine Nation
wie ein homogenes Gebilde, welches durch allgemein gültige Wertevorstellungen und
­strukturen getragen wird. Der riesige Kontinent Afrika und das große Land Indien
wären auch keine eigene Nationalkultur, sondern beherbergen aufgrund der
unterschiedlichen Vielfalt an Sprachen und geschichtlichen Hintergründen viele
(Sub)Kulturen. Jedoch hilft der Ansatz von Hofstede, sich einen gewissen Überblick
über etwaige kulturelle Unterschiede zu verschaffen. Mit diesem Modell besteht ein
außerordentlich hohes Risiko der Stereotypisierung.
2.2.3 Der kulturalistische und der strukturalistische Denkansatz
In der Debatte um die Betonung und Herangehensweise an das Thema Interkulturalität
zeichnen sich (nicht nur) in der interkulturellen Pädagogik zwei stark konträre
Argumentationsweisen
ab.
Die
Leitlinie
der
kulturalistischen
oder
auch
kulturrelativistischen
Denkweise entspricht der Vorstellung, dass interkulturelle
Unterschiede wahrgenommen und anerkannt werden müssen. Auf diese sollte
eingegangen werden, denn erst durch eine Sensibilisierung von Unterschieden, die
sich kulturell begründen, kann eine dialogisch, offene Gesellschaft entstehen. Diese
Position ist im Bezug auf die interkulturelle Pädagogik vertreten. Geert Hofstede wollte
mithilfe seiner Untersuchung der Kulturdimensionen nachweisen, dass es, besonders
im Geschäftsleben, wichtig ist, Kulturalität anzuerkennen. Er vertritt ebenso wie
Auernheimer
(2002)
u.a.
die
Meinung,
dass
kulturelle
Differenzen
den
Gesprächsverlauf aufgrund verschiedener Faktoren wie Raum- und Zeitempfinden,
34
Anm.: Westlich und östlich im Sinne einer geographischen Sichtweise
35
vgl. Hofstede o.J., o.S.

15
das Gefühl für Hierarchie und Macht, geschlechterspezifische Rollenzuweisungen etc.
beeinflussen und maßgeblich zur Störanfälligkeit von Kommunikation beitragen.
Interkulturelle Pädagogik und seine jeweiligen Trainings und Weiterbildungen leben
vom Denkansatz der kulturellen Differenzwahrnehmung und deren Hervorhebung.
Speziell im Umgang mit dem schulischen Bildungswesen soll die Tendenz dahingehen,
von der kulturellen Diversität von Migrantenkindern zu lernen und ihre Andersartigkeit
gewinnbringend in den Unterricht mit einzubringen,
36
denn diese wurde jahrelang
weitestgehend ignoriert: ,,Die Migrantenkultur schien belanglos zu sein".
37
Weniger in
gemeinsamen Normen und Werten, jedoch im Bewusstsein der eigenen Kultur und in
der gefühlvollen Wahrnehmung der anderen Kultur, sollen sich Parallelen und
Gemeinsamkeiten herstellen lassen.
Wie schon in der Kritik um die interkulturelle Bildung laut wurde, vertreten Anhänger
dieses Ansatzes die Position, dass kulturelle Erfordernisse und kulturelles Handeln
auch politischen und gesellschaftlichen Lösungen und Eingriffen bedürfen, da sich die
Pädagogik nicht weiter im Stande dazu fühlt, diese Herausforderungen alleine zu
lösen.
38
,,Die Pädagogisierung eines gesellschaftlichen Problems setzt regelmäßig dann ein,
wenn für politisches Handeln kein Ansatz gefunden oder kein Konsens zu erreichen
ist."
39
Aus anderer Sichtweise, die des
strukturalistischen
oder auch
universalistischen
Denk-
ansatzes, wird hingegen kritisiert, dass diese Sicht- und Handlungsweise ein
Aufkommen einer Stereotypisierung zulässt, die in der Gesellschaft zur Ab- und
Ausgrenzung führt.
40
Alle Menschen sollen, unabhängig ihrer Herkunft und Kultur, die
gleichen Partizipationschancen und Rechte erhalten. Hier wird eine Position eingenom-
men, die ein gleichwertiges Behandeln aller Kulturen fordert und zwar in dem Sinne,
dass keine Unterschiede zwischen Eigen- und Fremdkultur gemacht werden sollen.
In den frühen 1980er Jahren und zu Beginn der 1990er Jahre, als sich das
Bewusstsein von der Gastarbeitergeneration hin zu einer pluralistisch modernen
Gesellschaft etablierte, wurde besonders häufig kritisiert, dass die Gesellschaft die
verschiedenen Nationalitäten für entstandene Konflikte verantwortlich machte.
,,Wenn von Kultur als ,diskursivem Tatbestand`
41
ausgegangen wird, so wird jede Form
essentialistischer Definition und Beschreibung von Kultur als eine machtvolle
Konstruktion
der
,fremden
Minderheiten'
durch
hegemoniales
Wissen
der
36
vgl. Freise 2007, S. 22f.
37
Auernheimer et al. 1996 zit.n. Freise 2007, S. 23
38
vgl. Freise 2007, S. 23
39
Radtke 1995 zit.n. Freise 2007, S. 23
40
vgl. Freise 2007, S. 23
41
Matthes/ Wong 1992 zit.n. Radtke/Höhne/Kunz 1999, S. 12

16
Mehrheitsgesellschaft kritisiert. Die Kritik richtet sich gegen die typologische
Zuschreibung spezifischer Differenzen auf Individuen und Gruppen, welche die eigene
Kultur von der anderen absetzt und so die Anderen erst zu Fremden macht".
42
Gegenwärtig muss die Frage nach einem universellen Maßstab gestellt werden, der
ermöglichen soll, alle Kulturen aus einer gleichwertigen Sicht zu sehen und zu
behandeln. Seitens der Politik ist dies u.a. mit der Verwirklichung der international
geltenden UN-Menschenrechte oder dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz
(AGG) in Deutschland zumindest gesetzlich umgesetzt worden.
,,All equal ­ all different."
Wie Holzbrecher (2004) in seinem Buch sehr treffend zitiert,
erklärt der Satz, der gerne auf Antidiskriminierungsseminaren oder -veranstaltungen
als Slogan benutzt wird, hervorragend die Ambivalenz zwischen den zwei Positionen.
43
Um eine größere Überschaubarkeit der zwei konträren Meinungen herzustellen,
werden die wichtigsten Kernaussagen und Kritikpunkte wiedergeben. Die Kernaus-
sagen werden im Folgenden mit (+), die Kritikpunkte mit (-) gekennzeichnet.
Zusammenfassung der zwei Ansätze
44
Kulturalismus
Strukturalismus
+
Anerkennung/Wahrnehmung von
kulturellen Unterschieden. Austausch
von Selbst- und Fremdreflexion, sowie
Selbstachtung und Achtung des
Anderen
+
Für jede Kultur gelten bestimmte
Universalien- jeder Mensch ist gleich
+
Verstehen des Anderen in seinem
spezifisch historisch-
gesellschaftlichen Kontext (z.B.
Immigration, Tod von
Familienangehörigen durch
Kriegsflucht)
+
Verstehen des Anderen in einem
universellen Umfeld. Keine
Fokussierung auf Kulturhintergründe,
sondern Vereinheitlichung von
Konzepten für Jedermann
+
Forderung um Veränderung unter
Einbeziehung von Staat und Politik
(Diskriminierung/Fremdheit bspw. soll
auch politisch und nicht nur
pädagogisch gelöst werden)
42
Radtke/Höhne/Kunz 1999, S. 12
43
vgl. Holzbrecher 2004, S. 22
44
vgl. hierzu auch Holzbrecher 2004, S. 24 / Freise 2007, S. 22f.

17
-
Konflikte haben immer kulturelle
Ursachen. Andere Hintergründe (wie
z.B. finanzielle Situation,
Familienverhältnisse etc.) werden
ausgeblendet
-
Ausblendung von historisch und
kulturell bedingten Differenzen (z.B.
durch Nichtberücksichtigung der
Muttersprache im Schulunterricht)
-
Gemeinsamkeiten werden
ausgeblendet, Fremdheit gegenüber
Migranten eingeblendet, auch wenn
diese sich selbst heimisch fühlen.
Kulturelle Unterschiede werden immer
wieder betont, was zu Ausgrenzung
und Abgrenzungstendenzen führt
-
Universelle Integrationskonzepte
können homogenisierend und dadurch
ausschließend und abgrenzend wirken.
-
Gefahr der Rechtfertigung von
Menschenrechtsverletzungen
aufgrund der Kultur
-
Es gibt keinen außerhalb der
Rechtssprechung liegenden Maßstab,
mit dem man Universalität
gewährleisten könnte
Zusammenfassend lässt sich erklären, dass es in beiden Denkansätzen um die
Herstellung von Gerechtigkeit geht: Anerkennung universeller Gerechtigkeit vs. Aner-
kennung von Identitäten und Differenzen. Während der erste Ansatz versucht,
Gerechtigkeit nicht allein durch den Gleichheitsgedanken, sondern auch durch die
Herausarbeitung von Unterschieden und deren individuelle Herangehensweise
herzustellen, bezieht sich der strukturalistische Denkansatz auf eine Gerechtigkeits-
herstellung durch Gleichheit und durch universelle Ansprüche und Maßstäbe.
45
Nun stellt sich die Frage, welche Haltung in der Praxis sodann eingenommen werden
sollte. Wie ist ,,kulturfreies" Denken durch die Anwesenheit der eigenen Kultur und der
Kultur des Gegenübers überhaupt möglich?
Freise (2007) verweist in seinem Buch auf den Autor Scherr (1998), der interkulturelle
Konflikte allgemein mit dem Thema der Fremdheit in Verbindung bringt. Er stellt fest,
dass es im Alltag dazugehört, fremden Kulturen zu begegnen und unsicher im
Umgang mit ihnen zu sein. Dies begründe sich aufgrund verschiedener Wertevorstel-
lungen in unterschiedlichen Lebensbereichen wie Religion, Weltanschauung,
45
vgl. Mecheril o.J., S. 2

18
Ernährung, Sitten und Gebräuche. Fremdsein spielt erst dann eine Rolle, wenn es zu
Irritation oder (Existenz)Angst um z.B. knappe Ressourcen kommt. Als Beweis (oder
Beispiel) nennt er die Gastarbeiter, denen man sich erst dann abschätzend bewusst
wurde, als aufgrund der Wirtschaftsstagnation Arbeitsplätze knapp bemessen waren
und sich Migranten in ihren jeweiligen Wohnbezirken unabhängig und zielstrebig
selbst organisierten.
46
Als Lösungsansatz erachtet es Freise für sinnvoll, die zwei konträren und miteinander
konkurrierenden Positionen als zwei sich gegenseitig ergänzende und berichtigende
Denkansätze anzuerkennen, aus welchen beidseitig Gewinne erbracht werden können.
Holzbrecher (2004) sieht dies genauso, indem er sagt, dass es in der Praxis nicht um
eine Entweder-Oder-Haltung gehen sollte, sondern darum, beide Positionen als ein
Spannungsfeld wahrzunehmen, indem von dem pädagogisch Handelnden eine
Wahrnehmung
und
Akzeptanz
von
Ambivalenzen
und
veränderbaren
Handlungsstrukturen abverlangt wird.
47
Freise: ,,Interkulturelles Lernen soll sich
überflüssig machen, indem es die Barrieren der Verständigung thematisiert und
überwindet."
48
Das bedeutet konkreter, dass sich interkulturelles Lernen und damit der Vorgang des
Auseinandersetzens mit Kultur erst in kritischen Situationen einstellen sollte
(= Kulturalismus). Darüber hinaus ist es wichtig, die Kulturfrage gegenüber dem
Migrant nicht dauerhaft zu thematisieren, sondern ihn auch mit ,,universellen Augen" zu
sehen (= Strukturalismus).
Flüchtlinge und andere Menschen mit Migrationshintergrund, die eine Beratung auf-
suchen, mögen es einerseits nicht, wenn man sie unentwegt und gleich zu Beginn auf
ihre Nationalität anspricht, andererseits sind sie bereit über ihre Herkunft zu berichten.
Beim Klient geht oftmals mit der Kulturfrage einher, dass sich der Berater nicht für die
individuellen Belange und Probleme interessiere. Die Nachfrage nach der Kultur kann
umgekehrt aber auch verdeutlichen, dass der Klient mehr ist als sein Problem: Fragen,
die sich mit der kulturellen (gebrochenen) Identität befassen, sind Fragen nach der
Person.
2.3 Interkulturelle Kompetenz
Menschen mit Migrationshintergrund machen schon seit langem einen großen Anteil
der deutschen Bevölkerung aus. Man spricht von einer Mehrkulturalität der
46
vgl. Freise 2007, S. 23
47
vgl. Holzbrecher 2004, S 24 f.
48
Freise 2007, S. 24

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783836632461
DOI
10.3239/9783836632461
Dateigröße
548 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Frankfurt University of Applied Sciences, ehem. Fachhochschule Frankfurt am Main – Sozialarbeit, Sozialarbeit
Erscheinungsdatum
2009 (Juli)
Note
1,0
Schlagworte
kompetenz beratung sozialarbeit interkulturalität
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Titel: Zur Bedeutung interkultureller Kompetenz in der Beratung
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