Lade Inhalt...

Berliner Mauer und Deutsche Frage im bundesrepublikanischen Spielfilm 1982-2007

©2008 Magisterarbeit 170 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
‘Die Lage unserer Nation spiegelt sich im Schicksal der Stadt Berlin. Seit Kriegsende geteilt, gehört die Stadt zwei verschiedenen Welten an, die sich hier auf engstem Raum gegeneinander darstellen und abgrenzen. Die Mauer in Berlin ist zum weltweit bekannten Symbol der gewaltsamen Teilung Deutschlands geworden. (…) Berlin bleibt Gradmesser für die Ost-West-Beziehungen, Berlin bleibt das Symbol für die offene deutsche Frage’.
Helmut Kohls Rhetorik aus dem Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland vom 23. Juni 1983 ist nur eine von unzähligen, in Kapitel 2.3 näher auszuführenden Bemerkungen aus Politik, Wissenschaft und Publizistik, die eine Verbindung zwischen der Stadt Berlin, seiner Mauer und der Deutschen Frage herstellen. Nach 1945 bezeichnete sie die Frage der Teilung Deutschlands und ihrer Überwindung, die Fragen zu wem und wohin die Deutschen gehören und wie sie ihre eigene kollektive Identität mit der Gestaltung Europas verbinden.
Zu dieser Problematik spiegelte Berlin als Schaufenster der Systemkonkurrenz die Entwicklung in Deutschland, Europa und der Welt nach 1945 wider. Berlin war der Ort, an dem die deutsche Teilung für alle sichtbar war, der wie kein zweiter durch seine bloße Existenz die ungelöste Deutsche Frage symbolisierte. So wurde Berlin in der Literatur der Nachkriegszeit, vor allem aber seit dem Mauerbau vom 13. August 1961 zu dem Ort, um sich mit der deutschen Teilung zu beschäftigen. Auch nach der Öffnung der Grenze am 9. November 1989 musste ‘die Stadt als Projektionsfläche für jedermann herhalten. Sie wurde zur ‚Werkstatt der Einheit’, zur ‚Drehscheibe zwischen Ost und West’, zum Energiezentrum einer nach ihr benannten Republik’. Daher konzentrieren sich ebenfalls die gesellschaftliche und wissenschaftliche Aufarbeitung von NS- und DDR-Geschichte auf die neue (alte) Hauptstadt.
Auch dem deutschen Film diente Berlin seit der Weimarer Republik zur Herausbildung zahlreicher Topoi, und heute ist die Stadt wieder ‘Deutschlands filmreifste Kulisse’. Das hilft erklären, warum auch die bundesdeutschen Grenzfilme nur selten an der ‚grünen’ innerdeutschen Grenze, weit häufiger aber in Berlin und an seiner Mauer spielen. Die Berliner Mauer: das war die in mehreren so genannten ‚Generationen’ um die drei alliierten Westsektoren der Stadt gebaute Grenzbefestigung. Nach über 28 Jahren und zwei Monaten fiel sie infolge ihrer Öffnung dem Abriss und der Musealisierung anheim. Weit wichtiger als […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Benjamin Magofsky
Berliner Mauer und Deutsche Frage im bundesrepublikanischen Spielfilm 1982-2007
ISBN: 978-3-8366-2823-5
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2009
Zugl. Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland, Magisterarbeit,
1940
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,
insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von
Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der
Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen,
bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung
dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen
der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich
vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des
Urheberrechtes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in
diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,
dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei
zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können
Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden und der Verlag, die Autoren oder
Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für evtl.
verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2009

Inhalt
1 Begrenzte Einheit: Einleitende Bemerkungen... 5
1.1 Wege zum Thema, Fragestellung und Abgrenzung der Arbeit... 5
1.2 Selektionskriterien und Auswahl der Filme... 8
1.3 Forschungsstand zu den ausgewählten Filmen und dem Thema der Arbeit... 13
1.4 Begründung der Gliederung und Aufbau der Arbeit... 15
2 Geschichts- und erinnerungskulturelle Konzeptualisierung des Themas... 18
2.1 ,Die Mauer im Kopf' ­ Die Berliner Mauer, ihre Bedeutungen und Identitäten... 18
2.2 Die deutsche Nation als vorgestellte und begrenzte Gemeinschaft... 20
2.3 Eine kurze Skizze der Deutschen Frage in der Geschichtskultur der 1980er-Jahre... 23
2.4 Auf dem Weg zum kollektiven Gedächtnis der deutschen Nation... 28
2.5 Der Erinnerungsort Berliner Mauer und die Deutsche Frage... 33
2.6 Die Berliner Mauer und die Deutsche Frage im Problem der Generationen... 35
2.7 Der nationale Erinnerungs- und Erwartungsort Berliner Mauer im Film... 36
3 Berliner Mauer und Deutsche Frage im Spielfilm der 80er-Jahre... 41
3.1 Der Mann auf der Mauer ­ Der Patriotismus von links und der ,Dritte Weg'... 41
3.1.1 Die ,Diktatur der Mauer'... 41
3.1.2 Geschichts- und erinnerungskulturelle Symboliken der Mauer: Liebe und Moses... 42
3.1.3 Die Berliner Mauer, die offene Deutsche Frage und der ,Dritte Weg'... 44
3.1.3.1 Positionen der Filmfiguren zu Mauer und Deutscher Frage... 44
3.1.3.2 Kabe, der linke Patriotismus und der ,Dritte Weg'... 49
3.1.4 Der Erwartungsort Berliner Mauer im ,Dritten Weg'... 52
3.2 Meier ­ Mauerspringen ohne Diktatur und gesamtdeutsche Nation... 55
3.2.1 Die selbst gesetzte ,Diktatur der Grenze(n)'... 55
3.2.2 Geschichtskulturelle Symboliken der Mauer zu Reisen, Tapeten und Orden... 56
3.2.3 Die Berliner Mauer und die offene, aber unbemerkte Deutsche Frage... 58
3.2.4 Gewöhnung an die Mauer und fehlende Hoffnung auf ihren Fall... 63
3.3 Der Himmel über Berlin ­ Grenze(n) und Erinnerungen im ,,Epos des Friedens"... 64
3.3.1 Die ,Diktatur der Grenze(n)' im Himmel und auf Erden... 64
3.3.2 Erinnerungskulturelle Symboliken von Nation und Mauer, Krieg und Frieden... 65
3.3.3 Die Berliner Mauer und die Deutsche Frage in Geschichte und Gedächtnis... 69
3.3.4 Erwartungsort Berliner Mauer zwischen Frieden und Einheit... 73
3.4 Zwischenfazit zur Berliner Mauer und Deutschen Frage im 80er-Jahre Film... 76
2

4 Berliner Mauer und Deutsche Frage im kommunikativen Gedächtnis
der Spielfilme nach 1989/90... 81
4.1 Das Versprechen ­ offene Fragen und ,innere Einheit' in 28 Jahren Berliner Mauer 81
4.1.1 Die ,Diktatur der Mauer' in der Erinnerung... 81
4.1.2 Erinnerungskulturelle Symboliken der Mauer zwischen Stasi, Kirche und Liebe... 82
4.1.3 Berliner Mauer und die Suche nach der Offenheit der Deutschen Frage... 85
4.1.3.1 Die private und die Deutsche Frage festgemauert?... 85
4.1.3.2 Die Mauer, die private und die Deutsche Frage in den 80er-Jahren... 88
4.1.4 Der unerwartete Mauerfall als Erinnerungsort und die ,innere Einheit'?... 91
4.2 Sonnenallee ­ farben-,,reiche Erinnerungen" vom ,,antifaschistischen Schutzwall"... 94
4.2.1 Die heile Welt der ,Diktatur der Grenze(n)'... 94
4.2.2 Erinnerungskulturelle Symboliken der Mauer von Ost- contra West-Sicht...96
4.2.3 Die Berliner Mauer und die (Neue) Deutsche Frage... 100
4.2.3.1 Verdrängung der Mauer vs. Offenhaltung der Deutschen Frage... 100
4.2.3.2 Die Erfindung der ,DDR-Identität'... 104
4.2.4 Erinnerungsort Mauerfall als ,friedliche ostdeutsche Revolution'... 106
4.3 Das Leben der anderen ­ vom guten Menschen an der unsichtbaren Front... 109
4.3.1 Die ,Diktatur der Grenze(n)' in der Erinnerung... 109
4.3.2 Erinnerungskulturelle Symboliken der Mauer zwischen Stasi und Theater... 111
4.3.3 Die Berliner Mauer und die Verfechter der offenen Deutschen Frage... 114
4.3.4 Erinnerungsort Mauerfall und der Deutungskampf um die ,innere Einheit'... 116
4.3.4.1 Der Erinnerungs- und Erwartungsort 9. November 1989... 116
4.3.4.2 Die ,innere Einheit' und die Neue Deutsche Frage... 119
5 Fazit: Die Berliner Mauer und die (Neue) Deutsche Frage im Spielfilm... 123
5.1 Die Symbolik der Berliner Mauer in Geschichts-, Erinnerungskultur und Film... 123
5.2 Die (Neue) Deutsche Frage in Geschichts-, Erinnerungskultur und Film... 127
5.3 Rückschlüsse auf den geschichts- und erinnerungskulturellen Rahmen...133
5.4 Ausblick und Perspektiven künftiger Forschung zur Mauer und Nation im Film... 136
Anhang... 139
a) Inhaltsangaben der ausgewählten Filme... 139
b) Filmverzeichnis... 143
c) Gesetzestexte, Vertragswerke und Textausgaben... 146
d) Literatur... 147
3

Vorwort
Vor über einem Jahr neigte sich mein Studium langsam den Ende zu und ich suchte noch immer
ein Thema für meine Magisterarbeit. Als ich im Kino meiner Geburtsstadt den gerade für den
Oscar nominierten Film Das Leben der anderen sah, bemerkte ich sehr erfreut, dass sich die
Geschichtswissenschaft doch des Themas Berliner Mauer im Film annehmen könnte. Das
Forschungs-Desiderat bestärkte mich in dieser Vermutung, und die Vorbereitung mit den hier
notwendigen Sonderschichten an Videorekorder und DVD-Player nahm ab Herbst ihren Lauf.
Am 2. April 2008 aber, 20 Tage vor Abgabe der bei Weitem nicht fertigen Magisterarbeit
scheinen, nachdem mein Rechner bereits kurz zuvor des Öfteren unter meinem Betriebssystem
und Schreibprogramm abgestürzt ist, die Tage der Software nun endgültig gezählt. Ich stelle um
auf Freeware. Es funktioniert. Zumindest einen Tag. Dann muss das Betriebssystem
ausgetauscht werden. Und der Rechner läuft. Eine Weile. Doch immer wieder stürzt er ab.
Als ich die Arbeit an anderen verfügbaren Computern fertigstellen will, stelle ich fest, dass
bei nicht exakt deckungsgleicher Software die Seitenzahl (warum auch immer) um bis zu 22
Seiten ansteigt, eine ,Freude', die ich den Gutachtern ersparten wollte. Ich hoffe, mein Rechner
werde bis zum Abgabetermin durchhalten. Am 15. April, sieben Tage vor dem Abgabetermin,
wurde aus Hoffnung Ernüchterung. Beim PC geht nichts mehr. Außer der Lüfter. Da stellt mir
freundlicherweise mein Nachbar, Gunnar Asmussen, halbtags seinen software-gleichen Rechner
zur Verfügung, sodass die Arbeit endlich am 22. April abgegeben werden kann. Ihm gilt es für
seine Hilfsbereitschaft ebenso zu danken wie Thomas Lindenberger, der uneigennützig einem
unbekannten Studenten wichtige Film- und Fokussierungstipps zur Arbeit gab.
Aber ohne meine Korrekturleser, deren Einsatz, Tipps und wertvollen Verbesserungen wäre
die Arbeit kaum über ein Rohstadium hinausgekommen. Jens Gürtler und Jan Schulte Südhoff
fanden trotz Examensprüfungen bzw. Referendariat die Zeit, die Arbeit in einem frühen Stadium
inhaltlich in die richtige Bahn zu lenken. Michael Magofsky hat, wie immer kritisch zu allem,
was sein kleiner Bruder so anstellt, in der Endphase der Arbeit noch wichtige inhaltliche
Hinweise gegeben. Für die gründliche formale Korrektur der fertigen Arbeit gilt es Christof
Drechsler und (für weit mehr als die Korrektur) meiner Freundin Bettina Eisler zu danken.
Dass es überhaupt so weit kommen konnte, dafür schulde ich neben weiteren Dozenten im
Laufe des Studiums allen voran Hans-Ulrich Thamer Dank. Bei ihm habe ich nicht nur einen
geschichts- und erinnerungskulturellen Weg zum Thema Geschichte im Film gefunden; er half
auch als Betreuer der Arbeit, die theoretisch-konzeptionelle Grundlegung auf die geeignete
Filmauswahl, die Deutsche Frage und die konstruktivistische Nationstheorie zu fokussieren.
Der größte Dank aber gilt selbstverständlich für vieles Weitere meinen Eltern.
Münster, im April 2008
Benjamin Magofsky
4

1 Begrenzte Einheit: Einleitende Bemerkungen
1.1 Wege zum Thema, Fragestellung und Abgrenzung der Arbeit
,,Die Lage unserer Nation spiegelt sich im Schicksal der Stadt Berlin. Seit Kriegsende geteilt, gehört die
Stadt zwei verschiedenen Welten an, die sich hier auf engstem Raum gegeneinander darstellen und abgren-
zen. Die Mauer in Berlin ist zum weltweit bekannten Symbol der gewaltsamen Teilung Deutschlands ge-
worden. [...] Berlin bleibt Gradmesser für die Ost-West-Beziehungen, Berlin bleibt das Symbol für die of-
fene deutsche Frage."
1
Helmut Kohls Rhetorik aus dem Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland vom 23.
Juni 1983 ist nur eine von unzähligen, in Kapitel 2.3 näher auszuführenden Bemerkungen aus
Politik, Wissenschaft und Publizistik, die eine Verbindung zwischen der Stadt Berlin, seiner
Mauer und der Deutschen Frage herstellen. Nach 1945 bezeichnete sie die Frage der Teilung
Deutschlands und ihrer Überwindung, die Fragen zu wem und wohin die Deutschen gehören
und wie sie ihre eigene kollektive Identität mit der Gestaltung Europas verbinden.
2
Zu dieser Problematik spiegelte Berlin als Schaufenster der Systemkonkurrenz
3
die Entwick-
lung in Deutschland, Europa und der Welt nach 1945 wider. Berlin war der Ort, an dem die
deutsche Teilung für alle sichtbar war, der wie kein zweiter durch seine bloße Existenz die un-
gelöste Deutsche Frage symbolisierte.
4
So wurde Berlin in der Literatur der Nachkriegszeit, vor
allem aber seit dem Mauerbau vom 13. August 1961 zu dem Ort, um sich mit der deutschen Tei-
lung zu beschäftigen. Auch nach der Öffnung der Grenze am 9. November 1989 musste ,,die
Stadt als Projektionsfläche für jedermann herhalten. Sie wurde zur ,Werkstatt der Einheit', zur
,Drehscheibe zwischen Ost und West', zum Energiezentrum einer nach ihr benannten
Republik"
5
. Daher konzentrieren sich ebenfalls die gesellschaftliche und wissenschaftliche Auf-
arbeitung von NS- und DDR-Geschichte auf die neue (alte) Hauptstadt.
6
Auch dem deutschen Film diente Berlin seit der Weimarer Republik zur Herausbildung
zahlreicher Topoi,
7
und heute ist die Stadt wieder ,,Deutschlands filmreifste Kulisse"
8
. Das hilft
erklären, warum auch die bundesdeutschen Grenzfilme nur selten an der ,grünen' innerdeut-
schen Grenze, weit häufiger aber in Berlin und an seiner Mauer spielen.
9
Die Berliner Mauer:
1
Kohl 1983: 15; s. ähnlich auch schon Brandt 1963: 407.
2
Vgl. Geiss 1992: 78, Stürmer 1988: 7; vgl. zum europäischen Rahmen Gruner 1993, zur Identität Kap. 2.1.
3
Lemke 2006; vgl. auch Bredow 1985: 26, Kießling 1999: 58, Kil 2000: 373, und Wetzlaugk 1985: 194.
4
Vgl. Bender 2007: 69, Dann 1992: 321, Matern 1991: 27, Schwan 1988: 154, und Wolfrum 2006: 190.
5
Bisky 2005: 194; vgl. zur Bedeutung Berlins in der Literatur Frech 1992: 8, und Wolfrum 2005: 388.
6
Vgl. zur NS-Aufarbeitung Bösch 2007: 22 f., und zur DDR-Aufarbeitung die öffentliche Anhörung zur Schaffung
eines ,Geschichtsverbundes SED-Diktatur' (Sabrow u. a. 2006: 141 ff., Sabrow u. a. 2007: 190 f.)
7
So steht Berlin als filmischer Ort neben vielen anderen Topoi etwa für den ,,Mythos Großstadt- und Asphaltd-
schungel ebenso wie für die Vorstellung von der Provinz in der Metropole" (Jacobsen 1998: 8).
8
Meiritz 2007. Noch in den 70er-Jahren lag Berlin abgeschlagen hinter München (Elsaesser 1994: 86 f.).
9
Von den bundesdeutschen Kinofilmen der letzte drei Jahrzehnte spielen ­ ohne Anspruch auf Vollständigkeit ­
nur Der Willi-Busch-Report (1977), dessen Fortsetzung Deutschfieber (1992), und Der Verdacht (1991) allein an
der innerdeutschen Grenze. Hinzu kommen u. a. die Fernsehfilme German Dreams (1985) und An die Grenze
(2007). Unter den dem Verfasser bekannten 18 Kinofilmen, die dagegen an der Mauer spielen, wurden nur sieben
vor ihrem Fall gedreht: Die allseitig reduzierte Persönlichkeit ­ Redupers (1977), Einmal Kudamm und zurück
(1985), Der Mann auf der Mauer (1982), Meier (1986) und Der Himmel über Berlin (1987). Die unzähligen
5

das war die in mehreren so genannten ,Generationen' um die drei alliierten Westsektoren der
Stadt gebaute Grenzbefestigung. Nach über 28 Jahren und zwei Monaten fiel sie infolge ihrer
Öffnung dem Abriss und der Musealisierung anheim.
10
Weit wichtiger als ihre technischen Da-
ten und ihre Geschichte erscheint aber ihre symbolische Bedeutung als innerstädtische, nationale
und globale Scheidelinie zwischen West und Ost, Kapitalismus und Sozialismus, Freund und
Feind. Um nur vier Beispiele dieses in Kapitel 2.4 näher zu erläuternden Erinnerungsortes zu
nennen, so betonen die einen, die Mauer habe die West-Berliner in ihrem Gefühl von ,,Einge-
schlossensein" und ,,Fernweh"
11
bestärkt, während andere glauben, man habe aufgrund der Mau-
er in Berlin ,,so frei denken und leben [können] wie nirgendwo sonst in Deutschland"
12
. Aus der
Perspektive europäischer Politiker war sie ein Symbol der Teilung Deutschlands und Europas
13
,
in globaler Sichtweise ,,die zu Beton erstarrte Frontlinie des Kalten Krieges"
14
.
Hergeleitet aus dieser welthistorischen Bedeutung der Deutschen Frage und der Berliner
Mauer analysiert die vorliegende Arbeit ihre symbolische Verbindung im bundesrepubli-
kanischen Spielfilm von 1982 bis 2007. Konkret heißt dies, was in den Kapiteln 1.4 und 2 be-
gründet und kontextualisiert wird, zu fragen: Welche Nationsverständnisse verknüpfen die Fil-
me mit der Mauer? Wird eine gesamtdeutsche Nation oder werden mehrere Teilnationen ausge-
drückt und welche Lehren ziehen die Filme daraus? Werden in synchroner und diachroner Per-
spektive Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen ihnen deutlich? In welchem Verhältnis
stehen die Filmdarstellungen zu den damaligen politisch-kulturellen Vorstellungen und wissen-
schaftlichen Erkenntnissen und welche Gründe sind für etwaige Abweichungen zu suchen?
Wurde nun die geschichtswissenschaftliche Fragestellung im Film gefunden, sind erste
Kritiker mit altbekannten Argumenten oft nicht allzu fern. Denn die Filmgeschichte fristet
,,innerhalb der Geschichtswissenschaft ein Nischendasein [...], das nach wie vor ein Hauch von
Luxus umgibt"
15
. Nur selten an Historischen Seminaren thematisiert, wird der Spielfilm zumeist
stiefmütterlich behandelt, weshalb die Interpretation und Einordnung seiner Bilder den
Historikern nach wie vor schwer fällt.
16
Das steht im deutlichen Kontrast zu den seit den 70er-
(Nach-)Wende-Filme (vgl. dazu ausführlich Naughton 2002) nicht hinzugerechnet, entstanden mindestens 13 Mau-
erfilme erst nach ihrer Öffnung, die meisten frühestens zehn Jahre nach den Ereignissen: Führer Ex (2002), Good
Bye, Lenin! (2003), Helden wie wir (1999), Herr Lehmann (1999), Das Leben der anderen (2006), Sonnenallee
(1999), Das Versprechen (1995), Wiederkehr (1994), Wie Feuer und Flamme (2001) und Zwischen Pankow und
Zehlendorf (1991) sowie einzelne Szenen aus Apfelbäume (1992), Der rote Kakadu (2005) und Die Verfehlung
(1991). Hinzu kommen neben wenigen älteren Fernsehfilmen wie Berlin Mitte (1980) vor allem viele neuere:
Abgehauen (1998), Die Frau vom Checkpoint Charlie (2007), Lilly unter den Linden (2002), Die Mauer. Berlin '61
(2005), Prager Botschaft (2007) und Das Wunder von Berlin (2008). Eine leider bei Weitem nicht vollständige Lis-
te von Mauerspiel- und Dokumentarfilmen findet sich auf der Internetseite http://www.chronik-der-mauer.de.
10
Zuletzt begrenzten auf ca. 156km Länge zwei 3,60m bis 4,20m hohe Mauern den zwischen 15 und über 150m
langen ,Todesstreifen' (vgl. zu Daten und Fakten Flemming / Koch 1999: 44, 55 ff., 82 ff., und Hertle 2007: 18 f.,
94 ff.); vgl. zur Musealisierung Flemming / Koch: 126-31, Kaminsky 2007: 45-154, und Ulrich 2006.
11
Wolfrum 2005: 388.
12
Holighaus 1995: 3.
13
So Kohl 1983: 15, aber auch etwa Schneider 1990: 22.
14
Flemming / Koch 1999: 132; vgl. ähnlich Hertle 2007, Kohl 1983: 15, und Stöver 2007: 452.
15
Riederer 2006: 97.
16
Vgl. Paul 2006: 9, Steinbach 1999: 34, und Riederer 2006: 97 f.
6

Jahren erkennbaren Forderungen nach einer stärkeren Integration audio-visueller Quellen in die
historische Forschung.
17
Denn während in den Filmwissenschaften seit den 80er-Jahren ein ver-
stärktes Interesse an der Filmgeschichte festzustellen ist, werden Filmgeschichte und historische
Spielfilme erst in den letzten Jahren zunehmend von Geschichtswissenschaftlern und
-didaktikern analysiert.
18
So reift gegen Hans Rothfels, dessen Zeitgeschichte primär schriftliche Quellen im Auge
hatte, die Erkenntnis, vor allem die Zeitgeschichte könne auf audio-visuelle Quellen nicht
(mehr) verzichten; es müsse also eine Reflexion der ,Mitlebenden' auch als ,Mithörende' und
,Mitsehende' einsetzen. Denn ihre Lebenswelt ist verstärkt durch Radio, Film und Fernsehen
geprägt, während von Filmwissenschaftlern, Zeitzeugen und den audio-visuellen Medien selbst
die oft beanspruchte Deutungshoheit der Vergangenheit durch Geschichtswissenschaft (und ­
unterricht) in Frage gestellt wird.
19
Die Erforschung der Zeitgeschichte darf aber nicht den
Zeitzeugen, den oft betitelten ,Feinden des Historikers'
20
überlassen werden. So liegt nämlich
ein wichtiger Quellenwert des Films im unbeabsichtigten Transport selbstverständlicher, aber
dennoch gesellschaftlich gebundener zeitgenössischer Einstellungen, hier: der Intentionen der
Filmemacher. ,,Für die Rekonstruktion von Erfahrungshorizonten sind Filme als Dokumente der
Zeit und der Gesellschaft, in der und für die sie produziert worden sind, ausgezeichnete
Quellen."
21
Dabei darf die Forschung jedoch nicht auf Archivmaterial und Diskussionen aus
Wissenschaft, Politik und Publizistik verzichten; vielmehr sind sie erst die notwendige Voraus-
setzung jeder geschichtswissenschaftlichen Filmanalyse. Sie müssen daher auch in dieser Arbeit
mit in die Analyse einfließen, um die Filme selbst besser verstehen zu können.
Öffnet sich durch diesen Zugriff ein breites Feld politischer Ideengeschichte, soll neben Hin-
weisen zur Orthographie und Zitiertechnik
22
vorab erwähnt werden, dass die ganze Vielfalt
möglicher Filmanalysezugriffe
23
nicht berücksichtigt werden kann: Weder werden die genre- ty-
pischen Eigenschaften der Filme noch ihre Handlungen miteinander verglichen. Sofern einzelne
ausgewählte Filme nicht bekannt sind, ist des Verständnisses wegen in jedem Falle vor den ein-
zelnen Kapiteln die jeweilige Inhaltsangabe im Anhang zu lesen. Analysen einzelner Sequenzen,
Einstellungen und Schnitte, von Musik, Geräuschen etc. können ebenfalls nicht mit in die Arbeit
17
Vgl. zur Forschungsübersicht Paul 2006, sowie zu den Forderungen etwa auch Steinbach 1999: 50.
18
Vgl. zur Filmgeschichte in den Filmwissenschaften Jacobsen / Kaes / Prinzler 2004: 8, zur Umsetzung in der
Zeitgeschichte Wilharm 2006: 11, sowie Pflüger / Schneider 2006: 192, für die Geschichtsdidaktik.
19
Vgl. Lindenberger 2004b, Möller 2001: 10 f., Wineburg 2001: 204. So wurde nachgewiesen, dass Schüler ihr Ge-
schichtsbild stärker aus Hollywood-Filmen als aus Geschichtsbüchern gewinnen (Assmann 2001: 114).
20
Vgl. zu diesem geflügelten Wort, seinen Ursachen und seiner Berechtigung Hockerts 2002: 48 ff.
21
Wilharm 2006: 17, 243 f. (Zitat). Dagegen wird oft die Aussagekraft von Dokumentarfilmen überschätzt.
22
In der Filmforschung werden einzelne Szenen, Zitate oder Bilder zumeist nicht näher nachgewiesen. Um in der
Magisterarbeit diesen semi-professionellen Umgang in Sachen Zitiertechnik zu vermeiden, werden die Filme in ih-
rer (Stunden- und) Minutenanzeige (ohne Sekunden) angegeben, wobei in den Kapiteln zum jeweiligen Film dieser
nicht eigens aufgeführt wird (z. B. 4, 33, 1.07). Alles in den Anmerkungen kursiv Gesetzte zum Film ist auf den im
Handel erhältlichen DVDs enthalten. Der Einheitlichkeit wegen werden die Filmzitate und -dialekte der Neuen
deutschen Rechtschreibung angepasst; vgl. zu der Symbolik von Dialekten im DDR-Film Dell 2005: 150 f.
23
Vgl. hierzu und im Folgenden Faulstich 2002.
7

einfließen. Romanvorlagen, Drehbücher, Begleitmaterial etc. werden in wichtigen ergänzenden
Kommentaren hinzugezogen, sonstige Parallelen oder Abweichungen zum Film aber nicht
eigens erläutert. Das gilt auch für den Bezug zu anderen Filmen des Regisseurs und zu den Pro-
duktionsbedingungen. Da ausschließlich die Inputseite der Filme thematisiert wird, muss des
Weiteren eine Rezeptionsanalyse einer anderen Untersuchung vorbehalten bleiben. Wie in den
Kapiteln 2.1 und 2.7 noch begründet wird, soll es auch nicht darum gehen, die Filmdarstellung
mit der ,historischen Korrektheit' der Mauergeschichte zu vergleichen; allein auf grobe Fehler
wird der Genauigkeit halber in den Anmerkungen hingewiesen.
Dieser Ausschluss von möglichen Zugriffen ermöglicht im Gegenzug, die in den Filmen und
anhand ihrer Figuren dargestellten Symboliken der deutschen Nation und der Berliner Mauer
detaillierter zu untersuchen. So können insgesamt sechs Filme in die Analyse aufgenommen
werden, um ein repräsentatives Bild vom Thema zu gewinnen. Die notwendige Bedingung
dieser Repräsentativität aber ist eine begründete Auswahl der einzelnen Filme.
1.2 Selektionskriterien und Auswahl der Filme
Selbst wenn bei den Selektionskriterien geisteswissenschaftlicher Arbeit ein subjektives
Moment nicht auszuschließen ist,
24
dürften acht formale und, weit wichtiger, vier inhaltliche
Kriterien die Repräsentativität der sechs Filme gewährleisten. Inhaltlich wurde auf die Häufig-
keit der Mauerdarstellung und -nennung geachtet, die Bedeutung der Mauer für die Figuren im
Film, ihre Verbindung zur Deutschen Frage sowie die Repräsentativität für weitere Filme. Da
die Begründung der ersten drei inhaltlichen Kriterien für die jeweiligen Filme nur ein unnötiger
Vorgriff auf die Abschnitte 3 und 4 dieser Arbeit wäre, werden hier unter Rückgriff auf die In-
haltsangaben im Anhang die formalen Gründe und die Repräsentativität erläutert.
Obwohl eine strikte Trennung zwischen Spielfilm einerseits und Dokumentar- bzw.
Fernsehfilm andererseits zunehmend hinterfragt wird,
25
kommen für die vorliegende Arbeit nur
Kinospielfilme in die engere Auswahl. Durch den angestrebten vergleichbaren geschichts- und
erinnerungskulturellen Rahmen (s. Abschnitt 2) wird auf internationale Filme ebenso verzichtet
wie auf DEFA-Produktionen.
26
Hinzu kommen die Kriterien Genre, Anspruch, kommerzielles
Ziel und öffentliche Resonanz, erzählte Zeit des Films sowie die Termini post und ante quem.
In der vergleichenden Filmforschung weichen oftmals die Zeiten, in denen die ausgewählten
Filme gedreht wurden bzw. zu der sie spielen, erheblich voneinander ab. Doch selbst wenn his-
torische Daten für künstlerische oder ästhetische Abgrenzungen nicht hinreichen, bieten sie
erste, wichtige Anhaltspunkte. Der Terminus ante quem der Erzählzeit der auszuwählenden Fil-
24
Das widerspricht aber nicht der möglichen Objektivität historischer Erkenntnis (vgl. Lorenz 1997: 389 ff.).
25
Vgl. zu den Unterschieden zwischen Spiel- und Dokumentarfilm Kracauer 1985: 269-284; vgl. dagegen Elsaesser
1994: 283; vgl. zur problematischen Trennung zwischen Kino- und Fernsehfilm ebd.: 21 ff.
26
Zu den Dokumentar-Mauerfilmen von 1990/91 s. Naughton 2002: 98 ff., und zu den späten DEFA-Filmen über
die Einheit ebd. 206-34; s. zu DEFA-Filmen allgemein Hake 2004: 157-88, 209-48, und Poss / Warnecke 2006.
8

me wird durch die Grenzöffnung am 9. November 1989, der des Aufführungsdatums durch das
letzte abgeschlossene Kalenderjahr vor Fertigstellung dieser Arbeit gesetzt.
Der Terminus post quem des Aufführungsdatums wird mit dem Ende des so genannten Neu-
en Deutschen Films begründet, das gemeinhin mit dem Tod Rainer Werner Fassbinders im Juni
1982 assoziiert wird.
27
Dieser filmhistorisch begründete Terminus entspricht zeitlich der so ge-
nannten Bonner Wende von 1982. Da die christlich-liberale Koalition unter Kanzler Helmut
Kohl aber weitgehend die Deutschlandpolitik der sozial-liberalen Koalition fortgeführt hat,
28
ist
das Jahr 1982 für die erzählte Zeit der Filme weniger wichtig als die rechtlichen und ge-
schichtskulturellen Rahmenbedingungen der Deutschen Frage. Diese änderten sich entscheidend
durch die in Kapitel 2.3 kurz erläuterte DDR-Verfassung vom April 1974 und den im Jahr zuvor
in Kraft getretenen so genannten Grundlagenvertrag. Dieser hatte eine neue Basis für
Reiseverkehr und Grenzüberschreitung gesetzt sowie erstmals in einem deutsch-deutschen
Vertrag die nationale Frage und die Fragen der Staatsangehörigkeit als offen erklärt.
29
Die aus-
zuwählenden Filme müssen daher in einer Zeit nach 1974 spielen.
Demgegenüber fällt die Wahl einer Mittelzäsur verhältnismäßig leicht. Denn schon früh er-
kannte man, dass sich durch die Ereignisse des Jahres 1989/90
30
auch die Wahrnehmung der Na-
tion ändern musste
31
und ein neuer Blick auf die Mauer entstand. Denn weder existieren seither
Mauer und DDR noch die Blockkonfrontation des Kalten Krieges. Daher blicken neuere Grenz-
filme mit dem Wissen über den Ablauf der Geschichte auf eine abgeschlossene Epoche zurück,
nehmen aber auch nach 1989 gesammelte Erfahrungen auf (s. Kap. 2.4, 2.5, 2.6), die es recht-
fertigen, drei Filme vor, drei nach der Grenzöffnung auszuwählen.
Für die 80er-Jahre ist die Auswahl der Filme schon deshalb etwas einfacher, weil überhaupt
nur wenige Mauerfilme gedreht wurden. Dies liegt u. a. daran, dass bereits in der frühen
Bundesrepublik ­ ganz im Gegensatz zu den DEFA-Produktionen ­ die mit der deutschen Tei-
lung verbundenen Konflikte selten verfilmt wurden, da Filme darüber als ,,Kassengift"
32
galten.
Aber der ,,bekannteste deutsche Mauerroman"
33
, Peter Schneiders 1982 erschienener Mauer-
springer, bot anscheinend eine geeignete Vorlage, um nach Schneiders Drehbuch von Reinhard
Hauff verfilmt zu werden. Am 8. Oktober 1982
34
lief er als Mann auf der Mauer in den
27
So die Datierungen von Elsaesser 1994: 412, und Rentschler 2004: 282; dagegen Davidson 1999: 168; s. zum
Neuen Deutschen Film das Standardwerk von Elsaesser 1994.
28
Bender 2007: 187, Jesse 1987b: 19, Korte 1998: 132; vgl. aber Korte 1998: 116 ff.; s. vertiefend Kap. 2.3.
29
Vertrag über die Grundlagen [1972]. Ungeachtet dessen hatte der Vertrag die Unverletzlichkeit der Grenze, die
territoriale Integrität, die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit beider Staaten in inneren und äußeren Angelegen-
heiten bestätigt (ebd.: Art. 3, Art. 6); vgl. zu seiner historischen Dimension Hacker 1997: 317.
30
Aufgrund der in Kap. 2.3 darzulegenden Bedeutungsvielfalt der Begriffe des so genannten Wendejahres wird im
Folgenden von ,1989/90' gesprochen; Neutralität wird aber auch hiermit nicht beansprucht.
31
Vgl. Weidenfeld 1993: 17.
32
Lindenberger 2004c: 43; vgl. auch Lindenberger 2005: 356. Zwei Ausnahmen von diesem weit verbreiteten Des-
interesse westdeutscher Filmemacher an der deutschen Teilung, zugleich Belege für die fehlende Resonanz beim
Publikum sind Himmel ohne Sterne (1955) und Flucht nach Berlin (1961), die sich früh des Themas der Flucht aus
der DDR annahmen (vgl. Dahl 1961, und Hake 2004: 178).
33
Wolfrum 2005: 388. Es handelt sich dabei um Schneider 1982.
34
Die Zahlen zu den zitierten Filmen sind, sofern nicht anders angegeben, www.filmportal.de entnommen.
9

deutschen Kinos an. Regisseur und Drehbuchautor deuten bereits auf einen politischen Film
realistischer Machart hin. Schneider zog es 1961 zum Studium nach Berlin, wo er einige Jahre
später ein Wortführer der Berliner Studentenbewegung wurde.
35
Wie Schneider ist auch Hauff
für seine politische Haltung als ,,kritischer Kommentator aktueller Ereignisse"
36
bekannt. Im
Gegensatz zu Helke Sanders Künstlerdrama Die allseitig reduzierte Persönlichkeit ­ Redupers
gewährleisten der starke deutschlandpolitische Impetus abseits der Frauenbewegung
37
sowie die
Wichtigkeit der Mauer für die nationale Frage in Hauffs Film neben seinem starken
Spielfilmcharakter, der männlichen Hauptfigur und dem Dreh im Jahr der Bonner Wende einen
besseren Vergleich zu den anderen fünf Filmen.
Die einzigen Filme, die in den von Hollywood dominierten 80er-Jahren Aussicht auf
kommerziellen Erfolg hatten, waren aber nicht Dramen wie Der Mann auf der Mauer, sondern
Komödien ,,mit Mantas und Trabis"
38
, auch wenn die Fachwelt zumeist mit Kopfschütteln rea-
gierte. Anscheinend kamen sie dem damaligen Publikumsgeschmack eher entgegen als ernste
Dramen über die Mauer. Dies dürfte auf die gegenüber den 50er und 60er-Jahren zurückgehende
Scheu zurückzuführen sein, über das Thema der deutschen Teilung zu lachen. Das zeigt sich
etwa 1985 in der Wiederaufführung von Billy Wilders One, Two, Three, der 1961/62 noch vom
deutschen Filmverleih abgelehnt worden war, sowie in Rezensionen zur Mauerkomödie Meier.
39
So soll neben dem ernsten und politisch ambitionierten Drama Reinhard Hauffs mit Meier eine
Grenzkomödie aufgenommen werden, die Mauer und Nation sehr unterschiedlich visualisiert.
Aus qualitativ-inhaltlichen Gründen erschien sie für die Fragestellung gegenüber Einmal Ku-
damm und zurück als geeigneter. Regisseur und Drehbuchautor Peter Timm stammt ­ wie einige
Darsteller ­ selbst aus Ost-Berlin, wurde 1973 ausgewiesen, bis er 1986 mit Meier sein Filmde-
büt feierte. Es wird vermutet, er habe darin viele persönliche Erfahrungen verarbeitet.
40
Neben dem Drama und der Komödie wird als dritter Film Wim Wenders' Himmel über
Berlin aufgenommen. Als er 1987 in Cannes seine Premiere feierte, musste Wenders' Film zwar
herbe Kritik einstecken, erhielt aber zahlreiche Filmpreise und wird heute allseits ob seines
künstlerischen Gehalts gelobt.
41
Daher sind anspruchsvollere Mauer- und Nationsreflexionen zu
erwarten als in den realistischen Konzeptionen der beiden anderen Filme. Zudem kann überprüft
werden, ob der Film entgegen Mann auf der Mauer neuere Erfahrungen thematisiert, die zu Be-
35
Vgl. zur politischen Einstellung Schneiders Frech 1992: 120, Hinck 1982, und Semmler 1982.
36
So Rentschler 2004: 303, unabhängig von diesem Film; vgl. auch Elsaesser 1994: 277 ff.
37
Vgl. zur Gender-Thematik in beiden Filmen Elsaesser 1994: 148 f, und Scharf 2005: 387-93, sowie zu Helke
Sanders Film: Knapp 1978.
38
Rentschler 2004: 287 f.; vgl. zur Hollywood-Dominanz in den 80er-Jahren Elsaesser 1994: 20-64. Gleichwohl
soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass Der Mann auf der Mauer bei seiner Premiere auch als amü-
sierendes, satirisches Stück zur Deutschen Frage gedeutet wurde (so von Thie 1982, und Witte 1982).
39
Der Verfasser dankt Thomas Lindenberger für diese Hinweise; vgl. als Rezension zu Meier Mischke 1986., zu
Eins, zwei, drei Schulze 1985.
40
So Mischke (ebd.), der ebenso auf den realistischen Charakter des Films verweist. Inwieweit dieser Erfahrungs-
schatz durch weitere am Film mitwirkende Übersiedler bereichert wurde, lässt sich sicher nicht mehr ausmachen.
41
Vgl. zum Lob von Film und Regisseur Elsaesser 1994: 221, Rauh 1990: 117, und Rentschler 2004: 310.
10

ginn der 80er-Jahre noch keine Rolle spielten. Gegenüber den wenigen Filmen dieses Jahrzehnts
fällt eine Auswahl aus der Vielzahl neuerer Filme weitaus schwerer.
Neben Komödien mit Vereinigungsklischees wie Peter Timms Go, Trabi, Go, Der Brocken
und Deutschfieber, Horror-Satiren wie Das deutsche Kettensägenmassaker sowie Wendedramen
wie Ostkreuz entstanden schon früh nach der Öffnung der Grenze wichtige Spielfilme über
Grenze und Innenleben der DDR. Da sich aber kaum jemand für das Thema interessierte,
wurden sie oft übersehen und vergessen.
42
Denn zu Beginn der 90er-Jahre war die ostdeutsche
Bevölkerung primär am sozioökonomischen Vorankommen, weniger am Umgang mit der
Vergangenheit interessiert.
43
So hat sich der deutsche Film lange dem Thema Berliner Mauer
verwehrt, um sich verstärkt dem Berlin der Nach-Wende-Zeit zuzuwenden.
44
Wenn die Peter
Schneider-Verfilmung Mann auf der Mauer der Mauerfilm der 80er-Jahre war, lässt sich das
unter allen neueren Filmen für das unter seiner Mitwirkung am Drehbuch entstandene
Versprechen von 1995 sagen. Dieser erste halbwegs erfolgreiche Film über die DDR-
Vergangenheit teilt mit einigen gerade genannten und weiteren Filmen dieser Zeit wie u. A.
Helma Sanders-Brahms Apfelbäume ein realistisches Szenenbild, den (melo-)dramatischen
Charakter, das düstere DDR-Bild und die Konzentration auf das MfS.
45
Dadurch wird seine
Repräsentativität gewährleistet und seine Selektion für die Arbeit begründet.
Will man die gesellschaftliche DDR-Erinnerung der Jahre 1992 bis 1994/95 vereinfachend
als ,große Enttäuschungsphase' charakterisieren, so spiegelt sich diese Interpretation in Marga-
rethe von Trottas Versprechen wider. Wenn dagegen die folgende Phase die Emanzipation ,,in
den politischen Einstellungen und im Selbstwertgefühl der Ostdeutschen"
46
zeigte, erscheint Le-
ander Haußmanns Sonnenallee dafür repräsentativ. Weniger geschichtskulturell als
filmwissenschaftlich begründet, aber zum gleichen Ergebnis führend, unterteilt Matthias Dell
die Filme über die DDR in die Kategorien ,,DEFA-Blick", ,,West-Blick" und ,,Pop-Blick", und
ordnet Das Versprechen der zweiten, Sonnenallee der dritten Kategorie zu.
47
Der im Oktober 1999 angelaufene Film Sonnenallee wurde als Pendant zu Meier als Ost-
Berliner Grenzkomödie ausgewählt. Wie Peter Timm kam auch der Quedlinburger Sonnenallee-
Regisseur Leander Haußmann vom Theater. Nachdem ostdeutsche Regisseure bis dato wenig
42
Vgl. Schenk 2005: 32 ff., vgl. die Auflistung der Filme um 1990/91 bei Naughton 2002: 9, zu den Dramen über
den Einigungsprozess ebd.: 102-38, zu den Komödien ebd. 139-205, So ist auch die These von Arand 2006: 195, zu
revidieren, eine ,,Verzögerung von zehn Jahren [sei] in der ernsthaften filmischen Beschäftigung mit der jüngsten
Vergangenheit [...] die Regel".
43
Vgl. dazu allgemein Jesse 1993b: 649, und Lutz 1993: 328.
44
Vgl. zu diesen Filmen im Berlin der frühen 90er-Jahre die Überblicksdarstellungen bei Hake 2004: 325 ff.,
Naughton 2000, und Nicodemus 2004: 320 ff.
45
Vgl. Falck 2006: 6, Hake 2004: 328, Nicodemus 2004: 321, Seidel 1995. Neben beiden Filmen westdeutscher
Regisseurinnen sind das triste DDR-Bild und die Stasi-Fokussierung auch in späten DEFA-Koproduktionen Der
Tangospieler (1991), Die Verfehlung (1991) und Der Verdacht (1991) sowie im Film Zwischen Pankow und Zeh-
lendorf (1991) zu erkennen. Während Die Verfehlung (1991) als an der ,grünen' Grenze situierte Vorlage für Das
Versprechen gewertet werden kann (Berghahn 2006: 93 f., 101), ist Wiederkehr (1994) eine ins Positiv-
Optimistische umgedeutete Variante (Schenk 2005: 35 f.); vgl. zum melodramatischen Charakter Ward 2001.
46
So die Einteilung von Hans-Joachim Veen vor der Enquete-Kommission (Eppelmann u. a. 1999c: 426).
47
Dell 2005: 141 f. Der ,,Pop-Blick" bezeichnet Filme ,,mit den Augen der westlichen Populärkultur".
11

zur filmischen Aufarbeitung der deutschen Teilungsgeschichte beigetragen hatten, besaß
Haußmann als erster den Mut, die DDR-Geschichte als komischen Stoff zu thematisieren.
,,Seine Komödie machte die Ost-Jugend zum Phänomen der Popkultur und reagierte auf
ostdeutsches Selbstmitleid mit einer Nostalgieoffensive, die Sonnenallee unerwartet gute
Einspielergebnisse [...] verschaffte."
48
Nachdem die DDR-Forschung zwischen 1993 und 2000
,,explodierte"
49
und heute Vieles in anderem Licht erscheint als vor dem 9. November 1989,
wurde nach diesem ersten kommerziell wirklich erfolgreichen Film über die DDR-Vergangen-
heit diese immer häufiger, vor allem als Komödie thematisiert, die man schnell mit dem Begriff
,Ostalgie' ­ verstanden als rückwirkende Verklärung der DDR-Vergangenheit ­ in Verbindung
brachte. Neben Haußmanns NVA und Sebastian Petersons Helden wie wir ist hier der
künstlerisch und kommerziell erfolgreiche Good Bye, Lenin von Wolfgang Becker zu nennen.
50
In keinem dieser Filme ist die Mauer jedoch so wichtig wie in Sonnenallee, der deshalb als fünf-
ter Film ausgewählt wurde. Trotz dieser Filmerfolge sollte man aber nicht behaupten, dass
,,Komödien mit eindeutig historisierenden Verniedlichungs- und Verfremdungs-tendenzen für
ein jugendliches Zielpublikum" dominieren, und sich ,,die Filmindustrie der Gegenwart einer
wirklichen Beschäftigung mit der DDR in ähnlich konsequenter Form [verweigere] wie der
westdeutsche Film der Nachkriegszeit"
51
.
Das belegt nicht zuetzt Florian Henckel von Donnersmarcks 2006 uraufgeführtes Stasi-
Drama Das Leben der anderen. Seine Auswahl mag anfänglich verwundern, weil die Mauer
weder im Film gezeigt noch in seiner Literatur erwähnt wird. Noch stärker als Himmel über
Berlin und entgegen den anderen Filmen hat sie hier nur eine Nebenrolle inne. Neben diesem
Aspekt wird die Selektion dieses realistischen und neutraleren Films
52
durch seine Repräsenta-
tivität für weitere, ähnliche Filme begründet wie Volker Schlöndorffs Die Stille nach dem Schuß
und Dominik Grafs Der rote Kakadu.
53
Diese greifen nicht mehr so stereotyp auf die
Vergangenheit zu wie Das Versprechen und Sonnenallee, sondern bemühen sich um ein neutra-
leres Urteil, was auf einen Wandel der DDR-Darstellung hindeutet. Zusammengefasst analysiert
die Arbeit Mann auf der Mauer, Meier und Himmel über Berlin aus den 80er-Jahren sowie Das
Versprechen, Sonnenallee und Das Leben der anderen als Filme seit der Grenzöffnung. Ab-
48
Nicodemus 2004: 325; der Erfolg des Films und die visualisierte ,Ostalgie' werden primär durch die ,,perfekte
Balance zwischen sentimentaler Erinnerung und ironischer Rekonstruktion" erreicht (Hake 2004: 327).
49
Vgl. Weber 2006a: 2, dessen Monographie die wichtigsten Forschungen zur DDR-Geschichte diskutiert.
50
,Ostalgie'-Definition nach Gebhardt / Kamphausen 1999: 539; s. als ,Ostalgie'-,Vorwurf' gegen Sonnennallee z.
B. Junghänel 1999, Wellershoff 1999, s. als Charakterisierung dieser Filme allgemein Arand 2006: 196 f.,
Naughton 2002: 19 f., Schenk 2005: 31 f., 37 f., und Westphal 2005. Zum Teil ist diese Bezeichnung bei Good Bye,
Lenin! (Lindenberger 2004a: 103-06), Helden wie wir (Platthaus 1999b) und Sonnenallee (Cooke 2003, Linden-
berger 2000, s. Kap. 4.2) zu hinterfragen. Als ,platte' ,Ostalgie' gilt dagegen NVA (so Westphal 2005), als west-
deutsches ,,Gegenstück" zu Sonnenallee Haußmanns Herr Lehmann (so Althen 2003).
51
So Arand 2006: 196 f.; vgl. ähnlich Bösch 2007: 21.
52
Das betonen etwa Biermann 2006, Brussig 2006, und Wilke 2007. Da dieses Urteil umstritten ist (s. etwa Gieseke
2006, Schmidt 2006, und Voigt 2006), erfordert dies eine hier nicht mögliche Rezeptionsanalyse.
53
Vgl. zu Der rote Kakadu Lindenberger 2006a: 367 ff., zu Die Stille nach dem Schuß Schenk 2005: 36.
12

schließend sei hinzugefügt, dass die oft in Filmgeschichten herangezogenen Kriterien ,heutige
Bekanntheit' und ,Erfolg' für sich genommen eine vergleichende Analyse verhindert hätten.
54
1.3 Forschungsstand zu den ausgewählten Filmen und dem Thema der Arbeit
Die Beurteilung der Quellen- und Forschungslage zum Thema Berliner Mauer und Deutsche
Frage im Spielfilm muss gleich mehrfach zweigeteilt ausfallen. Einer weitgehenden Ver-
drängung der nationalen Frage in der DDR für den hier relevanten Zeitraum steht eine intensive
Diskussion des Themas in der Bundesrepublik seit dem Ende der 70er-Jahre gegenüber.
55
Deren
Literatur und die Forschung zu ihr ermöglichen einerseits gute Vergleichsmöglichkeiten der
Filmdarstellung zur wissenschaftlichen und publizistischen Diskussion, gesellschaftlichen Mei-
nung und politischen Rhetorik (s. Kap. 2.3). Die exzellente Literatur- und Forschungslage
verhindert aber auch, dass ein Einzelner sie noch überblicken und alles Relevante herausfiltern
kann.
Die vorliegende Arbeit muss daher auf die den Filmen korrespondierenden Kernthesen der
Forschung und öffentlichen Diskussion beschränkt werden.
56
Den nicht zu berücksichtigenden
feinen Differenzierungen einzelner Positionen oder Forschungskontroversen kann ausschließlich
in Anmerkungen durch Verweise auf vertiefende Literatur begegnet werden.
Eine ebenfalls nicht zu bewältigende Fülle bietet die Aufarbeitung von DDR-Vergangenheit
und -Erinnerung.
57
Dem steht gegenüber, dass selbst die Monographien speziell zur Berliner
Mauer nur am Rande auf die Deutsche Frage eingehen,
58
und die geschichts- und filmwissen-
schaftliche Forschung zu diesem Thema im Film äußerst spärlich ist. Daher liegt ein Nutzen
dieser Arbeit gerade für die geschichts- und filmwissenschaftliche Forschung auch in der Chan-
ce, dieses Desiderat zumindest ein wenig zu beheben.
54
Denn Erfolg ebenso wie (damaliger) Bekanntheitsgrad der Filme gelten aus mehreren Gründen als problematisch,
u. a. aufgrund schwieriger Vergleichbarkeit der Besucherzahlen durch veränderte Zuschauerpräferenzen und
Marktabdeckung (vgl. Rentschler 2004: 287 ff.). Auch Unterschiede im heutigen Bekanntheitgrad der sechs Filme
könnten größer nicht sein, wie die weltgrößte Internet-Datenbank www.imdb.com verdeutlicht. Sie verzeichnet
zum Mann auf der Mauer und Meier keine Rezensionen und nur 15 bzw. 33 Bewertungen. Auch beim Versprechen
sind es mit 13 Kritiken und 275 Bewertungen relativ wenig. Anders ist dies bei Sonnenallee, der 27-mal extern
rezensiert und 1.887-mal bewertet wurde, Himmel über Berlin sogar noch häufiger (43 bzw. 13.394). Übertroffen
wurden sie aber noch vom Leben der anderen mit 172 externen Rezensionen und 33.437 Bewertungen (Stand 10.
März 2008). Auch dem Erfolg nach sind die selektierten Filme sehr uneinheitlich. Ging Mann auf der Mauer an
Filmpreisen leer aus und musste sich Meier mit einem Bayrischen, Sonnenallee mit einem Deutschen Filmpreis
begnügen, ist er mit über 2,6 Mio. Kinozuschauern in Deutschland der erfolgreichste ausgewählte Film. Das sind
weit mehr als der mit einer Oscar-Nominierung und zwei Bayrischen Filmpreisen bedachte Versprechen und Der
Himmel über Berlin, der u. a. eine Goldene Palme sowie zwei Europäische und zwei Deutsche Filmpreise gewann.
Der einzige Film, der sowohl künstlerisch als auch kommerziell sehr erfolgreich war, ist Das Leben der anderen
mit 2,3 Mio. Kinobesuchern in Deutschland, dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film, drei Europäischen
und sieben Deutschen Filmpreisen (vgl. www.filmportal.de und www.imdb.com, Stand 10. März 2008).
55
So Martin König und Frank Neubert vor der Enquete-Kommission (Eppelmann u. a. 1995: 838, 865).
56
So auch Geiss 1992: 11; vgl. zur Forschung einführend Heß 1986, Jesse 1984, 1986, Korte 1990. Einen knappen
Überblick über die wichtigsten Positionen aus Politik, Wissenschaft und Publizistik bietet Kapitel 2.3.
57
Es sei bloß auf die Materialien der beiden Enquete-Kommissionen verwiesen (Deutscher Bundestag 1995, 1999).
58
Die Monographien zur Berliner Mauer konzentrieren sich entweder auf eine themengeleitete Ereignisgeschichte
(z. B. Camphausen 2002; Flemming / Koch 1999, Hertle 2007), den alltäglichen Umgang mit der Mauer (z. B.
Hoffmann 2002; Scholze / Blask 1992) oder auf ihre Bemalung (Gareis 1998). Die Analyse der Mauer in der Lite-
ratur (Frech 1992) lässt Bezüge zur Deutschen Frage und eine geschichtswissenschaftliche Einbettung der Bücher
vermissen. Die Monographie zum Thema Berlin und die deutsche Frage (Wetzlaugk 1985) endet leider ebenso
Anfang der 60er-Jahre wie ein Sammelband zur Symbolik Berlins (Lemke 2006).
13

Auf der Suche nach Literatur, die entfernt das Thema berührt, bemerkt man schnell, dass die
Forschung zu den sechs Filmen von Film- und Medienwissenschaftlern, Kommunikations- und
Literaturwissenschaftlern dominiert wird. Deren Vorreiterrolle in der Filmanalyse und -theorie
mag dabei weniger verwundern als das fast gänzliche Fehlen der Historiker.
59
Neben dem für die
Konzeptualisierung der Berliner Mauer als Erinnerungsort (s. Kap. 2.5) informativen Artikel
Edgar Wolfrums seien daher an dieser Stelle fünf literatur- bzw. filmwissenschaftliche Beiträge
hervorgehoben. Die Anglistin Inga Scharf untersucht in einem Aufsatz die innerdeutsche Grenze
und die nationale Identität im Neuen Deutschen Film. Ihr verwendeter poststrukturalistischer
Ansatz der critical geopolitics-Theorie wird aber in Abschnitt 2 ebenso theoretisch-konzep-
tionell hinterfragt und in Abschnitt 3 anhand der Filmanalysen widerlegt werden können wie
derjenige Hans Joachim Meurers. Der Filmwissenschaftler erläutert von einem marxistisch-
diskurstheoretischen Hintergrund die gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen nationa-
ler Identität im deutschen Kino der 80er-Jahre, ohne allerdings auf die Mauer einzugehen.
60
Weniger theoretisch, für die vorliegende Arbeit aber brauchbarer, waren zwei, allerdings nicht
Mauer und Deutsche Frage thematisierende Überblicksartikel zur DDR-Geschichte im Spielfilm
von Matthias Dell und Ralf Schenk.
61
Nicht zuletzt sei auf eine Monographie der australischen
Filmwissenschaftlerin Leonie Naughton verwiesen. Sie geht zwar nicht auf die Themen Mauer,
Teilung und Erinnerungskultur ein, und berührt von den hier selektierten Filme auch nur in
wenigen Sätzen Das Versprechen und Sonnenallee; sie analysiert aber breiter angelegt und für
Vergleiche durchaus gewinnbringend 90er-Jahre Filme im deutschen Einigungsprozess.
62
Da Film- und Literaturwissenschaftler wie die gerade genannten vorrangig an ästhetischen
Fragen interessiert sind, überrascht es nicht, dass Himmel über Berlin von allen ausgewählten
Filmen mit Abstand am häufigsten erforscht wurde
63
­ ohne dass sich Historiker des Films
angenommen haben. Da geschichts- und erinnerungskulturelle Fragen nur randlich vorkommen,
sind diese Beiträge nur Ergänzungen. Das gilt vor allem für die kaum diskutierten Filme Mann
auf der Mauer
64
und Meier
65
. Obgleich man beim Versprechen mehr Literatur findet, so bloß in
filmhistorischen oder literaturwissenschaftlichen Artikeln und Zeitungsrezensionen.
66
59
Der konkrete geschichtswissenschaftliche Beitrag zur Filmanalyse wird in der Regel übersehen, weshalb Werke
zur Filmgeschichte zumeist ohne Historiker entstehen (vgl. z. B. das Lehrbuch zur deutschen Filmgeschichte von
Jacobsen / Kaes / Prinzler 2004: 8, 11; ähnlich auch Wulff 1998: 22). Die Geschichtswissenschaft hat also damit
scheinbar ebenso wenig zu tun wie mit der Filmtheorie (vgl. Albersmeier 2003: 18).
60
Meurer 2000, Scharf 2005, Wolfrum 2005. Leider schenkt Wolfrum dem Medium Film bloß einen Satz.
61
Dell 2000, Schenk 2005, die aber beide theoretische Ansätze und detaillierte Erörterungen vermissen lassen.
62
Naughton 2002. Fernab der Erinnerungskultur konzentriert sie sich auf die veränderten Produktionsbedingungen
von Film und Fernsehen, auf DEFA-Produktionen der frühen 90er-Jahre und die so genannten Trabi-Komödien.
63
Neben dem Filmbuch (Handke / Wenders 1992) und Wenders' eigenen Ausführungen (Wenders 1986, 1991)
wurden Interviews (Behrens 2005, Jansen 1992, und Raskin 1993) und Aufsätze herangezogen (Caldwell / Rea
1991, Cook 1997, Kolditz 1992: 270-82, Kolstrup 1999, Visarius 1992). Hinzu kamen Auszüge aus Monographien
bzw. Kapitel zum Himmel über Berlin (Avventi 2004, Bromley 2001, Fleig 2005, Fröhlich 2007: 179-185, Ganter
2003, Graf 2002: 112-130, Harvey 1990: 308-23, Kolker / Beicken 1993: 138-160, Rauh 1990: 111-18).
64
Neben Scharf (2005) sei auf drei Zeitungsartikel verwiesen (Thie 1982, Wieser 1982, Witte 1982).
65
Da man den Film in Überblickswerken vermisst, floss in die Arbeit eine Rezension ein: Mischke 1986.
66
Hervorzuheben sind hier ein Kapitel in der Margarethe von Trotta-Biographie von Thilo Wydra, das sich
allerdings auf Produktion und Rezeption des Films konzentriert (Wydra 2000: 198-214), einen Aufsatz über den
14

Etwas anders ist die Forschungslage bei den zwei neuesten Filmen. So erfährt Sonnenallee
neben Film- und Literaturwissenschaftlern auch von Historikern Interesse, vor allem unter dem
Blickpunkt seiner DDR-Darstellung und ,Ostalgie'.
67
Vergleichsweise früh setzte auch die
historische Forschung zum Leben der anderen an und ergänzte die publizistische Kritik, etwa
vom Liedermacher Wolf Biermann oder vom (Drehbuch-)Autor Thomas Brussig.
68
Publizistische und geschichtswissenschaftliche Beiträge wie im Falle der DDR-Historiker Jens
Gieseke und Manfred Wilke sind aber vor allem am MfS, seinen Mitarbeitern und
Verbindungen zur SED sowie an der Authentizität des Films interessiert.
69
In allen dem
Verfasser bekannten Artikeln zu den sechs Filmen wird die Mauer, wenn überhaupt nur wenig,
die Deutsche Frage fast gar nicht thematisiert. Die fehlenden Vorarbeiten zum Thema erfordern
daher in dieser Arbeit ein spezielles Vorgehen.
1.4 Begründung der Gliederung und Aufbau der Arbeit
Bevor mit der Analyse der Filme begonnen werden kann, soll zunächst ein Ansatz für Nations-
und Mauerbilder bzw. ­erinnerungen im Film entwickelt werden. Da das Thema neben der
Geschichtswissenschaft auch Geographie, Literatur-, Sozial- und Politikwissenschaften berührt,
erprobt der zweite Abschnitt einen interdisziplinären geschichts-, sozial- und
kommunikationsgeschichtlichen Zugriff. Dieser wird aus der zunehmenden Erkenntnis
begründet, die eigenen Disziplingrenzen zu überschreiten,
70
ohne die eigene Wissenschaft gegen
andere auszuspielen. Zudem erscheint die konventionelle historische Forschung, die von
Quellen, zeitgenössischen Ereignissen und Entwicklungen ausgeht, für die Fragestellung ebenso
ungeeignet wie die traditionelle linkspolitische Filmforschung.
71
Weniger politisch nähert sich
die vorliegende Arbeit daher im zweiten Abschnitt dem Thema mit einem an Akteuren ge-
melodramatischen Charakter (Foell 2001) sowie einen Artikel über hybride Identitätsbildung in diesem Film (Ward
2001), der in seinen Kernthesen den Ergebnissen dieser Arbeit widerspricht. Darüber hinaus sei auf weitere Be-
merkungen in den Überblicksartikeln von Dell 2000, Nicodemus 2004, und Schenk 2005, sowie auf Zeitungsre-
zensionen von Geißler 1995, Holighaus 1995, und Seidel 1995, hingewiesen.
67
Dies betrifft das Filmbuch (Haußmann 1999), die Rezensionen von Junghänel 1999, Peitz 1999, Platthaus 1999a,
und Wellershoff 1999, ebenso wie Erwähnungen in Arand 2006, Dell 2000, Nicodemus 2004, und Schenk 2005.
Differenziertere, nicht allein auf die ,Ostalgie'-Deutung zielende Interpretationen zur DDR-Darstellung in Sonnen-
allee findet man bei Cafferty 2001, und Cooke 2003, sowie beim Historiker Lindenberger 2000, 2006a: 354-360.
68
Für die vorliegende Arbeit sind dies Biermann 2006, Brussig 2006, Finger 2006 und Wach 2006; s. auch den
schuldidaktischen Beitrag von Falck 2006.
69
Gieseke 2006, Horn 2008, Mohr 2006, Schmidt 2006, Voigt 2006, Wilke 2007; s. darüber hinaus Henckel von
Donnersmarck 2007b, sowie zur Diskussion möglicher Motive der Oscar-Verleihung Denkmann 2007.
70
So ist das Thema ,,Nation als Raumbild" mittlerweile ein gemeinsames Forschungsfeld von Geschichtswissen-
schaft und Geographie (Weichlein 2006: 286), worauf bereits das Leitthema des Historikertages von 2004: Kom-
munikation und Raum hindeutet; vgl. auch die Forderungen zur Verbindung beider Wissenschaften durch den Ost-
europa-Historiker Schlögel 2003: 9 f., und den Politischen Geographen Reuber 2005. Neben dem Verweis auf die
Fachbereiche übergreifenden so genannten Exzellenzcluster an deutschen Universitäten betonen, um nur ein pro-
minentes Beispiel zu nennen, Peter Berger und Thomas Luckmann die notwendige interdisziplinäre Zusammen-
arbeit an einzelnen Themen (Berger / Luckmann 2001: 201). Filmhistorisch fordert Thomas Lindenberger die Ver-
knüpfung interdisziplinärer Betrachtungsweisen und Forschungsmethoden (Lindenberger 2006b: 11).
71
So sei es laut Siegfried Kracauer Aufgabe des Filmkritikers, ,,die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen
Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluß der Filme selbst überall dort,
wo es nottut, zu brechen" (Kracauer 1932: 11); ähnlich Arnheim 1974: 327; s. Kap. 2.7.
15

bundenen begriffs- und ideengeschichtlichen Ansatz. Dieser soll die Konstruktionen,
geschichtskulturelle Rahmenbedingungen und Erinnerungsmodalitäten von Deutscher Frage und
Berliner Mauer aufzeigen, wie sie sich in den Filmen niederschlagen. Er bildet die Basis, um die
Filme in politisch-kulturelle Vorstellungen und Normen einzubetten.
Die darauf aufbauenden Abschnitte 3 und 4 unterteilen sich in jeweils drei Kapitel zu den
einzelnen Filmen. Die parallel aufgebauten Unterkapitel sollen eine Vergleichbarkeit der einzel-
nen Thematiken sowie Rückverweise auf den/ die zuvor analysierten Film/e ermöglichen. So
können intentions-, geschichts- und erinnerungskulturell bedingte Gemeinsamkeiten und Unter-
schiede zwischen den Filmen eines Jahrzehnts sowie zwischen früheren und späteren Filmen,
aber auch zu den politisch-kulturellen Rahmungen besser aufgezeigt werden.
Um die Symbolik der Berliner Mauer erfassen zu können, thematisieren die Kapitel 3.1.1,
3.2.1, 3.3.1 bzw. 4.1.1, 4.2.1, 4.3.1 die ,Diktatur der Grenze(n)', die in der Lesart Thomas
Lindenbergers neben der Staatsgrenze die zahlreichen anderen, unsichtbaren Grenzen im Alltag
von der Arbeit über die Familie hin zum Wohngebiet umfasst, die jeder DDR-Bürger kannte.
72
Interpretiert die Forschung diesen Begriff eher sozialgeschichtlich, soll hier stärker die ,Diktatur
der Grenze(n) in den Köpfen' der Ost- und West-Berliner untersucht werden, da aus ihnen die
Diskussion der Deutschen Frage erwächst. Denn am ,,Anfang war die Mauer: die Mauer und das
System, das sie sowohl repräsentierte wie bewahrte. Die Mauer verlief nicht um die DDR her-
um. Sie stand genau in ihrem Zentrum. Und sie verlief mitten durch jedes Herz hindurch"
73
. Wie
die Filmanalysen zeigen werden, steht mal stärker der Aspekt einer ,Diktatur der Mauer', mal
der einer ,Diktatur der Grenze(n)' im Zentrum. Dafür werden zunächst die Mauerzitate und
-verweise in den Filmen genannt. Daraus wird ersichtlich, inwieweit ost- und/ oder westdeut-
sche Perspektiven berücksichtigt werden. Stehen Mauerwände oder Grenzübergänge im
Vordergrund? Wie leicht ist die personelle oder mediale Grenzüberschreitung? Welche Rück-
schlüsse lässt dies auf das Geschichts- und Mauerbild des Films zu?
Diese weithin deskriptiven Kapitel bilden dann die Basis der jeweils folgenden drei. Sie
greifen die wichtigsten Mauerszenen und ­erwähnungen auf und diskutieren sie vertiefend im
Bezug zur Geschichts- und Erinnerungskultur, zur Berliner Mauer und zur Deutschen Frage. So
wird die Deutsche Frage, wie zu zeigen ist, mit anderen politisch-kulturellen Konzepten ver-
bunden, seien sie nun (partei-)politischer, ideologischer oder religiöser Natur. Das jeweils zwei-
te Kapitel (3.1.2, 3.2.2, 3.3.2 bzw. 4.1.2, 4.2.2, 4.3.2) versucht deshalb, diese dargestellten sym-
bolischen Aufladungen der Mauer und die kollektiven Vorstellungen und Erinnerungen abzu-
schätzen, in deren Kontext die Deutsche Frage thematisiert wird; dargestellte sozial- und wirt-
72
Lindenberger 1999 (Zitat 31); vgl. zu diesem Konzept auch Eppelmann u. a. 1999a: 402-408. So wurde die DDR-
Gesellschaft durch eine ,,Gemengelage sozialer Techniken" zusammengehalten, die erlernt werden mussten, um die
alltäglichen Möglichkeiten und Grenzen des Handelns auszuloten (Neubert 2000: 22).
73
Garton Ash 1989: 388.
16

schaftsgeschichtliche Aspekte können bei der gewählten Fragestellungen also nur in Bezug zur
Deutschen Frage berücksichtigt werden.
74
Die Kapitel 3.1.3., 3.2.3, 3.3.3 bzw. 4.1.3, 4.2.3, 4.3.3 bilden den Kern der einzelnen Analy-
sen. Sie untersuchen, inwieweit durch den in den vorigen Kapiteln analysierten Kontakt zur
Mauer oder dem Reden über sie die Deutsche Frage gestellt bzw. nach Antworten gesucht wird.
Welche Nationsverständnisse und Stellungnahmen zur Deutschen Frage werden im und vom
Film vertreten? Ist die Mauer ein Symbol teil- bzw. gesamtdeutscher Identität? Wie bezieht der
Film selbst dazu Stellung? Wie unterscheidet sich dies von den in den Kapiteln 2.3 und 2.5
dargelegten Ideen und Konzepten in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft? Bei den Filmen
nach 1989/90 fragt sich, wie in der Erinnerung die Gedanken der 1980er-Jahre aufgegriffen und
umgesetzt werden, oder ob aus den seither gesammelten Erfahrungen ein anderer Blick auf die
damals noch offene Deutsche Frage und stehende Mauer erfolgt.
Dabei wird nicht nur die filmische Darstellung der Mauer umgedeutet, sondern auch die ih-
rer Öffnung. Ausgehend von den Herbst-Demonstrationen des Jahres 1989 und ihren zentralen
Forderungen ­ ,,Die Mauer muss weg" und ,,Wir sind das Volk" bzw. ,,Wir sind ein Volk"
75
­
untersucht das jeweils vierte Kapitel des dritten Abschnitts, ob bereits in den Filmen der 80er-
Jahre ein Mauerfall erwartet, befürchtet, erhofft oder zwecks Lösung der Deutschen Frage her-
beigeführt werden sollte (Kap. 3.1.4, 3.2.4, 3.3.4). Die Kapitel zu den neueren Filmen
analysieren, ob er (auch?) retrospektiv erwartet und als Ereignis dargestellt wird und wie sich
dies schließlich in die deutsche Erinnerungskultur nach 1989/90 einbettet (Kap. 4.1.4, 4.2.4,
4.3.4).
Das Schlusskapitel 5 fasst die zentralen Ergebnisse der Arbeit zusammen (Kap. 5.1, 5.2).
Daraus wird ein Rückschluss auf den geschichts- und erinnerungskulturellen Rahmen und
dessen Widersprüche zu einigen Ergebnissen dieser Arbeit ermöglicht (Kap. 5.3). Ein Ausblick
auf anschlussfähige Forschungsfelder soll die Arbeit abrunden (Kap. 5.4). Bis dahin muss sich
der geschichts- und erinnerungskulturelle Rahmen des Themas bewähren, der im folgenden Ab-
schnitt entwickelt werden soll.
74
Ohnehin dürfte ein Vergleich verschiedener Filme aufgrund der sehr unterschiedlichen dargestellten Schichten,
Milieus und Generationen gerade in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte problematisch sein.
75
Vgl. zu diesen Parolen als Erinnerungsort Zwahr 2005.
17

2 Geschichts- und erinnerungskulturelle Konzeptualisierung des Themas
Um Argumente zur Berliner Mauer und der nationalen Frage wie das Eingangszitat des Alt-
Kanzlers oder die in den Filmen ausgedrückten Positionen kontextualisieren und vor dem jewei-
ligen politisch-kulturellen Hintergrund verstehen zu können, wird in diesem Abschnitt ein ge-
schichts- und erinnerungskultureller Rahmen der Filme erarbeitet. Ausgehend von den Debatten
um Grenzen und Identität (Kap. 2.1) wird ein konstruktivistisches Konzept der Nation dargelegt
(Kap. 2.2), das die Deutungsansätze zur Deutschen Frage integrieren soll (Kap. 2.3). Um diese
in Film, Wissenschaft und Gesellschaft historisch verorten zu können, wird auf die Konzepte
der Erinnerungskultur (Kap. 2.4), Erinnerungsorte (Kap 2.5) und Generationen (2.6) zurückge-
griffen und ein Transfer zu nationalen Grenzen im Film versucht (Kap. 2.7).
2.1 ,Die Mauer im Kopf' ­ Die Berliner Mauer, ihre Bedeutungen und Identitäten
Bereits im Kohl-Zitat wurde deutlich, wie sehr die rhetorische Figur der Deutschen Frage und
ihr anscheinend beabsichtigter Effekt an den konkret räumlichen Bezug der Stadt Berlin und den
örtlichen der Grenze, der Berliner Mauer, gekoppelt wird. Sucht man daher den Einstieg in das
Thema über die Grenze, so stellt man nicht bloß fest, dass die Grenzforschung nur am Rande ge-
schichtswissenschaftlichen Interesses liegt; sie überschneidet sich zudem mit anderen Diszi-
plinen. So hat vor allem seit Anfang der 1990er-Jahre im Zuge der Globalisierung, des Endes
des Kalten Krieges, der Grenzverschiebungen in Mittel- und Osteuropa, aber auch der
Erforschung der Barrieren zwischen Personen und Gruppen die internationale und
interdisziplinäre Grenzforschung der Geisteswissenschaften stark zugenommen.
76
Die klassische Forschung bestimmte Grenzen noch als natürliche und neutrale Linien
zwischen staatlichen Territorien.
77
Diese Perspektive hilft für die Symbolik der Mauer jedoch
aus dem Grund nicht weiter, weil Grenzen wie die Berliner Mauer keine statischen, natürlichen
Kategorien sind, sondern als gesellschaftliche Konstrukte historisch kontingent in ihren
Bedeutungen.
78
Bedeutung liegt aber nicht einfach in der Welt, wie in diesem Fall der Berliner
Mauer, sondern wird an verschiedenen Orten durch unterschiedliche Prozesse und Medien in
sozialer Interaktion geschaffen und ausgetauscht. Sie ist, so Stuart Hall, ,,the result of a
signifying practice ­ a practice that produces meaning, that makes things mean"
79
.
Mit Peter Berger und Thomas Luckmann wird daher davon ausgegangen, ,,daß Wirklichkeit
gesellschaftlich konstruiert", intersubjektiv mit anderen geteilt wird und eine Wechselwirkung
zwischen Subjekt und Gesellschaft besteht.
80
Diesem konstruktivistischen Wirklichkeitsver-
76
Vgl. zur neueren Forschung François / Seifarth / Struck 2007, und Newman 2003.
77
Vgl. zur älteren Forschung Paasi 2003: 113 ff.
78
Vgl. allgemein Newman / Paasi 1998: 187.
79
Hall 1997b: 24 f.; vgl. auch Hall 1997a: 3 f., und Massey 1996: 123.
80
So Berger / Luckmann 2001: 1 (Zitat), 25 f., 65, zum Begriff der Alltagswirklichkeit; vgl. zur Übertragungs-
möglichkeit ihrer Wissenssoziologie auf die Geschichtswissenschaft Buschmann / Carl 2001.
18

ständnis folgend, sollte die Arbeit also nicht die filmische Berliner Mauer mit der Realität ver-
gleichen; vielmehr wird die Berliner Mauer selbst (auch) zu einer von verschiedenen Seiten
vorgenommenen Rekonstruktion.
81
An den Grenzen manifestieren sich bestimmte Normen und
Werte und vollziehen sich Auseinandersetzungen um nationalstaatliche Zugehörigkeit, Identität
und Loyalität.
82
Grenzen und Identitäten bedingen sich wechselseitig und konstituieren glei-
chermaßen verschiedene Formen von Gemeinschaft. So wird heute fächerübergreifend auf die
Notwendigkeit von Differenz und Stereotypisierung eines ,Anderen' als konstitutiv für die
eigene Identität verwiesen.
83
Daher bieten ,Grenzen im Kopf', so die Forschung, der Nation
Referenzpunkte, verleihen ihr eine äußere Form und helfen bei der Trennung des ,Eigenen' vom
,Anderen'. Grenzen fungieren daher ,,immer als Abgrenzungen, als Differenzierungen im Sinne
einer Trennung und Unterscheidung"
84
. Diese Thesen der neueren Grenzforschung dienen einer-
seits als Grundlage für die Analyse der Berliner Mauer im Film in den Abschnitten 3 und 4,
müssen sich aber andererseits auch anhand der Filme bewähren.
Denn mit Blick auf die Deutsche Frage ist die Berliner Mauer eine sehr untypische Grenze.
Vielleicht stellt sie als innerdeutsche Grenze neben dem trennenden Charakter auch Ver-
bindungen zwischen den angrenzenden Gebieten in Aussicht, etwa nationale Gemeinsamkeiten
beider deutscher Staaten. Zudem übersieht die neuere Grenzforschung häufig veränderte Kon-
texte und Gruppenzugehörigkeiten, Funktionen und Ausgestaltungen von Inklusion und Exklu-
sion. Um nur ein Beispiel zu nennen, so müssen die Filmfiguren, die der Mauer im Alltag be-
gegnen, ihr nicht notwendig die gleichen Bedeutungen zuweisen, wie dies von außen, z. B. von
Regierungsseite geschieht. Zudem entsteht Identität, verstanden als Frage, ,,who we are and with
whom we `belong'"
85
, nicht nur durch die Dialektik von Individuum und Gesellschaft, sondern
wird in historischen Prozessen neu- und umgeformt. Dabei ist heute individuelle Identität nur
schwer ohne nationale zu denken. Diese existiert aber nicht ,an sich' und nicht allein durch Ab-
grenzung von einem ,Anderen', sondern nur dort, wo sich gesellschaftliche Gruppen in be-
stimmte Traditionen einordnen und sich damit von anderen Traditionen abgrenzen. Denn ,,Men-
schen und Gruppen [...] bilden ihre Identität in einer Rekonstruktion der Vergangenheit aus ih-
rer Sicht der Gegenwart und mit Blick auf die Zukunft"
86
.
Bestimmte Orte wie die Berliner Mauer dienen der Konstruktion, Verfestigung und Kon-
trolle von Identitäten, aber auch deren Veränderung. Sie weisen dem Leben Bedeutung und
81
Vgl. dazu allgemein das geographische Standardwerk zur Konstruktion von Orten: Gregory 1994 (hier 72).
82
Vgl. übereinstimmend die Forschung: Agnew / Mitchell / Toal 2003: 2, Newman / Paasi 1998: 194 ff., Paasi
2003: 111, Pohl / Schwarz / Wietschorke 2003: 91 f., und Strüver 2005: 150.
83
So z. B. die Geographen Morley / Robins 1995: 45 f., der Anthropologe Cohen 1985: 114, der Historiker
Schlesinger 1987: 261, die Sozialpsychologen Mummendey / Simon 1997a: 11 f., und der Soziologe Hall 1997c:
258. Die radikalste Position stellt hier der vom linguistic turn kommende Poststrukturalismus dar. Danach sind Be-
deutungs- und Identitätszuschreibungen allein durch den unendlichen Prozess der Differenzierung des ,Eigenen'
vom ,Anderen' möglich (so Derrida 1968: 124 ff.; vgl. kritisch Daniel 2004: 120-49).
84
So Strüver 2005: 150; vgl. auch Berdahl 1999: 3, Cohen 1985: 12 f., Pohl / Schwarz / Wietschorke 2003: 90 f.
85
So das Verständnis von Hall 1997a: 3.
86
So Lorenz 1997: 400-412 (Zitat 407); vgl. Behrmann 1988: 95, und Berger / Luckmann 2001: 185 f.
19

Identität zu und strukturieren die alltäglichen Erfahrungen einer Gesellschaft. Eine Gruppenkon-
stitution ohne eine Produktion bestimmter Orte scheint schwer vorstellbar, da Ideen und Werte
zu leeren, bedeutungslosen Zeichen verkämen.
87
Darauf verweist auch Immanuel Kants berühm-
tes Zitat: ,,Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind"
88
. Da der
Berliner Mauer aber von verschiedenen Seiten Bedeutungen zugeschrieben werden, kann sie ein
umstrittenes, in Auseinandersetzungen mobilisierbares Konstrukt werden. Dabei resultieren
Umwertungen oder sogar Zerstörungen eines solchen Symbols vor allem aus radikalen poli-
tisch-gesellschaftlichen Transformationen,
89
wie etwa den Ereignissen von 1989/90.
Inwieweit die Mauer nun spezifisch nationale Bedeutungen symbolisiert, soll das folgende
Kapitel zeigen, das sich dem Konstruktionsprozess von Nationen widmet. Denn die Konstrukti-
on von Grenzen geschieht nicht nur durch Narration,
90
sondern vor allem durch nationale Vor-
stellungen, Erinnerungen und Traditionen, die narrativ vermittelt werden (können).
2.2 Die deutsche Nation als vorgestellte und begrenzte Gemeinschaft
Fragt man nach der symbolischen Aufladung der Berliner Mauer für die deutsche Nation, so
erscheint ein kurzer Blick in die Nationalismustheorien angebracht. Denn selbst wenn die
,Nation' heute noch immer uneinheitlich definiert wird,
91
können diese Theorien helfen, auf den
Konstruktcharakter der Deutschen Frage zu verweisen und sie in einen konzeptionellen Rahmen
zu stellen. Die in Kapitel 1.3 erwähnten Beiträge zur nationalen Identität im deutschen Film
helfen hier nicht weiter, da sich die von ihnen verwendeten postmodernen bzw. älteren
marxistischen Nationskonzeption als problematisch erwiesen haben.
92
Auf der Suche nach geeigneten Nationsdeutungen stößt man auf die ältere Forschung. Sie
betrachtete die Nation als ,,quasi-natürliche Einheit in der europäischen Geschichte"
93
. Dieser
87
Vgl. Lefebvre 2005: 403 f., 416 f., und Pott 2007: 30, 36 f.
88
Kant, Kritik der reinen Vernunft A 51/B 75.
89
Vgl. dazu allgemein Cohen 1985: 44, Schlögel 2003: 312, Staeheli 2003: 168, und Till 2003: 297.
90
Diese These vertreten Newman / Paasi 1998: 195; s. zu Problemen der Narrativität Anm. 92.
91
So Alter 1997: 34, und Schlesinger 1987 (hier 258); vgl. zur neueren Forschung Borggräfe / Jansen 2007.
92
Meurer stellt beim bundesrepublikanischen bzw. DDR-Kino die ,,Bourgeois politics of the self" den ,,Socialist
politics of the other" gegenüber (Meurer 2000: 171, 203). Das Kino beschreibt er dabei ,,from a materialist per-
spective as an institution which exists both as an economic practice and an ideological form" (ebd.: 7). Solche
Argumente bewegen sich in einer marxistischen Tradition, wonach Nationen und Nationalismen als historisch-
geographische Bedingungen zwecks Gewinnung von Loyalität und Identifikation faschistischer oder
demokratischer Regierungen verstanden werden (so etwa Mitchell 2000: 271 ff.). Dabei werden die ,,nationalen In-
teressen [...] durch Klassen repräsentiert" (so Kühnl 1986: 122). Inga Scharfs postmodernes, ihrer critical
geopolitics-Theorie geschuldetes (s. dazu Anm 158) Nationsverständnis von Deutschland als ,,a complex site of
struggle over meaning" (Scharf 2005: 383) greift auf eine Theoriebildung á la Homi Bhabha zurück. Dieser versteht
die Nation als Form sozialer und textueller Zugehörigkeit, als narrative Strategie, die eine ständige Bedeutungsver-
schiebung unterschiedlicher Kategorien im Schreiben der Nation bewirkt (Bhabha 2007: 209). Diese ermöglicht im
Namen der Nation komplexe Strategien von kultureller Identifikation und diskursiver Referenz (Bhabha 1997: 150
f.). Insgesamt sind ältere marxistische Nationsverständnisse aufgrund ihres einseitigen materialistischen und ideolo-
giekritischen, damit handlungstheoretischen Ansatzes unzureichend, postmoderne aufgrund des genauen Gegen-
teils: die unklare Subjektkonzeption, der von der Gesellschaft losgelöste Symbolgehalt der Nation innerhalb der
,narrativen Strategie' und die Nationsdeutung allein als ,imaginäre' Gemeinschaft. Beide lassen dabei einen Bezug
auf bestimmte Ereignisse, Erfahrungen und Erinnerungen sowie historisch begründete, aber veränderbare
Gruppenzgehörigkeiten vermissen (vgl. dazu kritisch Langewiesche 2005: 237 ff.).
93
Vgl. hierzu und im Folgenden Wehler 2004: 7 f., und Staeheli 2003: 166 f.
20

Argumentation zufolge habe jede Nation ein Anrecht auf einen eigenen Staat, in dem sich ihre
eigenen Ideen und Wertesysteme, wie ein bestimmtes Nationalbewusstsein ausbilden. Dieses
ältere Nationsverständnis, das für die Nation primordiale Räume und Grenzen fordert, wurde
bereits 1882 von Ernest Renan herausgefordert. Renan zufolge können weder Ethnie, Religion
oder Geographie noch Sprache, Interessen oder militärische Notwendigkeiten das Phänomen der
Nation erklären.
94
Hier hat die Diskussion der Deutschen Frage anzusetzen.
Denn ein Jahrhundert später gelang konstruktivistisch inspirierten Nationstheorien der
Durchbruch, verbunden mit den Namen Benedict Anderson, Ernest Gellner und Eric
Hobsbawm.
95
Sie konnten die Idee der Nation als naturwüchsige Ordnung widerlegen und
essentialistischen Vorstellungen nationaler Gemeinsamkeiten ihren Halt entziehen. Nationen
und Staaten gelten nicht mehr als universelle Notwendigkeiten, die zu jeder Zeit, überall und
unter allen Umständen existieren.
96
Erst der Mensch schafft mit seinen Überzeugungen, Loyali-
täten, Solidaritätsbeziehungen etc. die Nation. Im Rückgriff auf kulturelle Traditionen ist es der
Nationalismus, verstanden als ,,politisches Prinzip, das besagt, politische und nationale Einhei-
ten sollten deckungsgleich sein"
97
, der die Nation hervorbringt, nicht umgekehrt. Rückwirkend
beeinflusst die inhaltliche Bestimmung der Nation das auf diese Vorstellung bezogene
Handeln.
98
Renan betimmte die Nation als ,,geistiges Prinzip", bestimmt durch den
gemeinsamen Besitz von Erinnertem und Vergessenem sowie dem Einvernehmen,
zusammenzuleben.
99
Dies ist ein für den in Kapitel 2.4 zu erläuterten Aspekt der Erinnerung der
Deutschen Frage im Film ebenso wichtiger Punkt wie Hobsbawms Gedanke, die Nation bilde
nur durch Bezug auf ein nationalstaatliches Territorium eine gesellschaftliche Einheit.
100
Am weitesten verbreitet, und für den Verweis auf den Konstruktcharakter der Deutschen
Frage im Film am wichtigsten erscheint Benedict Andersons neomarxistische Theorie der
imagined communities. Danach ist die Nation ,,eine vorgestellte politische Gemeinschaft ­
vorgestellt als begrenzt und souverän"
101
. Vorgestellt ist sie, weil die Mitglieder der
Gemeinschaft an sie glauben, auch wenn sie sich untereinander nicht kennen, begegnen oder
voneinander hören. Sie ist begrenzt durch veränderliche Grenzen, jenseits derer andere Nationen
existieren und souverän, indem das Volk als Träger der Staatsgewalt imaginiert wird. Nationen
fungieren mit Hilfe unterschiedlicher Medien als ,,Homogenitätsmaschinen"
102
, die durch
94
Vgl. Renan 1888: 290-308.
95
Wehler 2004: 8; die wichtigsten Monographien sind hier Anderson 2005, Gellner 1995. Hobsbawm 2005. Von
den deutschen Forschern sind Langewiesche 2000, 2005, und Lepsius 1982, hervorzuheben.
96
Borggräfe / Jansen 2007: 14; s. z. B. Gellner 1995: 16, und Hobsbawm 2005: 20 f.
97
Gellner 1995: 8 (Zitat), 16 f., 92; so auch Hobsbawm 2005: 20 f.
98
Vgl. Lepsius 1982: 12.
99
Renan 1888: 308
100
Vgl. Hobsbawm 2005: 20 ff.
101
So Anderson 2005: 15 und im Folgenden ebd.: 15 ff.; ähnlich Lepsius 1982: 13; vgl. zu Andersons Konzept
Borggräfe / Jansen 2007: 92-98, Smith 1998: 137 ff., Schlesinger 1987: 246-250.
102
Mergel 2005: 284; s. zu Zensur, Landkarte und Museum das eigene Kapitel bei Anderson 2005: 163-187.
21

Grenzen von anderen Nationen getrennt werden. Die Filmanalysen werden zeigen, inwieweit die
Filme mit dieser Definition und deren Charakteristika korrespondieren.
Doch sagt die Verbundenheit zu einer nationalen Vorstellung noch nichts über die
Homogenität innerhalb der Grenzen aus. Dazu bedarf es nicht nur der Mechanismen von
Inklusion und Exklusion, sondern auch des Bezugs auf kollektiv geteilte Ereignisse. Ohne
sozialkulturelle Integration, ökonomische Verklammerung und politische Bewegungen ist eine
,Erfindung der Nation' nicht möglich.
103
Daher wird im jeweils zweiten Kapitel auch die
Deutsche Frage im Kontext anderer, an der Mauer ausgedrückter Symboliken analysiert. Zudem
behält die Nation als ,,gesellschaftliche Konstruktion, als Imagination und ,Erfindung' [...] nur
so lange ihre politische Wirkung [...], wie sie im kulturellen Gedächtnis und vor allem in der
gesellschaftlichen Werteordnung lebendig bleibt"
104
. Deshalb werden die Kapitel 2.4, 2.5, 2.6
die nationale Frage in einen kollektiven Gedächtnisrahmen der Deutschen stellen. Da die
Vordenker zudem die Rolle von bewegten Bildern unterschätzen, wird Kapitel 2.7 Beiträge zur
Ergänzung dieses Defizits heranziehen.
Zunächst benötigt jede ,Erfindung der Nation' vor allem nationale Symbole. Diese sollten
nicht mehr wie bei Elisabeth Fehrenbach nur die Fahnen, Wappen und Hymnen, Ländernamen
und Verfassungen bezeichnen, sondern auch Bauwerke wie die Berliner Mauer. So gilt die
These, ,,daß die modernen Symbole immer mehr inhaltslos werden, [...] festgelegt und kaum
wandlungsfähig"
105
, als problematisch. Denn wenn (nationale) Symbole inhaltslos der
Konvention folgten und nur etwas anderes repräsentierten, wären sie redundant und
austauschbar. Im Gegenteil erlauben sie als Modelle nationaler Identifikation ihren Nutzern, sie
in einem Rahmen mit Bedeutung aufzuladen,
106
deren Unterschiedlichkeit die sechs
Filmanalysen aufzeigen werden. So geht jede Symbolisierung mit einer Fixierung einher, indem
sich im Symbol Berliner Mauer individuelle und kollektive geteilte Ereignisse und Gedanken
verfestigen und die Symbole über ihre sprachliche Formulierung eine zunehmend eigene
Existenz gewinnen. Nationale Symbole fungieren als Inhalte und Medien der Kommunikation,
indem sie das ,Eigene' vom ,Anderen' trennen (oder verbinden) helfen und in einer Struktur
geteilter Erfahrungen und Werte lange fortbestehen,
107
aber auch, wie die Öffnung der Mauer
und ihre anschließende Musealisierung zeigt, verändert werden können.
Deshalb wird die (deutsche) Nation als an den Grenzen, in diesem Fall der Berliner Mauer,
festgemachtes Symbol von ihren Mitgliedern in ihrer Bedeutung aufrecht erhalten, aber auch
verändert. Sie entwickelt symbolische Selbst-Imaginationen und eine Vielzahl von Ikonen und
Erzählungen zur Stimulierung von Zusammengehörigkeitsgefühlen.
108
Damit stellt sich die
103
Vgl. Mergel 2005: 294, und Langewiesche 2005: 235.
104
Langewiesche 2005: 232 f.; s. zum kulturellen Gedächtnis Kapitel 2.4.
105
So Fehrenbach 1971: 296 f.
106
Vgl. Cohen 1985: 14 f., und Parr 2005: 36 f.
107
Vgl. dazu allgemein Smith 1998: 182 ff., und Schwemmer 2006: 10.
108
Vgl. Assmann 1999: 65, Cohen 1985: 15, und Hattenhauer 1990: 7.
22

Frage, welchen grundlegenden Nationsverständnissen die Filme folgen und wie sie diese an die
Deutsche Frage koppeln. Denn trotz ihrer allenfalls anfänglich nach dem Ende des Zweiten
Weltkrieges begründeten Abwehr gegen alles Nationale, konnten auch die später entstehenden
deutschen Staaten weder auf nationale Symbole wie die Berliner Mauer verzichten
109
noch auf
die nationale Selbstimagination: Die Deutsche Frage.
2.3 Eine kurze Skizze der Deutschen Frage in der Geschichtskultur der 1980er-Jahre
Zunächst resultierte aus dem zu eigenen Zwecken instrumentalisierten Nationalstaatsgedanken
im ,Dritten Reich', aus Vernichtungskrieg, Niederlage und Teilung eine ,,ausgeprägte nationale
Indifferenz"
110
. Doch auch wenn es weit nationalistischere Völker gab als die Deutschen nach
1945,
111
war die Deutsche Frage damit keineswegs ,,auf Eis gelegt"
112
. Das vorliegende Kapitel
kontextualisiert die nationale Frage in der Geschichtskultur ­ verstanden als die aus der der
kollektiven Zeiterfahrung resultierende Einordnung der Gemeinschaft in den gesellschaftlichen,
historisch-politischen Gesamtkontext
113
­ der Bundesrepublik in den 1980er-Jahren. Daraus
wird der rhetorische Konstruktcharakter ebenso wie die vielfältigen Anschlussmöglichkeiten der
Deutschen Frage auch für die filmische Umsetzung deutlich.
Insgesamt waren die Kriterien, ,Deutschland' zu begreifen, stets ,,unscharf und
mehrdeutig"
114
, da kein jemals erreichter territorialer Zustand allen deutschen Wünschen gerecht
geworden ist. Auch der Diskussionshorizont der 1980er-Jahre war weit komplizierter als dass
man wie Hans Joachim Meurer die Bundesrepublik und ihr Kino mit dem Modell der Kulturna-
tion kategorisch von einer Staatsnation der DDR trennen könne.
115
Viel eher lassen sich vier Na-
tionen-Typen unterscheiden, die sich überschneiden können und andere Nationsverständnisse
umfassen: ,Volksnation', ,Kulturnation', ,Klassennation' und ,Staatsbürgernation'.
116
Wie die
Abschnitte 3 und 4 zeigen werden, greifen die Filme auf diese Idealtypen zurück und beziehen
sich mit ihnen auf die Diskussionen in Politik, Wissenschaft und Publizistik, wie sie in Bundes-
republik und DDR nicht unterschiedlicher sein konnten.
Zu Beginn reklamierte die DDR noch den Nationsbegriff für den Aufbau des Sozialismus.
Aber nach dem Mauerbau, vor allem seit Mitte der 70er-Jahre, war die Deutsche Frage in der
DDR offiziell tabu, weil die Existenz von Mauer und Staat nicht hinterfragt werden durfte.
117
Die nationale Frage entwickelte sich damit zu einer Existenzfrage im Bemühen, das deutsch-
109
Hattenhauer 1990: 7; die Bundesrepublik war daher nie ,,eine Nation ohne Zeichen" (so Korte 1990: 47).
110
Mommsen 2005: 28; ähnlich auch Wehler 2004: 87, und Winkler 1982: 8.
111
Vgl. Roth 1995: 14, und Scheuch 1991: 84, sowie Umfragen bei Noelle-Neumann / Köcher 1987: 17-71.
112
So Wentker 2007: 10. Assmann 1999: 65, spricht von einer ,,Abstinenz von nationaler Identität".
113
So Wolfrum 1999: 19 f.
114
Demandt 1991: 11 ff. (Zitat 14); ähnlich auch François / Schulze 2005: 9.
115
So Meurer 2000: 69, 241 ff.
116
Vgl. Lepsius 1982. Alternativ werden die Begriffe ,Staatsnation' und ,Staatsbürgernation' verwendet.
117
Vgl. Kleßmann 2005b: 32 f., und Seiffert 1982. So erschienen in der DDR weder Arbeiten zu den deutsch-deut-
schen Beziehungen (Bruns 1987: 38) noch erfragte die Sozialforschung die deutsche Identität (Weidenfeld 1991:
380 f). Auch für die DDR-Opposition war die Deutsche Frage kaum ein Thema (Geisel 2005: 128).
23

deutsche Verhältnis als zwei Staaten mit zwei Nationen darzustellen.
118
Nach 1971 favorisierte
man dazu den Begriff der ,Klassennation', verbunden mit den Stichworten ,Klasse',
,Klassenkampf' und ,Sozialismus'.
119
Denn die DDR sei, so Erich Honecker, ,,eine historische
Epoche weitergegangen" und unterscheide sich als ,,sozialistische Nation [...] in allen ent-
scheidenden Merkmalen von der bürgerlichen Nation in der Bundesrepublik"
120
. War die DDR
laut Verfassung vom 6. April 1968 noch ein ,,sozialistischer Staat deutscher Nation", dessen
Aufgabe es war, ,,der ganzen deutschen Nation den Weg in eine Zukunft des Friedens und des
Sozialismus zu weisen"
121
, so tilgte man in der neuen Verfassung vom 7. Oktober 1974 jeden
Hinweis auf die Deutsche Frage. Als ,,sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern" werde
,,[a]lle politische Macht [...] von den Werktätigen in Stadt und Land ausgeübt"
122
.
Ganz anders bestimmte die Bundesrepublik die Deutsche Frage. De jure war sie durch die
doppelte Staatsgründung und das Grundgesetz klar definiert: ,,Das gesamte Deutsche Volk
bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu
vollenden."
123
Ungleich komplizierter als diese durchgängige staatsrechtliche Position ist die
Eruierung der verschiedenen Stellungnahmen zur nationalen Frage. Die deutsche Frage rediviva
betitelte Eckard Jesse 1984 eine Sammelrezension. Da sich dieses neu erwachte Interesse an der
nationalen Frage seit Ende der 70er-Jahre demoskopisch jedoch nicht ablesen lies, war die
(Pseudo)-Aktualität der deutschen Frage [...ein] publizistisches, kein politisches Phänomen
124
.
Ihre Renaissance in der Publizistik zeigt sich besonders in den für die vorliegende Arbeit
wichtigen Standortdebatten, die vermehrt die deutsche Identität erörterten.
125
Da die Filme, wie sich zeigen wird, nicht tief ins Detail gehen, genügt es hier, grob ein
gesamtdeutsches
126
, ein bundesrepublikanisches
127
und eine Sowohl-als-auch-Position mit
gesamt- und bundesdeutschem Nationsverständnis zu unterscheiden.
128
So hatten sich in den
1980er-Jahren viele an die deutsche Teilung gewöhnt, während andere an der Präambel des
Grundgesetzes festhielten. Neben denjenigen, die den Verlust des Nationalstaates reklamierten,
sahen andere die Teilung als Preis für Frieden und Westbindung bzw. als Sühne für Holocaust
118
Vgl. Bender 1996: 186, und Hillgruber 1989: 161.
119
Vgl. Borggräfe / Jansen 2007: 190, Lepsius 1982: 19 f., Weidenfeld 1991: 380 f., und Wolfrum 1999: 296-303.
120
So Honecker 1974; s. auch das Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands [1976]: 77 ff, wonach
sich in der DDR die sozialistische Nation und Nationalkultur entwickle, die sozialistische Lebensweise, Denk und
Verhaltensweisen weiter ausprägen und ein Nationalbewusstsein erwächst; s. auch Hofmann 1989: 252. Insgesamt
wurde die Deutsche Frage von Honecker nur selten thematisiert (Zieger 1989b: 142).
121
Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik [1968]: Art. 1, [Präambel].
122
Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik [1974]: Art. 1, Art. 2; vgl. Staritz 1996: 289 ff.
123
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Präambel. Der erste Titel verweist auf Kleßmann 1991.
124
So die Titel von Jesse 1984, 1986; vgl. zur Demographie Potthoff 1999: 231.
125
Vgl. Korte 1990, dessen Dissertation die wichtigsten Standortbilder kurz zusammenfasst.
126
Diese Position knüpft sich an ein in demoskopischen Daten stets vorhandenes gesamtdeutsches Nationalgefühl,
das primär mit Sicherheitsfragen und Zukunftsszenarien verbunden wurde (vgl. ebd.: 75 f.).
127
Diese auf die Bundesrepublik konzentrierte Position kennzeichnet ein fehlender Glauben an ein Gesamtdeutsch-
land und die Wiedervereinigung, wobei andere Themen wichtiger erschienen (vgl. ebd.: 72 f.).
128
Das betrifft u. a. Erwin Scheuch, Wolfgang J. Mommsen und Werner Weidenfeld (vgl. ebd.: 76 f.).
24

und Vernichtungskrieg an. Dritte hofften auf eine Wiedervereinigung.
129
Die Arbeit überprüft,
inwieweit der Film an diesen Standortdebatten zur Deutschen Frage teilnimmt, in welcher Form
und wozu verschiedene Nationsverständnisse visualisiert werden.
Das auch im Film zu erwartende Spektrum an Nationsverständnissen findet sich vor allem in
Wissenschaft und Publizistik, weshalb deren wichtigsten Thesen kurz genannt werden. Neben
denen, die wie Hans Mommsen einen ,,Prozeß der Bi-Nationalisierung beider Teile Deutsch-
lands"
130
annahmen, betonten viele Konservative das Selbstverständnis der Deutschen als einer
auf ethnischer Abstammung gründenden Volksnation.
131
Dem stellte u. a. Jürgen Habermas den
Verfassungspatriotismus entgegen. Durch die Staatsbürgernation legitimiert, definiere sich die
Bundesrepublik über staatsbürgerliche Gleichheitsrechte und Verfahren demokratischer Herr-
schaftslegitimation.
132
Heinrich August Winkler bestimmte die alte Bundesrepublik als ,,Staats-
nation, der nichts fehlte als das offizielle Bewußtsein, eine zu sein"
133
. Oft deutete man die
Staatsbürgernation auch in Ergänzung zur Kulturnation, die ,,transpolitisch [...] eine nationale
Identität über kulturelle Gleichheit bei politischer Ungleichheit herzustellen"
134
versuchte. So
sprach etwa Wolfgang J. Mommsen von ,,der Existenz einer deutschen Kulturnation in der Mitte
Europas, die in mehrere deutsche Staatsnationen gespalten ist"
135
. Diese Kulturnation, vor allem
ein Produkt der Intellektuellen, definiert sich über gemeinsame Abstammung und Sprache, Sied-
lungsgebiet, Religion, Gewohnheiten und Geschichte.
136
Wieder anders lagen laut Bernhard
Giesen die Identitäten beider deutscher Staaten in der aus der Abgrenzung vom NS-Regime
resultierenden Holocaust- und Wirtschaftswundernation.
137
Diese und ähnliche Fragen stellten sich auch im politischen Spektrum der Bundesrepublik,
das gemeinsam mit Wissenschaft und Publizistik die Grundlage einzelner Filme bildet, die
entweder politische Rhetorik widerspiegeln oder gegenteilige Positionen einnehmen. Für die na-
tionale Rechte, überwiegend außerparlamentarisch, zuweilen in CDU/CSU und den Vertrie-
benenorganisationen vertreten, galt das Primat der Nation. Ohne die Oder-Neiße-Grenze anzuer-
kennen, orientierte sich ihr gewünschter Nationalstaat an den Reichsgrenzen von 1871 bzw.
1937, war neutral, unabhängig und souverän von den liberal-westlichen Demokratien.
138
Demgegenüber ähnelten sich die Parteien im Bundestag weitgehend, wie etwa in einem ein-
stimmig gefassten Beschluss der Kultusministerkonferenz der Länder 1978 deutlich wird: Der
129
Vgl. Assmann 1999: 62 ff., und Demandt 1991: 28. Während etwa Ende der 80er-Jahre Martin Walser die Hoff-
nung auf Wiedervereinigung nicht aufgab (vgl. z. B. Walser 1988: 76-100), vertraten viele politische Linke wie
Günter Grass und Joschka Fischer gegenteilige Positionen.
130
Mommsen 1981.
131
So etwa Demandt 1991: 12 f., Diwald 1982: 25 f., und Smith 1998: 212.
132
So etwa Habermas 1990: 207 ff., und Jäger 2006: 337; vgl. Lepsius 1982: 23 f., und Roth 1995: 293-317.
133
Winkler 2004: 438.
134
Lepsius 1982: 19 (Zitat), 21; s. auch Beyme 1996: 83, Brandt / Ammon 1981: 21.
135
Mommsen 1983: 76; vgl. zur Kritik am Konzept der Kulturnation Winkler 1981.
136
Vgl. zur Definition der Kulturnation (in Abgrenzung von der Staatsnation) Alter 1997: 36 ff.
137
Giesen 1993: 236-51.
138
Vgl. Hillgruber 1989: 145 f., Korte 1990: 91; so etwa Czaja 1986, und Diwald 1982.
25

Schulunterricht müsse das Bewusstsein nationaler Einheit aufrechterhalten und den Willen zur
deutschen Wiedervereinigung entwickeln. Unter Ablehnung eines nationalen Alleingangs
besitzen Frieden und Freiheit Vorrang vor der deutschen Einheit.
139
Die seit der Bonner Wende von 1982 amtierende christlich-liberale Bundesregierung hatte,
wie bereits erwähnt, in den Kernpunkten die Deutschlandpolitik der Vorgängerregierung fortge-
setzt. Die Mehrheit der CDU/CSU und FDP
140
, allen voran Bundeskanzler Helmut Kohl und der
spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker knüpfte die Deutsche Frage an das Grundge-
setz, europäische Werte, Westbindung sowie Freiheit als Voraussetzungen der Einheit.
141
Im Be-
kenntnis zur deutschen Kulturnation gibt es laut Kohl ,,zwei Staaten in Deutschland. Aber es
gibt nur eine deutsche Nation"
142
. Bis zu der nur auf friedlichem Wege möglichen Einheit sollten
das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt und die Folgen der Teilung erträglicher gemacht
werden. Selbst wenn das ,,DDR-Regime" die ,,Geschichte umschreiben will" und sich mit
,,Mauer und Stacheldraht umgibt, [...] wird es vor der Geschichte nicht [bestehen]"
143
. Während
somit einerseits die Kooperation mit der DDR fortgeführt wurde, verschärfte man andererseits
die normative Abgrenzung von ihr. Dabei blieb die Deutsche Frage fest eingebettet in die euro-
päische Integration, wobei ein ,Dritter Weg' mit Neutralität und dem Ausstieg aus der NATO
entschieden abgelehnt wurde.
144
Selbst wenn die Chancen zur Lösung der Deutschen Frage
schlecht stünden, solle sie nicht aufgegeben werden. Denn die Deutschen seien ein Volk, un-
abhängig von persönlichen Meinungen und ungeachtet dessen, ob man eine politisch mögliche
Antwort kenne.
145
Für die Aussageebene der Filme und ihrer Figuren zur nationalen Frage fast
ebenso wichtig ist die Position der SPD.
Durchaus ähnlich wie CDU/CSU und FDP begriff die SPD die Deutschlandpolitik als Teil
der Friedens- und Entspannungspolitik, um die Teilungsfolgen zu mildern und ein Ausein-
anderleben der Deutschen auf beiden Seiten der Grenze zu verhindern. Im Gegensatz zur Re-
gierung war das Ziel aber eine gesamteuropäische Friedensordnung, in der die Militärblöcke
überflüssig und die bestehenden Grenzen nicht in Frage gestellt werden.
146
,,Die Nation gründet
139
Beschluß der Kulturministerkonferenz [1978]: 343; vgl. zu dessen Umsetzung Jesse 1987a: 65.
140
Zur Zeit der christlich-liberalen Regierung besaß die FDP, vor allem repräsentiert durch Außenminister Hans-
Dietrich Genscher, ,,kein wirklich eigenständiges deutschlandpolitisches Profil" (Potthoff 1995: 64). In freier
Selbstbestimmung sollte die Einheit in einer europäischen Friedensordnung möglich werden (ebd.: 67).
141
Vgl. Korte 1998: 158; Kühnl 1986: 26-48, Pflüger / Knappe 1993. ,,Freiheit ist die Bedingung der Einheit. Sie
kann nicht ihr Preis sein." (Kohl 1984: 36; vgl. Kohl 1982: 44 f., von Weizsäcker 1981: 277, Kanzlerberater Stür-
mer 1988: 8, 18 ff., CDU-Minister Windelen 1984: 14 f., 26 ff. und CSU-Abgeordneter Gruber 1989: 165 f.). Ins-
gesamt war die Deutschlandpolitik unter Helmut Kohl ,,Chefsache" (Korte 1998: 7).
142
So Kohl 1983: 8, der auf Geschichte, Kultur und geographische Lage verweist. Dadurch bleibe die ,,gemeinsame
Kultur und Geschichte [...] ein festes Band für die Einheit der deutschen Nation" (Kohl 1986: 13).
143
So Kohl 1983: 14 (Zitat), 1984: 16 ff.; vgl. Hacke 1991: 196,und Korte 1998: 9 f.
144
Vgl. ebd. 1998: 7 ff., 479 ff. Der nationale Sonderweg wurde abgelehnt, da man das Einverständnis der Nach-
barn benötige (Pflüger / Knappe 1993: 173 f.); s. Kohl 1983: 6 f., 37 f., 1984: 30 ff., 1986: 38.
145
So Kohl 1987: 9 f., Weizsäcker 1983b: 8, und Windelen 1984: 8; vgl. Potthoff 1995: 44.
146
Vgl. Brocke 1991: 222, und Potthoff 1995: 57 f. So ist die ,,deutsche Teilung [...] zugleich die Teilung Europas.
Das bedeutet konkret, daß das deutsche Problem nur auf europäischem Wege zugänglich ist. [...] Die wichtigste
Aufgabe für uns Deutsche [...ist] die Vermeidung von Konfrontation auf deutschem Boden. [...] Ohne Friede ist
deutsche Einheit undenkbar." (Schmidt 1980: 29 f.; ähnlich auch Gaus 1983: 237 ff.)
26

sich", so Willy Brandt, neben der gemeinsamen Sprache und Kultur, der Staats- und Gesell-
schaftsordnung auch ,,auf das fortdauernde Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen eines
Volkes"
147
. In den 1980er-Jahren distanzierten sich aber viele SPD-Politiker von dieser Position,
dem Gedanken an Einheit, und betrachteten die Deutsche Frage als beantwortet.
148
Diesbezüglich ähnlich lag der ,,Grundkonsens" der überwiegenden Mehrheit der Partei der
Grünen in der ,,Absage an eine Politik, die auf nationalstaatliche Wiedervereinigung zielt"
149
, da
die Deutsche Frage durch den Zweiten Weltkrieg beantwortet worden sei. Sie wollten die Nach-
kriegsgrenzen von Bundesrepublik und DDR anerkennen und lehnten einen nationalen Sonder-
weg ab. Eine Minderheit der Nationalpolitiker
150
aber überschnitt sich mit der linken, außer-
parlamentarischen Strömung, die die Deutsche Frage mit Friedensforderung, Anti-Imperialis-
mus, Loslösung von den USA und ihrer Militärpolitik lösen wollte.
151
Mit der Grenzöffnung und dem 3. Oktober 1990 haben sich alle diese Fragen erübrigt, da,
abgesehen vom äußersten linken und rechten Rand, von allen die Bundesrepublik Deutschland
in ihren Grenzen als einzig denkbarer Staat akzeptiert wird.
152
Dennoch blieb die (nationale) Be-
deutung der Ereignisse der Jahre 1989/90 umstritten. Bereits hinter jedem Begriff stecken unter-
schiedliche Bewertungen und Verständnisse der Akteure, die zu einem Filmvergleich heraus-
fordern. Wird bei den positiv konnotierten Verständnissen einer wie auch immer gearteten ,,Re-
volution"
153
die durch DDR-Bürger, Bürgerrechtler und Friedensbewegung bewirkte Grenzöff-
nung ins Zentrum gerückt, verweisen die etwas neutraleren bis verharmlosenden Termini von
,,Wende" bis ,,Vereinigung"
154
eher auf den Prozess der Geschehnisse, die (Welt-)Politik und die
Deutsche Frage. Negativ konnotierte Bezeichnungen
155
verraten Antipathien gegenüber dem
147
Brandt 1970: 5. Das bedeutet: ,,Es gibt die Deutschen, obwohl sie in zwei Staaten leben." (Schmidt 1979: 40)
148
Garton Ash 2001: 14, Hillgruber 1987: 146. Vgl. zur ,,Wiedervereinigung" als ,,Lebenslüge" Hacker 1989, und
Malzahn 2005: 181. Vom Begriff ,Deutschland' nahm man weithin Abschied (Hacker 1997: 319 f.).
149
Probst 1989: 121 f.
150
Vgl. Heyde 1991: 209 f., Knappe / Juling / Heyde / Hacke 1993: 199 ff.
151
Vgl. Kühnl 1986: 63 f.; das sind etwa Brandt / Ammon 1981, 1982, Schweisfurth 1982, und Venohr 1982a,
1982b (s. dazu Kap. 3.1). Daran wurde vor allem die Unvereinbarkeit mit ,westlichen' Interessen und die Gefahr
der ,Schaukelpolitik' durch eigene Schwäche kritisiert (Grewe 1985: 107 f., Schwan 1988: 147 f.).
152
François / Schulze 2005: 9; so auch Eckert 2005: 14, Herdegen / Schultz 1993: 252, Jarausch 1995: 323 f.
153
Neben ,,Sturm auf die Bastille" (Darnton 1989: 51, Winkler 2004: 517) ist häufig von ,,Revolution" die Rede
(Bender 2007: 225, Giesen 1993: 248, Kleßmann 2005a: 39, Osang 2007: 72). Daneben kursieren die Termini
,,Bürgerrevolution" (Jarausch 1995: 114), ,,ostdeutsche" (Bisky 2005: 209) bzw. ,,nationale Revolution" (Jarausch
1995: 205) und ,,nationaldemokratische Revolution" (Zwahr 1996: 336). Jürgen Habermas sah eine ,,nachholende
Revolution" (Habermas 1990), NRW-Ministerien eine ,,Aufhol-Revolution" (Ministerium für Schule und Weiter-
bildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 1999: 84), andere eine ,,fröhliche Revoluti-
on" (Wolle 1999: 14), ,,Autumn Revolution" (Naughton 2002: XIII), ,,Revolution von unten" ([O. Autor] 1989a:
22, Genscher 1995: 658), ,,Revolution ohne Revolutionäre", ,,Feierabendrevolution", ,,spontane Revolution" oder
,,volkseigene Revolution" (Opp / Voß 1993: 202 f.). Derweil scheint sich der Begriff ,,friedliche Revolution" durch-
zusetzen (Dann 1992: 328, Garton Ash 1989: 389, Gruber 1993: 348, Kohl 1990: 298 f., Krenz 1990, Leonhard
1989: 209 f., [O. Autor] 1989a, Reichel 2005: 54, Ritter 1998: 191, Weber 2006b: 474, Wolfrum 2005: 399).
154
Angefangen beim Begriff ,,Wiedervereinigung" (Assmann 2007: 177, Bender 2007: 167, Berschin 1993: 147)
über ,,Vereinigung" (Giesen 1993: 247) und ,,Einheit" (Brauburger / Korte / Weidenfeld 1993: 138, Kohl 1996)
vernimmt man die Termini ,,Fusion" (Wehler 2004: 89), ,,Umbau" (Seibt 2001: 84), ,,Umbruch" (Steinbach 1999:
7) und ,,Beitritt" (Mühlberg 2002: 220). Weit verbreitet ist Egon Krenz' Begriff der ,,Wende" (Assmann 1999: 65,
Görtemaker 2004: 359, Krenz 1990: 11, Malzahn 2005: 180).
155
Das betrifft die so unterschiedlichen politischen Positionen zuzuordnenden Begriffe vom ,,Zusammenbruch"
(Joas / Kohli 1993, Willms 1994b: 8), dem ,,Kollaps" (Kielmansegg 2004: 616), der ,,Kettenreaktion" (Offe 1993:
27

Vorgang. Angesichts dieser Verständnis-Vielfalt von Nation und Mauer ist zu analysieren, von
welcher politischen Position die Filme das Ereignis bewerten.
Zusammengefasst haben die letzten beiden Kapitel die anhand der Berliner Mauer dargeleg-
te neuere Grenzforschung aufgenommen und der konstruktivistischen Nationstheorie unterge-
ordnet. In diese wurden auch die Diskussionen zur Deutschen Frage in den 1980er-Jahren in-
tegriert. Dies lenkt den Blick weg vom faktischen Gehalt der verschiedenen deutschlandpoli-
tischen Positionen (der Filme) und hin zu ihrer Argumentationsstruktur, ihrem ge-
schichtskulturellen Rahmen in Wissenschaft und Publizistik sowie dem politischen Spektrum
der Bundesrepublik. Das folgende Kapitel sucht nach einem ideengeschichtlichen Zugriff, um
die gesellschaftliche und historische Einbettung dieser politisch-kulturellen Konzeptionen zur
Deutschen Frage und Berliner Mauer vor und nach 1989/90 zu verstehen. Denn die Vorstellung
nationaler Gemeinschaft entsteht erst durch die Imagination einer historisch weit zurückrei-
chenden Kontinuität.
156
Nun haben u. a. Benedict Anderson und Eric Hobsbawm zwar die
Bedeutung von Gedächtnis und Erinnerung für die Nationskonstruktion erkannt;
157
ihr
Theoriebild war aber bis Mitte der 1980er-Jahre weitgehend abgeschlossen. Zu dieser Zeit
steckten die beiden heute favorisierten Konzepte der politischen Ideengeschichte allerdings noch
in ihren Anfängen: die Erinnerungskulturgeschichte und die Diskursgeschichte.
2.4 Auf dem Weg zum kollektiven Gedächtnis der deutschen Nation
Die Diskursgeschichte findet mittlerweile in einigen Geisteswissenschaften weite Verbreitung
und zum Teil auch Eingang in die Geschichtswissenschaft, oft aufbauend auf der Diskurstheorie
Michel Foucaults.
158
Auch für die mit der Fragestellung eng verbundenen Beiträge von Inga
Scharf und Hans Joachim Meurer bildet sie einen Ausgangspunkt: Beide ordnen das
bundesrepublikanische Kino in den ,Diskurs' des ideologischen Systemgegensatzes ein. Bereits
auf theoretisch-konzeptioneller Ebene sind sowohl diese Unterordnung der Deutschen Frage un-
ter den ,Diskurs' des Kalten Krieges
159
als auch die Diskurstheorien selbst zu hinterfragen. Das
296) bzw. der ,,Selbstauflösung der DDR" (Geiss 1992: 98 f.). Dem steht Hobsbawms These gegenüber, wonach
die DDR von der Bundesrepublik ,,einverleibt" wurde (Hobsbawm 2002: 602). Einige der hier genannten Begriffe
werden bei Ihme-Tuchel 2007: 73 ff., kurz erläutert.
156
Assmann 2005: 133, vgl. Assmann 1999: 65; so auch in den Neurowissenschaften (Schmidt 1993: 393).
157
S. z. B. Anderson 2005: 188-208, und Hobsbawm 1998.
158
Vgl. zur Foucault-Rezeption Daniel 2004: 345-60, und Eder 2006. Diskurse müssen Foucault zufolge als den
Dingen aufgezwungene ,,diskontinuierliche Praktiken behandelt werden, die sich überschneiden und manchmal be-
rühren, die einander aber auch ignorieren oder ausschließen" (Foucault 1991: 34 f.). Nach einiger Zeit können sie
sich überindividuell zu hegemonialen Diskursen entwickeln (Foucault 1973: 297). Die Diskursanalyse muss sich
daher auf das Ereignis und die Serie, die Regelhaftigkeit der Diskurse, ihre Abhängigkeiten und Transformationen,
ihre Diskontinuitäten und Zufälle richten (Foucault 1991: 36-38).
159
Durch den Kalten Krieg funktioniere laut Meurer der ,Diskurs' des bundesdeutschen und des DDR-Kinos ,,to af-
firm power relations and territorial divisions of the Cold War" (Meurer 2000: 44; s. auch ebd.: 7, 44, 59, 62, 240 f.).
Laut Scharf zeigen die westdeutschen Grenzfilme ,,a people deeply affected by the geopolitical changes that oc-
cured after the Second World War" (Scharf 2005: 378). Besonders deutlich wird dieser auf die globale Ebene ein-
geschränkte Blick bei der von Scharf (ebd.: 378-383) verwendeten Theorie der critical geopolitics. Diese versucht ­
erkenntnistheoretisch zweifelhaft (vgl. Anm. 83 mit Anm. 159) ­ Derridas Textverständnis mit Foucaults Diskurs-
theorie zu verbinden (Ó Tuathail 1996: 18, 65 ff.). Die Anwendung der Theorie auf das vorliegende Thema schei-
tert am zweifelhaftem top-down-Ansatz und der Überakzentuierung der globalen Ebene: ,,The Cold War division of
28

beginnt beim unklaren Verständnis des ,Diskurs'-Begriffs, der als alleiniger Bedeutungsträger
nicht hinreicht, da er auf kein Außen wie Politik und Gesellschaft angewiesen ist.
160
Es zieht
sich hin zur ,weltfernen' Konzeptualisierung von Subjekt und Gesellschaft, in der Phänomene
wie Erfahrung, Erinnerung und Vergessen weithin negiert werden. Zudem konnte die Diskurs-
theorie noch nicht in ein stimmiges Analyseprogramm überführt werden.
161
Aufgrund dieser
Probleme der methodischen Absicherung und praktischen Umsetzung erwiesen sich Scharfs und
Meurers Ansätze im Speziellen wie die Diskurstheorie im Allgemein für das Thema Berliner
Mauer und Deutsche Frage im Film als nicht praktikabel (s. Kap. 5.3).
Gegenüber der Diskurstheorie verspätet, entwickelt sich seit etwa 20 Jahren ein wahrer ,,Ge-
dächtnis-Boom"
162
hin zu einer die Fächergrenzen überschreitenden, verhältnismäßig wenig
kontroversen Erinnerungskulturgeschichte. Neben den zahlreichen Geschichts-, Sozial- und Po-
litikwissenschaftlern, beschäftigen sich auch (Sozial-)Psychologen und Neurowissenschaftler,
Religions- und Literaturwissenschaftler mit dem Thema ,Gedächtnis' und ,Erinnerung'.
163
Im
Folgenden wird mit Hilfe der Ansätze von Maurice Halbwachs, Jan Assmann und neuerer
Arbeiten versucht, die auf den ersten Blick individuellen, in den Filmen dargestellten Wahrneh-
mungen, Vorstellungen und Erinnerungen von Berliner Mauer und Deutscher Frage in einen
gesellschaftlich-politischen Erfahrungs- und Gedächtnisrahmen einzubetten. Dieser Ansatz
integriert die auf die Berliner Mauer bezogene neuere Grenzforschung ebenso wie den
konstruktivistischen Nationsansatz und verleiht ihnen eine erfahrungs-, erinnerungs-, räumlich
(Kap. 2.5) sowie generationell (s. Kap. 2.6) bedingte zeitliche Struktur. Damit lassen sich Ver-
bindungen der Filme zu den im vorigen Kapitel erläuterten Positionen zur nationalen Frage und
den Deutschlandverständnissen auch in der Erinnerungskultur ziehen.
Beginnend mit der Begriffsklärung, so bezeichnet ,Erfahrung' ,,die unterschiedlichen
Verlaufsformen und Techniken, die der Aneignung und Konstituierung menschlicher
Wirklichkeiten zugrunde liegen"
164
. In diesem Verarbeitungsprozess werden Wahrnehmung,
Europe, symbolized most graphically by the Berlin Wall, had to be overcome and replaced by a new, nonantagoni-
stic relationship between ,East' and ,West'." (Agnew / Mitchell / Toal 2003: 1) Indem die 1980er-Jahre und die
Berliner Mauer auf der globalen Ebene des Kalten Krieges verhaftet bleiben (Agnew 2002: 134, Ó Tuathail 1996:
60, 225 ff.), werden nationale Fragen durch die Konstruktion antagonistischer Blöcke in den Hintergrund gedrängt.
160
Es gibt kein einhelliges Verständnis von Diskurs (Eder 2006: 11). Entgegen Foucault liegt die Bedeutung in uns,
nicht im Diskurs (Hall 1997b: 61), wobei Foucault und seine Schüler die materiellen, wirtschaftlichen und
strukturellen Rahmenbedingungen weitgehend übersehen (vgl. Hall 1997b: 41-51, Sarasin 2003: 51).
161
Vgl. zu den Erfahrungen Daniel 2004: 142 ff., zur unklaren Subjekt-Bestimmung Weichlein 2006: 288 f.; vgl.
zum Arbeitprogramm, wonach die Repräsentativität der ausgewählten Quellen für das zu Thema nicht geklärt ist:
Haslinger 2006: 27 ff., und Wulff 1998: 36; vgl. zur schärfsten Kritik an der Diskursanalyse Wehler 1998: 45-95.
162
Erll 2005: 1-11 (Zitat 2). Der einzig wirkliche Kritikpunkt liegt in der unklaren Auswirkung von Erfahrungen
und Erinnerungen auf ihre soziale Geltung (vgl. Weichlein 2006: 293 ff.).
163
Das weite Feld der Geschichtswissenschaftler reicht vom Ägyptologen Jan Assmann (z. B. Assmann 2005) über
Neuzeithistoriker (z. B. Thamer 2000, François / Schulze 2001) hin zu Zeithistorikern (z. B. Sabrow u. a. 2007,
Wolfrum 1999, 2005). Neben vereinzelten Politikwissenschaftlern (z. B. Reichel 2005), stammt mit Maurice Halb-
wachs der Gründungsvater dieser Forschung aus der Soziologie (Halbwachs 1966, 1985). Auf Neurowissenschaften
und (Sozial-)Psychologie wird hier fast ausschließlich in den Anmerkungen verwiesen (s. vertiefend Burke 1993,
Rusch 1996, Schmidt 1993, 1996, und Welzer 2001, 2005). Neben den Religions- (Eschebach 2005), sei von den
Literaturwissenschaftlern vor allem die Anglistin Aleida Assmann genannt (z. B. Assmann 1999, 2006, 2007).
164
So das Verständnis im Tübinger SFB 437 Kriegserfahrungen (Buschmann / Carl 2001: 18).
29

Deutung und Handeln koordiniert. Erfahrungen entstehen in wechselseitiger Beeinflussung mit
soziokulturellen Rahmenbedingungen wie Sprache, Institutionen und Traditionen. In einem in
die Zukunft weisenden Prozess bleiben individuelle Erfahrungen in ein soziales Netz
eingebunden, wo sie durch gesellschaftliche Akteure fassbar werden. Dabei sind der sozio-
kulturelle Deutungskontext und die eigenen Erfahrungen prinzipiell wandelbar. So werden
individuelle Primärerfahrungen zunehmend von anderen bewusstseinsprägenden Faktoren
bestätigt, überlagert oder verdrängt, wobei die sedimentierten Erfahrungen durch
unterschiedliche Medien und Institutionen gedeutet oder tradiert werden können.
165
Die daraus
entstehenden ,Erinnerungen' sind ,,die einzelnen und disparaten Akte der Rückholung oder Re-
konstruktion individueller Erlebnisse und Erfahrungen"
166
, wobei das ,Gedächtnis' als
Kollektivbegriff angesammelter Erinnerungen fungiert. Der in der Forschung nicht einheitlich
verwendete Begriff ,Erinnerungskultur' dient im Folgenden als ,,Sammelbegriff für die Gesamt-
heit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit ­
mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke"
167
.
Auch wenn noch keine allgemein akzeptierte Theorie des Gedächtnisses erarbeitet wurde,
teilen fast alle Arbeiten den Bezug auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs.
168
Dieser trennte seit Mitte der 1920er-Jahre in einer Reihe von Arbeiten die individuellen Ge-
dächtnisse einzelner Personen vom kollektiven Gedächtnis der Gruppe, der diese Personen
angehören. Obwohl beide ihrer eigenen Bahn folgen, stützt sich das individuelle Gedächtnis zur
Erinnerung auf das kollektive, das die individuellen Gedächtnisse umfasst.
169
Daher werden die
Erinnerungen, wie die an Mauer und Deutsche Frage, von außen in das Gedächtnis gerufen,
wobei die Gruppen, denen man angehört, die Mittel bereitstellen, die Erinnerungen zu rekon-
struieren. Daher existiert ohne die Bezugsrahmen kein Gedächtnis. Individuen können sich nur
erinnern, wie sie sich innerhalb dieses gesellschaftlichen Rahmens der Gedächtnisse bewegen
und an dem kollektiven Gedächtnis teilhaben.
170
Die Vergangenheit wird also aus Sicht der ver-
schiedenen Gruppen, denen man im Leben angehört, interpretiert. Die wahrgenommenen Bilder
knüpfen jeweils an vorangegangene an und können nicht ohne Erinnerung existieren. Dadurch
lassen sich innere und äußere Beobachtungen nur schwer unterscheiden, weshalb auch einzelne
Mauer-Visualisierungen stets in einem gesellschaftlichen Rahmen stehen. Das bedeutet:
,,die Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegen-
wart entliehenen Gegebenheiten und wird im übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Re-
konstruktionen vorbereitet, aus denen das Bild von ehemals schon recht verändert hervorgegangen ist"
171
.
165
Vgl. ebd.: 18 ff., und Thamer 2000: 899 f.
166
Assmann 1999: 35; s. auch die Ergebnisse der Neurowissenschaften (Schmidt 1993: 381 ff., 1996: 33 f.).
167
So die Definition von Hockerts 2002: 41; ähnlich Faulenbach 2007: 16.
168
So Assmann 2006: 16, und Schmidt 1996: 9.
169
Halbwachs 1985: 34 f., s. zu ihrer Unterscheidung ebd.: 1-31; vgl. dagegen Neumann 2001: 637.
170
Halbwachs 1966: 19 ff., 121; so auch die Neurowissenschaften (vgl. Schmidt 1993: 383 ff.).
171
Halbwachs 1985: 55-65, 364 (Zitat 55 f.); s. auch Erler 2003: 9, Erll 2005: 7, und Assmann 2007: 129-33.
30

Diesbezüglich können Gedanken oder Erinnerungen nicht ohne sozialen, räumlichen und zeitli-
chen Kontext gebildet werden. Daher gibt es ,,so viele Arten, sich den Raum zu vergegen-
wärtigen, wie es Gruppen gibt"
172
. Erinnerungen sind von benachbarten Erinnerungen gerahmt,
sodass sie jeweils in ein Erinnerungsganzes unterschiedlicher Gruppen hineingestellt werden.
Diese Gedächtnisrahmen stellen ,,Denk- und Erfahrungsströmungen dar, in denen wir unsere
Vergangenheit nur wiederfinden, weil sie von ihnen durchzogen worden ist"
173
. Die sozialen
Überzeugungen sind damit einerseits Erinnerungen oder kollektive Traditionen, andererseits
auch Ideen oder Konventionen der Gegenwart. Dabei kann der Gedächtnisrahmen den konkre-
ten Bildern und Erinnerungen Stabilität verleihen, sich aber auch verändern. So lässt nicht ihr
Alter die Erinnerungen verblassen, sondern ihr verändertes und verschwundenes Vorstellungs-
system von einst.
174
Gerade die Grenzöffnung am 9. November 1989 stellt nun solch ein den Ge-
dächtnisrahmen massiv beeinflussendes Ereignis dar, sodass für die Filme danach auf veränderte
bzw. neue gesellschaftliche Rahmungen geachtet werden muss.
Nun sind acht Jahrzehnte an Halbwachs Theorie nicht spurlos vorübergegangen, und einige
Thesen mussten seither revidiert werden.
175
Insbesondere dem Ägyptologen Jan Assmann ist es
zu verdanken, Halbwachs' Konzept konzeptionell und argumentativ geschärft zu haben. Das
kollektive Gedächtnis laut Assmann in das kommunikative und kulturelle Gedächtnis auf. Das
kommunikative Gedächtnis umfasst Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt.
Das betrifft das in Kapitel 2.6 zu besprechende Generationen-Gedächtnis
176
ebenso wie das ak-
tive Gedächtnis, die aktualisierte Auswahl des Angeeigneten der Vergangenheit. Mit der Epo-
chenschwelle von etwa 40 Jahren schwindet die lebendige Erinnerung zunehmend aus dem Ge-
dächtnis. Nach ca. 80 bis 100 Jahren vergeht es mit ihren Trägern, sodass ein neues Gedächtnis
entstehen kann bzw. muss.
177
Dieses kulturelle Gedächtnis bezieht sich dagegen auf Fixpunkte
der Vergangenheit, die sich nicht als solche erhalten kann: ,,Für das kulturelle Gedächtnis zählt
nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte."
178
Das kulturelle Gedächtnis bezieht sich also
auf die Ursprünge bzw. herausragende Ereignisse und Entwicklungen der Geschichte, das kom-
munikative Gedächtnis auf eigene bzw. vermittelte Erfahrungen und deren Rahmenbe-
dingungen.
179
Thematisiert die Arbeit also primär das kommunikative Gedächtnisses und sozial
172
Halbwachs 1985: 142, 161 (Zitat).
173
Ebd.: 60 (Zitat), 195 ff.; vgl. die Befunde der Neurowissenschaften (Welzer 2005: 44 f.).
174
Halbwachs 1966: 135, 380-89; vgl. auch die Befunde der Neurowissenschaften (Schmidt 1996: 34 f.).
175
Als unhaltbar erwies sich sowohl Halbwachs' starke These, man könne sich allein innerhalb einer Gruppe er-
innern, als auch seine Trennung zwischen der Geschichte als etwas Objektivem und dem sozialen Konstrukt des
Gedächtnisses (Halbwachs 1985: 66-76; vgl. zur Kritik und zur Betonung von Übergängen Assmann 2006: 131 ff.,
Burke 1993: 289 f., Nora 1990, Sabrow 2001: 41 f.) Zudem erfuhr auch der Begriff des Gruppengedächtnisses eine
Ausdifferenzierung (vgl. zur Kritik Assmann 2007: 29-61), sodass heute niemand mehr wie Halbwachs von nur
drei Gedächtnissen spricht (vgl. Halbwachs 1966: 203-360).
176
Assmann 2005: 48 ff.; s. zur Unterscheidung von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis die Tabelle bei
ebd.: 56; vgl. Münkler 1996: 126, und Erkenntnisse der Neurowissenschaften: Welzer 2005: 12 f.
177
Assmann 2005: 11, 50 f.; vgl. Assmann 1999: 34 ff.
178
Assmann 2005: 52, vgl. auch Assmann 1999: 49, und die Neurowissenschaften (Schmidt 1993: 391).
179
Vgl. Assmann 2005: 37-42; 51 f.
31

gerahmte Erinnerungen der Filmemacher, werden zudem mit der Analyse des Mauerfalls im
Film Chancen seines Eingangs in das kulturelle Gedächtnis der Deutschen abgewogen.
Darauf aufbauend bestimmt Jan Assmann die konnektive Struktur gemeinsamen Wissens
und Selbstbildes. Dieses bindet in sozialer und zeitlicher Hinsicht Individuen zu einem ,Wir', in-
dem es sich auf Regeln und Werte wie auf die Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte
stützt. Zugespitzt formuliert bedeutet dies: ,,Identität ist [...] eine Sache von Gedächtnis und Er-
innerung"
180
, und die ,,Vergangenheit [...] entsteht überhaupt erst dadurch, daß man sich auf sie
bezieht"
181
. Daher wird nur die erinnerte Vergangenheit bedeutsam und nur bedeutsame
Vergangenheit auch erinnert. In einem dialektischen Prozess produziert Gedächtnis Sinn, und
dieser stabilisiert das Gedächtnis.
182
Das deutet für die vorliegende Arbeit auf Konstruktionsme-
chanismen und die Persistenz der Mauer und Nationsbilder, ab 1989/90 aber auch auf Brüche im
kommunikativen Gedächtnis hin, an dem auch die ausgewählten Filme teilnehmen.
Daran schließen neuere Forschungen über die NS-, Weltkriegs- und DDR-Erinnerung an.
Aleida Assmann verweist darauf, dass Vergangenheit nicht ,um ihrer selbst willen' erinnert
wird, und unterschiedliche Gruppen aus denselben Ereignissen verschiedene Schlüsse ziehen
können. Der Geschichte als Kollektivsingular stehen heute ,,die vielen unterschiedlichen und z.
T. einander widerstreitenden Gedächtnisse gegenüber, die ihr Recht auf gesellschaftliche An-
erkennung geltend machen"
183
. Denn gerade innerhalb der Zeitgeschichte, in der das Thema
dieser Arbeit einzuordnen ist, kann durch die Einordnung der ,Mitlebenden' in die Ge-
schichtskultur die Vergangenheit selbst zum Politikum werden
184
, was die Filme zeigen.
Damit Erinnerungen aber für die Zukunft nutzbar gemacht werden können, müssen sie erst
einer Bearbeitung und programmatischen Selektion unterzogen werden. Denn da sie durchweg
multiperspektivisch und heterogen sind, können sie ihre Homogenisierung erst auf der Ebene
der Repräsentation gewinnen, die zu Harmonisierung und Vereinnahmung tendiert.
185
Daher
besitzt auch die Berliner Mauer (im Film) nicht ,an sich' eine bestimme Bedeutung, sondern erst
durch Selektion und Perspektivierung. Das verweist erstens auf die verschiedenen zeitge-
nössisch wahrgenommenen und retrospektiv erinnerten heterogenen Mauer- und Nationsvorstel-
lungen im Film und wirft zweitens die Frage nach dem auf, was von ihnen erinnert wird, was
bereits vergessen ist. Denn Erinnern und Vergessen sind untrennbar miteinander verbunden: Er-
innerung impliziert Vergessen. Während Erinnerungen Selbstbilder, Vergemeinschaftung und
Legitimation stiften, verhindern sie andere Erinnerungen und Konstruktionen.
186
180
Ebd.: 16 f., 89 (Zitat); vgl. Morley / Robins 1995: 91; ähnlich auch Schmidt 1993: 388 f.
181
Assmann 2005: 30 f., was von der Neurologie bestätigt wird (Schmidt 1993: 381 ff., Welzer 2005: 44).
182
Assmann 2005: 77; vgl. Assmann 2006: 136, und die Neurowissenschaften (Schmidt 1993: 386).
183
Assmann 2006: 15 f. (Zitat); Eschebach 2005: 9 f.
184
Vgl. Steinbach 2001a: 32; s. Anm. 20.
185
Vgl. Assmann 2007: 202, und Eschebach 2005: 40.
186
Vgl. Assmann 2006: 30, 408, Assmann 2007: 104, 275, Erll 2005: 7 f., Möller 2001: 8, Wolfrum 1999: 15.
Daphne Berdahl zeigt beim ostdeutschen Dorf Kella an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, wie nach 1989
Schuld und Täterschaft zugunsten eines ,,willful forgetting" zurückgestellt werden (Berdahl 1999: 219).
32

Das führt zum Bereich der Geschichtspolitik, den Praktiken, die sich unter Mitwirkung zahlrei-
cher Akteure und Interessenten vollziehen, ,,mit der Formulierung und Popularisierung von Ge-
schichtsbildern beschäftigen und letzteren eine verbindliche Geltung verschaffen wollen"
187
.
Vereinfacht gesprochen entscheidet derjenige, der über das kollektive Gedächtnis verfügt, auch
über Stabilität und Wandel politischer Institutionen, moralischer Bewertungen, Zwecke und Ab-
sichten der Menschen. Doch ist selbst in totalitären Staaten dieser Zugriff auf das kollektive Ge-
dächtnis nie umfassend.
188
So bleibt Geschichtspolitik, auch die zur Berliner Mauer und Deut-
schen Frage, nie statisch, sondern verändert sich etwa durch den Wandel des Gedächtnis-
rahmens, den Generationenwechsel und den Wechsel des politischen Systems. Beide Einfluss-
faktoren werden gerade für die Mittelzäsur 1989/90, zur Unterscheidung zwischen den älteren
und neueren Filmen bedeutend sein. So können durch diese Aspekte Überschneidungen und
Widersprüche der Filmdarstellung zum (veränderten) geschichtspolitischen Rahmen aufgezeigt
werden. Denn ob verordnete oder filmische Erinnerung: ,,Das kollektive Gedächtnis ist selbst
eine politische Größe"
189
. Daher ist nicht die ,Wahrheit' der Mauer- und Nations-Erinnerungen
im Film entscheidend, sondern ob sie in einem sozialen und politisch-kulturellen Rahmen für
wahr gehalten werden. So können auch falsche Erinnerungen ,korrekt' sein, wenn sie in einen
etablierten Gedächtnisrahmen hineingeschrieben werden.
190
Um nun den konkret räumlichen Bezug solcher ,(in-)korrekten' Erinnerungen von Berliner
Mauer und Deutscher Frage zu erfassen, greift das nächste Kapitel auf das Konzept der Erinne-
rungsorte zurück. Daraus wird die Bedeutung des Erinnerungsortes Berliner Mauer für das
kollektive Gedächtnis der Deutschen deutlich. Dies hilft, die spezifisch nationalräumlich er-
innerte Symbolik der Mauer für die Deutsche Frage in der Filmdarstellung zu verstehen.
2.5 Der Erinnerungsort Berliner Mauer und die Deutsche Frage
Im Folgenden wird die Bedeutung herausgearbeitet, die die Berliner Mauer als Erinnerungsort
seit ihrem Bau bis über ihren Fall hinaus für die Bestimmung der deutschen Nation und den da-
mit verbundenen Erfahrungen einnahm. Die Theorie der Erinnerungsorte baut auf Pierre Noras
Konzept der lieux de mémoire auf. Dieses verstand er als eine ,,Analyse der ,Orte' ­ in allen Be-
deutungen des Wortes ­ [...], in denen sich das Gedächtnis der Nation Frankreichs in beson-
derem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat"
191
. Gedächtnisorte, so Nora, be-
stehen, in unterschiedlichem Ausmaß, in einem materiellen, funktionalen und symbolischen
Sinn, die neben- und miteinander existieren. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die
symbolische Bedeutung des Erinnerungsortes Berliner Mauer.
187
Frevert 1999: 309, Anm. 4; vgl. die unterschiedliche Definition von Wolfrum 1999: 32.
188
Vgl. Münkler 1996: 123 ff.
189
Assmann 1999: 32 (Zitat); vgl. Assmann 2007: 167-176, und Möller 2001: 12.
190
Vgl. dazu Assmann 2007: 144-163.
191
Nora 1990: 7; s. im Folgenden ebd.: 26.
33

Hatte man Noras Konzept im geteilten Deutschland noch kritisch beäugt, adaptierte man es nach
1989/90 u. a. auch hierzulande.
192
Zugleich setzte die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit
weitaus zeitiger ein und ist heute weit fortgeschrittener als nach jeder vergleichbaren Situation
im 20. Jahrhundert. Angesichts ihrer, aber auch der NS-Aufarbeitung im öffentlichen Raum ist
Deutschland ,,heute ein Land der Erinnerungsorte und Gedenkstätten"
193
.
Auch wenn Erinnerungsorte entgegen Ciceros These kein immanentes Gedächtnis besitzen,
können sie Erinnerungen lokal verankern, festigen und dauerhaft beglaubigen.
194
Dabei werden
die Orte und Erzählungen ,,mit Bruchstücken aus früheren Geschichten verglichen und
,zusammengeklebt'"
195
, wodurch sie für die nationale Identität und Grenzwahrnehmung neue
Orte erzeugen, artikulieren und gliedern helfen. Im Vergleich zu symbolischen
Sinnkonstruktionen wie Museen und Denkmälern ist das Gedächtnis der Orte wie der Mauer
aufgrund der mit ihnen verbundenen Affekte weit komplexer und uneinheitlicher.
196
Sowie sich nun das nationale Gedächtnis der Deutschen in den letzten 140 Jahren mehrfach
grundlegend geändert hat, erfuhr auch der Erinnerungsort Berliner Mauer seit 1961 verschie-
dene Wandlungen. In Forschung, Literatur und Film ist die Mauer seit über viereinhalb
Jahrzehnten der Ort zur Thematisierung der deutsch-deutschen Grenze.
197
Mit Blick auf die
Deutsche Frage leitete ihr Bau das Scheitern von Konrad Adenauers ,Politik der Stärke' und
eine neue Phase der Deutschlandpolitik ein.
198
Erschien dabei die Mauer vielen wie Helmut
Kohl als ,,Monument der Unmenschlichkeit, das auch heute weltweit verachtet wird"
199
, war sie
für die DDR schlichtweg eine ,,Existenzberechtigung"
200
des eigenen Staates.
Mit der Grenzöffnung aber war ,,die Beziehung zur Vergangenheit neu definiert und alles
Erinnern auch in eine neue Motivlage gekommen"
201
. Sowie die Mauer zum ,,Inbegriff des SED-
Regimes"
202
wurde, symbolisierte ihr Fall dessen Ende, sogar das ,,Scheitern und den Untergang
des Kommunismus und zwar weltweit"
203
. Für viele Politiker wandelte sich die Mauer vom Zei-
chen der Unterdrückung zum Symbol des gewaltfreien Kampfes und des Erreichens demokra-
192
S. zur Rezeption und Abwandlung von Noras Konzept (auf Deutschland) François / Schulz 2005: 8 ff.
193
Faulenbach 2007: 15. Einsetzen und Fortschreiten der DDR-Aufarbeitung wird besonders deutlich im Vergleich
zur bis in die 60er-Jahre hinein praktizierten weitgehenden NS-Verdrängung (Eppelmann u. a. 1999e: 94, Mitter
1992: 367) sowie zu den anderen postkommunistischen Gesellschaften (Eckert u. a 2007: 15).
194
Assmann 2006: 299. Bei Cicero heißt es: ,,tanta vis admonitionis inest in locis" (Cicero, de finibus V, 2).
195
Certeau 1988: 227.
196
Vgl. Assmann 2007: 225, und Till 2003: 290.
197
In der neueren Forschung bilden Monographien zur innerdeutschen Grenze die Ausnahme (etwa Berdahl 1999),
Bücher zur Berliner Mauer die Mehrheit (s. Anm. 58). Die Mauer wurde zum Mittelpunkt von Bestseller-Weltlite-
ratur und Hollywood-Filmen und das Interesse an ihr bereits mit Troja und der Chinesischen Mauer verglichen
(Wolfrum 2005: 388 f.; vgl. zur Mauer in der Literatur Frech 1992); s. zu den Filmen Anm. 9.
198
Vgl. Wetzlaugk 1985: 171-179, und Wolfrum 2005: 391.
199
So Kohl 1986: 6; vgl. ähnlich Bender 2007: 237.
200
Hertle 2007: 79. Für Kielmansegg 2004: 581, ist der Mauerbau ,,das Grunddatum der DDR-Geschichte". Damit
wurde die letzte undefinierte Grenze zwischen den um die USA und die UdSSR gruppierten Blöcken geschlossen
(Hobsbawm 2002: 307), nachdem die innerdeutsche Grenze bereits 1952 abgeriegelt worden war.
201
Mühlberg 2002: 220.
202
Kielmansegg 2004: 625.
203
Wolfrum 2005: 401.
34

tischer, freiheitlicher Ziele.
204
Doch im Gegenzug verbreitete sich Anfang der 90er-Jahre die
Metapher der ,Mauer in den Köpfen'
205
zwischen Ost- und Westdeutschen, und einige wenige
Nostalgiker wünschten sich die Mauer zurück. Diese von Anfang an pluralistische Mauererinne-
rung verweist auf die fehlende ,innere Einheit' als Neue Deutsche Frage.
206
Die Filmanalysen
werden zeigen, inwieweit die Mauer als Erinnerungsort der Deutschen Frage rückblickend von
der Neuen Deutschen Frage der ,Mauer in den Köpfen' beeinflusst wird.
Wie in Kapitel 2.4 angedeutet wurde, existieren Erinnerungsorte nicht nur in einem sozialen
und politisch-kulturellen Kontext, sondern immer auch in einem spezifischen Zeithorizont, der
durch den Generationenwechsel mit bestimmt ist. Harald Welzer definiert das ,,soziale Gedächt-
nis als die Gesamtheit der sozialen Erfahrungen der Mitglieder einer Wir-Gruppe"
207
, und
kommt damit dem Generationenkonzept nahe, das Halbwachs' Zeitgenosse Karl Mannheim
noch heute weithin gültig in seinem Artikel Das Problem der Generationen entworfen hat.
208
Mit ihm wird die zeitliche Komponente des Erinnerungsortes Berliner Mauer um
generationsbedingte Erfahrungs- und Erinnerungskontexte erweitert. Diese fließen auch in die
Filmdarstellung der Symbolik von Berliner Mauer und Deutscher Frage ein.
2.6 Die Berliner Mauer und die Deutsche Frage im Problem der Generationen
Mannheims Theorie grenzt sich entschieden ab von einer konkreten Gruppenverbundenheit oder
jeglicher Generationenrhytmik wie etwa der biologischen Generation von 30 Jahren.
Entscheidend ist vielmehr eine Generationslagerung, in der ,,aus den Naturgegebenheiten des
Generationswandels heraus bestimmte Arten des Erlebens und Denkens den durch sie
betroffenen Individuen"
209
nahegelegt werden. Aus ihr kann ein Generationszusammenhang erst
dann entstehen, wenn durch aktive und passive Teilnahme ,,reale soziale und geistige Gehalte
[der Zeit...] eine reale Verbindung zwischen den in derselben Generationslagerung befindlichen
Individuen stiften"
210
. Erleben junge Menschen im Alter zwischen 17 und 25 Jahren ein
gesellschaftlich bedeutsames Ereignis und sind sie auf die historisch-aktuelle Problematik hin
orientiert, bildet sich eine Generation. Die Jugenderlebnisse setzen sich als ,,natürliches
Weltbild"
211
fest, auf die sich die späteren Erlebnisse hin ausrichten, weshalb ältere
Generationen die Ereignisse in den bestehenden Erfahrungsrahmen einbauen. Innerhalb eines
204
Vgl. Eschebach 2005: 40 ff., und Wolfrum 2005: 399; s. etwa Kohl 1990: 299. Diese Bedeutung der Mauer ist in
den letzten Jahren eher noch gestiegen. So wird etwa ein verstärktes Engagement des Bundes für die
Mauererinnerung gefordert (Sabrow u. a. 2007: 178). 2003 diskutierte man in der Berliner Tagespresse sogar eine
Aufnahme der Mauer in das unesco-Weltkulturerbe (vgl. den Tagesspiegel von 8. bis 12. August 2003). Drei Jahre
später legte eine Expertenkommission unter Martin Sabrow einen stark diskutierten Entwurf zur Schaffung eines
Geschichtsverbundes ,Aufarbeitung der SED-Diktatur' vor (vgl. Sabrow u. a. 2007), in dem das Thema ,,Teilung
und Grenze" eine der drei Säulen bilden sollte (vgl. Eckert u. a. 2007, bes. 40 f.).
205
So etwa Geiss 1992: 109, Potthoff 1999: 339, aber auch schon Schneider 1982: 110; s. dazu Abschnitt 4.
206
Vgl. Bisky 2005, Kaase 1993, Neller 2006, und von marxistischer Seite Mitchell 2000: 266 f.
207
Welzer 2001: 15.
208
So das Urteil von Daniel 2004: 335, und Heinrich 1996. Es handelt sich um Mannheim 1928.
209
Mannheim 1928: 524, 529 (Zitat).
210
Ebd. 543 (Zitat), 550 f.; vgl. auch neuerdings Heinrich 1996: 74.
211
Mannheim 1928 536-44 (Zitat 536); vgl. auch Heinrich 1996: 74, 91, und Schelsky 1981: 178 f.
35

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2008
ISBN (eBook)
9783836628235
DOI
10.3239/9783836628235
Dateigröße
1.2 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Münster – Philosophische Fakultät, Neuere und Neueste Geschichte
Erscheinungsdatum
2009 (April)
Note
1,0
Schlagworte
berliner mauer nation deutsche teilung film zeitgeschichte
Produktsicherheit
Diplom.de
Zurück

Titel: Berliner Mauer und Deutsche Frage im bundesrepublikanischen Spielfilm 1982-2007
Cookie-Einstellungen