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Partnerschaft und Kinderwunsch bei Menschen mit geistiger Behinderung

©2008 Diplomarbeit 102 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Persönliche Anlässe:
Die Thematik Partnerschaft, Kinderwunsch und Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung beschäftigte mich im Laufe meines Studiums und meiner vorangegangenen Arbeit als Erzieherin immer wieder. In vielen unterschiedlichen Bereichen wurde ich mit dem Thema konfrontiert.
Besonders in Erinnerung ist mir die Zeit geblieben, in der ich ein Jahr in einer Heimgruppe für Jugendliche mit einer geistigen Behinderung gearbeitet habe. Die Jugendlichen meiner Gruppe waren alle im Alter der Pubertät und sexuell sehr interessiert und aktiv. Viele von ihnen masturbierten und zeigten Interesse an ihren Mitbewohnern oder Mitbewohnerinnen. Nicht selten kam es vor, dass einer der Jugendlichen im Wohnzimmer seine Hose auszog und anfing an seinem Geschlechtsteil zu spielen. Dies wurde aus Rücksicht auf die anderen Bewohner unterbunden und den Jugendlichen wurde gesagt, dass sie dafür in ihr Zimmer gehen sollten. Doch nicht jeder verfügte über ein Einzelzimmer und die Intimsphäre war damit sehr eingeschränkt.
Ein weiteres sehr prägendes Erlebnis war die Schwangerschaft eines damals 15-jährigen Mädchens. Die Schwangerschaft wurde zufällig festgestellt und durch die fehlende Sprache des Mädchens, konnte auch nie geklärt werden, wie es zu der Schwangerschaft kam. Die Eltern des Mädchens entschieden sich die Schwangerschaft abzubrechen und es kam zu einer Abtreibung. Danach wurde die abgebrochene Schwangerschaft nie wieder offen thematisiert und auch das betroffene Mädchen bekam keinerlei professionelle Unterstützung. Nach diesem Ereignis bekamen alle Mädchen des Heimes vorsorglich eine Empfängnisverhütung. Doch als auch ein türkisches Mädchen die Pille bekommen sollte, nahm die Mutter diese aus dem Heim, aus Angst, dass ihre Tochter nun „Freiwild“ für alle sei. Daraufhin wurde das gesamte Heim umstrukturiert und es wurde eine Mädchenwohngruppe eingerichtet.
Vorgefundene Situation:
Alle diese Ereignisse haben mich sehr zum Nachdenken gebracht und ich habe mich immer wieder gefragt:
Wie lässt sich die Selbstbestimmung, auch die sexuelle, mit verantwortlicher Erziehung vereinbaren?
Durch die vorsorgliche Empfängnisverhütung und das Einrichten einer Mädchenwohngruppe wurde den auftretenden Problemen aus dem Weg gegangen, ohne sich wirklich mit ihnen auseinanderzusetzen. Aufklärung hat in der Schule stattgefunden, aber in der Wohngruppe wurde nur wenig darauf reagiert. Auch im pädagogischen Team wurde nicht gerne […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Persönliche Anlässe
1.2 Vorgefundene Situation
1.3 Erkenntnisinteresse und Fragestellung
1.4 Aufbau der Arbeit

2 Geistige Behinderung
2.1 Allgemeines Begriffsverständnis
2.2 Ursachen von geistiger Behinderung

3 Sexualität und Pubertät
3.1 Zum Begriffsverständnis von Sexualität
3.1.1 und Pubertät
3.1.2 Die Pubertät von Jugendlichen mit geistiger Behinderung
3.2 Die Bedeutung von Sexualität für Menschen mit geistiger Behinderung
3.2.1 Sexuelle Selbstbestimmung als Grundrecht für Menschen mit Behinderung
3.2.2 Wenn die Selbstbestimmung zur Fremdbestimmung wird – Sterilisation von Menschen mit geistiger Behinderung

4 Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung
4.1 Möglichkeiten und Grundvoraussetzungen für eine gelingende Partnerschaft .
4.2 Eheschließung
4.3 Die Partnervermittlung „Schatzkiste“
4.4 Sexualassistenz oder Sexualbegleitung als Alternative?

5 Rechtliche Aspekte bezüglich Kinderwunsch und Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung
5.1 Verankerung der rechtlichen Aspekte im Grundgesetz
5.2 Die juristischen Auswirkungen von „Rechtlicher Betreuung“ und „Einwilligungsvorbehalt“
5.3 Geschäfts(un)fähigkeit und deren Auswirkungen
5.4 Allgemeinen Aspekte der elterlichen Sorge und Eingriffe
5.4.1 Elterliche Sorge und „Rechtliche Betreuung“
5.4.2 Elterliche Sorge und Geschäftsunfähigkeit

6 Kinderwunsch und Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung
6.1 Aktuelle Statistik über Elternschaften von Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland
6.2 Kinderwunschgründe
6.3 Vorurteile gegen Kinderwunsch und Elternschaft bei Eltern mit geistiger Behinderung
6.4 Recht auf Elternschaft versus Kindeswohlgefährdung

7 Möglichkeiten der Unterstützung in der Sozialen Arbeit
7.1 Rechtliche Verankerung der Unterstützung
7.2 Möglichkeiten der Umsetzung von Unterstützungsangeboten
7.2.1 Wohnformen und Unterstützungsmodelle – ein Überblick
7.2.2 Unterstützungsmodelle im Ausland
7.2.3 „MOBILE – Selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V.“ - Beispiel eines Unterstützungsmodels

8 Die Situation der Kinder geistig behinderter Eltern

9 Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Persönliche Erklärung

1 Einleitung

1.1 Persönliche Anlässe

Die Thematik Partnerschaft, Kinderwunsch und Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung beschäftigte mich im Laufe meines Studiums und meiner vorangegangenen Arbeit als Erzieherin immer wieder. In vielen unterschiedlichen Bereichen wurde ich mit dem Thema konfrontiert.

Besonders in Erinnerung ist mir die Zeit geblieben, in der ich ein Jahr in einer Heimgruppe für Jugendliche mit einer geistigen Behinderung gearbeitet habe. Die Jugendlichen meiner Gruppe waren alle im Alter der Pubertät und sexuell sehr interessiert und aktiv. Viele von ihnen masturbierten und zeigten Interesse an ihren Mitbewohnern oder Mitbewohnerinnen. Nicht selten kam es vor, dass einer der Jugendlichen im Wohnzimmer seine Hose auszog und anfing an seinem Geschlechtsteil zu spielen. Dies wurde aus Rücksicht auf die anderen Bewohner unterbunden und den Jugendlichen wurde gesagt, dass sie dafür in ihr Zimmer gehen sollten. Doch nicht jeder verfügte über ein Einzelzimmer und die Intimsphäre war damit sehr eingeschränkt.

Ein weiteres sehr prägendes Erlebnis war die Schwangerschaft eines damals 15-jährigen Mädchens. Die Schwangerschaft wurde zufällig festgestellt und durch die fehlende Sprache des Mädchens, konnte auch nie geklärt werden, wie es zu der Schwangerschaft kam. Die Eltern des Mädchens entschieden sich die Schwangerschaft abzubrechen und es kam zu einer Abtreibung. Danach wurde die abgebrochene Schwangerschaft nie wieder offen thematisiert und auch das betroffene Mädchen bekam keinerlei professionelle Unterstützung. Nach diesem Ereignis bekamen alle Mädchen des Heimes vorsorglich eine Empfängnisverhütung. Doch als auch ein türkisches Mädchen die Pille bekommen sollte, nahm die Mutter diese aus dem Heim, aus Angst, dass ihre Tochter nun „Freiwild“ für alle sei. Daraufhin wurde das gesamte Heim umstrukturiert und es wurde eine Mädchenwohngruppe eingerichtet.

1.2 Vorgefundene Situation

Alle diese Ereignisse haben mich sehr zum Nachdenken gebracht und ich habe mich immer wieder gefragt:

- Wie lässt sich die Selbstbestimmung, auch die sexuelle, mit verantwortlicher Erziehung vereinbaren?

Durch die vorsorgliche Empfängnisverhütung und das Einrichten einer Mädchenwohngruppe wurde den auftretenden Problemen aus dem Weg gegangen, ohne sich wirklich mit ihnen auseinanderzusetzen. Aufklärung hat in der Schule stattgefunden, aber in der Wohngruppe wurde nur wenig darauf reagiert. Auch im pädagogischen Team wurde nicht gerne über dieses Thema gesprochen und die meisten waren froh, wenn sich schnell eine Lösung fand. Insgesamt musste ich feststellen, dass es bei allen Beteiligten eine große Befangenheit bei dem Thema geistige Behinderung und Sexualität, Partnerschaft und Schwangerschaft gab.

1.3 Erkenntnisinteresse und Fragestellung

Dass auch Menschen mit geistiger Behinderung den Wunsch nach einer Beziehung und nach Kindern haben ist nicht neu, doch der Umgang damit scheint dennoch ein Tabuthema zu sein. Während Institutionen und Fachkräfte sich teilweise aufgeschlossen dem Thema Sexualität und Partnerschaft gegenüber zeigen, scheint jedoch bei dem Thema Kinderwunsch, Schwangerschaft und Elternschaft eine Grenze erreicht zu sein. Für mich ergeben sich dadurch folgende Fragestellungen:

- Welche Bedeutung hat Partnerschaft und Kinderwunsch für Menschen mit geistiger Behinderung?
- Wie wirken sich gesellschaftliche Meinungen, Vorstellungen und Vorurteile auf die tatsächliche Umsetzung einer partnerschaftlichen Beziehung aus?
- Welche rechtlichen Auswirkungen kann eine geistige Behinderung auf die Lebensplanung bei Menschen mit Kinderwunsch haben?

Zum grundsätzlichen Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit gehört auch der Wunsch nach einer, partnerschaftlichen Beziehungen und dem Aufbau einer eigenen Familie.

- Warum aber wird Menschen mit geistiger Behinderung dieses Recht abgesprochen?

Neben dem Recht auf Elternschaft muss auch immer die Seite der Kinder geistig behinderter Eltern bedacht werden und ich möchte mich in diesem Zusammenhang auch mit den Fragen beschäftigen:

- Stellt das Recht auf Elternschaft ein Gegensatz zur Wahrung des Kindeswohls dar?
- Ist die Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung mit Blick auf die Kinder verantwortbar?

Ein weiterer wichtiger Faktor scheint mir die Form der Unterstützung von Eltern und Kindern zu sein von daher möchte ich darauf schauen:

- Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es im Bereich der Sozialen Arbeit für Eltern mit geistiger Behinderung und deren Kinder und wann sind sie sinnvoll?

Ein wichtiger Aspekt ist meiner Ansicht nach auch der Grad der geistigen Behinderung der betroffenen Person. Je schwerer die geistige Behinderung einer Person ist, desto mehr Unterstützung bedarf sie im Falle einer Elternschaft und desto mehr Probleme ergeben sich auch. Deshalb muss auch bei dem Recht auf Elternschaft immer auf den Lebenskontext geschaut werden und die Schwere der Behinderung spielt dabei eine entscheidende Rolle. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen und um gezielter auf die Fragen eingehen zu können, werde ich eine Eingrenzung auf Menschen mit leichter und mittlerer geistiger Behinderung vornehmen.

Nicht aus Diskriminierungsgründen, sondern aus Gründen der besseren Lesbarkeit werde ich in der vorliegenden Arbeit ausschließlich die männliche Form benutzen.

1.4 Aufbau der Arbeit

Um den Fragestellungen auf den Grund zu gehen, werde ich zunächst in Kapitel 2 auf das allgemeine Begriffsverständnis von geistiger Behinderung eingehen sowie auf die Ursachen. In Kapitel 3 werde ich auf die Unterschiede zur Pubertät von Jugendlichen mit geistiger Behinderung eingehen und auf die Bedeutung der Sexualität und Selbstbestimmung. Ein kurzer geschichtlicher Überblick thematisiert den Wandel in der Bewertung der Sterilisation von Menschen mit geistiger Behinderung. Im 4. Kapitel wird es um Bedeutung und Grundvoraussetzung für eine gelingende Partnerschaft gehen. Zur Veranschaulichung werde ich an dieser Stelle eine Partnervermittlung für Menschen mit geistiger Behinderung vorstellen und auf Sexualassistenz als Alternative eingehen.

Kapitel 5 behandelt die rechtlichen Aspekte und deren Auswirkungen, Kapitel 6 Kinderwunsch und Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung. Dabei wird es unter anderem um die Gründe des Kinderwunsches gehen sowie um die Vorurteile bezüglich des Kinderwunschs von Menschen mit geistiger Behinderung. Stellt das Recht auf Elternschaft einen Gegensatz zum Kindeswohl dar? ist die Frage des anschließenden Kapitels.

Die aktuelle Statistik über die Zahlen der Elternschaften von Menschen mit geistiger Behinderung wird zur Übersicht dargestellt.

Im 7. Kapitel schließlich werden die Unterstützungsmöglichkeiten von Eltern mit geistiger Behinderung und ihren Kindern in der Sozialen Arbeit und in Kapitel 8 die Situation der betroffenen Kinder geistig behinderter Eltern untersucht.

2 Geistige Behinderung

Das folgende Kapitel wird sich mit der Definition von geistiger Behinderung auseinandersetzen und die Ursachen geistiger Behinderung aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten.

2.1 Allgemeines Begriffsverständnis

Nach §2 Abs. 1 des SGB IX sind Menschen behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist“ . [1]

Nach diesem Paragraph ist die Hilfe für Menschen mit Behinderung im Sozialgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland verankert. Sucht man jedoch nach einer allgemeinen Definition des Behinderungsbegriffes, erweist sich das als sehr schwierig, da die Definition eine Festlegung bedeutet. Die Schwierigkeit liegt in der Individualität des Phänomens der Behinderung. Die organische Schädigung und die daraus resultierenden geistigen und sozialen Folgen sind bei jedem Mensch unterschiedlich und den Menschen mit geistiger Behinderung gibt es daher nicht.[2]

Nach SUHRWEIER wird der Begriff der Behinderung durch den Charakter der Gesellschaftsordnung bestimmt. Das bedeutet, die öffentliche Meinung beurteilt, wer als behindert gilt und wer nicht. Demnach ergibt sich auch eine Schwierigkeit daraus, wer die Definition abgibt und welche Profession der Definierende vertritt.[3]

„Mehrere Wissenschaften versuchen, geistige Behinderung zu klären. Der medizinisch-biologische Ansatz gilt primär den physischen (organisch-genetischen) Abweichungen und Besonderheiten, der verhaltenswissenschaftliche (psychologische) Ansatz der Eigenheit der beobachtbaren Verhaltensweisen, der sozialwissenschaftliche Ansatz im Besonderen den gesellschaftlichen Bedingungssystemen, der pädagogische Ansatz den Möglichkeiten der Erziehung“.[4]

In den letzten zehn Jahren hat sich bei der Sicht auf Menschen mit geistiger Behinderung ein Perspektivenwechsel vollzogen und es wird nicht mehr ausschließlich auf die organischen Schäden geschaut, sondern auch den sozialen Konsequenzen wird eine größere Beachtung zugeschrieben. Dieser Perspektivenwechsel wurde maßgeblich durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mitbestimmt. In diesem Sinne hat die WHO 1999 das Klassifikationsschema International Classifikation of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) von 1980 in das ICIDH-2 überarbeitet, womit eine internationale und standardisierte Sprache ermöglicht werden soll. Dieses Handbuch dient als Kriterienkatalog zur Einordnung individueller gesundheitlicher Probleme einer Person im Kontext ihrer Lebenssituation. Während vor der Überarbeitung die zentralen Punkte des ICIDH Beeinträchtigung, Unfähigkeit und Behinderung waren, wurden die zentralen Punkte des ICIDH-2 in Schaden, Aktivität, Partizipation und Kontextfaktoren verändert. Damit sollen nicht mehr die Defizite einer Person im Vordergrund stehen, sondern ihre individuellen Möglichkeiten und die Teilhabe an der Gesellschaft.[5]

Auch nach SPECK wird geistige Behinderung als dynamischer, interaktiver Prozess gesehen, in welchem individuelle Faktoren und soziale Faktoren miteinander agieren. Das heißt die Einbettung der Lebensgeschichte des betroffenen Menschen in die gesellschaftliche Umwelt ist von zentraler Bedeutung.[6]

2.2 Ursachen von geistiger Behinderung

Um die Definition der geistigen Behinderung zu konkretisieren, ist es nötig die Ursachen von geistiger Behinderung zu klären sowie die verschiedenen Grade geistiger Behinderung. Medizinische, psychologische, pädagogische sowie epidemiologische Sichtweisen verdeutlichen die Vielfalt der geistigen Behinderung.

Medizinische Gesichtspunkte

In Bezug auf Behinderung ist die Medizin für die Klärung der Ursachen und die Entwicklung therapeutischer Maßnahmen verantwortlich. Unter dem Einbezug von psychologischen und soziologischen Faktoren beschreibt die Medizin klinische Syndrome und kategorisiert sie.[7] Durch den Blick auf die Schädigung ist die medizinisch orientierte Sichtweise meist defizitorientiert.[8]

Einer geistigen Behinderung liegt immer eine organische Ursache zugrunde und betrifft das Gehirn direkt oder indirekt und somit die Gesamtpersönlichkeit eines Menschen. Diese Schädigungen können vor, während oder nach der Geburt entstehen und haben damit unterschiedliche Störungsbilder (klinische Syndrome). Ein Syndrom ist die Kombination aus mehreren Symptomen. Das bedeutet: Das gleichzeitige Auftreten von unterschiedlichen Symptomen führt zu einem Syndrom.[9]

Vorgeburtlich (pränatal) entstandene Behinderungen sind zum Beispiel Chromosomenanomalien. Zu den Geburtsschädigungen (perinatal) als Ursachen geistiger Behinderung zählen unter anderem Sauerstoffmangel oder Fehllagen des Kindes. Die nachgeburtlichen (postnatalen) Ursachen umfassen Gehirnverletzungen, Blutgruppenunverträglichkeit, entzündliche Erkrankungen des zentralen Nervensystems sowie Hirnschädigungen durch Vergiftung und Sauerstoffmangel.[10]

Auch wenn der medizinische Gesichtspunkt in anderen Sichtweisen, wie zum Beispiel der pädagogischen, nur eine untergeordnete Rolle spielt, so kann das Wissen um die Ursachen helfen, geeignete Förderpläne und Therapiemaßnahmen zu erstellen.[11]

Psychologische Gesichtspunkte

Nach SPECK konzentriert sich der traditionelle psychologische Ansatz auf die Entwicklung und Retardierung der Intelligenz. Die heutige Aufgabe der psychologischen Diagnostik ist jedoch viel weiter gefasst und besteht darin, Beeinträchtigungen der kognitiven, motorischen, emotionalen und sozialen Entwicklung zu erfassen.[12]

Nach dem ICD-10 (internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation) wird die Intelligenzminderung als ein Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten definiert.[13] Die Ermittlung der intellektuellen Fähigkeiten wird anhand standardisierter Intelligenztests festgestellt.[14] Der daraus resultierende Intelligenzquotient kann bei Kindern ausschlaggebend für die zu besuchende Schulform sein (Schule für Lernbehinderte oder für Geistigbehinderte). Die heutige Definition des Intelligenzquotienten beruft sich auf das Verhältnis der individuellen Intelligenzleistung zum Mittelwert der entsprechenden Altersgruppe. Daraus ergibt sich, dass eine geistige Behinderung vorliegt, wenn der IQ kleiner als 70 ist.[15] Bei einem IQ zwischen 55-70 wird von einer leichten geistigen Behinderung gesprochen. Das Entwicklungsalter der betroffenen Person liegt zwischen 8 bis 12 Jahren. Bei IQ 40-55 liegt eine mittelschwere geistige Behinderung vor und das Entwicklungsalter liegt zwischen 5,5 bis 8 Jahren, bei einem IQ zwischen 20-40 wird von einer schweren geistigen Behinderung mit einem Entwicklungsalter zwischen 3 bis 3,5 Jahren gesprochen. Eine sehr schwere geistige Behinderung liegt bei einem IQ von 0-20 mit einem Entwicklungsalter von 0-3 Jahren vor.[16]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Klassifikation nach Intelligenzwerten Quelle: Fornefeld 2000, Seite 58

Die Klassifikation nach Intelligenzwerten ist in die Kritik geraten, da der Begriff der Intelligenz nicht eindeutig definiert ist und Aussagen über das Intelligenzniveau relativ bleiben. Außerdem ist ein Vergleich mit Durchschnittsintelligenz unzulänglich, da jeder Mensch sich unterschiedlich nach den individuellen Möglichkeiten im Kontext seines sozialen Umfelds entwickelt. Kinder mit geistiger Behinderung haben andere Entwicklungsmöglichkeiten als Kinder ohne geistige Behinderung.[17] Eine Kategorisierung, die versucht, einen Menschen in ein Schema zu bringen, kann dem einzelnen Individuum nicht gerecht werden, dennoch kann die Differenzierung zwischen den Behinderungsgraden zur allgemeinen Verständlichkeit dienen.[18] BOSCH verwendet die Begriffe Intelligenzquotient und Entwicklungsalter lediglich als Hilfsmittel, um eine Person besser einschätzen zu können. Denn durch das Wissen, auf welches Niveau man einen bestimmten Mensch mit geistiger Behinderung in etwa einschätzen kann, gelingt es besser, sich in diesen Menschen hineinzuversetzen. Dies vergrößert das Akzeptanzvermögen und damit die Chance, ihn angemessen zu beleiten.[19]

Pädagogische Gesichtspunkte

Die Pädagogik sieht geistige Behinderung sowohl als Phänomen (organisch, individuell, gesellschaftlich), als auch als Wirklichkeit, die erzieherische Hilfe zur Entfaltung benötigt und von Werten und Normen bestimmt ist. Dabei muss die Erziehung den individuellen Erziehungsbedürfnissen sowie auch dem Bildungsauftrag gerecht werden.[20]

Die pädagogische Sichtweise macht deutlich, dass Menschen mit geistiger Behinderung sich nicht nur in ihren klinischen Symptomen unterscheiden, sondern auch in ihren Lernmöglichkeiten und Bedürfnissen. Nach FORNEFELD ist es die Aufgabe der Geistigbehindertenpädagogik: „(…) aus der Perspektive von Erziehung und Bildung auf das Behindert-Sein von Menschen und deren Lebenssituationen zu schauen, um verändernd auf diese einwirken zu können. Hierbei muss sie sowohl der Vielschichtigkeit des Phänomens als auch der Heterogenität des Personenkreises Rechnung tragen“.[21] Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, ist es nötig, den Menschen mit seiner Beeinträchtigung in den Mittelpunkt zu rücken.[22]

Die Pädagogik nimmt die Lernfähigkeit und die besonderen Bedürfnisse in den Blick und bekommt dadurch ein eigenes Verständnis von geistiger Behinderung. So haben Kinder und Jugendliche aufgrund hirnorganischer Schädigungen Lernschwierigkeiten. Durch diese Lernschwierigkeiten ergeben sich Auswirkungen auf alle Entwicklungen, an denen Lernprozesse beteiligt sind. Die Entwicklung von kognitiven und sozialen Fähigkeiten ist dadurch retardiert, und es entsteht eine Kluft zwischen Fähigkeiten und Möglichkeiten eines Kindes.

Dennoch verändert geistige Behinderung den Erziehungsprozess nicht grundlegend, sondern nur graduell. Geistige Behinderung wird demnach in der Pädagogik zwar berücksichtigt, steht jedoch nicht im Vordergrund. Dabei geht es nicht um den Ausgleich von Defiziten, sondern um den Menschen als Person und seiner individuellen Lebensverwirklichung. Demnach gibt es in der Grundannahme, dass jeder auf Erziehung angewiesen ist, keinen Unterschied zwischen Menschen mit und ohne geistiger Behinderung. Menschen mit geistiger Behinderung sind jedoch ein Leben lang auf die Hilfe Anderer angewiesen und ihre Erziehung wird daher als Lebenshilfe unter erschwerten Bedingungen angesehen.[23]

Epidemiologische Gesichtspunkte

Die Epidemiologie beschäftigt sich im Rahmen geistiger Behinderung mit der Untersuchung von Verbreitung und Aufteilung von Schädigungen und deren Bedingungen. Die Kenntnisse über Auftretens- und Verbreitungshäufigkeit und Ursachen können für die Gesellschaft von Bedeutung sein, da durch dieses Wissen Rückschlüsse auf die Wirksamkeit von Prävention, von Förderung und auf die Einflussfaktoren gezogen werden können,[24] die den Umfang von Hilfemaßnahmen bestimmen.

Alle zwei Jahre wird vom statistischen Bundesamt der BRD eine Schwerbehindertenstatistik erstellt. Nach dieser Statistik gibt es 2005 in Deutschland 263.823 Menschen mit „Störungen der geistigen Entwicklung“.[25] Durchschnittlich haben etwa 0,6 % eines Geburtsjahrganges eine geistige Behinderung.[26] Schaut man auf die Verteilung nach Behinderungsgraden, so ergibt sich, dass unter allen Menschen mit geistiger Behinderung 1 % eine sehr schwere Intelligenzminderung, 7% eine schwere Intelligenzminderung, 12 % eine mittelschwere Intelligenzminderung und 80% eine leichte Intelligenzminderung haben.[27]

3 Sexualität und Pubertät

Bei der Frage nach Partnerschaft und Kinderwunsch von Menschen mit geistiger Behinderung spielt immer auch die Sexualität eine zentrale Rolle. Im folgenden Kapitel werde ich von daher auf das allgemeine Verständnis von Sexualität und Pubertät eingehen sowie auf die Besonderheiten der Pubertät und Sexualität von Jugendlichen und Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung.

3.1 Zum Begriffsverständnis von Sexualität…

Der Begriff der Sexualität wird seit dem 19. Jahrhundert auf den Menschen angewendet und setzte sich gleichzeitig mit der aufkommenden Sexualwissenschaft durch. Der Begriff ist mehrdimensional und setzt sich aus dem Verhalten und der sexuellen Motivation (Sexualtrieb) zusammen. Eine weitere, stark normative Dimension ist die soziale Bewertung der Sexualität. Das Verständnis von Sexualität hängt von gesellschaftlichen Strukturen und von der theoretischen Orientierung ab. Die moderne Sexualwissenschaft nimmt nur noch teilweise Bezug auf die psychoanalytische Theorie (Annahme eines Sexualtriebes). Der heutige Blickpunkt richtet sich mehr auf das sexuelle Verhalten.[28]

Sexualität wird inzwischen als zentrales Thema eines jeden Menschen gesehen und ist ein menschliches Grundbedürfnis.[29] Dabei wird unter dem Begriff „Sexualität“ nicht nur die genitale Sexualität verstanden, sondern ist für viele sehr eng mit dem Menschsein verbunden.[30] Auch nach SENCKEL umfasst Sexualität nicht nur den Geschlechtsakt, um die Fortpflanzung zu sichern, sondern ist vielmehr eine Grundkraft, die sich auf die gesamte Persönlichkeit auswirkt[31] bzw. auf alle Bereiche menschlicher Daseinsformen, in denen die Rolle des Mann- oder Frau-Seins von Bedeutung ist.[32] Sexualität ist schon von Geburt an vorhanden und zeigt sich in verschiedenen Phasen der psychosexuellen Entwicklung (kutane Phase, orale Phase, anale Phase, Latenzphase, genitale Phase, reife Sexualität). Dabei ist Sexualität keine individuelle Angelegenheit, sondern ist immer abhängig von den Wertungen, der Unterstützung oder Verhinderung des Umfeldes und demnach sind sexuelle Verhaltensweisen auch immer durch soziales Lernen bestimmt.[33]

3.1.1 …und Pubertät

Der Begriff der Pubertät hat seinen Ursprung im Lateinischen und bedeutet die Zeit der eintretenden Geschlechtsreife . Im Alter zwischen 8 und 17 Jahren ist die Zeit der Pubertät verbunden mit der Umgestaltung biologischer und physiologischer Funktionen, die mit körperlicher und sexueller Reife einher gehen.[34] Alltagssprachlich bedeutet Pubertät die Zeit körperliche Reifung sowie der Übergang zwischen Kindsein und Erwachsensein.[35] Neben der Integration der Sexualität in die eigene Persönlichkeit, steht die Persönlichkeitsentwicklung während der Pubertät im Vordergrund. Den Prozess des Erwachsenwerdens teilen Wissenschaftler in drei Phasen auf: Erlangung der körperlichen, der psychischen und der sozialen Reife.[36] Die körperliche Reife bedeutet das Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung sowie die Übernahme der eigenen Geschlechterrolle[37]. In der Regel bekommen Mädchen in dieser Zeit ihre erste Periode, im Alter von 11 bis 13 Jahren, und Jungen haben im Alter von 14 bis 15 Jahren ihren ersten Samenerguss. Die psychische Reife meint die Erlangung der seelischen Selbständigkeit. Dies bedeutet Autonomie von den Eltern, kritisches Denken, verantwortungsbewusstes Handeln. Die psychische Reife wird meist erst im Alter von achtzehn Jahren erlangt und teilweise noch später. In dieser Zeit spielen Vorbilder, Idole und Freunde eine große Rolle. Mit ihren Altersgenossen können sich Jugendliche vergleichen, anpassen oder abgrenzen. So kann es sein, dass sie sich von einem lebhaften, anschmiegsamen Kind, in einen störrischen Heranwachsenden entwickeln, Aggressionen zeigen oder Wutanfälle haben.[38] Unter der sozialen Reife wird verstanden, wenn die Person selbstständig und unabhängig von den Eltern eine Existenz aufbauen und sich selbst versorgen kann.[39] Das Alter zur Erlangung der sozialen Reife ist unterschiedlich und abhängig vom Bildungsgang. Durch die Verlängerung von Ausbildungs- und Studienzeiten setzt die soziale Reife häufig erst mit Ende 20 ein.[40]

Die verstärkte Hormonproduktion führt während der Pubertät oft zu starken Stimmungsschwankungen und zu körperlichen Veränderungen. Bei Mädchen liegt die körperliche Veränderung in der Schambehaarung, der Brustentwicklung sowie dem Wachstum und der Veränderung der Körperproportionen. Bei Jungen kommt es zum Hoden- und Peniswachstum, zur Schambehaarung, zum Stimmbruch und ebenfalls zum Wachstum und zur Veränderung der Körperproportionen.[41] Eltern beklagen sich in dieser Zeit häufig über Verhaltensauffälligkeiten ihrer heranwachsenden Kinder und zweifeln an ihrer Erziehung. Nach ELL liegt das Problem jedoch woanders. Seiner Meinung nach schulen Jugendliche in der Pubertät ihre Sinne zum zweiten Mal und entdecken, wie es ein Baby tut, ihre Sinne Riechen , Schmecken , Tasten , Hören und Sehen neu. So gehört für ELL zum Tastsinn die Erfahrung durch Bewegung. Jugendliche haben Schwierigkeiten stillzusitzen und erleben so den Reiz der Bewegungen. Das Neuentdecken des Schmeckens , erklärt ELL mit dem Drang der Jugendlichen, ständig etwas zwischen die Zähne zu nehmen. Dies kann ein Kaugummi sein, aber auch die Zigarette. Auch der Sinn des Riechens wird neu entdeckt. Während Mädchen mit Parfüm experimentieren, finden Jungen zum Beispiel Gefallen an ihrem Körpergeruch und die Körperpflege wird mehr und mehr zum Thema. Der Sinn des Sehens spielt bei Jugendlichen zum Beispiel in der Diskothek mit starken Lichteffekten eine Rolle. Auch Kino und Comics sind zu dieser Zeit sehr beliebt. Das Hören verdeutlicht ELL damit, dass Jugendliche gern möglichst laut Musik hören und es nicht schaffen, leise zu sein.[42]

Zu der Neuentdeckung der fünf Sinne kommen drei „Lüste“: Die Berührungslust, die Zeigelust und die Schaulust. Unter der Berührungslust wird die Freude der Entdeckung des eigenen Körpers verstanden. Dazu zählt unter anderem die Selbstbefriedigung. 95 % der Jungen und 60 % der Mädchen masturbieren. Meist geschieht es heimlich.[43] Die Zeigelust meint das Zurschaustellen des Körpers. Es wird mehr auf das eigene körperliche Erscheinungsbild geachtet. Mädchen fangen an, kurze Röcke zu tragen oder Oberteile mit tiefen Ausschnitten. Jungen tragen enge Hosen und vergleichen beim Sport unter der Dusche ihre Penislänge. Unter der Schaulust wird die Lust auf erotische und pornografische Darstellungen verstanden. Die Jugendlichen schauen sich Zeitschriften und Erotikfilme an. Der Reiz des Heimlichen ist ein Bestandteil davon.[44]

3.1.2 Die Pubertät von Jugendlichen mit geistiger Behinderung

Heute wird einerseits davon ausgegangen, dass Menschen mit Behinderung keine „andere Sexualität“ haben, sondern aufgrund der Umfeldbedingungen vielmehr eine verhinderte bzw. behinderte Sexualität. Andererseits erleben sie Phasen wie die Pubertät als Krisen, da die Erlangung der Geschlechtsreife weiter vorangeschritten sein kann, als ihre psychische und soziale Entwicklung.[45]

In der Regel erreichen Jugendliche mit einer geistigen Behinderung im gleichen Alter ihre sexuelle Reife, wie nicht behinderte Jugendliche[46]. Die größeren Schwierigkeiten zeigen sich jedoch in der psychischen Reife. Diese zu erreichen ist für die meisten Jugendlichen mit geistiger Behinderung sehr schwer und oft sogar unmöglich. Durch ihre eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten haben sie kaum eine Möglichkeit, sich selbstständig zu informieren.[47] Sie verstehen die Veränderungen ihres Körpers häufig nicht und erhalten häufig auch keine Begleitung oder Beratung.[48] Auch der Austausch mit Gleichaltrigen, der bei nichtbehinderten Jugendliche eine große Rolle spielt, kann nur sehr bedingt stattfinden.[49] Durch ihre Behinderung sind sie meist unter ständiger Aufsicht und können sich, selbst wenn die sprachlichen Fähigkeiten gegeben sind, nie ungestört austauschen. Ihre Freizeit verbringen sie meist mit den Eltern und der Kontakt zu Freunden ist oft sehr schwer möglich, da die Klassenkameraden häufig weit entfernt wohnen. Auch die Ablösung vom Elternhaus ist meist nicht möglich, da sie aufgrund ihrer Behinderung ihr Leben lang auf Hilfe und Betreuung angewiesen sind und auch noch als Erwachsene bei ihren Eltern leben.[50] Auch die Eltern wehren sich häufig gegen die Loslösung des Kindes, denn in der Betreuung des behinderten Kindes haben sie eine Lebensaufgabe gefunden.[51] Somit sind die meisten Kriterien, die in der Pubertät Jugendlicher ohne Behinderung eine enorme Rolle spielen, für Jugendliche mit geistiger Behinderung kaum oder nur unter sehr erschwerten Bedingungen möglich. Dennoch versuchen sie diesen Prozess des Erwachsenwerdens auf ihre Art zu meistern. Dies kann sich in verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten, wie zum Beispiel Aggressivität oder Rückzug zeigen. Auch die Frage nach dem Grund der Behinderung kann in dieser Zeit aufkommen[52], denn die Frage nach der eigenen Identität wird als zentrale Frage des Jugendalters verstanden. Dabei wird den Jugendlichen ihre Behinderung und Andersartigkeit bewusst und sie erleben sie häufig sehr leidvoll als Minderwertigkeit.[53]

Ebenso wie mit der psychischen Reife, verhält es sich mit der sozialen Reife. Kaum ein junger Mensch mit geistiger Behinderung wird je die Möglichkeit haben, finanziell selbstständig zu leben. Meist arbeiten sie in Werkstätten für Menschen mit geistiger Behinderung, wohnen bei den Eltern oder in Wohngruppen und werden ihr Leben lang von staatlichen Zuschüssen abhängig sein.[54]

Die Berührungslust, die Zeigelust und die Schaulust haben Jugendliche mit geistiger Behinderung ebenso wie andere Jugendliche. So masturbieren auch viele geistig Behinderte. Jedoch zeigt sich bei ihnen die Verständnisschwierigkeit von gesellschaftlichen Normen und sie neigen dazu, ihrer Lust immer dann nachzugehen, wenn ihnen danach ist. Sie achten nicht immer darauf, ob sie sich in der Öffentlichkeit befinden oder in ihrem Zimmer.[55] Von daher ergibt sich, dass der Umgang mit Normen und Werten ein ausdrücklicher Punkt der sexuellen Aufklärung sein sollte.[56]

Auch die Lust nach Berührungen anderer Menschen ist in der Zeit der Pubertät bei geistig behinderten Jugendlichen sehr hoch. Durch ihre oft sprachlichen Defizite können sie ihre Zuneigung zu einer Person mit Worten nicht ausdrücken und tun dies dann durch Umarmungen, spontane Küsse oder Anfassen.[57] Dies zeigt, dass Sexualerziehung in der Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung eine wichtige Rolle spielt und eine permanente Komponente der Persönlichkeits- und Sozialerziehung sein sollte.

3.2 Die Bedeutung von Sexualität für Menschen mit geistiger Behinderung

Genau wie alle anderen Menschen auch, erreichen fast alle Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Pubertät ihre sexuelle Reife. Dennoch gilt Sexualität im Zusammenhang mit geistiger Behinderung immer noch als Tabuthema und wird Menschen mit einer Behinderung nicht zugetraut oder abgesprochen. Doch wie oben gezeigt haben Menschen mit geistiger Behinderung die gleichen sexuellen Bedürfnisse, wie alle anderen. Die Vorurteile im Umgang mit Sexualität bei Menschen mit geistiger Behinderung reichen weit. Sie geht über die Annahme von Geschlechtslosigkeit, von besonders ausgeprägter Triebhaftigkeit bis hin zum aggressiven Ausleben von Sexualität. Gerade die Annahme von besonders ausgeprägter Triebhaftigkeit stellt sich als Problem dar. Natürlich gibt es auch Sexualstraftäter mit einer geistigen Behinderung, aber keine Statistik belegt, dass die Wahrscheinlichkeit höher ist.[58]

Von daher sollte anerkannt werden, dass die Bedeutung der Sexualität für Menschen mit geistiger Behinderung den gleichen Stellenwert hat, wie für andere Menschen. Nach KIECHLE ist „Sexualität (…) untrennbar mit dem Menschsein verbunden“[59] und stellt eine Lebenskraft da, die Menschen hilft, sich selbst zu entdecken und eine Identität zu entwickeln. Neben der Fortpflanzung bedeutet Sexualität auch Selbstverwirklichung und –entfaltung. Das bedeutet, selbst wenn einem Menschen aus biologischen oder anderen Gründen die Fortpflanzung nicht möglich ist, dürfen die weiteren Komponenten der Sexualität nicht unterdrückt werden.[60] Würde man Menschen mit einer geistigen Behinderung die Sexualität verwehren, hieße das, dass ihnen ein Teil der Identitätsentwicklung und der Selbstverwirklichung vorenthalten bliebe.

Laut KIECHLE sind viele Autoren sind der Meinung, dass weniger die genitale Sexualität bei Menschen mit geistiger Behinderung im Vordergrund steht, sondern mehr die Zuneigung und Zärtlichkeit. Zärtlichkeiten, Liebkosungen und Geborgenheit stellen einen menschlichen Beziehungswert dar, der nicht an genitale Sexualität gebunden sei. Hierbei stellt sich die Frage, warum genitaler Sexualität eine so unbedeutende Rolle zugewiesen wird, obwohl biologisch die sexuelle Reife voll erlangt wird? Hier liegt die Vermutung nahe, dass die Negierung der Genitalsexualität der angestrebte Weg ist, denn immer noch wird Genitalsexualität bei Menschen mit Behinderung durch gesellschaftliche oder religiöse Normen abgelehnt. Durch die Behauptung Genitalsexualität spiele keine große Rolle, werden Andeutungen am Interesse genitaler Sexualität nicht wahrgenommen. Somit müssen auch keine Möglichkeiten des Umgangs für die Menschen mit Behinderung geschaffen werden. Durch den Mangel an Möglichkeiten kann der Mensch mit einer geistigen Behinderung seine Bedürfnisse nicht äußern und übernimmt mit der Zeit die Ablehnung seiner Sexualität auch für sich (selbsterfüllende Prophezeiung). Sicherlich hat Sexualität im Allgemeinen für Menschen mit geistiger Behinderung weit mehr Bedeutung als die Genitalsexualität. Dennoch darf sie nicht ausgeblendet werden.[61] Hierbei spielt die sexuelle Selbstbestimmung eine wichtige Rolle, denn nur durch das ausdrückliche Anerkennen der Sexualität von Menschen mit geistiger Behinderung, haben diese Menschen überhaupt die Möglichkeit, ihre Sexualität nach eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Vorstellungen gestalten zu lernen.

Erkenntnis (1):

Emotionale und genitale Sexualität sind Voraussetzung einer gelingenden Identitätsentwicklung, auch bei Menschen mit geistiger Behinderung. Erkennt man ihre Sexualität nicht an, verwehrt man ihnen eine ganzheitliche Entwicklung ihrer Person.

3.2.1 Sexuelle Selbstbestimmung als Grundrecht für Menschen mit Behinderung

Selbstbestimmung gilt als allgemeines Bürgerrecht und meint das Recht darauf, in wichtigen Belangen seines Lebens selbst zu entscheiden.[62] In Bezug auf Sexualität definiert LAWS Selbstbestimmung „als Grad der Übereinstimmung zwischen Wunsch und tatsächlicher Aktivität – sowohl hinsichtlich der Quantität wie auch der Qualität sexueller Aktivität. Diese Variable ist unabhängig von der sexuellen Aktivität: Jemand der/die sexuell selbstbestimmt lebt, kann gleichermaßen sexuell aktiv oder inaktiv leben – solange diese Lebensform mit den eigenen Wünschen über einstimmt.“[63]

Um auf die sexuelle Selbstbestimmung bei Menschen mit geistiger Behinderung einzugehen, ist es hilfreich, sich einige Gesetzesartikel näher anzuschauen. In Artikel 2 des Grundgesetzes heißt es: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Des Weiteren wird in Artikel 3 des Grundgesetzes darauf verwiesen, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf.[64] Demnach hat ein Mensch mit geistiger Behinderung die gleichen Grundrechte wie jeder andere Bürger. Aus der Kombination dieser beiden Artikel lässt sich daraus ein Recht auf möglichst selbstbestimmte Sexualität und Partnerschaft ableiten.[65] Um diesem Recht nachzukommen, geht der §1901 des BGB ins Detail und beschreibt dem Umfang der Betreuung sowie die Pflichten des Betreuers im Falle einer gesetzlichen Betreuung: „Der Betreuer hat die Angelegenheiten des Betreuten so zu besorgen, wie es dessen Wohl entspricht. Zum Wohl des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eignen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.“ Dies bedeutet, dass Menschen mit geistiger Behinderung Beziehungen eingehen dürfen, ihre Persönlichkeit entfalten dürfen und (bei Geschäftsfähigkeit) auch heiraten dürfen. Sie haben wie alle anderen Menschen auch, das Recht auf eigene Kinder, ein Recht gleichgeschlechtlich lieben zu dürfen und Recht darauf, eine gleichgeschlechtlich eingetragene Partnerschaft einzugehen.[66]

Trotz aller Rechte ist sexuelle Selbstbestimmung immer noch keine Selbstverständlichkeit. Durch die soziale Abhängigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung geht die Verantwortung für diesen Teil der Lebensführung auf die Betreuer über und nicht selten wird über die Sexualität dieses Menschen entschieden, ohne die persönlichen Wünsche zu respektieren. Dabei sollte es die Aufgabe der Betreuungspersonen sein, eine eigen verantwortete Sexualität zu unterstützen die mit dem religiösen, moralischen und persönlichen Selbstverständnis der Betreuungsperson übereinstimmt.[67]

Hierbei stellt sich die Frage, was wir konkret unter sexueller Selbstbestimmung bei Menschen mit geistiger Behinderung verstehen. Denn neben der offensichtlichen sexuellen Selbstbestimmung, wie zum Beispiel freie Partnerwahl und ähnliches, fängt für die meisten Menschen mit geistiger Behinderung die sexuelle Selbstbestimmung schon wesentlich früher an. So lauten die Forderungen von Menschen mit Lernschwierigkeiten in einem Vortrag mit dem Titel „Nichts über uns ohne uns!“ ganz konkret:

- „Alle haben ein Recht auf ein eignes Zimmer. Man muss die Zimmer abschließen dürfen.
- Man muss selbst entscheiden dürfen, wann man sein Zimmer abschließt.
- Alle haben ein Recht auf getrennte Duschen für Männer und Frauen. (…)
- Es darf nicht verboten sein, wenn 2 Frauen ein Paar sind oder wenn 2 Männer ein Paar sind.
- Alle Paare müssen in Wohneinrichtungen zusammen wohnen können. (…)
- Alle haben ein Recht aufgeklärt zu werden, zum Beispiel über Verhütung. (…)
- Alle Menschen haben ein Recht, Kinder zu bekommen und groß zu ziehen.“[68]

[...]


[1] SGB IX §2 Abs. 1

[2] Vgl. Fornefeld 2000, S. 45ff

[3] Vgl. Suhrweier 1999, S. 21

[4] Speck 1999, S. 43

[5] Vgl. Fornefeld 2000, S. 47ff

[6] Vgl. Speck n. Staudenmaier 2004, S. 15

[7] Vgl. Fornefeld 2000, S. 51

[8] Vgl. Staudenmaier 2004, S. 14

[9] Vgl. Fornefeld 2000, S. 51f

[10] Vgl. Bach 2002, S. 376

[11] Vgl. Fornefeld 2000, S. 55

[12] Vgl. Speck 1990, S. 46

[13] Vgl. Fornefeld 2000, S. 56

[14] Vgl. Staudenmaier 2004, S. 15

[15] Vgl. Fornefeld 2000, S. 57

[16] Vgl. Bosch/Suykerbuyk 2006, S.18

[17] Vgl. Fornefeld 2000, S. 58ff

[18] Vgl. Staudenmeier 2004, S. 16

[19] Vgl. Bosch/Suykerbuyk 2006, S. 18

[20] Vgl. Speck 1990, S. 56

[21] Fornefeld 2000, S. 67

[22] Vgl. ebd. S. 67

[23] Vgl. Fornefeld 2000, S. 75

[24] Vgl. Speck 1990, S. 53

[25] Vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland

[26] Vgl. Bach 2002, S. 376

[27] Vgl. Fornefeld 2000, S. 58

[28] Vgl. Dannecker 2002, S. 830

[29] Vgl. Stinkes (o.J.), S. 1ff

[30] Vgl. Römer 1995, S. 11

[31] Vgl. Senckel 1999, S. 9

[32] Vgl. Walter 1980, S. 32

[33] Vgl. Stinkes (o.J.), S. 4

[34] Vgl. Silbereisen/Weichold 2002, S. 749

[35] Vgl. Walter 1992, S. 160

[36] Vgl. Achilles 2002, S. 43

[37] Vgl. Walter 1992, S. 161

[38] Vgl. Achilles 2002, S. 43f

[39] Vgl. Walter 1992, S. 161

[40] Vgl. Lempp 1992, S. 176

[41] Vgl. Silbereisen/Weichold 2002, S. 749

[42] Vgl. Ell n. Achilles 2002, S. 46

[43] Vgl. Achilles 2002, S. 47

[44] Vgl. Römer 1995, S. 19

[45] Vgl. Stinkes (o.J.), S. 2ff

[46] Vgl. Römer 1995, S. 15

[47] Vgl. Achilles 2002, S. 43f

[48] Vgl. Lempp 1992, S. 176

[49] Vgl. Bosch/Suykerbuyk 2006, S. 50

[50] Vgl. Achilles 2002, S. 44

[51] Vgl. Lempp 1992, S. 177

[52] Vgl. Achilles 2002, S. 44f

[53] Vgl. Walter 1992, S. 166

[54] Vgl. Achilles 2002, S. 45

[55] Vgl. ebd. S. 47

[56] Vgl. Bosch/Suykerbuyk 2006, S. 52

[57] Vgl. Achilles 2002, S. 47ff

[58] Vgl. Leue-Käding 2004, S. 41

[59] Kiechle/Wiedmaier 1998, S. 40

[60] Vgl. ebd. S. 40

[61] Vgl. Kiechle/Wiedmaier 1998, S. 41ff

[62] Vgl. Osbahr 2000, S. 133

[63] Laws zit. n. Nau 2003, S. 18

[64] Vgl. Pro Familia (Hg) 1998, S. 13

[65] Vgl. Kiechle/Wiedmaier 1998, S. 89/90

[66] Vgl. Pro Familia (Hg) 1998, S. 13

[67] Vgl. Kiechle/Wiedmaier 1998, S. 89/90

[68] Groß 2007, S. 20

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783836629836
DOI
10.3239/9783836629836
Dateigröße
3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Evangelische Hochschule Darmstadt, ehem. Evangelische Fachhochschule Darmstadt – Sozialarbeit
Erscheinungsdatum
2009 (Mai)
Note
1,7
Schlagworte
sexualität geistige behinderung partnerschaft kinderwunsch behindertenarbeit
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Titel: Partnerschaft und Kinderwunsch bei Menschen mit geistiger Behinderung
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