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Globale Informationsgesellschaft?

Zum Stellenwert der Informations- und Kommunikationstechnologien in Entwicklungsländern

©2008 Diplomarbeit 123 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Eiferer sehen in der Etablierung von Informations- und Kommunikationstechnologien in Entwicklungsländern ein Allheilmittel gegen die großen Probleme und wiederkehrenden Krisen der als unterentwickelt diagnostizierten Gesellschaften. Skeptiker sehen vorwiegend die Gefahren sowie den ethisch bedenklichen Eingriff in nichtwestliche Kulturen. Sie beziehen sich auf die negativen Resultate, die in den vergangenen Jahrzehnten von der Entwicklungspolitik zahlreich hervorgebracht wurden. Aus den Fehlern hat die Entwicklungspolitik vorgeblich gelernt. Die Industriestaaten haben eingesehen, dass der Modernisierungsansatz – der eine Nachahmung seitens der ‚unterentwickelten’ Gesellschaften mit dem Ziel der Entwicklung vom Traditionellen zum Modernen vorsieht – weder von Erfolg gekrönt ist, noch einen respektvollen Umgang mit nichtwestlichen Kulturen impliziert. Der Ansatz des Helfens ist dem der Zusammenarbeit gewichen. ‚Entwickelte’ Länder nehmen in dieser Beziehung die Geberrolle, die Entwicklungsländer die Nehmerrolle ein. Der Paradigmenwechsel lässt sich am Vokabular ablesen. Heute spricht man politisch korrekt von Entwicklungszusammenarbeit und entsprechend des Themengebietes von Medienentwicklungszusammenarbeit. Verpönt erscheint für viele Akteure der Begriff ‚Dritte Welt’. „An seine Stelle ist der Begriff ‚Eine Welt’ getreten. Im Gegensatz zu ‚Dritte Welt’ konnotiert ‚Eine Welt’ ein integratives Verständnis von Politik und drückt einen Bewusstseinswandel aus.
Die internationale Entwicklungszusammenarbeit sieht die Möglichkeit, qua Informations- und Kommunikationstechnologien die ‚Eine Welt’ zu einer Gesellschaft zu vereinen, nämlich zu der ‚globalen Informationsgesellschaft’. Auf dem UN Weltgipfel zur Informationsgesellschaft wurde in Genf (2003) und Tunis (2005) in einem politischen Rahmenwerk die Vernetzung der Welt festgelegt mit der Begründung, dass allen Menschen der Zugang zu Informationen und Wissen gewährt werden sollte (vgl. Kap. 4.1). Darüber hinaus intendiert die Entwicklungszusammenarbeit, den Kampf gegen Hunger und Armut mit dem Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien zu unterstützen. Die Idee von der vereinenden Informationsgesellschaft präsentiert sich demokratisierend und ethisch korrekt. Eine kritische Betrachtung erweckt jedoch den Verdacht einer Wiederbelebung der Idee qua Leitbild eines westlichen Ethnozentrismus, die Entwicklungszusammenarbeit bei der Implementierung einer globalen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Einleitung

„Satellitenschüsseln ersetzen Hungrigen nicht die Reisschüssel

und durch Glasfaserkabel lässt sich kein Wasser pumpen.“

(Taaks 2005, o.p.).

Eiferer sehen in der Etablierung von Informations- und Kommunikationstechnologien in Entwicklungsländern[1] ein Allheilmittel gegen die großen Probleme und wiederkehrenden Krisen der als unterentwickelt diagnostizierten Gesellschaften. Skeptiker sehen vorwiegend die Gefahren sowie den ethisch bedenklichen Eingriff in nichtwestliche Kulturen. Sie beziehen sich auf die negativen Resultate, die in den vergangenen Jahrzehnten von der Entwicklungspolitik zahlreich hervorgebracht wurden. Aus den Fehlern hat die Entwicklungspolitik vorgeblich gelernt. Die Industriestaaten haben eingesehen, dass der Modernisierungsansatz – der eine Nachahmung seitens der ‚unterentwickelten’ Gesellschaften mit dem Ziel der Entwicklung vom Traditionellen zum Modernen vorsieht (vgl. Nohlen 2002, 572) – weder von Erfolg gekrönt ist, noch einen respektvollen Umgang mit nichtwestlichen Kulturen impliziert. Der Ansatz des Helfens ist dem der Zusammenarbeit gewichen. ‚Entwickelte’ Länder nehmen in dieser Beziehung die Geberrolle, die Entwicklungsländer die Nehmerrolle ein. Der Paradigmenwechsel lässt sich am Vokabular ablesen. Heute spricht man politisch korrekt von Entwicklungs zusammenarbeit und entsprechend des Themengebietes von Medien-entwicklungs zusammenarbeit. Verpönt erscheint für viele Akteure der Begriff ‚Dritte Welt’. „An seine Stelle ist der Begriff ‚Eine Welt’ getreten. Im Gegensatz zu ‚Dritte Welt’ konnotiert ‚Eine Welt’ ein integratives Verständnis von Politik und drückt einen Bewusstseinswandel aus“ (Ihne und Wilhelm 2006, 2; Hervorhebung im Original).

Die internationale Entwicklungszusammenarbeit sieht die Möglichkeit, qua Informations- und Kommunikationstechnologien die ‚Eine Welt’ zu einer Gesellschaft zu vereinen, nämlich zu der ‚globalen Informationsgesellschaft’. Auf dem UN Weltgipfel zur Informationsgesellschaft wurde in Genf (2003) und Tunis (2005) in einem politischen Rahmenwerk die Vernetzung der Welt festgelegt mit der Begründung, dass allen Menschen der Zugang zu Informationen und Wissen gewährt werden sollte (vgl. Kap. 4.1). Darüber hinaus intendiert die Entwicklungs-zusammenarbeit, den Kampf gegen Hunger und Armut mit dem Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien zu unterstützen. Die Idee von der vereinenden Informationsgesellschaft präsentiert sich demokratisierend und ethisch korrekt. Eine kritische Betrachtung erweckt jedoch den Verdacht einer Wiederbelebung der Idee qua Leitbild eines westlichen Ethnozentrismus, die Entwicklungs-zusammenarbeit bei der Implementierung einer globalen Informationsgesellschaft zu dominieren.

Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, ob die individuellen Bedürfnisse der Kulturen und die Bedarfe an Informations- und Kommunikationstechnologien bei der Inklusion der Weltbürger in die globale Informationsgesellschaft berücksichtigt werden. In Fortführung dieser Fragestellung wird diskutiert, ob eine rein technische Zugangsmöglichkeit zur Weltgesellschaft via Medien zur Erweiterung des Wissens in Entwicklungsländern beitragen kann und unter welchen Gesichtspunkten eine derartige Zielsetzung sinnvoll sein kann. Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, eine mögliche Diskrepanz zwischen dem Stellenwert der Informations- und Kommunikations-technologien in Entwicklungsländern und dem ambitiösen Vorhaben der internationalen Entwicklungszusammenarbeit aufzuzeigen. Letztlich gilt es, die Frage zu beantworten, ob eine globale Informationsgesellschaft realisierbar ist. Die Relevanz dieser Fragestellung ergibt sich im Hinblick auf die Beurteilung des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft einerseits, und der Bewertung der deutschen Medienentwicklungszusammenarbeit in der Retrospektive andererseits. Die Arbeit soll einen kritischen Beitrag zur Diskussion um die globale Informationsgesellschaft leisten.

Im Speziellen wird anhand von Fallbeispielen analysiert, welche Bedarfe an Informations- und Kommunikationstechnologien[2] in Entwicklungsländern individuell aufgrund der signifikanten sozioökonomischen, politischen und geographischen Konstellationen entstehen (vgl. Kap. 5.3). Für die Analyse wurde Afrika als regionaler Bezugspunkt gewählt, ein Kontinent, der etliche heterogene Kulturen aufweist. Gerade weil die afrikanischen Staaten gegenwärtig häufig homogen wahrgenommen und ihre individuellen Potentiale nivelliert werden, sollen anhand der Staaten Niger, Ghana und Südafrika die spezifischen Bedarfe an Informations- und Kommunikationstechnologien aufgezeigt werden. Der Status quo der technischen Informations- und Kommunikations-Infrastrukturen dieser Länder wird dabei mit dem des hochindustrialisierten Deutschland verglichen, um die bestehende Digitale Kluft zwischen Entwicklungs-ländern und hochentwickelten Industrienationen zu verdeutlichen (vgl. Kap. 3).

Um den Stellenwert von Informations- und Kommunikationstechnologien in afrikanischen Entwicklungsländern bestimmen zu können, bedarf es der Berücksichtigung des Einflusses traditioneller Kommunikationsformen. Diese geben außerdem Aufschluss über den Status von Wissen in afrikanischen Kulturen sowie den Stellenwert der Schulbildung (vgl. Kap. 5.1). Anhand von unkonventionellen Nutzungsformen der Informations- und Kommunikationstechnologien lassen sich darüber hinaus Praxis und kulturspezifische Adaption der einzelnen Medien in afrikanischen Entwicklungsländern ableiten (vgl. Kap. 5.2).

In selbstverständlicher und scheinbar selbsterklärender Weise wird der Begriff ‚Informationsgesellschaft’ im Kontext des Weltgipfels verwendet. Die ‚globale Informations gesellschaft ’ wird angestrebt, jedoch geben die Dokumente zur Informationsgesellschaft keinen Aufschluss über eine Gesellschaftsform, sondern erklären vielmehr das Anliegen einer weltumspannenden Vernetzung. Die theoretische Auseinandersetzung mit der Informations- bzw. Wissensgesellschaft in Kapitel 2 hinterfragt selbige auf ihre mögliche Existenz und Praktizierbarkeit. Der entsprechende wissenschaftliche Diskurs, der bereits seit den Sechziger Jahren geführt wird, verwendet die Begriffe ‚Informations- und Wissensgesellschaft’ sowie ‚Information’ und ‚Wissen’ häufig synonym. Diese unreflektierte Handhabung der Termini wiederholt sich in der entwicklungspolitischen Debatte und im Besonderen im Kontext des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft. Daher beginnt die vorliegende Arbeit mit der kritischen Abgrenzung der Begriffe ‚Information’ und ‚Wissen’. Die ‚These zur wachsenden Wissenskluft’ sowie das ‚Konzept der Wissensumwandlung’ sollen als Grundlage für die Bewertung der Effektivität der Medienetablierung in Entwicklungsländern im Hinblick auf die Wissensvermittlung dienen (vgl. Kap. 2.2). Im Anschluss folgt der Diskurs zur Informations- bzw. Wissensgesellschaft (vgl. Kap. 2.3).

Die deutsche Medienentwicklungszusammenarbeit, die auf ein jahrzehntelanges Engagement zurückblicken kann, steht nach dem Weltgipfel der ‚Leitlinie Informationsgesellschaft’ gegenüber. In Kapitel 4.2 werden die bedeutendsten Akteure der deutschen Medienentwicklungszusammenarbeit und deren Arbeitsschwerpunkte vorgestellt. Darauffolgend wird abgewogen, inwiefern die ‚Leitlinie Informations-gesellschaft’ Einfluss auf die Medienarbeit der deutschen Akteure nimmt (vgl. Kap. 4.3).

Im letzten Teil der Arbeit werden die anvisierten Ziele, die auf dem Weltgipfel zur Informationsgesellschaft in Genf festgelegt wurden, unter Bezugnahme der analysierten Bedarfe der Entwicklungsländer Niger, Ghana und Südafrika kritisch hinterfragt (vgl. Kap. 5.4).

2. Informations- und Wissensgesellschaft

2.1 Information

2.1.1 Informationen und Informationsübertragung

Informationen werden eingeholt, als Basis für bedeutsame wie auch für unwichtige Entscheidungen genommen und oftmals wieder innerhalb der Bevölkerung verbreitet. Informationen sind omnipräsent. Schlägt man ‚Information’ in der Brockhaus Enzyklopädie nach, so wird man auf den lateinischen Ursprung des Begriffs und dessen Übersetzung mit ‚Bildung’ und ‚Belehrung’ hingewiesen (vgl. Brockhaus 2006, 279f.). In der ausführlichen Erklärung wird differenziert zwischen der allgemeinen Aussage desselben und den unterschiedlichen Bedeutungen in den Fachbereichen Biologie, Informatik, Soziologie und Politikwissenschaft. Im allgemeinen Brockhaus-Nachschlagewerk wird bereits deutlich, wie sehr sich der Informationsbegriff ausgeweitet hat. Ohne die Bezugnahme auf einen speziellen Gegenstand bedeutet Information generell „die Unterrichtung über eine bestimmte Sache“, „Mitteilung, Nachricht, Auskunft über etwas oder über jemanden“ sowie „Äußerung oder Hinweis, mit dem jemand von einer Sache in Kenntnis gesetzt wird“ (ebd., 279). Diese Erklärungen weiten den Begriff jedoch mehr aus, als dass sie eine Einordnung zuließen.

Der konkreten Annäherung an den Informationsbegriff geht demnach eine Disziplinauswahl voraus. Für diese Arbeit bietet sich die Informatik bzw. die Informationstheorie als Bezugspunkt an. In der Informationstheorie wird die Symbolfolge als solche bereits als Information gewertet, ohne dass es einer semantischen Bedeutung bedarf (vgl. Shannon und Weaver 1972, 8f.). Die Informationsbedeutung sowohl auf der Seite des Senders, als auch auf der des Empfängers wird ausgeklammert. Der mathematische und von daher abstrakte Zugang der Informationstheorie ermöglicht die Zuteilung von Maßeinheiten. In der Informatik wird die syntaktische Information in der kleinsten Informationseinheit Bit gemessen (vgl. Reinhardt 2002, 112). Eine Information erstreckt sich also je nach Definition und Disziplin von einem Bit bis hin zu Wörtern, Texten und Bildern einschließlich der semantischen Bedeutung.

In einer von Computern dominierten Gesellschaft wird der Begriff Informationsverarbeitung vorschnell auf den technischen Aspekt reduziert und folglich nur mit Elektronischer Datenverarbeitung gleichgesetzt. Informationsverarbeitung steht jedoch allgemein für die Auswertung von Informationen unabhängig von der auswertenden Quelle (vgl. Brockhaus 2006, 285). Die Rezeptoren können einerseits technische Sensoren, andererseits menschliche Sinnesorgane sein. Auch das technische Grundmodell der Informationsübertragung von Shannon und Weaver (vgl. 1972, 7) legt in der Informationskette nicht fest, ob sich hinter ‚Transmitter’ und ‚Receiver’ menschliche oder technische Sender und Empfänger verbergen.

Stellt man einen schlichten Vergleich zwischen der technischen und der menschlichen Verarbeitung von Information an, so kann eine Analogie zwischen dem ‚informationsverarbeitenden System Computer’ und dem ‚informationsverarbeitenden System Mensch’ gezogen werden. Auffällig erscheint in diesem Zusammenhang auch die Rückprojektion von Computerbegrifflichkeiten auf den Menschen. Alltägliche Ausdrücke wie ‚etwas nicht auf dem Bildschirm haben’ oder der Vergleich des Gehirns mit einer Festplatte verdeutlichen die Korrelation der informationsverarbeitenden Systeme Mensch und Computer. Solso (vgl. 2005, 24) betont jedoch, dass die Computeranalogie gelegentlich durcheinander gerate und fälschlicherweise davon ausgegangen werde, dass Computer so konstruiert worden seien, wie Menschen denken. Tatsächlich aber herrschte lange Zeit die Auffassung, das Gehirn sei ein sehr komplexer Computer (vgl. ebd.). Mittlerweile sind die grundlegenden Unterschiede zwischen den Funktionsweisen der menschlichen und technischen Informationssysteme in der kognitiven Psychologie anerkannt: „ [...] was die Menschen gut können (Verallgemeinerungen bilden, Schlussfolgerungen ziehen, komplexe Muster verstehen und Emotionen haben), machen die Computer auf stupide Weise oder überhaupt nicht“ (ebd., 23). Nichtsdestotrotz ist es das erklärte Ziel der Künstlichen Intelligenz[3], Computer zu modellieren, die imstande sind, menschliches Handeln und Denken zu simulieren. Doch sind der Informatik (noch) Grenzen gesetzt, so dass bei allem technischen Fortschritt dennoch die menschlichen Verarbeitungs- und Denkmuster nicht bis ins allerletzte Detail kopiert werden können. Nicht von der Hand zu weisen ist hingegen die schnellere und kompaktere Informationsübertragung, die aufgrund der Digitalisierung von Information möglich geworden ist, ein Resultat der Innovationen in der Mikroelektronik seit den Sechziger Jahren (vgl. Teipel 1995, 1). Technische Innovationen werden künftig für private und professionelle Anwender immer kleinere, leistungsstärkere Kommunikationssysteme hervorbringen, die lediglich durch finanzielle Restriktionen eine Begrenzung erfahren werden.

2.1.2 Sind Daten Informationen?

Daten, Datenautobahnen, Datenflut. Wie Informationen scheinen Daten allgegenwärtig zu sein. Daten, das sind (Zahlen)werte, die durch Messungen, Beobachtungen etc. erhoben worden sind (vgl. Duden 2000, 354). Die technische Informationstheorie setzt Daten mit Informationen gleich (vgl. Kap. 2.1.1). In diesem Kapitel soll verdeutlicht werden, dass Daten eindeutig von Informationen abgegrenzt werden können.

Im Folgenden stütze ich mich in bezug auf die Unterscheidung von Daten und Informationen auf die theoretischen Erörterungen Willkes (vgl. 1998, 7ff.)[4]. Der Systemtheoretiker betont, dass es keine Daten an sich gäbe, sondern lediglich beobachtungsabhängige oder konstruierte Daten. Um Daten sichtbar und existent machen zu können, müssen sie codiert werden. Dem Menschen stehen als Codierungsvarianten lediglich Zahlen, Sprache, Texte und Bilder zur Verfügung. Die Daten, die durch dieses Codierungsraster fallen, können also nicht existent gemacht werden. Daten werden erst aufschlussreich, wenn sie zu Informationen werden. Dies geschieht durch die Einbindung derselben in einen ersten Kontext von Relevanzen. Da diese systemabhängig sind, können Informationen immer nur systemrelativ sein. Entscheidend ist das System von Relevanzkriterien, über das ein beobachtendes System, beispielsweise ein Individuum, verfügt.

Das nachstehende Beispiel soll die theoretische Einordnung Willkes verdeutlichen. Die Hautstruktur des Menschen ist individuell und daher exakt zurechenbar. Diese Eigenschaft wird bei der Kriminalitätsbekämpfung sowie diversen Sicherheitskontrollen genutzt. Die Individualität muss codiert werden, damit die Daten sichtbar und vergleichbar gemacht werden können. Die Daten, die hinter der einzigartigen Hautstruktur verborgen sind, werden durch ein Bild, nämlich den Fingerabdruck, sichtbar gemacht. Der entnommene Fingerabdruck ist ein Datum, aber solange keine Kontextualisierung erfolgt noch keine Information. In diesem Fall gestaltet sich der erste Kontext von Relevanzen durch das Wissen um die Bedeutung, dass es sich bei dem Strichgefüge um einen Fingerabdruck handelt. Das beobachtende System ist in diesem Fall der Betrachter. Für denjenigen, der noch nie den Abdruck eines Fingers gesehen hat, liegt nicht die Information ‚Fingerabdruck’ vor, da er dem Bild keine Bedeutung zumessen kann. Selbst wenn eine Information nicht verschlüsselt ist und auch Sender und Empfänger die gleiche Sprache sprechen, entscheidet der Kontext von Relevanzen des jeweiligen Systems, ob die Informationen als solche oder lediglich als Daten wahrgenommen werden.

Es lässt sich festhalten, dass Daten nicht zwangsläufig Informationen sind, sie jedoch durch Kontextualisierung zu Informationen werden können. Im alltäglichen Gebrauch wird mitunter von Daten gesprochen, wenn eigentlich Informationen gemeint sind und vice versa.

2.2 Wissen

2.2.1 Wissen – eine Abgrenzung zur Information

Im alltäglichen Gebrauch wird das Wort ‚Wissen’ häufig verwendet. Es wird kommuniziert, was man weiß, was man nicht weiß und außerdem, was als wissenswert gilt. Doch was wissen wir über das Wissen? In bezug auf diese Arbeit drängt sich die Frage auf, wie sich Wissen von Information unterscheidet.

Information und Bildung sind eng miteinander verwoben (vgl. Kap. 2.1.1). Seiffert (1971, 27) kreiert die Metapher: „‚Information’ ist [...] die Mutter oder doch wenigstens die Tante von ‚Bildung’“. Bildung wiederum hängt mit Wissen zusammen, denn wer gebildet ist bzw. eine Ausbildung genossen hat, der verfügt über ein konkretes Allgemein- bzw. Fachwissen. Der Umkehrschluss funktioniert jedoch nur bedingt. Wenngleich Information über Bildung mit Wissen verbunden ist, kann Information nicht mit Wissen gleichgesetzt werden. Deutsch (1990, 187) formuliert dieses Gefüge folgendermaßen: „Wissen ist eine Form von Information. Alles Wissen ist Information. Aber nicht alle Information ist Wissen“. An diese Feststellung schließt sich die Frage an, wann Information zu Wissen wird.

In Kapitel 2.1.2 wurde bereits dargelegt, dass aus Daten Informationen werden, indem sie in einen ersten Kontext von Relevanzen eingebunden werden. Um aus Informationen Wissen generieren zu können, bedarf es laut Willke (vgl. 1998, 11) der Einbindung in einen zweiten Kontext von Relevanzen. Dieser zweite Kontext zeichnet sich nicht durch Relevanzkriterien aus, sondern durch bedeutsame Erfahrungsmuster, die das System – z.B. der Mensch – in einem speziellen Gedächtnis speichert und bereit hält.

Das Beispiel des Fingerabdrucks soll erneut zur Veranschaulichung dienen. Durch die Einordnung in den ersten Kontext von Relevanzen wird das Strichgefüge zur Information ‚Fingerabdruck’. Erst wenn der Fingerabdruck verglichen wird – mit solchen einer Verbrecherkartei oder eines Tatorts – wird die Information des Fingerabdrucks zu Wissen. Die Fahndung nach einem Tatverdächtigen durch geschultes Polizeipersonal bildet den zweiten Kontext aus Erfahrungsmustern. Für die Polizisten führt das Daktylogramm zur Wissensgenerierung, nämlich zum Wissen, ob es sich um den gesuchten Verbrecher handelt oder nicht. Für einen Laienbetrachter stellt der Fingerabdruck einen von vielen dar. Informationen können folglich erst dann zu Wissen werden, wenn sie aufgrund des vorhandenen Wissensrahmens verarbeitet werden. Durch Informationsweitergabe und die Fähigkeit des Menschen, Schlussfolgerungen machen zu können, kann Wissen aufgebaut werden, ohne dass direkt Erfahrungen gemacht werden müssen (vgl. Strittmatter und Tack 1990). Das Wissen kann wiederum als Information gestreut werden.

Eine Einordnung der Termini ‚Information’ und ‚Wissen’ gestaltet sich einfacher, wenn der gesamte Bezugsrahmen betrachtet wird, in den sich Information und Wissen einfügen. Die Recherche in einer Universitätsbibliothek soll als Beispiel dienen, um das Gesamtgefüge aus Zeichen, Daten, Informationen und Wissen zu verdeutlichen. Der Nutzer einer Bibliotheksdatenbank recherchiert, ob der Jahrgang 2004 der Zeitschrift ‚Publizistik’ im Zeitschriftenbestand enthalten ist (vgl. Abb. 1). Dem Schaubild kann entnommen werden, wie aus den Zeichen ‚1972’ und ‚2003’ zuerst Daten, dann Informationen und letztlich Wissen über die Recherchemöglichkeiten werden.

Das Modell der Wissenshierarchie (vgl. Abb. 1), mit Zeichen beginnend und aufsteigend bis zum Wissen, verleitet zum aufwärtsgerichteten Lesen, das keinen Richtungswechsel anbietet. In der Regel wird das Wissen jedoch zur Informationsweitergabe freigegeben, indem es codiert wird, beispielsweise durch das Niederschreiben auf einem Informationsträger. Daher kann das Schema aus der Wissensperspektive ‚rückwärts’ gelesen und in eine Kreislaufmetapher umgewandelt werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Wissenshierarchie

(Quelle: in Anlehnung an Ahlert et al. 2006, 41)

Entscheidend ist die Perspektive beim Deuten der Ziffern als Daten, Informationen oder Wissen. Die Ziffern ‚1972’ und ‚2003’ liegen in der Datenbank, solange diese nicht aufgerufen wird, als Zeichenvorrat vor. Durch die Aktivierung der Datenbank werden die Zeichen als Daten sichtbar. Erst der Datenbanknutzer erhebt die Ziffern ‚1972’ und ‚2003’ zu Informationen, gegebenenfalls werden sie in ein vorhandenes Wissensschema integriert. Aus der Perspektive der Ziffern lässt sich keine Veränderung feststellen.

Die Sozialpsychologie beschäftigt sich seit den Siebziger Jahren mit der Verarbeitung von medial vermittelten Informationen und erklärt diese mithilfe des kognitiven Schemas. Das kognitive Schema beinhaltet Wissen, das aus spezifischen Informationen abstrahiert worden ist und somit einen hohen Allgemeinheitsgrad aufweist (vgl. Hannover et al. 2004, 177). Aufgrund dieses Schemas werden neue Informationen mittels einer Top-Down-Verarbeitung integriert: „Sie [neue Information] wird vor dem Hintergrund des bekannten Schemas wahrgenommen und kategorisiert, fehlende Information wird aus dem Schema ergänzt, schemainkonsistente Information wird ignoriert oder aber an das Schema assimiliert“ (ebd.). Rezipienten können bei einem bekannten Schema daher mediale Informationen in wenigen Sekunden einordnen. So ist es eine Leichtigkeit für einen geschulten Radiohörer durch wenige Informationen (Inhalt, Tonlage und Hintergrundgeräusche) einen Werbetrailer von einem Nachrichtenbeitrag zu unterscheiden (vgl. ebd.).

2.2.2 Wissensvermittlung

Seit Beginn der Menschheitsgeschichte wird Wissen von einer Generation zur nächsten weitergeben. Das Wissen verändert sich in einem dynamischen Prozess, der durch Erweiterung und Verlust des Wissens bestimmt wird. Nonaka und Takeuchi (vgl. 1997, 18ff.) haben sich in ihrem managementwissenschaftlichen Ansatz mit der Frage beschäftigt, wie neues Wissen aus bereits bestehendem Wissen geschaffen wird. Das Konzept ist auf die Wissensaneignung und –weitergabe in Unternehmen ausgerichtet, liefert jedoch ferner Erklärungen darüber hinaus. In ihrem Konzept erörtern die japanischen Wissenschaftler vier Möglichkeiten der Wissenstransformation (vgl. Abb. 2). Ausgangspunkt sind zum einen das implizite Wissen, d.h. Wissen, welches angewendet wird, ohne dass dessen Herkunft bestimmt und dessen Funktionalität erklärt werden kann. Dem steht das explizite Wissen gegenüber, das benannt und deshalb auch dokumentiert werden kann.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Konzept der Wissensumwandlung

(Quelle: in Anlehnung an Nonaka und Takeuchi 1997, 75)

Sozialisation:

Das implizite Wissen einer Person wird zum impliziten Wissen einer weiteren. Die Wissensumwandlung erfolgt durch Beobachtung und Imitation, etwa bei der Weitergabe handwerklicher Fähigkeiten. Ein Bäckerlehrling generiert z.B. einen Großteil des Fachwissens eines Bäckermeisters, indem er die Bearbeitung des Teiges abschaut. Voraussetzung für den erfolgreichen Austausch ist das gemeinsame Erleben.

Externalisation:

Das implizite Wissen einer Person wird in explizites Wissen umgewandelt. Durch Verbalisierung des impliziten Wissens wird mithilfe von Modellen, Analogien oder Hypothesen eine Externalisierung des Wissens umgesetzt. Auf diese Weise kann eine Brücke zum schwer greifbaren impliziten Wissen geschlagen werden. Die Externalisierung ebnet den Weg für die Wissensschaffung. Kreative Schaffensprozesse in einer Werbeagentur können mit der Externalisierung des Wissens verglichen werden.

Internalisieren:

Explizites Wissen wird zu impliziten Wissen transferiert. Dokumentiertes Wissen kann angewendet werden, ohne dass die Übertragung auf eine konkrete Situation reflektiert wird. Dies geschieht beispielsweise, wenn Manager den Erfolg von Konkurrenzunternehmen analysieren und anschließend intuitiv bei der Entwicklung eines eigenen Unternehmenskonzeptes den Erfolgsfaktor übertragen. Nonaka und Takeuchi sehen eine Vergleichbarkeit mit dem Konzept des learning-by-doings.

Kombination:

Die Kombination von Konzepten innerhalb eines Wissenskomplexes bringt neues explizites Wissen hervor. Der Wissensaustausch erfolgt via Medien. Als klassisches Beispiel sei an dieser Stelle auf die Wissensbündelung in Datenbanken verwiesen.

Die japanischen Autoren haben konstatiert, dass die westliche Unternehmerwelt Wissen als etwas „Formales, Systematisches und somit Explizites“ auffasst, hingegen japanische Unternehmen Wissen als etwas Implizites verstehen (Nonaka und Takeuchi 1997, 18). Das differierende Wissensverständnis in der Wirtschaft rührt von den kulturellen Unterschieden her. Generell lässt sich feststellen, dass Kulturen, in denen implizites Wissen vermehrt geschätzt wird, die Wissensschaffung in der Sozialisation sehen. Kulturkreise, in denen Wissen als etwas Explizites erachtet wird, schreiben der Kombination einen hohen Stellenwert bei der Wissensgenerierung zu. Eine wirkliche Innovation findet gemäß der Autoren allerdings erst statt, wenn implizites und explizites Wissen zusammenwirken (vgl. ebd.).

2.2.3 These zur wachsenden Wissenskluft

Informationen können durch Kontextualisierung zu Wissen transformiert werden (vgl. Kap. 2.2.1). Weiterhin verdeutlicht das Konzept der Wissensumwandlung von Nonaka und Takeuchi (vgl. Kap. 2.2.2), dass Wissensschaffung durch unterschiedliche Transformationsprozesse erfolgt. Es zeigt sich, dass Wissen bzw. die Wissensaneignung von einer Vielzahl von Variablen abhängig ist. An diesem Punkt setzt die These der wachsenden Wissenskluft an. Gemäß dieser These besteht eine Korrelation zwischen der Wissensverteilung in der Gesellschaft und den Determinanten Wissen, Informationsfluss, Sozialsystem und sozioökonomischer Status (vgl. Wirth 1997, 19ff.).

Die These der wachsenden Wissenskluft wurde von dem Kommunikations-wissenschaftler Phillip Tichenor sowie den Soziologen George Donohue und Clarice Olien an der University of Minnesota aufgestellt:

„As the infusion of mass media information into a social system increases, segments of the population with higher socioeconomic status tend to acquire this information at a faster rate than the lower status segments, so that the gap in knowlegde between these segments tend to increase rather than decrease.” (Tichenor et al. 1970, 159f.)

Die Autoren behaupten, dass die bereits bestehende Ungleichverteilung des Wissens in den jeweiligen Sozialstrukturen der Gesellschaft durch die Zunahme des Informationsangebotes verstärkt wird. Maßgeblich entscheidend für den sozioökonomischen Status ist für die sogenannte Minnesota-Gruppe die formale Bildung, da besser Gebildete über eine ausgeprägtere Kommunikations- und Medienkompetenz und aufgrund ihrer Schulbildung oder vorherigen Medienerfahrungen über relevantes Vorwissen verfügen (vgl. ebd., 162). Tichenor et al. schließen weiterhin durch vermehrte soziale Kontakte innerhalb von Gruppen gebildeterer Personen auf einen verstärkten Austausch von politischen Themen in der Freizeit. Auch eine verbesserte Informationsaufnahme sowie Memoralisierungsleistung wird diesen Personen zugesprochen. Die Autoren begründen diesen Faktor mit den Forschungsergebnissen der Massenkommunikation aus den Sechziger Jahren, die einen Zusammenhang zwischen den Einstellungen und Werten der Rezipienten und der Informationsinterpretation sowie der Erinnerungsleistung sieht. Den Printmedien wird in diesem Kontext eine tragende Rolle zugewiesen, da diese sich stärker an den Bedürfnissen der Bessergebildeten orientieren. Die Minnesota-Gruppe betrachtet vorwiegend das politische und wirtschaftliche Wissen. Diese Themen werden, so die Aussage der Autoren, von den Printmedien am neutralsten übermittelt (vgl. ebd.).

In demokratischen Gesellschaften wird Chancengleichheit in bezug auf die Schulbildung unabhängig von den finanziellen oder sozialen Hintergründen der Familien gefordert. Dass jedoch auch in demokratischen Nationen, beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland, nicht alle Bürger die gleichen Bildungschancen haben, kann anhand von politischen Debatten und Medienberichten beinahe täglich verfolgt werden. Wirth (1997, 25) spricht insbesondere den Massenmedien neben der „Rolle als Vermittlungsinstanz auch die des Chancenausgleichers zu“. Doch gemäß der These versagen die Massenmedien hinsichtlich ihres Informationsauftrags, da sie die bestehende Kluft erweitern anstatt sie zu schließen.

Die Wissenskluftthese wurde stark wegen der unpräzisen Formulierung kritisiert (vgl. Zillien 2006, 73). Als Hauptkritikpunkt wird die veraltete Fokussierung auf die Schulbildung angefügt, die als maßgebende Variable ohne die Berücksichtigung einer Wechselwirkung eingeschätzt wird (vgl. Wirth 1997, 306).

Eine starke Ausdifferenzierung des Forschungszweiges hat zu Konzepterweiterungen geführt. Wirth (vgl. 1997) kommt zu dem Ergebnis, dass eine abschließende Befürwortung oder Widerlegung der These nicht möglich sei, da sich insbesondere die empirischen Grundlagen je nach Forschungsschwerpunkt und Argumentationslinie unterscheiden. In den Achtziger Jahren verlor die Debatte an Relevanz und wurde daher von Kritikern als beendet betrachtet (vgl. Zillien 2006, 70). Der Diskurs hat durch die Diskussion um die digitale Spaltung (vgl. ebd.) und die Verbreitung des Internets (vgl. Zwiefka 2007, 64) wieder an Bedeutung gewonnen.

Die ursprüngliche These von Tichenor et al. bezieht sich auf die alten Massenmedien und im Besonderen auf die Printmedien (vgl. ebd., 70). Das Internet unterscheidet sich aufgrund der interaktiven Nutzung sowie der höheren ökonomischen Barriere von den traditionellen Massenmedien. Zudem sind die Anforderungen an den Nutzer hinsichtlich der Medienkompetenz weitaus höher als es bei den Rundfunk- oder Printmedien der Fall ist. Im Gegensatz zu den Printmedien bezieht sich das Internet nicht auf ein „medial erschlossenes [...] Gebiet“ (ebd., 84), sondern nimmt aufgrund der technischen Voraussetzung eine globale Dimension ein. Die Wissenskluftthese greift daher in den Diskurs der Digitalen Kluft ein (vgl. Kap. 3.1).

2.3 Informationsgesellschaft vs. Wissensgesellschaft

2.3.1 Thesen zur Informationsgesellschaft

In der Informationsgesellschaft nimmt die Information, so legt es die Wortschöpfung nahe, eine dominante Rolle ein. Aus heutiger Perspektive bietet es sich an, mit der Informationsgesellschaft eine Gesellschaft zu assoziieren, die von leistungsstarken Informations- und Kommunikationstechnologien geprägt wird. Jedoch lassen sich erste Ansätze zur Idee einer Informationsgesellschaft bereits in den Sechziger Jahren in den USA finden. Den Anstoß gaben einige Ökonomen[5], die sich für die wirtschaftliche Bedeutung von Information und Wissen interessierten, obgleich die Computerrevolution[6] noch nicht eingesetzt hatte (vgl. Kleinsteuber 1999, 21). Der gesellschaftliche Wandel zur Informationsgesellschaft wird in den Ansätzen von Daniel Bell, Peter Drucker und Manuel Castells[7] analysiert (vgl. Steinbicker 2001, 15). Als wegweisend werden die Arbeiten des amerikanischen Journalisten und Soziologen Daniel Bell einschätzt (vgl. Kleinsteuber 1999; Steinbicker 2001).

In Bells Hauptwerk „Die nachindustrielle Gesellschaft“[8] von 1975 beschreibt er den Wandel von der Industriegesellschaft zur nachindustriellen Gesellschaft. Der Begriff ‚Informationsgesellschaft’ taucht im Titel erst einige Jahre später in darauf folgenden Arbeiten auf. Das Konzept der nachindustriellen Gesellschaft wird um die These der Informationsgesellschaft erweitert, indem nun die Informations- und Kommunikationstechnologien als elementare Einflussgrößen bewertet werden (vgl. Bell 1980). Standen die Überlegungen zum gesellschaftlichen Wandel in seinem Hauptwerk noch im Vordergrund, wird die These zur Informationsgesellschaft von der technologischen Revolution dominiert und verliert an gesellschaftstheoretischer Relevanz (vgl. Steinbicker 2001, 70). Daher soll das bekannteste Werk Bells – „Die nachindustrielle Gesellschaft“ – als Grundlage für die Erarbeitung der Thesen zur Informationsgesellschaft dienen.

Bell sagt für die Industriegesellschaft einen tiefgreifenden Strukturwandel voraus. Die Gesellschaft ist laut Bell (vgl. 1975, 29) in die Bereiche soziale Struktur, Politik sowie Kultur unterteilt. Die Umgestaltung von der Industriegesellschaft zur postindustriellen Gesellschaft wird seines Erachtens durch Änderungen in der sozialen Struktur herbeigeführt, d.h. der wirtschaftliche Wandel, Verschiebungen innerhalb der Berufsgruppen sowie der technische Wandel evozieren eine gesellschaftliche Transformation (vgl. ebd., 30). Er betont, dass seine These nicht ausschließlich aufgrund der statistischen Verschiebungen in den Beschäftigungsbereichen manifestiert sei, sondern vielmehr ein gedankliches Konstrukt als Basis festlege, anhand dessen er die Entwicklung von der präindustriellen über die industrielle bis hin zur postindustriellen Gesellschaft nachzeichne.

Als Soziologe orientiert sich Bell – dies überrascht nicht – an Marx’ linearer Klassentheorie; nicht, um diese zu adaptieren, sondern um das zugrundeliegende Schema neu anzuwenden. Bell richtet das gedankliche Konstrukt nicht wie Marx an der Achse der Eigentumsverhältnisse, sondern entlang der Achse „Produktion und angewandtes Wissen“ aus und wählt somit die Perspektive der Produktivkräfte (Bell 1975, 29). Wie ein Blick auf das Schema des sozialen Wandels (vgl. Abb. 3) deutlich macht, diagnostiziert Bell in den diskutierten Gesellschaftssystemen anhand mehrerer Faktoren unterschiedliche charakteristische Ausprägungsformen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Schema des sozialen Wandels

(Quelle: In Anlehnung an Bell 1975, 12 und 117)

Bell zeigt die nachindustrielle Gesellschaftsform anhand von fünf Dimensionen auf, die er am Beispiel Nordamerika durchexerziert, da seines Erachtens zu seiner Zeit lediglich die Vereinten Nationen den Status einer nachindustriellen Gesellschaft erreicht hatten (vgl. ebd., 32ff.):

1. Dimension – Wirtschaftlicher Sektor:

Bell konstatiert den sozioökonomischen Wandel von einer güterproduzierenden Industriegesellschaft hin zu einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft. Der Großteil der Arbeitskräfte arbeitet im Dienstleistungssektor[9], der sich in der postindustriellen Gesellschaft auf die Bereiche Gesundheit, Erziehung, Bildung, Forschung und Verwaltung bezieht und nicht mehr wie in der Industriegesellschaft in unmittelbarem Zusammenhang mit der industriellen Produktion steht. Für Bell gleicht die Dienstleistung einem Spiel zwischen Personen (vgl. Abb. 3). Maßgebliche Größe in diesem Spiel ist die Information: „Information bedeutet alles und wird zur Machtquelle innerhalb der Organisationen“ (Bell 1975, 136).

2. Dimension – Berufsstruktur:

Die Beschäftigungsstruktur ändert sich dahingehend, dass ein Rückgang der Industriearbeiter zugunsten der sich ausdehnenden Berufsgruppen im Dienstleistungs-sektor zu verzeichnen ist. Bell fundiert seine Erkenntnisse in bezug auf die sektorale Verteilung der Arbeitsplätze mit empirischen Verweisen:

„Waren in den Vereinigten Staaten kurz nach der Jahrhundertwende sieben von zehn Arbeitern in der Güterproduktion und nur drei von zehn in Dienstleistungsgewerben tätig, so hatte sich das Verhältnis 1950 in etwa ausgeglichen. 1968 arbeiteten dann bereits sechs von zehn im Dienstleistungsbereich, und 1980 werden es beim steigenden Übergewicht der Dienstleistungsberufe fast sieben von zehn sein.“ (ebd., 136f.)

Äquivalent dazu stellt Bell einen Wandel der Berufsmuster fest. Durch den Wandel zu einer nachindustriellen Gesellschaft sind die USA auch zu einer „Gesellschaft von Kopfarbeitern“ geworden (ebd., 142). Zu den Kopfarbeitern zählt Bell Akademiker, Techniker, Manager, Beamte und Geschäftsleute sowie Büroangestellte und Verkäufer. Von allen Berufsgruppen weist die der Kopfarbeiter die größte Zuwachsrate auf: um die Jahrhundertwende arbeiteten 5,5 Mio. Kopfarbeiter, 1968 waren bereits 35,6 Mio. zu verzeichnen und bis 1980, so prognostiziert Bell, werde die Hälfte der amerikanischen Arbeitnehmer, nämlich 48,3 Mio. Menschen, der Berufsgruppe ‚Kopfarbeiter’ angehören (vgl. ebd.).

3. Dimension – Axiales Prinzip:

Das Axiale Prinzip besteht für Bell in der zentralen Stellung sowie der Systematisierung des theoretischen Wissens. Dieses wird zur umwandelnden Kraft, d.h. es dient als Ausgangspunkt für Innovationen und ist an die Stelle des Kapitals als entscheidende Größe für Neuerungen und Fortschritt in der Industriegesellschaft getreten (vgl. Abb. 3). Bells Ausführungen folgend wird die Güterproduktion bestimmt durch die Effizienz in der Auslastung und erfordert vorausschauende Planungen. Die Politik muss den finanziellen Aufwand sowie die Organisation der Kodifizierung des Wissens gewährleisten. Bell (vgl. 1975, 220) hebt hervor, dass sich die Staatsausgaben in den USA für die Schulbildung zwischen 1949 (3,4 Prozent) und 1969 (7,5 Prozent) verdoppelt haben. Für Bell beweisen derartige Zahlen, dass Wissen und Technologie zum „unentbehrlichsten Hilfsmittel der Gesellschaft“ geworden sind (ebd., 240).

4. Dimension – Zukunftsorientierung:

Die nachindustrielle Gesellschaft ermöglicht die Planung und Steuerung des technischen Fortschritts, Maßnahmen, die Bell als anstrebenswert beurteilt (vgl. ebd., 42). Technologische Neuerungen sollen vor der Einführung einer strengen Kontrolle unterzogen werden. Die Aufgabe der Technologiebewertung wird dem Staat zugeschrieben.

5. Dimension – Entscheidungsbildung:

Grundlage für die Entscheidungsbildung ist für Bell die Schaffung einer neuen „intellektuellen Technologie“ (ebd., 43). Diese neue Technologie ersetzt das intuitive Urteilsvermögen des Menschen, da sie auf Algorithmen basiert. Das Hauptmerkmal dieser Technologie ist das Bestreben nach rationalem Handeln, für das Informationen unerlässlich sind.

Information ersetzt in der nachindustriellen Gesellschaft den industriellen Faktor Energie (vgl. Abb. 3). In der informationsverarbeitenden Gesellschaft ist das theoretische Wissen bedeutend. Bell startet den Versuch, eine allgemeingültige Theorie zum Wandel der Gesellschaft zu entwickeln. Die statistischen Verschiebungen im Beschäftigungssektor sind für ihn eine Folge des gesellschaftlichen Wandels und nicht Ausgangspunkt seiner These. Deshalb sucht er Gründe für die Veränderungen, die er in historischen Umwälzungen, vornehmlich durch Erfindungen hervorgerufen, findet:

„Die erste, industrielle Revolution lässt sich durch die Entwicklung der Dampfmaschine bezeichnen, mit der eine kontinuierlich arbeitende und leistungsfähige Antriebskraft für Maschinen und Transportmittel zur Verfügung stand. Die zweite Revolution verbindet Bell mit den Erfindungen und Entwicklungen auf den Gebieten der Elektrizität und der Chemie, die eine dezentrale Energieversorgung und neue synthetische Materialien ermöglichten. Sinnbild der dritten technologischen Revolution ist natürlich der Computer.“ (Steinbicker 2001, 66)

Gemäß Bell (vgl. 1975, 370) werden abgesehen von den Vereinigten Staaten auch Japan, Westeuropa und die Sowjetunion Ende des 20. Jahrhunderts Merkmale nachindustrieller Gesellschaften aufweisen und mit den neuen Dimensionen konfrontiert werden, für die es individuelle Lösungen zu suchen gilt.

Im Anschluss an Bells Thesen wurden empirische Untersuchungen in diversen Ländern zum Informationssektor durchgeführt. Die Systematiken unterschieden sich jedoch zum Teil enorm, so dass eine Vergleichbarkeit kaum gegeben ist (vgl. Schöhl 1984, 403ff.). In Deutschland wurde 1982 das erste Mal vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) der Versuch unternommen, „Aussagen über die Größe des Informations- und Kommunikationssektors zu machen“ (ebd., 403). Die Realitäten – sowohl in Deutschland, als auch in anderen Ländern – bestätigten nicht die Bell’schen Thesen, so dass sein Paradigma in den Achtziger Jahren aus der angloamerikanischen Theoriedebatte verschwand (vgl. Kleinsteuber 1999, 24).

Die europäische Politik hat zu Beginn der Neunziger Jahre den Begriff der Informationsgesellschaft für ihre Zwecke wiederentdeckt, allerdings ohne sich des sozialwissenschaftlichen Hintergrunds bewusst zu sein (vgl. ebd., 26). In Deutschland findet dieser Leitbegriff bei allen Parteien und Ministerien positiven Anklang, wenngleich sich die inhaltliche Auslegung unterscheidet (vgl. ebd.). Anfang des 21. Jahrhunderts hat sich die „technokratische Sicht auf die Informationsgesellschaft“ durchgesetzt, die durch die makroökonomische Forschung zur sektoralen Verteilung am Arbeitsmarkt begünstigt wurde (Kuhlen 2004, 81). Diese Wiederentdeckung des Schlagwortes ‚Informationsgesellschaft’ bot den Nährboden für die Zielsetzung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit, eine globale Informationsgesellschaft anzustreben. Die Vision war geboren, der Weltgipfel zur Informationsgesellschaft folgte (vgl. Kap. 4).

2.3.2 Thesen zur Wissensgesellschaft

Der gegenwärtig geführte Diskurs über die Wissensgesellschaft bezieht sich grundlegend auf die zentralen Thesen des amerikanischen Managementtheoretikers Peter Drucker. Bereits um 1960 prägte er die Begriffe „Wissensarbeit“ und „knowlege worker“[10] (Drucker 1993, 16). Er prognostiziert in seinem Hauptwerk „The Age of Discontinuity“ 1969 erstmals die Idee einer Wissensgesellschaft (vgl. Steinbicker 2001, 21) und verfolgt stringent diese These. So verkündet er über 30 Jahre später: „Die postkapitalistische Gesellschaft ist eine Wissensgesellschaft und eine Gesellschaft der Organisationen“ (Drucker 1993, 305). Die maßgeblichen Umbrüche zur Wissensgesellschaft sieht er in zentralen Bereichen wie der Technologie, Wirtschaft, Politik und in der sozialen Grundstruktur (vgl. ebd.). Die Produktivkraft der Wissensgesellschaft liegt für Drucker im Wissen. Sein Konzept gleicht dem von Bell in vielen Aspekten. Erst im Detail erschließen sich Unterschiede. Für Bell ist z.B. das theoretische Wissen entscheidend, wohingegen Drucker vielmehr pragmatisch orientiert ist. Für ihn steht die praktische Umsetzung des theoretischen Wissens im Fokus (vgl. Steinbicker 2001, 28).

Die Idee der Wissensgesellschaft wird in den Sechziger und Siebziger Jahren noch vermehrt in den sozialwissenschaftlichen Kontext gestellt. Seit den Neunziger Jahren erlebt der Diskurs um die Wissensgesellschaft, auf der Grundlage Druckers, eine Renaissance insbesondere aus Sicht der Managementtheorie (vgl. Willke 1998, 356). Die gesellschaftstheoretischen Überlegungen verblassen hinter der Fokussierung auf die neuen Formen und Konsequenzen der Wissensarbeit.

Willke greift bei der Definition der Wissensgesellschaft insbesondere die qualitative Veränderung der Wissensarbeit auf, die für ihn vornehmlich in der ständigen Überprüfung des Wissens besteht:

„Von einer Wissensgesellschaft oder einer wissensbasierten Gesellschaft lässt sich sprechen, wenn zum einen die Strukturen und Prozesse der materiellen und symbolischen Reproduktion einer Gesellschaft so von wissensabhängigen Operationen durchdrungen sind, dass Informationsverarbeitung, symbolische Analyse und Expertensysteme gegenüber anderen Faktoren der Reproduktion vorrangig werden. Eine entscheidende zusätzliche Voraussetzung der Wissensgesellschaft ist, dass Wissen und Expertise einem Prozess der kontinuierlichen Revision unterworfen sind und damit Innovationen zum alltäglichen Bestandteil der Wissensarbeit werden. In diesem Moment unterscheidet sich die Wissensarbeit neuen Stils von der Wissensarbeit der Handwerker, Experten, Professionellen, Künstler, Magier oder weisen Frauen früherer Epochen.“ (Willke 1998, 335)

Entsprechend der managementorientierten Betrachtungsweise beschäftigt sich Willke besonders mit den Auswirkungen der Wissensarbeit auf die Unternehmensorganisation. Die neue Form der Wissensarbeit wird sich im Gegensatz zu der Arbeitsteilung in überschaubaren Gruppen „in großen, komplexen, weiträumigen und im Extremfall global verteilten Organisationen“ abspielen (ebd., 3). Die wirtschaftliche Interpretation erhebt Wissen zu einer Ressource, deren Halbwertszeit je nach Anwendungsgebiet auf wenige Jahre begrenzt ist (vgl. ebd., 355).

Der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, so Willke, vollzieht sich nicht offensichtlich. Im Gegensatz zu den Effekten, die durch die Industriegesellschaft für jedermann sichtbar sind, darunter große und mitunter lärmende Industriehallen, ist das Wissen nicht unbedingt sichtbar: „Die global verteilten Datenbanken des Internets sind nicht mehr lokalisierbar, die Kommunikationsströme der unzähligen proprietären Netze mit globaler Reichweite sind geräusch- und geruchlos, sie bestehen nur noch aus unsichtbaren elektronischen Bits“ (ebd., 257). Der Anwender der Informations- und Kommunikationstechnologien kann sich höchstens durch Fernsehreportagen und Zeitschriftenartikel ein Bild von der ‚unsichtbaren Technologie’ machen. Aus diesem Grund werden aktuell vermehrt die neuen Anforderungen diskutiert, die aufgrund der veränderten Rahmenbedingen in der Wissensgesellschaft an den Menschen gestellt werden. Die kognitiv-rationale Intelligenz, also die Fähigkeit der Intuition, Assoziation und des bildhaften Denkens, wird über das Beurteilungsvermögen der Menschen in der Wissensgesellschaft entscheiden (vgl. Wiater 2007, 40f.).

Willke (vgl. 1998, 353) vertritt die Auffassung, dass die Wissensgesellschaft noch nicht existiere; sie werfe allerdings bereits ihre Schatten voraus. Im Gegensatz zu Willke ist Drucker (vgl. 1993, 17) in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts der Überzeugung, dass er nicht mehr Prognosen in Bezug auf einen Gesellschaftswandel stellt, sondern in der Retrospektive den zurückgelegten Weg in eine neue Gesellschaft beschreibt. Drucker und Willke stehen stellvertretend für zwei Auslegungsvarianten der Wissensgesellschaft. Eine Gruppe steht in der Tradition von Drucker und ist entsprechend davon überzeugt, dass wir in der Wissensgesellschaft angekommen sind. Die andere Gruppe interpretiert gesellschaftliche Veränderungen und insbesondere Umgestaltungen im Wirtschaftsbereich als Indiz für einen nahenden Wandel zur Wissensgesellschaft. Unabhängig davon, ob die Wissensgesellschaft als Gegenwarts-gesellschaft oder als Zukunftsvision eingeschätzt wird, hat sie Einzug gehalten in nichtsoziologischen Disziplinen wie der Informatik, der Philosophie, der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre und in die Erziehungswissenschaften (vgl. Bittlingmayer 2005, 19). Die nationale und internationale Entwicklungszusammenarbeit hat sich ebenso des Schlagwortes ‚Wissensgesellschaft’ bemächtigt, wie im Verlauf dieser Arbeit zu sehen sein wird.

2.3.3 Informationsgesellschaft vs. Wissensgesellschaft

Die intensive Auseinandersetzung mit den Begriffen ‚Information’ und ‚Wissen’ in Kapitel 2.2.1 führt zu dem Ergebnis, dass Information nicht mit Wissen gleichgesetzt werden kann. Folglich dürfte es sich nicht nur um einen Austausch der Begriffe handeln, wenn von einer neuen Gesellschaftsform die Rede ist, die als Informations- oder Wissensgesellschaft benannt wird. In der Debatte um die Informations- und Wissensgesellschaft stößt man dennoch oftmals auf eine synonyme Verwendung. Publikationen wie „Mein Wissen – unser Wissen!? Das Individuum zwischen Kooperation und Konkurrenz in der Informationsgesellschaft“ deuten gleich im Titel die Kontroverse an. Der Blick in das Inhaltsverzeichnis von Sammelbänden zu diesem Themenkomplex eröffnet bereits eine Begriffsvielfalt, in der ‚Information’ und ‚Wissen’ sowie ‚Informationsgesellschaft’ und ‚Wissensgesellschaft’ die Dominierenden der Begriffsfülle zu sein scheinen. Es ist fraglich, ob die Autoren differierende Gesellschaftskonzepte diskutieren oder ob im Grunde der Wandel zu einer neuen Gesellschaftsform mit unterschiedlichen, hin und wieder unreflektierten Begrifflichkeiten betitelt wird. Zugegebenermaßen sind die beiden ‚ursprünglichen’ Gesellschaftskonzepte gedanklich eng miteinander verbunden und darüber hinaus in ihren Begrifflichkeiten von Beginn an nicht konsequent.

Drucker und Bell beschreiben einen gesellschaftlichen Wandel der modernen Industriegesellschaft, an dessen Ende für Drucker die Wissensgesellschaft, für Bell die Informationsgesellschaft steht. Dies erscheint jedoch nur auf den ersten Blick so konsequent gehalten zu sein. Denn Bell bezeichnet erst in späteren Werken die neue Gesellschaftsform als Informationsgesellschaft. Tatsächlich spricht er der nachindustriellen Gesellschaft den Status einer Wissensgesellschaft zu. Dies begründet er, indem er die Bedeutung des Wissens in der neuen Gesellschaftsform hervorhebt:

„Die nachindustrielle Gesellschaft ist in zweifacher Hinsicht eine Wissensgesellschaft: einmal, weil Neuerungen mehr und mehr von Forschung und Entwicklung getragen werden (oder unmittelbarer gesagt, weil sich auf Grund der zentralen Stellung des theoretischen Wissens eine neue Beziehung zwischen Wissenschaft und Technologie herausgebildet hat); und zum anderen, weil die Gesellschaft – wie aus dem steigenden Anteil der auf diesem Sektor Beschäftigten ersichtlich – immer mehr Gewicht auf das Gebiet des Wissens legt.“ (Bell 1975, 219; Hervorhebung im Original)

An anderer Stelle desselben Werkes wird die Unschlüssigkeit sichtbar, wenn er von dem „Übergang von einer warenproduzierenden zu einer Informations- oder Wissensgesellschaft“ spricht (ebd., 374; Hervorhebung durch die Verf.). Abgesehen von der Information als maßgebliche Größe für den Umwandlungsprozess innerhalb des ‚Schemas des sozialen Wandels’ (vgl. Kap. 2.3.1) hebt Bell vermehrt die Bedeutung des theoretischen Wissens hervor, nicht die der Information. Aus heutiger Perspektive gilt Bell dennoch als Hauptvertreter der Thesen zur Informationsgesellschaft. Ungeachtet der differierenden Namensgebung zielen für Steinbicker die Ansätze Druckers, Bells und Castells’ allesamt auf eine Theorie der Informationsgesellschaft hin, die das neue Gesellschaftskonzept erklären soll (vgl. Steinbicker 2001). Sowohl im Titel, als auch im Ausblick bezieht er sich auf die Informationsgesellschaft, der Begriff ‚Wissensgesellschaft’ taucht hier nicht auf. In der Einleitung bezeichnet er die Idee einer Informations- oder Wissensgesellschaft als ein Konzept (vgl. ebd., 7). Offenbar umgeht Steinbicker das Problem der Begriffsfestlegung, indem er das Konzept der Wissensgesellschaft dem der Informationsgesellschaft subsummiert.

Es scheint, als konzentrierten sich die ökonomisch orientierten Betrachter[11] des Gesellschaftswandels eher auf die Ressource Wissen und die Wissensarbeit, so dass der Faktor Information mehr als Mittel zum Zweck eingeschätzt und nicht als maßgebliche, gesellschaftsverändernde Größe interpretiert wird. Unter der Berücksichtigung der Debatte um die Unterscheidung von Information und Wissen, derzufolge erst durch Kontextualisierung vor einem kognitiven Schema Information zu reflexivem Wissen wird (vgl. Kapitel 2.2.1), scheint die Bezeichnung ‚Wissensgesellschaft’ den Kern der Thesen präziser zu treffen. Denn es ist letztlich die veränderte Form des Wissens, des Umgangs mit diesem sowie dessen Stellenwert in der Gesellschaft und besonders in der Wirtschaft, der den Gesellschaftswandel erklären soll.

Ganz gleich, ob sozialwissenschaftlich, managementtheoretisch oder politisch orientiert, unter den Autoren lassen sich eindeutige Vertreter der Informationsgesellschaft[12] und der Wissensgesellschaft[13] finden. Mitunter wird auch eine Entwicklung von der Informations- zu einer Wissensgesellschaft interpretiert (vgl. Brockhaus 2000, 408). Andere Autoren sind wiederum davon überzeugt, dass der Begriff ‚Wissensgesellschaft’ den der ‚Informationsgesellschaft’ weitgehend verdrängt hat (vgl. Wiater 2007, 30). Auch nach einer über 40 Jahre andauernden Debatte herrscht kein Konsens über eine eindeutige Namensgebung.

Die internationale Politik hat bereits mehrere Ausdrucksformen für die Bezeichnung ihrer Zielsetzung angewendet. Im Rahmen des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft sind die Begriffe Informationsgesellschaft, Wissensgesellschaft sowie Kommunikationsgesellschaft benutzt worden (vgl. Kuhlen 2004, 86). Ursprünglich war es ein Weltgipfel zur Informationsgesellschaft. Diese technisch bestimmte Definition wurde allerdings von der initiierenden Organisation ITU (International Telecommunication Union) beanstandet (vgl. ebd.). Die UNESCO bevorzugt ebenfalls den Begriff der Wissensgesellschaft, um „die kognitiven, inhaltlichen und pragmatischen Aspekte des Umgangs mit Wissen und Information zu betonen“ (ebd., 86f.). Mit etwas Nachsicht kann der Vorwurf einer flexiblen Begriffsverwendung der Entwicklungszusammenarbeit gegenüber zurückgenommen werden, sind doch die theoretischen Konzepte, sofern diese der Politik als Basis gedient haben, kein gutes Vorbild für eine eindeutige Begriffszuweisung.

[...]


[1] Bis dato ist umstritten, welche Merkmale für die Bestimmung eines Entwicklungslandes zugrunde gelegt werden sollen. Aus ökonomischer Perspektive werden beispielsweise ein niedriges Pro-Kopf-Einkommen, geringe Produktivität der Arbeit sowie ein niedriger technischer Ausbildungsstand genannt (vgl. Nohlen 2002, 233f.). Der Begriff Schwellenländer tauchte in den Siebziger Jahren erstmals auf und wird ebenfalls unterschiedlich ausgelegt (vgl. ebd. 708f.). Positiv an der Begriffsdebatte in Bezug auf die Entwicklungsländer ist das zunehmende Bewusstsein für die Heterogenität der Länder. Der Begriff Industrieländer ist heutzutage fragwürdig, da sich viele dieser ehemals als Industrienationen ausgewiesenen Länder gemessen am Bruttoinlandprodukt längst zu Dienstleistungsnationen entwickelt haben (vgl. Nuscheler 2006, 98). Aus pragmatischen Gründen wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff Entwicklungsländer verwendet, ohne dass auf die unterschiedlichen Termini und Klassifizierungsschemata eingegangen wird. Wenngleich die Bezeichnung Industrienation nicht mehr zutreffend ist, wird sie dennoch als Pendant zum Entwicklungsland eingesetzt. Der Zusatz ‚hochindustrialisiert’ soll in diesem Zusammenhang präzisieren.

[2] In der vorliegenden Arbeit werden neben dem Internet und dem Mobilfunk auch die alten Medien Hörfunk und Fernsehen zu den Informations- und Kommunikationstechnologien gezählt. Diese Zuordnung ist in der Literatur durchaus gängig (vgl. Hauf 1996, 32) und orientiert sich zudem am Weltgipfel zur Informationsgesellschaft. Mit modernen Informations- und Kommunikationstechnologien sind hingegen nur Technologien wie das Internet oder der Mobilfunk gemeint.

[3]Künstliche Intelligenz (KI) wird im umfassenden Sinne definiert als der Zweig der Informatik, der sich mit der Entwicklung von Computern (Hardware) und Computerprogrammen (Software) beschäftigt, die kognitive Funktionen des Menschen simulieren“ (Solso 2005, 441; Hervorhebung im Original).

[4] Siehe auch Wiater (vgl. 2007, 15ff.).

[5] Insb. Fritz Machlup (vgl. 1962).

[6] Die Computerrevolution oder auch die Revolution der Informations- und Kommunikationstechnologien kann 1976 mit der Markteinführung des ersten Personal Computers von Apple verortet werden (vgl. Steinbicker 2001, 14).

[7] Die Konzepterläuterung der ‚Informationellen Gesellschaft’ von Manuel Castells ist im Rahmen dieser Arbeit nicht leistbar.

[8] Die amerikanische Originalausgabe ist 1973 unter dem Titel „The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting“ erschienen (vgl. Bell 1975).

[9] Die Untergliederung des Dienstleistungssektors in einen Tertiären, Quartären und einen Quintären erklärt Bell (vgl. 1975, 135f.) mit einem sukzessiven Ausbau des Sektors.

[10] Ins Deutsche übersetzt mit Kopfarbeiter.

[11] Z.B. Drucker (vgl. 1993) und Willke (vgl. 1998).

[12] Z.B. Steinbicker (vgl. 2001).

[13] Z.B. Drucker (vgl. 1993), Willke (vgl. 1998), Graf (vgl. 2001), Stehr (vgl. 2005).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783836630535
DOI
10.3239/9783836630535
Dateigröße
677 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Siegen – Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften, Studiengang Medienplanung, -entwicklung und -beratung
Erscheinungsdatum
2009 (Mai)
Note
1,7
Schlagworte
informationsgesellschaft digitale kluft medienentwicklungszusammenarbeit weltgipfel beeping
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Titel: Globale Informationsgesellschaft?
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