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Objektbeziehungstheorie und Kunsttherapie

bei anorektischen Patientinnen mit Body-Image-Störung

©2009 Diplomarbeit 152 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Frage, welche kunsttherapeutischen Maßnahmen zur Intervention der psychosomatischen Erkrankung Anorexia nervosa in Betracht gezogen werden können.
Mit dem Begriff Anorexia nervosa (im Folgenden AN abgekürzt) bezeichnet man eine Form der Essstörung neben Bulimia nervosa und Adipositas, die sehr weit verbreitet ist. Sie ist u. a. gekennzeichnet durch ein starkes Untergewicht, das durch eine Gewichtsabnahme oder das Ausbleiben der erwartbaren Gewichtszunahme in der Pubertät entstanden ist. Trotz des offensichtlichen Untergewichts der betroffenen Mädchen und Frauen besteht eine starke Angst davor, zu dick zu werden. Da der gesamte Körper oder einzelne Körperteile als zu dick erlebt werden, wird aus Angst vor einer Gewichtszunahme die Nahrungsaufnahme trotz des bestehenden Untergewichts weiter eingeschränkt.
Zentrale Aspekte im Zusammenhang mit der Störung AN sind Selbstbewusstsein, Kontrolle und Gefühlswahrnehmung. Diese Arbeit stellt die Body-Image-Störung als Merkmal der AN ins Zentrum, die u. a. Bruch als die wichtigste Ursache der Entstehung von AN betrachtete. Demzufolge ist nach Bruch die ‘realistische Vorstellung vom eigenen Körper eine Vorbedingung zur Genesung’.
Der deutsche Begriff Körpererfahrung und der englische Begriff Body-Image enthalten sowohl die perzeptiv-kognitive Komponente als auch die emotional-affektive Komponente, also Körperschema und Körperbild. Dementsprechend wird in der deutschen Literatur auch zwischen Körperschema- und Körperbildstörungen differenziert, während in der englischen Literatur der Oberbegriff ‘Body-Image-Disturbance’ verwendet wird. Da die Diplomarbeit auf Störungen beider Komponenten eingeht, wird der Begriff Body-Image-Störung in der vorliegenden Arbeit als Oberbegriff verwendet.
Weitere Körperschemastörungen wie z. B. Fingeragnosie und Dysmorphophobie werden in dieser Arbeit nicht berücksichtigt, da sie nicht im Zusammenhang mit der AN stehen.
Es gibt verschiedene Ansätze zur Erklärung der AN, etwa familien- und systemtheoretische Ansätze, feministische Ansätze etc.
Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Objektbeziehungstheorie, eine Richtung innerhalb des psychoanalytischen Erklärungsansatzes. Der Ansatz wird hier bevorzugt, da das Verhalten des Menschen vollständig aus den sozialen Zusammenhängen – und zwar schon von Kind an – erklärt wird. Der Mensch wird von Beginn an als soziales Wesen aufgefasst, welches mit […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Mareike Lüdeke
Objektbeziehungstheorie und Kunsttherapie
bei anorektischen Patientinnen mit Body-Image-Störung
ISBN: 978-3-8366-3011-5
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2009
Zugl. Universität zu Köln, Köln, Deutschland, Diplomarbeit, 2009
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2009

2
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
4
2
Praxisergebnisse und Forschungsstand
9
3
Definition des Krankheitsbegriffs Anorexia nervosa
13
3.1 Epidemiologie
13
3.2 Symptomatik
13
3.3 Klassifikation
15
3.3.1 Diagnostische
Kriterien
15
3.3.2 Diagnostische
Leitlinien
16
3.4 Komorbidität
18
3.5 Ätiologie
18
3.6 Persönlichkeitsmerkmale
20
4
Körpererfahrung, Körperschema und Körperbild
22
4.1 Neurologie
und
Psychologie
22
4.2 Körperbild-Konzept (Schilder 1950)
23
4.3 Körpererfahrung als Überbegriff
25
4.3.1 Das
Körperschema
26
4.3.2 Das
Körperbild
27
4.4 Faktoren bei der Entstehung von Körperschema und Körperbild
28
4.4.1 Lernmodelle und Körperbewusstsein
29
4.4.2 Exkurs: Bindungsdynamik im Familiensystem
31
4.4.3 Die Theorie der Objektbeziehungen
33
4.4.4 Das
Übergangsobjekt
39
5 Störungen
der
Körpererfahrung bei Patientinnen mit Anorexia nervosa
42
5.1 Wahrnehmungs- und Denkstörungen (Bruch 1991)
42
5.2 Körperschema- und Körperbildstörungen
43
5.2.1 Die perzeptive Form der Body-Image-Störung
44
5.2.2 Die emotionale Form der Body-Image-Störung
45
5.2.3 Störungen im Verhalten
47
5.3 Faktoren bei der Entstehung der Body-Image-Störung Anorexia nervosa
47
5.3.1 Fehlerhafte Lernmodelle und gestörtes Körperbewusstsein
48
5.3.2 Pathologische
Objektbeziehungen
51
5.3.3 Anorexia nervosa als Übergangsphänomen
55
5.3.4 Die Eltern anorektischer Patientinnen
57

Inhaltsverzeichnis
3
6
Kunsttherapie bei Body-Image-Störungen mit dem Fokus
auf Anorexia nervosa
60
6.1 Objektbeziehungstheorie in der kunsttherapeutischen Praxis
62
6.2 Die Rolle der Therapeutin: Übertragung und Gegenübertragung
69
6.3 Ausgewählte körperbezogene Aufgaben und Methoden der Kunsttherapie 73
6.3.1 Aufgaben und Themen
74
6.3.2 Freies Malen und Gestalten
81
6.4 Planung und Durchführung kunsttherapeutischer Interventionen
bei Anorexia nervosa
84
6.5 Zielsetzungen
86
6.6 Strukturierungsmaßnahmen
90
6.6.1 Einstiegsphase
90
6.6.2 Verlaufsphase
95
6.6.3 Abschlussphase
101
6.7 Konkretisierung und Reflexion zielführender Aufgaben und Methoden
103
6.7.1 Katathymes
Bilderleben
104
6.7.2 Assoziative Mal- und Tontherapie
111
6.7.3 Phantasiebegleiter
115
6.7.4 Selbstdarstellung
119
7 Zusammenfassung
und
Ausblick
125
8 Literaturverzeichnis
131
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
141
Anhangsverzeichnis 142

4
1
Einleitung
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Frage, welche kunsttherapeutischen Maßnah-
men zur Intervention der psychosomatischen Erkrankung Anorexia nervosa in Betracht
gezogen werden können.
Mit dem Begriff Anorexia nervosa (im Folgenden AN abgekürzt) bezeichnet man eine
Form der Essstörung neben Bulimia nervosa und Adipositas, die sehr weit verbreitet ist
1
.
Sie ist u. a. gekennzeichnet durch ein starkes Untergewicht, das durch eine Gewichtsab-
nahme oder das Ausbleiben der erwartbaren Gewichtszunahme in der Pubertät entstanden
ist
2
. Trotz des offensichtlichen Untergewichts der betroffenen Mädchen und Frauen
3
be-
steht eine starke Angst davor, zu dick zu werden. Da der gesamte Körper oder einzelne
Körperteile als zu dick erlebt werden, wird aus Angst vor einer Gewichtszunahme die Nah-
rungsaufnahme trotz des bestehenden Untergewichts weiter eingeschränkt.
Zentrale Aspekte im Zusammenhang mit der Störung AN sind Selbstbewusstsein, Kontrol-
le und Gefühlswahrnehmung. Diese Arbeit stellt die Body-Image-Störung als Merkmal der
AN ins Zentrum, die u. a. Bruch (1973) als die wichtigste Ursache der Entstehung von AN
betrachtete
4
. Demzufolge ist nach Bruch (1991) die ,,realistische Vorstellung vom eigenen
Körper eine Vorbedingung zur Genesung"
5
.
Der deutsche Begriff Körpererfahrung und der englische Begriff Body-Image enthalten
sowohl die perzeptiv-kognitive Komponente als auch die emotional-affektive Komponen-
te
6
, also Körperschema und Körperbild. Dementsprechend wird in der deutschen Literatur
auch zwischen Körperschema- und Körperbildstörungen differenziert, während in der eng-
lischen Literatur der Oberbegriff ,,Body-Image-Disturbance"
7
verwendet wird. Da die Dip-
lomarbeit auf Störungen beider Komponenten eingeht, wird der Begriff Body-Image-
Störung in der vorliegenden Arbeit als Oberbegriff verwendet.
1
vgl. Vocks & Legenbauer 2005, 3
2
vgl. Pudel & Westenhöfer 2003, 217
3
Aufgrund der Prävalenz von 95% Frauen der Erkrankten (vgl. Franke 2004, 8) wird in der Diplomarbeit
wie schon im Titel der Arbeit die feminine Form verwendet.
4
vgl. Böse 2002, 1
5
Bruch 1991, 118
6
vgl. Böse 2002, 4
7
Garfinkel & Garner 1976, 329-336

Einleitung
5
Weitere Körperschemastörungen wie z. B. Fingeragnosie und Dysmorphophobie werden in
dieser Arbeit nicht berücksichtigt, da sie nicht im Zusammenhang mit der AN stehen.
Es gibt verschiedene Ansätze zur Erklärung der AN, etwa familien- und systemtheoreti-
sche Ansätze, feministische Ansätze etc.
Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Objektbeziehungstheorie, eine Richtung
innerhalb des psychoanalytischen Erklärungsansatzes. Der Ansatz wird hier bevorzugt, da
das Verhalten des Menschen vollständig aus den sozialen Zusammenhängen ­ und zwar
schon von Kind an ­ erklärt wird. Der Mensch wird von Beginn an als soziales Wesen auf-
gefasst, welches mit den Eltern kommuniziert und Nähe und Geborgenheit sucht. Während
nach Freuds Libidotheorie Triebe die Objektbeziehungen schaffen, qualifiziert in der Ob-
jektbeziehungstheorie die Beziehung selbst erst den Trieb und bestimmt wie die Objektbil-
der, d. h. z. B. die Repräsentationen der Bindungsfiguren aussehen
8
.
Andere Betrachtungsweisen und Erklärungsversuche der AN sind auch möglich, z. B. neu-
ropsychologische oder genetische, werden in der Arbeit allerdings nicht erwähnt.
Als Grundlage für den weiteren Verlauf wird dargestellt, dass aus psychoanalytischer Sicht
die Entstehung der Body-Image-Störung bei anorektischen Patientinnen mit frühen Erfah-
rungen in Objektbeziehungen, insbesondere der Mutter-Kind-Beziehung, erklärt werden
kann.
Die Bindungspersonen hinterlassen in der inneren Welt eines jeden Menschen bewusste,
vorbewusste und unbewusste Erinnerungsspuren, die zusammengefasst als ,,innere Objek-
te"
9
bezeichnet werden. Da in der Diplomarbeit, mit der Objektbeziehungstheorie die Be-
zugsperson selbst und die inneren Objekte in den Vordergrund der Betrachtung gestellt
werden und weniger die Modalitäten der Triebabfuhr, wird Freuds Triebtheorie als bekannt
vorausgesetzt und hier nicht ausgeführt.
Für die Erklärung der Body-Image-Störung ist Hirschs (1989) Ansatz zentral, der die Ent-
stehung der Body-Image-Störung mit der pathologischen Bindung an und Ablösung von
der Mutter als frühste Objektbeziehung begründet. Im Rahmen der Erklärung der AN mit
der Objektbeziehungstheorie untersuchte er die Objektverwendung von Nahrung und Kör-
per bei anorektischen Patientinnen, wobei er Objekt definiert als Ersatz bzw. ,,Symbol für
8
vgl. Hall & Lindzey 1978, 87
9
König 1990, 36

Einleitung
6
gute und böse mütterliche Teilobjekte"
10
. Hirsch (1989) behauptet, dass bei der AN der
Körper als bedrohliches Objekt erlebt wird, das in der Adoleszenz zu dick, zu weiblich und
zu muttergleich werde
11
.
AN kann demzufolge den Versuch darstellen, einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden,
dass einerseits die symbiotische Nähe zur Mutter gefährlich ist, andererseits eine Loslö-
sung aber ebenso gefürchtet wird, dass folglich sowohl der Wunsch nach einer Verschmel-
zung als auch Angst davor besteht. Anorektische Patientinnen versuchen stellvertretend
durch die scheinbare Beherrschung des Körpers die Anforderungen der Adoleszenz, sich in
eine sexuelle und soziale Identität hinein zu entwickeln, zu bewältigen
12
. Dieser Ansatz ist
in der Objektbeziehungstheorie sehr verbreitet, dennoch muss er in einigen Punkten prob-
lematisiert werden (Kapitel 5).
Die Kunsttherapie wird hier als Interventionsform vorgestellt, da sie ermöglicht, die der
Krankheit zugrunde liegenden Konflikte als denkbare Ursache in besonderer Form auszu-
drücken.
Da die Symptomatik der AN aus objektbeziehungstheoretischer Sicht mehr als nur die
Nahrungsverweigerung beinhaltet und einen Sinn erfüllt, soll seitens der Therapeutin
13
und
der Patientin zunächst ein vertieftes Symptomverständnis erreicht werden, um die Body-
Image-Störung verbessern bzw. heilen zu können.
So meint Dannecker (2006), dass Bilder vor dem Hintergrund der Objektbeziehungstheorie
als künstlerisch symbolische Prozesse verstanden werden können
14
. Es kann eine deutliche
Parallele zwischen dem Kunsttherapieprozess und dem Prozess der frühen Mutter-Kind-
Bindung gezogen werden. Kunst und Objektbeziehungen weisen Dannecker (2006) zufol-
ge gemeinsame Strukturen auf.
Infolgedessen stellt die vorliegende Arbeit schwerpunktmäßig die Hypothese auf, dass sich
ausgewählte kunsttherapeutische Interventionen eignen, um frühkindliche pathologische
Erlebnisse aufzudecken, auszudrücken und als korrigierende Erfahrung zu bewältigen. Die
10
Hirsch 1989, 221
11
vgl. ebd.
12
vgl. Warlimont 1999, 58
13
Da in der Therapie mit essgestörten Patientinnen mit Body-Image-Störung weibliche Therapeutinnen
bevorzugt werden (vgl. Vocks & Legenbauer 2005, 46), wird in der Arbeit immer die feminine Form
Therapeutin verwendet. Der Inhalt lässt sich aber auch auf männliche Therapeuten übertragen.
14
vgl. Dannecker 2006, 41f

Einleitung
7
Arbeit versucht darzustellen, dass in der Therapeutin-Patientin-Beziehung als Prototyp der
frühen Mutter-Kind-Bindung der Bindungs- und Loslösungsprozess an die und von der
Therapeutin in einem gesunden Verlauf wiederholt werden kann, so dass eine Verbesse-
rung der Body-Image-Störung AN folgt. In diesem Zusammenhang wird u. a. behandelt,
wie gezielt Bedingungen geschaffen werden können, um den Prozess der Mutterübertra-
gung auf die Kunsttherapeutin zu fördern.
Aufgrund der Parallelen zwischen Phänomenen in der Mutter-Kind-Beziehung und der
innerhalb der Kunst erschaffenen ´Wirklichkeit` erörtert die Arbeit (Kapitel 6) Schottenlo-
hers (1989) Fragen:
,,Kann der bildnerische Prozeß dazu beitragen, Symptome in kreative Symbol-
bildungen umzuwandeln? Setzt er an der Stelle des Symptoms eine andere ge-
richtete Aufmerksamkeit, die in ihrer Wirkung das Symptom ablösen kann?"
15
Um das Ziel dieser Arbeit, eine Diskussion und Bewertung objekttheoretischer und kunst-
therapeutischer Behandlungsmethoden für AN, zu erreichen, werden zunächst ausgewählte
Studien und Theorien aus dem allgemein- und tiefenpsychologischen Bereich aufgeführt
und auf diesen aufbauend neuere Ansätze zur Körperbildarbeit in der Kunsttherapie mit
anorektischen Patientinnen vorgestellt.
Im 3. Kapitel wird das Krankheitsbild AN erläutert und auf Epidemiologie, Symptomatik,
Ätiolologie und Persönlichkeitsmerkmale eingegangen.
In Kapitel 4 werden die Begriffe Körperschema und Körperbild definiert. Um eine Vorstel-
lung über die Entwicklung eines gesunden Körperschemas und Körperbildes zu erhalten,
wird diese nach einem Exkurs zur Bindungsdynamik im Familiensystem im Zusammen-
hang mit Lernmodellen, mit der Objektbeziehungstheorie und mit Winnicotts (1941, 1973,
1974, 1995) Phänomen des Übergangsobjektes beschrieben
16
.
Kapitel 4 stellt somit die Grundlage für das Verständnis der AN als Body-Image-Störung
dar, die in Kapitel 5 beschrieben wird. Das Augenmerk liegt hier auf der Entstehung des
pathologischen Körperschemas und Körperbildes bei AN. Dieses wird im Zusammenhang
15
vgl. Schottenloher 1989, 35
16
vgl. Winnicott 1995, 10ff. Sein erster Bericht über Übergangsobjekte erschien 1941, in dem er bestimmte
Verhaltensmuster bei Säuglingen gegenüber dem Untersuchungs-Spatel des Arztes während einer Unter-
suchung mit der Mutter beschrieb (vgl. Winnicott 1941, 229ff). 1973 (englische Ausgabe 1971) gab es
die erste deutsche Ausgabe, in der Übergangsobjekte ­ und phänomene beschrieben wurden. 1965 sprach
er ausschließlich über ,,Phantasie und Vorstellungskraft" (Winnicott 1965, 16ff). In weitern Büchern
nach 1973 griff er das Phänomen immer wieder auf, wie in Winnicott (1974, 1995).

Einleitung
8
mit Lernmodellen, Objektbeziehungstheorie und Übergangsobjekten erklärt. Um auch ei-
nen Eindruck von den gegenwärtigen (gestörten) Objektbeziehungen der Patientinnen zu
vermitteln, geht die Arbeit weiter auf die Eltern anorektischer Patientinnen ein.
Nach der Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbegriff AN und der dahinter stehenden
Konflikte wird, da die Verbindung zwischen Kunsttherapeutin und frühster Objektbezie-
hung der Patientin verdeutlicht werden soll, zu Beginn des Kapitels 6 die Verknüpfung von
Objektbeziehungstheorie und Kunsttherapie behandelt. Dann führt die Arbeit die in diesem
Kontext relevante Übertragungsrolle der Therapeutin auf.
Um einen Gesamteindruck über die kunsttherapeutischen Möglichkeiten zu erhalten, folgt
eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Methoden, Aufgaben und Themen für ano-
rektische Patientinnen mit Body-Image-Störung, die in einem Themenkatalog kurz zu-
sammengefasst werden.
Aufbauend auf den Ergebnissen der vorangegangenen Kapitel behandelt die Arbeit dann
die Planung und Durchführung kunsttherapeutischer Interventionen bei AN. Hierbei wer-
den von der Verfasserin therapeutische Zielsetzungen formuliert, die aus objektbezie-
hungstheoretischer Sicht zur Verbesserung bzw. Heilung der Body-Image-Störung bei AN
führen können.
Die Therapie wird in Einstiegs-, Verlaufs- und Abschlussphase unterteilt. Die Ziele der
jeweiligen Phasen bauen aufeinander auf und müssen in der Reihenfolge erreicht werden.
Im Anschluss führt die Arbeit kunsttherapeutische Maßnahmen und ihre Eignung für die
Therapie bei AN auf. Als zielführende Interventionen in der Verlaufsphase werden das
Katathyme Bilderleben, die assoziative Mal- und Tontherapie und das Thema Selbstdar-
stellung konkretisiert und im Hinblick auf die aufgestellten Therapieziele reflektiert.
Aufbauend auf den objektbeziehungstheoretischen Grundlagen entsteht die, den tiefenpsy-
chologischen Hintergrund der AN berücksichtigende und von der Verfasserin konzipierte,
Methode ´Phantasiebegleiter` als ein mögliches Vorgehen zum Erreichen der Therapieziele
der Verlaufsphase.
Als Beispiel werden abschließend der Psychoanalytiker Hirsch und der Psychotherapeut
Grandin zu ihren Erfahrungen in einem Interview befragt.

9
2
Praxisergebnisse und Forschungsstand
Diese Diplomarbeit umfasst den allgemeinpsychologischen, den tiefenpsychologischen
und den kunsttherapeutischen Forschungs- und Praxisbereich.
Korrelative Studien aus dem allgemeinpsychologischen Bereich belegen den Zusammen-
hang zwischen AN und Körperbild- und Körperschemastörung, z. B. die Studienfolge von
Slade und Russell (1973). Sie wiesen nach, dass anorektische Personen ihre Körpermaße
im Vergleich zu Kontrollpersonen signifikant überschätzen. Die Körperhöhe wird dagegen
relativ exakt eingeschätzt
17
. Die Fehlwahrnehmung des Körpers bei AN-Patientinnen ist
abhängig von Gewicht und Erkrankungsstadium, folglich nimmt der Grad der Überschät-
zung mit zunehmendem Gewicht ab
18
. Sie wendeten eine abgewandelte Form der Methode
,,body perception accuracy" (BPA) an, die von Reitmann und Cleveland (1964) für die
Untersuchung von Schizophrenen entwickelt wurde und der die Formel: (wahrgenommene
Größe/ tatsächliche Größe) x 100, zugrunde liegt
19
. Folgestudien wurden u. a. von Crisp
und Kalucy (1974), Freeman et al. (1985) durchgeführt.
Bei einer Studie von Fernàndez und Vandereycken (1994) kam es zur Unterschätzung der
Körpermaße anorektischer Personen
20
.
Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts finden sich eine Vielzahl an Studien zur AN
und Körpererleben, z. B. Dietrich (2001), Eltze (1996), Groten (1996) und Warlimont
(1999). Weitere Untersuchungen wie z. B. Enkelmann (2003), Fernàndez-Aranda (1996)
behandeln eher den Einfluss therapeutischer Interventionen auf das Körpererleben.
Belege für die Grundannahmen der Objektbeziehungstheorie finden sich bei Bruch (1991),
die eine unangemessene Mutter-Kind-Interaktion als Ursprung der Körperbildstörung
sieht
21
.
Auch Hirsch (1989) zieht eine frühe, gestörte Objektbeziehung zur Erklärung der AN in
Betracht. Er untersuchte 85 weibliche anorektische Patientinnen. Bei 82% fand er eindeu-
17
vgl. Slade & Russell 1973, 190ff
18
vgl. Meermann 1991, S. 73f ; Böse 2002, 3
19
vgl. Hirsch 1989, 174
20
vgl. Fernàndez & Vandereycken 1994, 135ff
21
vgl. Bruch 1991, 89-113

Praxisergebnisse und Forschungsstand
10
tige Hinweise auf eine frühe Störung der Primärbeziehung, die sich u. a. in Form von offe-
ner Ablehnung der Eltern zeigte
22
.
Im Rahmen der Follow-up-Studie von Selvini-Palazzoli et al. (1999) werden anhand von
52 Fällen in einem Zeitraum von acht Jahren zwischen 1988 und 1996 ausführlich die pa-
thologischen Familienstrukturen mithilfe von Items wie Persönlichkeit der Eltern, der el-
terlichen Herkunftsfamilien, Verhältnis der Patientinnen zu ihren Eltern etc. belegt
23
.
Im Zusammenhang mit der Body-Image-Störung und frühen pathologischen Objektbezie-
hungen befasst sich die vorliegende Arbeit neben Hirsch (1989) näher mit Selvini Palazzoli
(1982) und von Braun (1990).
Aufbauend auf den Kenntnissen aus dem allgemein- und tiefenpsychologischen Bereich,
liegt in der Präzisierung dieser Arbeit der Schwerpunkt auf dem kunsttherapeutischen Be-
reich. Es gibt nur eine geringe Anzahl an literarischen Arbeiten, die die Körperbildarbeit
mit anorektischen Patientinnen, mit Berücksichtigung früher gestörter Objektbeziehungen
zur Verbesserung der Body-Image-Störung, in der Kunsttherapie behandeln.
Ausgehend von der frühen Entwicklung der Störung und ihrer Manifestation auf der per-
zeptiv-kognitiven und psychischen Ebene wurde implizit angenommen, dass die beschrie-
bene Störung schwer therapeutisch zu beeinflussen sei. Das hatte zur Folge, dass sich die
Forschung bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts eher auf die Erfassung der Körperbild- und
Körperschemastörung konzentrierte und weniger die Behandlung berücksichtigte.
In der Literatur Anfang des 21. Jahrhunderts gibt es einige kognitiv-verhaltens-
therapeutische Leitfäden wie z. B. Meermann (1982, 1991) und Meermann und Vanderey-
cken (1988, 2003). Diese legen den Schwerpunkt auf die Symptome wie Hungern und Ab-
führmittel im Rahmen einer Verhaltenstherapie, da diese lebensbedrohlich sein können.
Die kognitive Verhaltenstherapie beinhaltet auch Körperbildarbeit wie von Vocks und Le-
genbauer (2005) beschrieben.
Weitere Interventionen zur Verbesserung des Körpererlebens finden sich bei Böse (2002)
im Rahmen einer Body-Image-Therapie.
22
vgl. Hirsch 1989, 178
23
vgl. Selvini-Palazzoli et al. 1999, 173ff

Praxisergebnisse und Forschungsstand
11
Besonders wichtig für die Kunsttherapie ist, dass es zwar einige Aufsätze über die Körper-
bildarbeit mit anorektischen Patientinnen gibt, die Verfasser beziehen sich aber zum Teil
nur wenig aufeinander, was eine zusammenfassende Darstellung der Literatur erschwert.
Die im Folgenden aufgeführten Bücher und Aufsätze bieten einen Überblick über die un-
terschiedlichen Schwerpunkte in der kunsttherapeutischen Arbeit mit anorketischen Patien-
tinnen.
Zunächst werden Autoren genannt, die sich allgemein mit dem Thema Essstörungen und
Kunsttherapie befassen. Hierzu zählen u. a. von der Heide (1997), Gmerek (1999), Schors
(2005) und Mayer-Gruhl (2005). Haeseler (2003) schildert die Langzeitarbeit mit einer
essgestörten Künstlerin in Einzelsitzungen. Schmidt (2004) behandelt Ziele und Methoden
der integrativen Kunsttherapie im Rahmen einer psychosomatischen, stationären Behand-
lung.
Als nächstes folgen Autoren, die Körperbildarbeit mit Anorektikerinnen durchführen wie
z. B. die systemischen Kunsttherapeuten Reinecke (2002), Vogt-Hillmann und Burr
(2002). Die zwei zuletzt genannten bearbeiten diese Thematik im Zusammenhang mit kör-
perbezogener Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen.
Schottenloher (1989) und Madelung (1994) integrieren Körperarbeit und Gestaltungsthera-
pie in den therapeutischen Prozess und nehmen zusätzlich Aspekte aus der Bioenergetik
und Biodynamik auf. Madelung (1994) verwendet hierbei einen systemisch-gestaltungs-
therapeutischen Ansatz.
Titze (2006) äußerte sich bei der 56. Lindauer Psychotherapiewoche in einem Vortrag u. a.
zu der Körperbildarbeit. Müller (2003) setzt sich in einem Aufsatz mit den neurologischen
Grundlagen des Körperbildes und die Konsequenzen für die Rolle der Kunsttherapeutin im
therapeutischen Prozess auseinander.
Hartwig (2003) befasst sich mit der Körperbildarbeit bei anorektischen Männern.
Ein ausführliches Kunsttherapieprogramm zur Behandlung anorektischer Patientinnen mit
Vorschlägen zu Themen und Aktivitäten u. a. in Bezug auf das Körperbild wird bei Ais-
sen-Crewett (2002) vorgestellt.
Zuletzt werden Autoren erwähnt, die bei (körperbezogenen) Aufgaben in ihrer kunstthera-
peutischen Arbeit den objektbeziehungstheoretischen Erkrankungshintergrund berücksich-

Praxisergebnisse und Forschungsstand
12
tigen. Hierzu zählen z. B. Schottenloher (1989, 1994), Schors und Mihajlovic (1994), Gru-
bel (2003) und Herzog, Munz und Kächele (1996, 2004).
Die assoziative Mal- und Tontherapie mit anorektischen Patientinnen wird von Feiereis
(1989) und Feiereis und Sudau (1996) beschrieben.
Schilderungen des Katathymen Bilderlebens finden sich bei Kleesmann und Kleesmann
(1977), Leuner (1985), Leuner und Fikentscher (1993), Wilke (1990; 1993; 1996), Lipp-
mann (1990), Kleesmann (1990), König (1990), Sachsse (1990), Schuster (2003), Seithe-
Blümer (2005), Schnell (2005), Bahrke (2005) und Kottje-Birnbacher et al. (2005).
Ansonsten äußern sich Kutter, Milch, Trautmann-Voigt und Voigt (2007) im Zusammen-
hang mit einer methodenintegrativen Therapie in der Psychotraumatologie zu Körper-
Phänomenen und ihrer Bedeutung für psychotherapeutische Integrationsbemühungen. Aus
diesen Themen werden Konsequenzen für die Körperarbeit mit essgestörten Patientinnen
gezogen. Zudem kann das kunsttherapeutische Interventionsmodell von Reichelt (2006,
2008), das er ursprünglich für traumatisierte Kinder entwickelte, in abgewandelter Form
Anwendung in der Therapie mit anorektischen Patientinnen finden.
Mit Ausnahme der ersten Angabe wurden die Autoren alle in dieser Diplomarbeit erwähnt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass neben der Body-Image-Therapie verschiedene
Anleitungen zur Behandlung der Body-Image-Störung AN z. B. in der kognitiven Verhal-
tenstherapie bestehen, kunsttherapeutische Interventionsmöglichkeiten werden aber nur in
geringem Maße berücksichtigt.

13
3
Definition des Krankheitsbegriffs Anorexia nervosa
Es gibt keine einheitliche Definition des Krankheitsbegriffs AN. Im Folgenden wird ein
Überblick über Epidemiologie, Symptomatik, Klassifikation, Komorbidität, ätiologische
Theorien und häufig auftretende Persönlichkeitsmerkmale anorektischer Patientinnen erar-
beitet.
3.1
Epidemiologie
Das Risiko, an AN zu erkranken, ist in der Bevölkerung nicht gleich verteilt. Essstörungen
treten bevorzugt in bestimmten Gruppen auf. Die Prävalenz wird durch die Variablen Ge-
schlecht, Alter und soziale Schicht bestimmt.
Laut des wissenschaftlichen Kuratoriums der Deutschen Hauptstelle für Suchtanfragen
e. V. liegt die Prävalenz der an AN Erkrankten bei 0,5 bis 1 % der Mädchen und Frauen
24
,
d. h., dass fast jede 100. Frau betroffen ist
25
. Ca. 95% aller Erkrankten sind weiblichen Ge-
schlechts im Alter zwischen 12 und 23 Jahren. Die Ersterkrankungsrate beginnt in der Pu-
bertät bzw. in der frühen und mittleren Adoleszenz
26
. Der Erkrankungsgipfel liegt bei dem
14. und dem 18. Lebensjahr. AN tritt bevorzugt ,,in den hochindustrialisierten Ländern
(USA, Kanada, Europa, Japan, Australien)"
27
, vor allem in der höheren Mittelschicht, auf.
Das Auftreten der AN, in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter und sozialer Schicht, ver-
weist auf eine Beteiligung psychischer und sozialer Faktoren an der Krankheitsentstehung.
Auf die für den Kontext der Arbeit relevanten psychischen Faktoren wird in den Kapiteln
3.5 und 5.4 näher eingegangen.
3.2
Symptomatik
Das griechische Wort Anorexie bedeutet wörtlich ,,Appetitlosigkeit, fehlendes Verlan-
gen"
28
. In der wissenschaftlichen Literatur jedoch, besteht Einigkeit darüber, dass dies bei
24
Franke
2004,
8
25
vgl. Remschmidt 2005, 272
26
vgl. Absenger 2005, 99
27
ebd.
28
Das tägliche Fremdwort 1990. Anorexie

Definition des Krankheitsbegriffs Anorexia nervosa
14
der Anorexie nicht der Fall ist. AN ist gekennzeichnet durch ein extrem gezügeltes Essver-
halten, d. h. Anorektikerinnen weigern sich, eine ausreichende Nahrungsmenge zu sich zu
nehmen. Mahlzeiten werden ganz ausgelassen oder auf geringe Mengen und sehr kalorien-
arme Lebensmittel beschränkt. Die Betroffenen leiden nicht unter einem Appetitmangel,
vielmehr versuchen sie ihr Hungergefühl zu unterdrücken.
Neben der Einschränkung der Nahrungsaufnahme, versuchen viele Anorektikerinnen ihr
Gewicht zusätzlich durch selbst induziertes Erbrechen oder durch die Einnahme von Appe-
titzüglern (Antiadiposita), Abführmitteln (Laxantien) oder Entwässerungstabletten (Diure-
tika) zu reduzieren
29
.
Kennzeichnend für AN sind auch ein gesteigerter Bewegungsdrang und eine erhöhte Akti-
vität, die bis zur ,,Hyperaktivität"
30
reichen kann.
Folge der verweigerten Nahrungszufuhr ist ein starker Gewichtsverlust oder der ausblei-
bende Gewichtsanstieg in der Wachstumsphase
31
. Das Gewichtsspektrum reicht von ,,ex-
tremer Kachexie [also eine krankhafte, sehr starke Abmagerung, Anm. d. Verf.] bis hin
zum Normgewicht"
32
. Verbunden mit dem Wachstumsstopp sind auch die ausbleibende
Brustentwicklung und die fehlende Bildung einer weiblichen Figur. Das abgemagerte äu-
ßere Erscheinungsbild ist ein deutliches, erkennbares Zeichen der AN.
Trotz des Untergewichts empfinden Anorektikerinnen ihren Körper als zu dick. Es besteht
eine extreme Angst zuzunehmen, wodurch das ständige Hungern beibehalten und die
Krankheit aufrechterhalten wird. Die Angst der Gewichtszunahme ist im Erleben und Ver-
halten der Anorektikerinnen so zentral, dass die AN verschiedentlich als ,,Normalgewichts-
Phobie"
33
bezeichnet wurde. Aufgrund der Empfindung, zu dick zu sein, besteht häufig
kein Krankheitsbewusstsein und die Störung wird verleugnet.
Die Störung des Körperschemas und -bildes wird in Kapitel 5 näher beschrieben.
Durch die Unterernährung kommt es zu einer Reihe von somatischen Folgeerscheinungen
wie dem Absinken der Körpertemperatur (Hypothermie), des Blutdrucks (Hypotonie), der
Verlangsamung des Pulses (Bradykardie) und der Bildung von Flaumbehaarung (Lanu-
29
vgl. Pudel & Westenhöfer 2003, 217
30
Meermann 1982, 5
31
vgl. Pudel & Westenhöfer 2003, 217
32
Hirsch 1989, 171
33
Crisp 1984, zit. n. Pudel & Westenhöfer 2003, 218; Vadereycken & Meermann 2003, 20

Definition des Krankheitsbegriffs Anorexia nervosa
15
go)
34
. Auch ist das Ausbleiben der Monatsblutung (Amenorrhoe) bzw. ,,das Ausbleiben der
Menarche [bei Mädchen in der Pubertät, Anm. d. Verf.] ein häufiges [...] Symptom"
35
.
3.3
Klassifikation
Im Folgenden sind die Diagnosekriterien des Diagnostischen und statistischen Manuals
psychischer Störungen (DSM) und der Internationalen Klassifikation psychischer Störun-
gen (ICD 10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wörtlich wiedergegeben.
Die klinisch diagnostischen Leitlinien (ICD 10) sind zur Diagnosestellung für eine ambu-
lante bzw. stationäre Psychotherapie für alle Berufsgruppen in der kassenärztlichen Ver-
sorgung maßgeblich. Die diagnostischen Kriterien der DSM werden hier aufgeführt, da sie
ausführlicher sind.
3.3.1 Diagnostische Kriterien
Personen, bei denen die Diagnose AN gestellt wird, weisen nach DSM IV die in Tabelle 1
aufgezeigten Diagnosekriterien auf:
34
vgl. Pudel & Westenhöfer 2003, 219
35
Meerman 1982, 4

Definition des Krankheitsbegriffs Anorexia nervosa
16
Tab. 1
DSM-IV (307.1)
(Quelle: Jacobi, Paul & Thiel 2004, 4)
A. Weigerung, das Minimum des für Alter und Körpergröße normalen Körperge-
wichts zu halten (z. B. der Gewichtsverlust führt dauerhaft zu einem Körperge-
wicht von weniger als 85% des erwarteten Gewichts; oder das Ausbleiben einer
während der Wachstumsperiode zu erwartenden Gewichtszunahme führt zu einem
Körpergewicht von weniger als 85% des zu erwartenden Gewichts)
B. Ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme oder davor, dick zu werden,
trotz bestehenden Untergewichts.
C. Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur oder des Körpergewichts oder
der Figur auf die Selbstbewertung, oder Leugnen des Schweregrads des gegen-
wärtigen geringen Körpergewichts.
D. Bei postmenarchalen Frauen das Vorliegen einer Amenorrhoe, d. h. das Aus-
bleiben von mindestens drei aufeinander folgenden Menstruationszyklen
[Es werden zwei Typen der AN differenziert, Anm. d. Verf.]:
Restriktiver Typus
Während der aktuellen Episode der Anorexia nervosa hat die Person keine regelmä-
ßigen ´Fressanfälle` gehabt oder hat kein ´Purging`-Verhalten (d. h. selbstinduziertes
Erbrechen oder Missbrauch von Laxantien, Diuretika oder Klistieren) gezeigt.
´Binge-Eating/ Purging`-Typus
Während der aktuellen Episode der Anorexia nervosa hat die Person regelmäßig
´Fressanfälle` gehabt oder hat ´Purging`-Verhalten (d. h. selbstinduziertes Erbrechen
oder Missbrauch von Laxantien, Diurektika oder Klistieren) gezeigt.
3.3.2 Diagnostische Leitlinien
Die WHO differenziert in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen unter
der Rubrik F 5 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren, wozu
auch der Bereich Essstörungen gehört.
Für die Diagnosestellung der AN (F50.0) gelten die in Tabelle 2 genannten diagnostischen
Leitlinien:

Definition des Krankheitsbegriffs Anorexia nervosa
17
Tab. 2
ICD 10 (F50.0)
(Quelle: Dilling, Mombour & Schmidt 2005, 199ff)
1. Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15% unter dem erwarteten [entweder
durch Gewichtsverlust oder nie erreichtes Gewicht] oder Qutelets-Index36 von
17,5 oder weniger. Bei Patienten in der Vorpubertät kann die erwartete Gewichts-
zunahme während der Wachstumsperiode ausbleiben.
2. Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch:
a) Vermeidung von hochkalorischen Speisen; sowie eine oder mehrere der
folgenden Verhaltensweisen:
b) Selbst induziertes Erbrechen
c) Selbst induziertes Abführen
d) Übertriebene körperliche Aktivitäten
e) Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika.
3. Körperschema-Störung in Form einer spezifischen psychischen Störung: die
Angst, zu dick zu werden, besteht als eine tief verwurzelte überwertige Idee; die
Betroffenen legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst fest.
4. Eine endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse. Sie
manifestiert sich bei Frauen als Amenorrhoe [...]. Erhöhte Wachstumshormon-
und Kortisonspiegel, Änderungen des peripheren Metabolismus von Schilddrüsen-
hormonen und Störungen der Insulinsekretion können gleichfalls vorliegen.
5. Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Ent-
wicklungsschritte verzögert oder gehemmt [Wachstumsstopp; fehlende Brustent-
wicklung und primäre Amenorrhoe beim Mädchen]. Nach Remission wird die Pu-
bertätsentwicklung häufig normal abgeschlossen, die Menarche tritt aber verspätet
ein.
[Es werden fünf Typen der AN differenziert, Anm. d. Verf.]:
6. F50.00: Anorexie ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme [Erbrechen, Ab-
führen etc.]. Dazugehörige Begriffe:
a) asketische Form der Anorexie
b) passive Form der Anorexie
c) restriktive Form der Anorexie
Anorexie mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme
[Erbrechen, Abführen etc. u. U. in Verbindung mit Heisshungerattacken].
Dazugehörige Begriffe:
a) aktive Form der Anorexie
b) bulemische Form der Anorexie
36
Quetelets-Index= Body Mass Index (BMI): W/H². (W= Körpergewicht in Kilogramm, H= Körpergröße
in Metern. Gültig ab dem 16. Lebensjahr)

Definition des Krankheitsbegriffs Anorexia nervosa
18
3.4
Komorbidität
Im Zusammenhang mit der psychosomatischen Erkrankung AN können komorbide Stö-
rungen auftreten.
Zu der psychiatrischen Komorbidität zählen überwiegend depressive Symptome, Angststö-
rungen und Zwänge
37
.
Depressive Störungen gelten als charakteristische Begleitsymptome der AN. Demzufolge
verbessern sich die depressiven Verstimmungen in den meisten Fällen mit der Gewichts-
zunahme.
Angst spielt im Leben vieler anorektischer Patientinnen eine wesentliche Rolle. Es kann
Angst im Zusammenhang mit der Nahrungszunahme in der Öffentlichkeit auftreten
38
.
Auch kann Angst als Komponente im Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach Kontrolle
der unmittelbaren Umgebung vorkommen. Aus dem Bereich der Angststörungen treten
überwiegend soziale Phobien als komorbide Symptomatik bei AN auf
39
.
Häufig werden bei anorektischen Essstörungen auch Zwangsrituale beobachtet, weshalb
die psychosomatische Erkrankung auch zu den Zwangsspektrumsstörungen gezählt wird.
Die zwanghaften Persönlichkeitszüge können mit und ohne Bezug zur Nahrung und Nah-
rungsaufnahme stehen
40
, weshalb sie sich mit der Verbesserung oder Heilung der Essstö-
rungssymptomatik auch nicht zwingend verlieren.
3.5
Ätiologie
In der Literatur wird oft von der ,,Ätiologie der Essstörungen"
41
gesprochen, d. h. die Ätio-
logie der AN und der Bulimia nervosa werden häufig gemeinsam behandelt.
In folgendem Textabschnitt wird sowohl der allgemeine Begriff Essstörungen als auch der
spezifischen Begriff AN aufgrund des Kontextes dieser Arbeit verwendet.
37
vgl. Remschmidt 2005, 274
38
vgl. Vocks & Legenbauer 2005, 10
39
vgl. Remschmidt 2005, 274
40
vgl. ebd., 275f
41
ebd., 273; Hirsch 1989, 177; Feiereis 1989, 87

Definition des Krankheitsbegriffs Anorexia nervosa
19
Die Ätiologie der Essstörungen ist multifaktoriell. Die genetischen Veranlagungen werden
z. B. als ätiologisch bedeutsamer Faktor für Essstörungen angesehen.
In den Familien anorektischer Patientinnen besteht eine erhöhte Prävalenz depressiver Stö-
rungen sowie von Angst- und Zwangserkrankungen. Auch die Prävalenz von Essstörungen
und atypischem Essverhalten bei Familienmitgliedern essgestörter Patientinnen ist im Ver-
gleich zu gesunden Personen um das sieben- bis zwölffache erhöht
42
.
Neben der Bedeutsamkeit genetischer Faktoren besteht eine Relevanz gesellschaftlicher
Faktoren und soziokultureller Einflüsse. Für ihre Relevanz sprechen die hohe Prävalenz
der Essstörungen in den westlichen Kulturkreisen, das erhöhte Auftreten einer Essstörung
bei Einwanderern in diese Kulturkreise gegenüber den Einwohnern ihrer Heimatländer
43
und die erhöhte Prävalenz in bestimmten Risikogruppen wie Fotomodellen und bei Men-
schen, die bestimmte Sportarten betreiben wie Balletttänzerinnen
44
, die sich vermehrt an
einem ausgeprägten Schlankheitsideal orientieren.
Essgestörte weisen in ihrer Vorgeschichte häufig sexuellen Missbrauch auf
45
. Etwa ein
Drittel der Patientinnen haben sexuelle Gewalt erlebt
46
. Missbrauchserfahrungen kommen
bei anorektischen Patientinnen häufiger vor als bei gesunden Personen, jedoch nicht häufi-
ger als bei anderen psychiatrisch erkrankten Frauen. Demnach gilt sexueller Missbrauch
als ein unspezifischer Risikofaktor, durch den allerdings der Schweregrad der Erkrankung
erhöht wird
47
.
Auch der familiäre Einfluss kann als ein wichtiger Faktor in der Ätiologie der Essstörun-
gen gesehen werden. Zu den familiären Einflüssen zählen zum einen ,,bestimmte Aspekte
der aktuellen Familiendynamik"
48
, wie z. B. die gegenwärtige, gestörte familiäre Interakti-
on und zum anderen frühe Störungen der Primärbeziehung zwischen Mutter und Kind, auf
die in Kapitel 5.4 näher eingegangen wird.
42
vgl. Remschmidt 2005, 276
43
vgl. ebd.
44
vgl. ebd., 272
45
vgl. ebd., 276
46
vgl. Mayer-Gruhl 2005, 181
47
vgl. Remschmidt 2005, 276
48
Hirsch 1989, 177

Definition des Krankheitsbegriffs Anorexia nervosa
20
Die Verlaufsgestalt der Essstörungen muss eingebunden in die veränderte kulturelle und
gesellschaftliche Umgebung gesehen werden
49
. Auf diesen Punkt wird nicht weiter einge-
gangen, da dies den Rahmen der Arbeit sprengen würde, in der die Primärbeziehung der
anorektischen Patientinnen zu ihrer Mutter als wichtiger ätiologischer Faktor der AN in
den Vordergrund gestellt wird.
3.6
Persönlichkeitsmerkmale
Von Braun (1990), Remschmidt (2005), Selvini Palazzoli (1982), Hirsch (1989) etc. be-
schreiben auffallende Persönlichkeitszüge und häufig auftretende Verhaltensweisen ano-
rektischer Patientinnen.
Selvini Palazzoli (1982) schreibt Anorektikerinnen eine ,,besondere Willensstärke, Ener-
gie, Leistungsfähigkeit, Intelligenz, geistige Regheit und Aufnahmefähigkeit"
50
zu. Sie sind
laut Hiltman und Clauser (1961) Menschen von ,,starker, explosiver, untergründiger Vita-
lität"
51
. Anorektikerinnen wird eine ,,leidenschaftliche, wenn auch unterdrückte Liebe zum
Leben"
52
, nachgesagt.
Ähnlich wie Selvini Palazzoli (1982) zählt auch Remschmidt (2005) ,,Ehrgeiz, Fleiß, Be-
harrlichkeit und Zähigkeit, Introvertiertheit und eine gute bis überdurchschnittliche Intel-
ligenz"
53
zu den typischen Persönlichkeitsmerkmalen anorektischer Patientinnen.
Diese zeigen häufig eine hohe Ängstlichkeit
54
, bei der allerdings in Frage steht, ob diese
nur eine komorbide Störung der AN oder tatsächlich ein Persönlichkeitsmerkmal der Pati-
entin ist.
Remschmidt (2005) erwähnt das ,,ausgeprägte [...] Harmoniebedürfnis"
55
vieler anorekti-
scher Patientinnen, das auch an dem Verhältnis der Patientinnen zu ihrer Krankheit zu er-
kennen ist. Dieses ist gekennzeichnet durch eine Gleichgültigkeit der eigenen Erkrankung
gegenüber. Die Patientinnen sagen aus, dass es ihnen nie besser ging, sie klagen nicht und
49
vgl. Hirsch 1989, 177
50
Selvini Palazzoli 1982, 48, 92
51
Hiltmann & Clauser 1961, 173
52
Selvini Palazzoli 1982, 87
53
Remschmidt 2005, 273
54
vgl. ebd., 276
55
ebd.

Definition des Krankheitsbegriffs Anorexia nervosa
21
erkennen nicht, dass sie krank sind. Demzufolge wünschen sie auch keine Heilung
56
, was
als Hinweis auf den Wunsch nach Harmonie und einer heilen Welt gedeutet werden kann.
Es besteht eine ,,Unempfindlichkeit gegen Schmerzen"
57
. Selvini Palazzoli (1982) bezeich-
net die AN als einen ,,aktive [n, Anm. d. Verf.] Kampf gegen die normalen biologischen
Bedürfnisse"
58
. Die ,,Beherrschung der Triebe [und die, Anm. d. Verf.] Unterwerfung des
Körpers"
59
beschreiben in ihren Augen die AN, was nochmals die Unempfindlichkeit vie-
ler anorektischer Patientinnen gegenüber Verzicht und Schmerz betont.
,,Wenn die Anorektikerin sich gegen ihren Körper wehrt, so nicht weil sie sich
selbst ablehnt, sondern andersherum: Der schlechte Körper, der vom Selbst
ferngehalten wird, behütet die Existenz eines guten, idealisierten, gestärkten,
annehmbaren und respektierten Ichs."
60
Besonders wichtig ist, dass die AN, z. B. nach von Braun (1990), als eine ,,Form der
Selbsterhaltung"
61
gesehen werden kann. Es wird von ,,Ich-Stärke [anstelle von, Anm. d.
Verf.] Ich-Losigkeit"
62
gesprochen. Dieser Aspekt wird in Kapitel 5 noch einmal aufge-
fasst.
56
vgl. von Braun 1990, 459
57
Selvini Palzzoli 1982, 42
58
ebd.
59
ebd.
60
ebd., 116
61
von Braun 1990, 460
62
ebd.

22
4
Körpererfahrung, Körperschema und Körperbild
Im folgenden Kapitel wird zunächst die Entstehung des Körperschemas und -bildes in
Neurologie und Psychologie dargelegt (Kapitel 4.1 und 4.2). Daran anknüpfend folgen die
Definitionen der Begriffe Körpererfahrung, Körperschema und Körperbild (Kapitel 4.3).
Anschließend werden unterschiedliche Gesichtspunkte besprochen, die die Entwicklung
eines gesunden Körperschemas und -bildes fördern (Kapitel 4.4.1-4.4.4), um dann in Kapi-
tel 5 pathologische Abweichungen verstehen zu können.
4.1
Neurologie und Psychologie
Die Erforschung des Körperschemas hat ihre Ursprünge auf dem Gebiet der Neurologie
und der Neurophysiologie
63
und ­pathologie
64
.
Der Begriff ,,Schema"
65
wurde erstmals von Bonnier (1893) im Zusammenhang mit der
Körperwahrnehmung und den räumlichen Qualitäten der Körperlichkeit verwendet. Poek
(1971) zitiert Bonnier (1893, 1905), der die somatosensiblen Informationen aus Haut,
Muskeln, Gelenken etc. unter dem Begriff ,,Conästhesia"
66
zusammenfasste.
Drei Jahre später wurde das Körperschema von Pick (1908) das erste Mal als ,,Orientie-
rung am eigenen Körper"
67
beschrieben. Er vermutete, dass jedes Individuum ein optisches
Vorstellungsbild des eigenen Körpers besitzt, welches eine innere Repräsentation des eige-
nen Körpers darstellt. Hierbei nahm Pick (1908) für die verschiedenen sensorischen Quali-
täten des Körpers verschiedene Körperschemata an. Aufgrund der verschiedenen sensori-
schen Qualitäten entwickelt sich ein Raumbild des Körpers
68
.
Das Konzept des Körperschemas wurde zur Erklärung von Störungen wie z. B. des
,,Nichtwahrnehmen [s, Anm. d. Verf.] einer Halbseitenlähmung (Hemianosognosie), [...]
63
Im vorliegenden Kapitel werden häufig die Begriffe Neurophysiologie und Neurologie verwendet. Die
Neurophysiologie ist ,,eine Teilrichtung der Physiologie, die sich mit dem Aufbau und den Funktionen
des gesamten Nervensystems befasst" (Grosses Wörterbuch Psychologie 2004. Neurophysiologie) und
unter Neurologie fallen sowohl die Lehre vom Aufbau des Nervensystems, seine Funktionen als auch die
Erkrankungen (vgl. ebd. Neurologie).
64
vgl. Eltze 1996, 3
65
Bonnier 1905, zit. n. Hirsch 1989, 173
66
Poek 1971, zit. n. Eltze 1996, 3
67
Meermann 1991, 69
68
vgl. Hirsch 1989, 173

Körpererfahrung, Körperschema und Körperbild
23
[der, Anm. d. Verf.] Nichtbeachtung einer Körperseite (Neglect-Syndrome) oder [...] [der,
Anm. d. Verf.] Empfindung, eine Extremität gehöre nicht zum eigenen Körper"
69
entwickelt.
Störungen des Körperschemas stellen demzufolge eine Störung des visuellen Bildes dar.
Head (1922) ging über die Beobachtung und Beschreibung von Störungen hinaus und ent-
warf eine Theorie, in der er zusammenfassend annahm, dass die Körperschemata dem Indi-
viduum nicht bewusst sind und ihre Funktionsweise einen automatischen Vorgang darstellt.
Demzufolge spricht auch er in seinen frühen Studien von Körperschema und bezieht sich
damit auch auf eine ,,Wahrnehmung mehr im physiologischen (perzeptiv-kognitiven) als im
psychologischen (emotional-affektiven) Sinn"
70
.
Wie ersichtlich, wurde der Schwerpunkt der Forschung überwiegend auf die neurophysio-
logischen, genauer auf die zentralen Verarbeitungsprozesse der eingehenden Informationen
aus der Körperperipherie und auf die neurologischen Aspekte, konzentriert. Psychologi-
sche, emotionale und soziale Aspekte wurden erst in den Arbeiten von Schilder (1950)
erfasst
71
, die einen Wendepunkt in der Forschung darstellten.
4.2
Körperbild-Konzept (Schilder 1950)
Schilder (1950) weitete durch die Einbeziehung psychoanalytischer und soziologischer
Aspekte in die Verarbeitungsprozesse die Körperbildforschung auf die Gebiete der Psycho-
logie und Psychiatrie aus
72
. Der Unterschied zwischen den Begriffen Körperschema und
Körperbild wird in Kapitel 4.3 beschrieben.
Das Konzept des Körperbildes beinhaltet bei Schilder (1950) mehrere Grundannahmen, die
nach Maser (1982) in vier Punkten geschildert werden können
73
:
1.
Der Grundgedanke der psychosomatischen Einheit
74
: die ,,Persönlichkeit [wird,
Anm. d. Verf.] als Einheit"
75
gesehen, d. h. die organischen und psychischen Prozesse
(als zwei Systeme) sind nicht voneinander zu trennen, sondern ,,die physiologischen
69
Eltze
1996,
3
70
Reinecke 2002, 103f
71
vgl. Eltze 1996, 5
72
vgl. ebd.
73
vgl. ebd.
74
Maser 1982, zit. n. ebd.
75
Groten 1996, 22

Körpererfahrung, Körperschema und Körperbild
24
Funktionen sind auf das engste mit den psychologischen Prozessen verbunden"
76
.
Schilder (1950) beschreibt die verschiedenen Ebenen in einem ,,Schichtenmodell"
77
.
Die rein physiologischen Prozesse stellen die unterste Ebene da. Die oberste Ebene
sind die rein psychischen Prozesse. Die physiologischen Prozesse werden durch
psychische Prozesse beeinflusst, ,,sind aber nicht vom Bewußtsein formulierbar"
78
und die psychischen Prozesse sind durch die somatischen Prozesse ebenso
beeinflussbar.
Zwei Zwischenstufen stellen den Übergangsbereich zwischen unterster und oberster
Ebene dar, ,,in denen physiologische Prozesse in kortikalen Hirnregionen zu
bewussten Wahrnehmungen führen"
79
und zunehmend mehr mit den psychischen
Vorgängen verknüpft sind. Ein wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang das
Bewusstsein der Personen über die psychosomatische Einheit.
2.
Der Interaktionsgedanke
80
: Die zweite Grundannahme ist der stetige Austausch
eines Individuums mit seiner Umwelt. Schilder versteht darunter die ,,Verbundenheit
der dynamischen Vorgänge der Veränderung des Körperbildes mit den
Interaktionsprozessen in der Umwelt"
81
. Interaktion stellt demzufolge die Grundlage
zur Entwicklung und Entstehung des Körperbildes dar.
3.
Der Aktivitätsgedanke
82
: Das Körperbild eines Menschen ist nicht gleich bleibend,
sondern wird aktiv ,,immer wieder neu aufgebaut"
83
. Groten (1996) spricht von
,,Auf-, Um- und Abbauvorgänge [n, Anm. d. Verf.] des Körperbildes"
84
. Das
Körperbild ist demzufolge nicht statisch, sondern durch Dynamik gekennzeichnet.
4.
Die psychoanalytische Orientierung
85
: ,,Das Körperbild besitzt eine emotionale
Struktur"
86
, d. h. das Körperbild differenziert sich während der frühkindlichen
Entwicklung. Schilder (1950) verdeutlicht mit seiner Aussage ,,Early infantile
76
Eltze 1996, 6
77
ebd.
78
ebd.
79
ebd.
80
Maser 1982, zit. n. ebd.
81
ebd.
82
Maser 1982, zit. n. ebd.
83
ebd.
84
Groten 1996, 22
85
Maser 1982, zit. n. Eltze 1996, 6
86
Groten 1996, 22

Körpererfahrung, Körperschema und Körperbild
25
experience are of spezial importance [...]", dass erste Erfahrungen des Körpers die
Grundmuster für spätere Erfahrungen sind.
Nach Schilder (1950) besteht ein Zusammenhang zwischen der Theorie der infantilen Au-
toerotik und der Entstehung eines differenzierten Körperbildes
87
. Dabei steht ,,der Stufen-
prozess der Libidoverteilung auf die erogenen Zonen"
88
im Vordergrund. ,,Nach durchge-
machtem Ödipuskomplex entstünde eine genitale Objektlibido und ein differenziertes Kör-
perbild"
89
. Demzufolge entwickeln Kinder durch die Auseinandersetzung mit den Trieb-
konflikten und dem Körper ein Bild davon.
Auf dem Hintergrund von Schilders (1950) Überlegungen können Störungen wie Hypo-
chondrie und Depersonalisation, d. h. eine Entpersönlichung, als Körperbildstörungen er-
klärt werden
90
, z. B. wird die Hypochondrie nach dem Körperbild-Konzept von Schilder
als ,,Verschiebung der Libido von der genitalen Region auf einen anderen Körperteil"
91
erklärt.
4.3
Körpererfahrung als Überbegriff
Der Begriff ,,Körpererfahrung"
92
schließt sowohl eine perzeptive und kognitive als auch
eine affektive und behaviorale Komponente
93
ein. Die folgende Annäherung an die Begriff-
lichkeiten verhilft in Kapitel 5 zu einem Verständnis der Body-Image-Störung bei AN.
Bielefelds (1986) Versuch einer Strukturierung des Gesamtkomplexes Körpererfahrung im
Anhang 1 kann ergänzend zur Veranschaulichung des Kapitels 4.3 hinzugezogen werden.
Viele Autoren sind sich darüber einig, dass es keine gemeinsam akzeptierte Definition der
Konzepte Körperschema und Körperbild gibt, den einzelnen Komponenten der Körperer-
fahrung
94
. Der übergeordnete Begriff Körpererfahrung schließt sowohl neurologische, neu-
rophysiologische und psychische Aspekte mit ein.
87
vgl. Schilder 1950, 119ff
88
vgl. Dietrich 2001, 22
89
Eltze 1996, 6f
90
vgl. ebd.
91
ebd., 7
92
Der Begriff Körpererfahrung findet sich z. B. bei Meermann und Bielefeld (vgl. Meermann 1991, 69;
Bielefeld 1986, 3ff)
93
vgl. Vocks & Legenbauer 2005, 14f
94
vgl. Fernàndez-Aranda 1996, 60

Körpererfahrung, Körperschema und Körperbild
26
4.3.1 Das Körperschema
,,Das Körperschema beinhaltet eher den [neurologischen und, Anm. d. Verf.] neurophysio-
logischen Teilbereich"
95
, also die Wahrnehmung des Körpers auf einer perzeptiv-
kognitiven Ebene. Hierzu gehören
,,Körperorientierung (d. h. Oberflächen und Tiefensensibilität), die Körper-
ausdehnung (d. h. die Einschätzung von Größenverhältnissen sowie der räum-
lichen Ausdehnung des eigenen Körpers) und die Körpererkenntnis von Bau
und Funktion"
96
Dies ist also eine Anlehnung an die zuvor beschriebenen frühen, neurologischen Forschun-
gen. Eine genaue Ausführung der Begriffe würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen,
kann aber ausführlich in Bielefeld (1986) nachgelesen werden
97
.
Das Körperschema wird erst allmählich vervollständigt und zu einem Ganzen. Zuerst er-
halten einzelne Körperteile unterschiedlich viel Aufmerksamkeit, z. B. bei Kindern stehen
die Hände und Finger mehr in der Aufmerksamkeit als innere Organe
98
.
Shontz (1969) entwarf ein Stadienmodell zum Verständnis der ablaufenden Vorgänge und
Verarbeitungsprozesse. Da das Körperschema der Körperwahrnehmung entspricht, ist
Shontz` (1969) Definition der Wahrnehmung als ,,kognitive Beziehung zwischen Informa-
tionseingang und Reizantwortausgang"
99
in diesem Zusammenhang relevant. Sein Sta-
dienmodell ist in fünf Stadien gliedert.
Im Eingangstadium (Input) treffen Umweltreize auf Rezeptororgane und werden im darauf
folgenden Rezeptionsstadium (Reception) in körpereigene Signale umgewandelt. Hierbei
ist der Körper für bestimmte Informationen sensitiv und es findet eine Selektion statt, z. B.
im zentralen Verarbeitungsstadium (Kognition), dann werden eingegangene Signale mit
kognitiven Standards verglichen. Im vierten Stadium (Amplifikation) erfolgt die Umwand-
lung der körpereigenen Signale zu einer von der Umwelt erkennbaren Reizantwort, z. B. in
Form von Urteilen. Das fünfte Stadium (Output) repräsentiert die Reizantwort oder das
subjektive Urteil der wahrnehmenden Person
100
.
95
Meermann, 1991, 69
96
Groten 1996, 23
97
vgl. Bielefeld 1986, 19ff
98
vgl. ebd., 21
99
Eltze 1996, 8
100
vgl. ebd.

Körpererfahrung, Körperschema und Körperbild
27
Es ist wahrscheinlich, dass zwischen dem Schema des Körpers und der Wahrnehmung und
Vorstellung des Außenraums eine Relation bestehe
101
. Das Körperschema als ,,zentrale[s,
Anm. d. Verf.] kognitive [s, Anm. d. Verf.] Konzept"
102
ermöglicht durch die Verarbeitung
der eingehenden Informationen die Orientierung des Körpers im Raum und die Lokalisati-
on von Reizen auf der Körperoberfläche
103
.
Nach Meermann (1991) zeigt sich eine gesunde, ungestörte Körperwahrnehmung an der
,,Genauigkeit, mit der ein Individuum in der Lage ist, seine eigenen äußeren Körperdimen-
sionen [die Distanzen am eigenen Körper, Anm. d. Verf.] einzuschätzen"
104
.
Auf die Methoden zur Erfassung des Körperschemas wird in Kapitel 5.2.1 eingegangen.
4.3.2 Das Körperbild
Das Körperbild hingegen umfasst eher die ,,psychologisch-phänomenologischen Aspekte
der Körpererfahrungen [einschließlich die, Anm. d. Verf.] emotional-affektive Besetzung
des Körpers"
105
, welche sich in ein Körperbewusstsein, eine Körperausgrenzung und eine
Körpereinstellung gliedern lassen
106
. Auch diese Begrifflichkeiten können bei Bielefeld
(1986) nachgelesen werden
107
.
Meermann (1991) definiert das Körperbild als das mentale Bild, das ein Individuum von
der physischen Erscheinung seines Körpers hat
108
. Es schließt ,,die Einstellung und Gefühle
des Individuums bezüglich seines Körpers ein"
109
und muss ,, [...] nicht unbedingt iden-
tisch mit der anatomischen Repräsentation des Körpers [...]"
110
sein.
Hehlman (1968) beschreibt, ähnlich wie Meermann (1990), das Körperbild als das ,,Inne-
werden des eigenen Körpers in Gestalt eines räumlichen Vorstellungsbildes"
111
. In Über-
einstimmung mit dem zweiten Aspekt in Meermanns (1991) Definition betonen auch Fi-
101
vgl. Groten 1996, 23
102
Eltze 1996, 9
103
vgl. ebd.
104
Meermann 1991, 69
105
ebd.
106
vgl. Dietrich 2001, 23
107
vgl. Bielefeld 1986, 25ff
108
vgl. Meermann 1991, 69
109
Eltze 1996, 9
110
ebd., Dietrich 2001, 23
111
Hehlman 1968, zit. n. Fernàndez-Aranda 1996, 60

Körpererfahrung, Körperschema und Körperbild
28
sher und Cleveland (1958) in ihrer Erklärung des Körperbildes die ,,Gefühle und Einstel-
lungen gegenüber dem eigenen Körper"
112
.
Vandereycken (1989) beschreibt das Körperbild als ein komplexes Phänomen, das viele
unterschiedliche Aspekte erfasst:
,,a) Integration der exterozeptiven Information, b) die Wahrnehmung und In-
terpretation der Reize, die von innerhalb des Körpers kommen, c) die subjekti-
ven Erfahrungen der körperlichen Funktionen und d) die persönliche Einstel-
lung (kognitive Konstrukte) bezüglich des eigenen Körpers"
113
.
Die Definition des Körperbildes verdeutlicht, dass bei Vandereycken (1989) die Betonung
auf den Reizen, ,,die von innerhalb des Körpers kommen"
114
(wie Schmerzwahrnehmung,
Temperatur) liegt. In Shontz` (1969) Stadienmodell zur Definition des Körperschemas
hingegen sind die Reize im Zentrum, die von außerhalb des Körpers kommen (Umweltreize).
Die Methoden zur Erfassung des Körperbildes werden in Kapitel 5.2.2 erwähnt.
4.4
Faktoren bei der Entstehung von Körperschema und Körperbild
Die Aufmerksamkeit dieses Kapitels liegt auf unterschiedlichen Gesichtspunkten zur För-
derung eines gesunden Körperbildes und ­schemas.
Anfangs wird auf Lernmodelle und die Entwicklung des Körperbewusstseins in den frühen
Entwicklungsabschnitten eingegangen (Kapitel 4.4.1).
Darauf folgend wird als Exkurs ein Verständnis der Entstehung einer gesunden Körper-
wahrnehmung in Bezug auf die Familiendynamik (nach der Bindungstheorie) geschaffen
(Kapitel 4.4.2). Aufbauend auf dem Exkurs werden frühe Objektbeziehungen, insbesonde-
re eine gesunde Mutter-Kind-Bindung, beschrieben (Kapitel 4.4.3). Zuletzt wird die Schaf-
fung von Übergangsobjekten thematisiert (Kapitel 4.4.4.). Erst davon ausgehend können
pathologische Abweichungen verständlich werden (Kapitel 5).
112
Fisher & Cleveland 1958, zit. n. Fernàndez-Aranda 1996, 60
113
ebd.
114
ebd.

Körpererfahrung, Körperschema und Körperbild
29
4.4.1 Lernmodelle und Körperbewusstsein
Dieser Abschnitt bezieht sich auf psychoanalytische Lernmodelle, die u. a. die Ausbildung
innerer Repräsentationen von Beziehungen betrachten.
In den ersten Entwicklungsabschnitten spielt die Mutter eine zentrale Rolle
115
. Bruch
(1973) sieht in der
,,Gewahrwerdung von Körpersensationen ein [en, Anm. d. Verf.] Lernprozess,
in dem das Kind durch die Interaktion mit seiner Mutter lernt, körpereigene
Reize zu identifizieren und adäquat auf sie zu reagieren"
116
Die Aussage zeigt, dass das Erkennen körperlicher Bedürfnisse (Körperbewusstsein) und
des zu ihrer Befriedigung angemessenen Verhaltens von einem Lernprozess abhängt, der
im Säuglingsalter beginnt. Das verdeutlicht wie relevant der Austausch von Mutter und
Kind in der symbiotischen Phase ist. Der gegenseitige Austausch von Signalen zwischen
Säugling und Mutter ist auch nach Mahler (1979) das ,,wichtigste Requisit einer normalen
Symbiose"
117
und unter gewöhnlichen Umständen entwickelt es sich zur gesunden verbalen
Kommunikation
118
.
Beispielsweise lernt das Kind ein Hungerempfinden und Sättigungsgefühl nur dann, wenn
die mütterlichen Reaktionen auf den Hunger angemessen sind (vgl. Abb. 1).
Hunger = Nahrung
Kälte = Kleidung
Müdigkeit = Bett
Bedürfnis
vom Kind ausgehendes Signal
Befriedigung und Legitimierung des Bedürfnisses
Abb. 1 Lernmodell für ein gesundes Hungerempfinden und Sättigungsgefühl
(Quelle: Selvini Palazzoli 1982, 69)
115
vgl. Feiereis 1989, 205
116
Bruch 1973, 1980, zit. n. Meermann 1991, 70f
117
Mahler 1979, 39
118
vgl. ebd., 39f

Körpererfahrung, Körperschema und Körperbild
30
Durch den Grad der Befriedigung, die dem Säugling als Antwort auf seine Hungersignale
zuteil wird, lernt es verschiedene physiologische Bedürfnisse und befriedigende Verhal-
tensmuster zu erkennen und zu unterscheiden. Er wird sich seiner ,,körperliche [n, Anm. d.
Verf.] Identität"
119
bewusst.
Zunächst wird der Säugling aufgrund der Fremdheit unterschiedlicher physiologischer Be-
dürfnisse in einen Gefühlszustand von Angst und Verwirrung versetzt. Selvini Palazzoli
(1982) beschreibt, dass dieser durch verschiedene Signale, die seine physiologischen Be-
dürfnisse zum Ausdruck bringen und die Reaktion der Mutter darauf lernt, seine Bedürf-
nisse allmählich zu differenzieren
120
. Folglich lernt das Kind aus der Interaktion mit seiner
Mutter, die körperlichen Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen. ,,Die fundamentale
Erfahrungsquelle ist [hierbei, Anm. d. Verf.] der eigene Körper"
121
des Kindes. Winnicott
(1995) nannte diesen Prozess der Verknüpfung vom Ich
122
mit dem Körper und seinen Es-
Trieben und Es-Befriedigungen "Personalisierung"
123
.
In diesem ,,Stadium beginnt die Psyche sich gerade erst um die Körperfunktionen herum zu
entfalten"
124
, weshalb auch von der körperlichen Identität gesprochen wird.
Winnicott (1965) spricht von der ,,Identifikation der Mutter mit ihrem Kind"
125
, da die Mut-
ter weiß, wie der Säugling sich fühlt und dazu sensibilisiert wird, das zu geben, was er
braucht und was der Säugling durch sein Verhalten in ihr induziert. Die Sensibilisierung
betrifft zuerst Körperbedürfnisse, ,,die allmählich zu Ich-Bedürfnissen [des Kindes, Anm. d.
Verf.] werden"
126
.
Die richtige Wahrnehmung und Interpretation der kindlichen Signale und die angemessene
mütterliche Reaktion darauf gelten als wichtige Komponenten für feinfühliges Verhalten.
119
Selvini Palazzoli 1982, 59
120
vgl. ebd.; Winnicott (1965), 13f
121
ebd., 60
122
Im vorliegenden Kapitel werden die Begriffe Ich und Selbst verwendet. Unter Ich versteht man das
,,Zentrum der Persönlichkeit und diejenige Instanz, die einer Person ein Bewusstsein von sich selbst
vermittelt. Das Ich entsteht im Kontext sozialer Interaktionen in den ersten Lebensjahren, wenn das Kind
erkennt, dass es eine von seinen primären Bezugspersonen getrennte Person ist [...]" (Großes Wörter-
buch Psychologie 2004. Ich). Das Selbst hingegen ist die ,,Gesamtheit der psychischen Vorgänge eines
Menschen" (ebd. Selbst). Hierunter fallen sowohl die bewussten als auch die unbewussten Anteile des
Psychischen. Es bezeichnet die Person in Gegenüberstellung zu den Objekten der äußeren Welt (vgl.
ebd.).
123
Winnicott 1995, 54
124
Winnicott 1965, 31
125
ebd., 27
126
Winnicott 1958, zit. n. Schrauth, 55

Körpererfahrung, Körperschema und Körperbild
31
Es wird hervorgehoben, dass mütterliches Fürsorgeverhalten durch bestimmte Schlüssel-
reize ausgelöst wird, wie der Anblick des Kindes nach der Geburt
127
.
Relevant im Kontext der Lernmodelle ist auch Winnicotts (1974) Unterscheidung zwi-
schen einem wahren und einem falschen Selbst. Das wahre Selbst ist nach Winnicott
(1974) die ,,[...] Gesamtheit der sensomotorischen Lebendigkeit"
128
und komme u. a. von
der Lebendigkeit der körperlichen Funktionen und von dem Wirken der Körperarbeit, die
im Austausch mit der Mutter erst verstanden werden
129
. Das wahre Selbst entsteht demzu-
folge aus der angemessenen mütterlichen Reaktion auf die Bedürfnislage des Babys
130
.
Da die Entstehung physiologischer Bedürfnisse von Interaktionserfahrungen mit der Mut-
ter abhängt, können Störungen in den Lernmodellen und im Körperbewusstsein auftreten.
Es kann nach Winnicott (1974) zur Entwicklung eines falschen Selbst kommen. Mit die-
sem Aspekt befasst sich die Arbeit in Kapitel 5.4.1 im Zusammenhang mit fehlerhaften
Lernmodellen.
4.4.2 Exkurs: Bindungsdynamik im Familiensystem
Der Exkurs zur familiären Bindungsdynamik im Rahmen der Bindungstheorie beschreibt, -
zum Verständnis der darauf folgenden Kapitel -, die Aufgaben und Ziele von Bindung,
Fürsorge und Exploration und macht deutlich, wie das Gleichgewicht zwischen Nähe und
Exploration in einer gesunden Eltern- Kind-Beziehung aussieht.
Scheuer-Englisch (1995) differenziert im Zusammenhang mit der familiären Bindungsdy-
namik zwischen dem Fürsorge-, dem Bindungs- und dem Explorationsverhaltenssystem
131
(vgl. Abb. 2.).
127
vgl. Finger-Trescher & Krebs 2003, 53ff, 113ff & 150f
128
Winnicott 1984, 194
129
ebd., 193
130
vgl. Neubaur 1987, 130
131
vgl. Scheuer-Englisch 1995, 384f

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2009
ISBN (eBook)
9783836630115
DOI
10.3239/9783836630115
Dateigröße
3.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität zu Köln – Heilpädagogische Fakultät
Erscheinungsdatum
2009 (Mai)
Note
1,3
Schlagworte
anorexia körperschema magersucht körperbildstörung kunsttherapie essstörung
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Titel: Objektbeziehungstheorie und Kunsttherapie
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