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Schullust statt Schulfrust

Potentiale Ästhetischer Bildung in der Arbeit mit Schulverweigerern

©2008 Bachelorarbeit 109 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die vorliegende Arbeit widmet sich dem Phänomen „Schulverweigerung“, das in Deutschland längst keine Ausnahmeerscheinung mehr ist. Die Debatten um Schulpflichtverletzungen und Schulversäumnisse haben in Deutschland in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Auftrieb bekommen, dabei ist das Problem nicht neu. Das unentschuldigte Fernbleiben von Schule und das Schwänzen einzelner Unterrichtsstunden sind wohl so alt wie die Schule selbst. „Neu“ in Deutschland ist die öffentliche Thematisierung von Schulverweigerung in bildungspolitischen Debatten und in schul-, und sozialpädagogischen Fachdiskussionen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Bundesländer haben sich auf dem Bildungsgipfel in Dresden darauf verständigt, die Zahl der Schulabbrecher bis 2015 von derzeit 8 auf 4 Prozent zu halbieren. Des Weiteren soll die Anzahl der Jugendlichen ohne Berufsausbildung im selben Zeitraum von 17 auf 8,5 Prozent sinken. Wie sich solche Forderungen umsetzen lassen und warum die Anzahl der genannten Gruppen so hoch ist, darüber wird weitestgehend auf Bundes- und Länderebene geschwiegen.
Ziel dieser Arbeit ist es, Schulverweigerung als gesellschaftliches Problem auf den Grund zu gehen und einen möglichen Lösungsweg des Problems mittels Einsatz von geeigneten Medien aufzuzeigen.
Gang der Untersuchung:
Kapitel 2 gibt einen Überblick über die Jugendphase. Des Weiteren werden auf die Interessenlagen, Ängste und Wünsche Jugendlicher mithilfe von aktuellen empirischen Studien verwiesen.
Kapitel 3 beschreibt das Phänomen „Schulverweigerung“. Zunächst folgt eine uneinheitliche Begriffsbestimmung. Bevor die vielfältigen Ursachen und Maßnahmen von Schulverweigerung beschrieben werden, wird ein Überblick über neuere empirische Untersuchungen zum Umfang von Schulverweigerung in der Bundesrepublik Deutschland aufgezeigt.
Kapitel 4 enthält das Thema Schule. Neben der Klärung des Bildungsbegriffs und dem erzieherischen und bildungspolitischen Auftrag von Schule, werden pädagogische Maßnahmen aufgezeigt, welche Schule zur Beeinflussung von Schulverweigerung hat.
Kapitel 5 beschäftigt sich mit Potentialen Ästhetischer Bildung im Umgang mit Medien. Dazu wird der Begriff der Ästhetischen Bildung vorerst definiert. Im Folgenden wird geklärt, warum und wie Medien im Laufe der letzten Jahre eine Zugangsberechtigung für Schule und andere Institutionen erhalten haben.
Kapitel 6 dokumentiert den Einsatz von Medien im […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Gliederung
1.2 Hinweise zur Arbeit

2 Jugendphase
2.1 Begriffsbestimmung
2.2 Jugend und Gesellschaft
2.3 Interessenlage der Jugendlichen
2.3.1 Freizeitverhalten und Wertorientierung
2.3.2 Ängste Jugendlicher
2.3.3 Wünsche der Jugendlichen an die Gesellschaft
2.4 Zusammenfassung

3 Schulverweigerung
3.1 Heterogene Begriffsbestimmung
3.2 Der Umfang von Schulverweigerung
3.2.1 Studien zu Schulverweigerung
3.2.2 Schulverweigerung im Vergleich von fast 50 Jahren
3.2.3 Fazit zum Umfang von Schulverweigerung
3.3 Ursachen von Schulverweigerung
3.3.1 Systemisches Ursachenverständnis
3.3.2 Risikofaktoren in der Schule
3.3.3 Zusammenfassung
3.4 Der Umgang mit Schulverweigerung
3.4.1 Die allgemeine Schulpflicht
3.4.2 Maßnahmen zur Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht

4 Schule
4.1 Was ist Bildung?
4.2 Bildung in allgemeinbildenden Schulen
4.3 Schulische Beeinflussungsmöglichkeiten für Schulverweigerung
4.3.1 Systemisches Verständnis
4.3.2 Vom lehrerzentrierten Unterricht zur methodischen Vielfalt
4.3.3 Zusammenfassung

5 Potentiale Ästhetischer Bildung im Umgang mit Medien
5.1 Ästhetische Bildung
5.2 Ästhetische Bildung als Lernfeld
5.3 Die Neuen Medien
5.4 Medienkompetenz
5.5 Medienkompetenz als Bildungsaufgabe

6 Praxisbeispiel step21 – Initiative für Toleranz und Verantwortung
6.1 Was ist step21?
6.2 Ziele der Initiative
6.2.1 Die Zielgruppe
6.2.2 Das Konzept
6.3 Die STEP 21-Box [Zukunft : Identität]
6.3.1 Themen der Medienbox
6.3.2 Einsatzfelder der Medienbox
6.3.3 Bestandteile der Medienbox
6.3.4 Ziele der Medienbox
6.4 Radio-Workshop als Praxisbeispiel für den Unterricht

7 Schlussbetrachtung
Anhang A: Risikofaktoren für Schulverweigerung
Anhang B: Schulische Möglichkeiten der Beeinflussung
Anhang C: Ausgewählte Projekte von step21
Anhang D: Fragebogen zur STEP 21-Box
Anhang E: Evaluation zur Nutzung der Medienbox

Literaturverzeichnis

Sonstige Quellen

Stichwortverzeichnis

Erklärung

Abbildungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabellenverzeichnis

Vergleich der Schulversäumnisse von 1959/60 und 2001/02

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Die vorliegende Arbeit widmet sich dem Phänomen „Schulverweigerung“, das in Deutschland längst keine Ausnahmeerscheinung mehr ist. Die Debatten um Schulpflichtverletzungen und Schulversäumnisse haben in Deutschland in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Auftrieb bekommen, dabei ist das Problem nicht neu. Das unentschuldigte Fernbleiben von Schule und das Schwänzen einzelner Unterrichtsstunden sind wohl so alt wie die Schule selbst. „Neu“ in Deutschland ist die öffentliche Thematisierung von Schulverweigerung in bildungspolitischen Debatten und in schul-, und sozialpädagogischen Fachdiskussionen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Bundesländer haben sich auf dem Bildungsgipfel in Dresden darauf verständigt, die Zahl der Schulabbrecher bis 2015 von derzeit 8 auf 4 Prozent zu halbieren. Des Weiteren soll die Anzahl der Jugendlichen ohne Berufsausbildung im selben Zeitraum von 17 auf 8,5 Prozent sinken (vgl. REGIERUNGonline 2008). Wie sich solche Forderungen umsetzen lassen und warum die Anzahl der genannten Gruppen so hoch ist, darüber wird weitestgehend auf Bundes- und Länderebene geschwiegen.

Ziel dieser Arbeit ist es, Schulverweigerung als gesellschaftliches Problem auf den Grund zu gehen und einen möglichen Lösungsweg des Problems mittels Einsatz von geeigneten Medien aufzuzeigen.

1.1 Gliederung

Die Arbeit ist in folgende Kapitel gegliedert:

- Kapitel 2 gibt einen Überblick über die Jugendphase. Des Weiteren werden auf die Interessenlagen, Ängste und Wünsche Jugendlicher mithilfe von aktuellen empirischen Studien verwiesen.
- Kapitel 3 beschreibt das Phänomen „Schulverweigerung“. Zunächst folgt eine uneinheitliche Begriffsbestimmung. Bevor die vielfältigen Ursachen und Maßnahmen von Schulverweigerung beschrieben werden, wird ein Überblick über neuere empirische Untersuchungen zum Umfang von Schulverweigerung in der Bundesrepublik Deutschland aufgezeigt.
- Kapitel 4 enthält das Thema Schule. Neben der Klärung des Bildungsbegriffs und dem erzieherischen und bildungspolitischen Auftrag von Schule, werden pädagogische Maßnahmen aufgezeigt, welche Schule zur Beeinflussung von Schulverweigerung hat.
- Kapitel 5 beschäftigt sich mit Potentialen Ästhetischer Bildung im Umgang mit Medien. Dazu wird der Begriff der Ästhetischen Bildung vorerst definiert. Im Folgenden wird geklärt, warum und wie Medien im Laufe der letzten Jahre eine Zugangsberechtigung für Schule und andere Institutionen erhalten haben.
- Kapitel 6 dokumentiert den Einsatz von Medien im Unterricht am Beispiel der Initiative step21.
- Kapitel 7 fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen. Des Weiteren wird eine Bewertung zum dokumentierten Beispiel der Initiative step21 in Bezug auf Schulverweigerung vorgenommen.
- Der Anhang enthält neben Materialien zum Thema Schulverweigerung und zur Initiative step21, die aus Platzgründen aus dem Hauptteil der Arbeit ausgelagert wurden.

1.2 Hinweise zur Arbeit

Aus Platzgründen und um die Lesbarkeit der Arbeit zu erleichtern, wurden verschiedene Textauszeichnungen verwendet. Diese werden anhand von Beispielen erläutert:

Zitatbeispiel mit Quellenverweis

Direkte Zitate werden eingerückt und kursiv dargestellt; Beispiel:

„Kein Schüler wurde als Schwänzer und Störer eingeschult.“ (Thimm 1998, S. 58)

Auszeichnungen im Fließtext

Zur Hervorhebung wesentlicher Begriffe werden diese im Fließtext kursiv dargestellt; Beispiele: Passive Schulablehnung, Schulabsentismus

Angabe von Internetquellen im Text

Aus Platzgründen und der Nichtverwendung von Fußnoten werden Internetquellen im Text verkürzt angegeben;

Beispiel: (Merkel 2008) oder (Spiegel Online 2003)

Zur Sprache und Wahl des Geschlechts

In der vorliegenden Arbeit wird vorwiegend die maskuline Form auch dort verwendet, wo die Bezeichnung beide Geschlechter einschließt. Dies stellt keine Bewertung oder Diskriminierung dar, sondern diese Schreibweise wurde aus Gründen der Lesbarkeit und Vereinfachung gewählt. Ausnahmen liegen bei direkten Zitaten vor.

2 Jugendphase

Da das Phänomen „Schulverweigerung“ meist mit Schülern und Jugendlichen in Verbindung steht, wird sich im Folgenden mit der betreffenden Zielgruppe befasst. Einerseits um mögliche Ursachen aufzudecken und andererseits um eventuelle Ressourcen zu erkennen. Das Kapitel beschreibt die Jugend im Allgemeinen und beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und den Interessenlagen von Heranwachsenden.

2.1 Begriffsbestimmung

Um einen Einblick geben zu können, was unter dem Begriff Jugend und Jugendphase zu verstehen ist, wird an dieser Stelle aufgezeigt, unter welchen verschiedenen Gesichtspunkten diese Begriffe zu betrachten sind.

Der Begriff der Jugendphase ist vergleichsweise spät entstanden. Die Idee, dass Jugend eine abgrenzbare Entwicklungsphase darstellt, reicht bis in die Antike. Gesellschaftspolitisch wird der Jugend jedoch erst im späten 19. bzw. 20. Jahrhundert eine Position eingeräumt, die mit der heutigen vergleichbar ist. Damit ist gemeint die Freistellung von Erwerbstätigkeit und Zugang zu Bildungsmöglichkeiten für die breite Masse, um einen guten Start in das Berufsleben zu ermöglichen (vgl. Oerter/Dreher 1998, S. 310). Vor der Industrialisierung fand Erwerbsarbeit größtenteils innerhalb des Familienhauses statt oder zumindest im engen Kontext der Familie (vgl. Reinders 2004, S. 2). Es war ein fließender Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter und somit zur Erwerbstätigkeit, da die dazu benötigten Fähigkeiten größtenteils innerhalb des Familienverbundes übermittelt wurden.

War die Jugendphase ursprünglich als Zeit des Lernens und der Bildung gedacht, entwickelt sie sich zunehmend, zu einer Zeit der Selbstfindung. Nach Karlheinz Thimm ist die Jugendzeit eine Zeit des Experimentierens und des Suchens. Es werden Lebensentwürfe ausprobiert und wieder verworfen (vgl. Thimm, 1998, S. 21).

„Die Entwicklung im Jugendalter ist eine Phase innerhalb des Lebenszyklus, die durch das Zusammenspiel biologischer, intellektueller und sozialer Veränderungen zur Quelle vielfältiger Erfahrungen wird.“ (Oerter/Dreher 1998, S. 310)

Im alltäglichen Gebrauch wird Jugend häufig mit dem Erwachsenwerden in Verbindung gebracht. Global gesehen ist damit ein Zwischenstadium zwischen Kindheit und Erwachsensein gemeint. Damit ist dieser Periode des Lebens eine starke Dynamik zuzuordnen. Diese beinhaltet, dass Privilegien und Verhaltensmuster der Kindheit aufgegeben werden müssen, um Fähigkeiten und Merkmale der Erwachsenen erwerben zu können (vgl. Oerter/Dreher 1998, S. 310).

Auch in der Sozialwissenschaft wird die Jugendphase allgemein als Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenstatus betrachtet. Der Beginn wird mit dem Eintreten der Pubertät festgesetzt, die gleichzeitig das Ende der Kindheit bestimmt. Der Übergang in den Erwachsenenstatus ist in der klassischen Sichtweise geschafft, wenn ein gewisser Grad an sozialer Reife erreicht ist. Was unter diesem Begriff verstanden wird, variiert dabei. In der Jugendsoziologie werden der Übergang in den Beruf, der Auszug aus dem Elternhaus und das Gründen einer eigenen Familie als die wichtigsten Ecksteine für den Übergang in das Leben eines Erwachsenen angesehen (vgl. Reinders 2004, S. 1).

Klaus Hurrelmann äußert sich zu diesem Sachverhalt in ähnlicher Weise. Er spricht aus sozialwissenschaftlicher Sicht von der Jugendphase als einen Lebensabschnitt, der durch „ein Nebeneinander von noch unselbständigen, quasi kindheitsgemäßen, und selbständigen, quasi schon erwachsenenmäßigen Handlungsanforderungen charakterisiert ist“ (Hurrelmann 1994, S. 46).

Psychologische Konzepte von Reife betonen eher die Fähigkeit zu eigenständigem Denken, der Ausbildung eines zusammenhängenden Wertesystems und das Erlangen von sozial verantwortungsvollem Handeln sowie von psychosozialer Autonomie (vgl. Reinders 2004, S. 1f.).

Ludwig Stecher zeigt auf, dass die Entwicklung als kontinuierlicher Prozess im Leben eines Menschen anzusehen ist. Den Übergängen zwischen bestimmten Lebensabschnitten – wie Kindheit und Jugend, Jugend und dem Erwachsenenleben – ist jedoch eine besondere Bedeutung zuzuordnen, da diese Phasen speziell durch die aktive Bewältigung und Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und familiären Lebensumständen bestimmt sind. Der jeweilige soziale Kontext, in den ein Jugendlicher eingebunden ist, stellt an ihn somit auch bestimmte Entwicklungsaufgaben (vgl. Stecher 2001, S. 47).

Sichtbar wird bei der Masse der unterschiedlichen Begriffsbestimmungen der Jugendphase, das es keine eindeutige Definition gibt. Da sich unterschiedliche wissenschaftliche Zweige mit diesem Thema beschäftigen, gibt es verschiedene Herangehensweisen, die Jugendphase zu beleuchten.

Wird als Maßstab angesetzt, dass das Erwachsensein mit dem Aufnehmen einer Erwerbstätigkeit einher geht, lässt sich feststellen, dass sich die Jugendphase immer weiter nach hinten verschiebt, da in den letzten 30 Jahren eine Bildungsexpansion stattgefunden hat. Dies verlängert die Schulzeit und entbindet Heranwachsende länger von Pflichten der Erwerbsarbeit und der Selbstständigkeit (vgl. Zinnecker/Molnár 1988, S. 181ff.). Einhergehend mit dieser Entwicklung ist verbunden, dass sich auch die subjektive Wahrnehmung von Jugend verändert hat, was aus den Shell-Studien seit 1975 zu entnehmen ist. Demzufolge empfindet sich ein immer größerer Anteil der Bevölkerung als der Gruppierung der Jugendlichen zuzuordnen. Waren es 1975 noch 41 Prozent so empfanden sich im Jahre 2000 schon 59,4 Prozent der Befragten als jugendlich. Durch die Shell-Studien von 1997 und 2000 konnte nachgewiesen werden, dass es einen starken Zusammenhang gibt zwischen Schulbildung und dem verzögerten Eintreten in das Erwachsenenalter. Heranwachsende, die bereits in eine berufliche Tätigkeit eingestiegen waren, berichteten meistens, sich als Erwachsene zu fühlen. Während gleichaltrige, die sich noch in einem Abschnitt der Ausbildung befanden, sich eher als Jugendliche einstuften. Jugend wird inzwischen innerhalb des Spektrums von 12 bis 27 Jahren gesehen, wobei diese Jugendlichen wenig gemeinsam haben müssen und sich in ihren Vorlieben und Verhaltensweisen stark unterscheiden (vgl. Thimm 1998, S. 22).

Thimm fast unter drei Schwerpunkten zusammen, warum der Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen zunehmend längere Zeitspannen in Anspruch nimmt.

1. Die Welt der Erwachsenen wird von Jugendlichen als zunehmend reizlos und langweilig erlebt und ist demzufolge kaum erstrebenswert, einzig die materiellen Möglichkeiten und die autonome Lebensgestaltung finden Anklang (vgl. Thimm 1998, S. 23).
2. Das Ziel, den Erwachsenenstatus zu erreichen, verliert zunehmend an Bedeutung, da viele Jugendliche bereits in Anspruch nehmen können, was früher den Erwachsenen vorbehalten war, wie das eigene Auto, Reisen, Sexualität, Konsum, erschaffen und Nutzen künstlicher Realitäten, Medien- und Technikkompetenz (vgl. ebenda, S. 23).
3. Umso schwieriger und bedrohlicher sich der Abschluss der Jugendphase gestaltet und das Eintauchen in den Erwachsenenstatus erscheint, umso zaghafter bewegen sich Jugendliche darauf zu (vgl. ebenda, S. 23).

Das wirft die Frage auf, woher diese neue Unsicherheit seitens der Jugendlichen kommt und was diese Veränderungen bewirkt hat. Um darauf Antworten zu finden, wird im Folgenden der Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gerichtet.

2.2 Jugend und Gesellschaft

Wie bereits ausgeführt, ist gerade in den letzten 100 Jahren ein enormer gesellschaftlicher Wandel zu verzeichnen. Ausgehend von der Industrialisierung hat sich die Technik, die individuellen Möglichkeiten, die Mobilität und somit die Anforderungen an das Leben und die eigenen Fähigkeiten stark verändert.

Die 14. und 15. Shell Jugendstudie zeigen, dass sich die Jugendlichen der Gesellschaft anpassen und den sich verändernden Lebensbedingungen Rechnung tragen (vgl. Linssen/Hurrelmann 2003, S. 12). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der gesellschaftliche Wandel erheblich die Jugendkultur beeinflusst und somit verantwortlich ist für die Neuorientierung der Jugend. Ein maßgeblicher Einflussfaktor ist die Familienform. Neben der traditionellen Form, bilden sich zunehmend Ein-Eltern-Familien, nichteheliche Lebensgemeinschaften und Patchworkfamilien, was zu unterschiedlichen Sozialerfahrungen und Werteorientierungen der Jugendlichen führt (vgl. Knapp 1999, S. 189). Häufig wird auch über eine mangelnde Erziehung im Elternhaus gesprochen. Mantler äußert sich zu diesem Thema wie folgt:

„Viele Eltern erziehen heute entweder zu liberal oder gar nicht. Manche sind zu konsequenter Erziehung nicht in der Lage, andere haben keine Zeit. (...) Wir haben heute nicht mehr das Problem, dass die Kinder ungezogen sind, die Unerzogenheit ist viel häufiger.“ (Mantler 2007, S. 41)

Auch Knapp spricht sich gegen ein zu geringes Maß an Erziehung aus. Das Mitspracherecht der Kinder und Jugendlichen wird heute zu recht von vielen Eltern stark anerkannt. Jedoch wird häufig nicht beachtet, dass Heranwachsende Grenzen brauchen, um eine eigene Identität und Wertvorstellungen ausbilden zu können (vgl. Knapp 1999, S. 189). Jugendliche wollen sich reiben. Dies ist bei einer ständig verständnisvollen Haltung der Eltern gegenüber den Kindern, die sich mehr und mehr einstellt, jedoch nicht mehr möglich (vgl. Baacke 2004, S. 279). Auch büßen die Eltern immer mehr an Einfluss ein, da die Zugehörigkeit unter Jugendlichen zu Peer-Groups immer mehr zunimmt. Baacke spricht davon, dass Familie und Peer-Group zu Konkurrenten geworden sind – nicht nur zeitlich, sondern auch in der Wertorientierung (vgl. Baacke 2004, S. 278).

Durch die gesamtgesellschaftlichen Prozesse der Differenzierung und Individualisierung wird auch die Lebenswelt der Jugendlichen geprägt. Kennzeichnend für diese Entwicklung ist die Loslösung von kollektiv-bindenden Normen und Strukturen. Ehemals festgelegte Lebenspläne werden zu zunehmend freien Entscheidungen eines Einzelnen. Das betrifft die Wahl des Partners, des Berufes, des Glaubens, der Partei etc. Das ermöglicht der Einzelperson Freiheiten, stellt aber auch erhöhte Anforderungen an das Individuum. Moderne Menschen sind unermüdlich damit beschäftigt, das unerschöpfliche kulturelle Arsenal von Deutungsmustern, Gesinnungen und Lebensstilen in einer unverwechselbaren Ich-Identität zu integrieren. Diese Entwicklung hat bereits die Jugend erfasst. Es wird jedoch festgestellt, dass die vielen Wahlmöglichkeiten, das Leben nicht unbedingt einfacher machen, sondern zu Desorientierung und Stabilitätsverlust führen können (vgl. Vogelgesang 1999, S. 49ff.).

Ersichtlich wird dieser Kontrast, wenn man sich vor Augen führt, welchen starken Zulauf Castingshows verbuchen. In diesen Shows wird den Jugendlichen vermittelt, dass man auch ohne Ausbildung erfolgreich sein kann, viel Geld verdienen und hohes Ansehen genießen kann. Tatsächlich schafft es jedoch nur einer von Tausenden dieses „Ziel“ zu erreichen, doch auch der langfristige Erfolg ist dadurch nicht garantiert. So folgen großen Hoffnungen tiefe Enttäuschungen.

Auch die heutige Arbeitsmarktsituation trägt erheblich zur Verunsicherung der Jugend bei. Viele Eltern waren schon einmal arbeitslos oder zumindest davon bedroht. Hurrelmann beschreibt Arbeitslosigkeit der Eltern als „Amputation der wichtigsten gesellschaftlichen Teilrolle“ (Hurrelmann 1994, S. 135) aufgrund der erheblichen materiellen Einschränkungen.

Diese Ausführungen lassen den Schluss zu, dass der gesellschaftliche Wandel unausweichlich eine Änderung im Verhalten und im Denken der jungen Menschen mit sich bringt. Sorgen und Nöte, die die Eltern und die Gesellschaft beschäftigen, betreffen auch die Jugendlichen, da diese Systeme unweigerlich ineinandergreifen.

2.3 Interessenlage der Jugendlichen

An dieser Stelle soll untersucht werden, womit sich die Jugend in ihrer Freizeit beschäftigt und welche Werte ihnen wichtig sind. Des Weiteren sollen Befürchtungen und eigene Vorstellungen dieser Gruppe näher beleuchtet werden, um mögliche Ansatzpunkte für die Arbeit mit Jugendlichen aufzuzeigen.

2.3.1 Freizeitverhalten und Wertorientierung

Die Jugend, Information und Multimedia Studie (im Folgenden kurz: JIM) von 2007 befasst sich mit dem Medienverhalten von Jungen und Mädchen im Alter von 12 bis 19 Jahren. Die JIM-Studie 2007 umfasst die Gesamtheit der gut sieben Millionen Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Aus dieser Grundgesamtheit wurde eine repräsentative Stichprobe von 1.204 Jugendlichen erstellt (vgl. JIM-Sudie 2007, S. 3f.).

Laut JIM-Studie ist die häufigste Freizeitaktivität der 12- bis 19-Jährigen unter Ausklammerung der Mediennutzung das Zusammensein mit anderen Jugendlichen: 86 Prozent treffen sich mit ihrem Freundeskreis mindestens mehrmals pro Woche. Fast drei Viertel der Jugendlichen (72%) treiben regelmäßig Sport, zwei Drittel faulenzen ebenso häufig. Ein Fünftel unternimmt regelmäßig etwas mit der Familie oder macht selbst Musik. Sportveranstaltungen besuchen 12 Prozent mehrmals pro Woche. Jeder zehnte Jugendliche unternimmt regelmäßig einen Einkaufsbummel (11%) oder geht auf private Parties. Etwas weniger besuchen regelmäßig eine Disco (5%) (vgl. JIM-Studie 2007, S. 6).

Außerdem wurden in der JIM-Studie 2007 die Interessensbereiche der Jugendlichen anhand verschiedener Themen untersucht. Das größte Interesse zeigen Jugendliche für die Themen „Liebe und Freundschaft“ (88%) sowie „Musik“ (86%). Etwa vier Fünftel interessieren sich für das Thema „Ausbildung und Beruf“, dann folgen die Bereiche „Internet“ (70%) und „Computer“ (65%). Gut drei Fünftel nehmen am aktuellen Weltgeschehen Anteil, ebenso viele haben Interesse an Mode und Kleidung, etwas weniger am Handy. Mehr als jeder Zweite zwischen 12 und 19 Jahren interessiert sich für Schulthemen, Gesundheitsfragen und Musikstars oder Bands. Das Thema „Umweltschutz“ (44%) rangiert noch vor Computerspielen, für die ein Drittel der Jugendlichen (32%) Interesse zeigen. Das Schlusslicht bilden Kunst und Kultur, Wirtschaft sowie regionale und überregionale Politik, für die nur wenige Jugendliche etwas übrig haben (vgl. JIM-Studie 2007, S. 15).

Außer bei den Themen „Ausbildung und Beruf“ und dem aktuellen Weltgeschehen unterscheiden sich die Interessen von Jungen und Mädchen in vielen Punkten. Liebe und Freundschaft, Mode, Handy, Schule und Gesundheitsthemen finden bei Mädchen deutlich mehr Interesse als bei Jungen. Auch Umweltschutz, Film-/TV-Stars und Kultur sind Bereiche, für die sich Mädchen und junge Frauen mehr begeistern. Einen leichten Vorsprung haben die Mädchen des Weiteren bei Musik, Musikstars und Bands. Jungen zeigen hingegen mehr Interesse an Sport, Internet und weiteren Komponenten rund um den Computer, besonders deutlich ist dies beim Thema „Computerspiele“. Weiter können sich Jungen mehr für Wirtschaftsthemen und Politik begeistern als Mädchen. Im Altersverlauf ändern sich die Interessen der Jugendlichen, so nimmt das Interesse an Ausbildung und Beruf deutlich zu. Auch die Themen „überregionale Politik“ und „Internet“ finden unter älteren Jugendlichen deutlich mehr Interesse. Hingegen verlieren Computerspiele, Sport, Film- und Fernsehstars sowie Musikstars und Bands mit zunehmendem Alter stark an Bedeutung (vgl. JIM-Studie 2007, S. 15).

Die 15. Shell-Studie untersucht die Bandbreite der Lebenssituationen und die Einstellungen der Jugendlichen. Hierzu wurde eine Stichprobe mit insgesamt 2.532 Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren im Jahr 2006 durchgeführt (vgl. Schneekloth/Leven 2006 S. 453). In der 15. Shell-Studie wurde festgestellt, dass im Vergleich zu 2002 besonders technikbezogene Aktivitäten zugenommen haben. Internet und DVD’s gewinnen bei Jugendlichen immer mehr an Bedeutung (vgl. Langness u.a. 2006, S. 77). Aber auch ein Wertewandel ist zu verzeichnen. Netzwerke, wie Freunde und Familie, gewinnen weiter an Wert. Auch von anderen Menschen unabhängig zu sein, wurde sehr hoch bewertet. Dies könnte als Widerspruch gesehen werden, die Autoren interpretieren dieses Verhalten jedoch so, dass wichtige soziale Bindungen gestärkt werden, die dazu beitragen die Abhängigkeit nach außen zu stärken (vgl. Gensicke 2006, S. 176). Außerdem ist in den letzten 20 Jahren ein Wandel in den Tugenden zu verzeichnen. Leistung, Sicherheit und Macht gewinnen immer mehr an Bedeutung. Von 1970 bis 1990 waren in den westlichen Ländern noch Selbstverwirklichung und Engagement von hohem Stellenwert (vgl. Hurrelmann u.a. 2006, S. 39). Jungen und Mädchen unterscheiden sich sehr in ihren Schwerpunkten. Mädchen sind besonders soziale Bindungen und Normen wichtig. Jungen haben eher ein konkurrenz- und wettstreitorientiertes Lebenskonzept (vgl. ebenda, S. 24). Die Jugend wird in der 15. Shell-Studie als sehr pragmatisch bezeichnet. Trotz erhöhter Arbeitslosigkeit, Lehrstellenknappheit und verschlechterter wirtschaftlicher Lage nahm die optimistische Einstellung der Jugendlichen für ihren weiteren Lebensverlauf nicht in dem Maße ab wie die gesamt gesellschaftliche Stimmung. Die Hälfte der Befragten sieht der Zukunft optimistisch entgegen (vgl. Gensicke 2006, S. 171). Im Umkehrschluss ist aber auch zu erwähnen, dass die andere Hälfte der Jugendlichen ihre zukünftigen Chancen als ungewiss oder sogar negativ einschätzen. Deshalb soll sich der nächste Abschnitt mit den Ängsten der heutigen Jugend beschäftigen.

2.3.2 Ängste Jugendlicher

Die 15. Shell-Studie zeigt, dass die Befürchtungen der Jugendlichen immer im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Situation stehen. Im Jahr 2001, nach dem Anschlag auf das World Trade Center, stand die Angst vor Terroranschlägen an erster Stelle. Im Jahr 2002 wurden Angst vor Terroranschlägen, schlechter Wirtschaftslage, Umweltverschmutzung und Krieg in Europa als häufigste Befürchtungen angegeben. Im Jahr 2006 werden die Ängste von nationalen wirtschaftlichen Problemen bestimmt. Die Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes bzw. davor keinen Ausbildungsplatz zu bekommen stieg von 2002 bis 2006 von 55% auf 69% an. Auch die Ängste vor der schlechten wirtschaftlichen Lage und vor Armut nahmen in diesem Zeitraum um 6% zu. Alle diese Ängste stehen im engen Zusammenhang mit der eigenen beruflichen und finanziellen Sicherheit. Andere Sorgen, die nicht mit der eigenen Absicherung verbunden sind, haben demgegenüber abgenommen, wie z.B. ein möglicher Krieg in Europa, Gewalt, schweren Krankheiten oder Diebstahl. Genaue Zahlen sind dafür dieser Studie jedoch nicht zu entnehmen (vgl. Langness u.a. 2006, S. 74). Vor allem die Jugendarbeitslosigkeit ist ein starkes Problem. Im Jahr 2004 lag die Arbeitslosenquote Jugendlicher klar über dem Gesamtdurchschnitt. Deutliche Unterschiede zeigen sich zwischen den alten und neuen Bundesländern sowie nach dem Alter. So war die Arbeitslosenquote der unter 20 Jährigen in Ostdeutschland (6,9%) im Jahr 2004 erheblich höher als in Westdeutschland (3,5%). Jugendliche im Alter von 20 bis 25 Jahren waren in dem gleichen Jahr mit 21% in Ostdeutschland und 10,7% in Westdeutschland erheblich stärker von Arbeitslosigkeit betroffen (vgl. ebenda 2006, S. 75).

2.3.3 Wünsche der Jugendlichen an die Gesellschaft

Angesichts dieser existentiellen Sorgen, denen bereits Jugendliche ausgesetzt sind, scheint es interessant, in welchen Bereichen Jugendliche mehr gesellschaftliches Engagement erwarten, um ihnen eine gesicherte Zukunft zu gewährleisten.

Auch mit diesem Thema beschäftigte sich die 15. Shell-Studie. Verschiedene Veränderungsbereiche konnten angegeben werden. 78% der Befragten gaben den Bereich Arbeitsmarkt an, 73% verwiesen auf den Bereich Kinder und Familie, 42% auf Bildung und 40% auf Altersversorgung. Veränderungen im Gesundheitssystem werden von 30%, Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen von 24% und Umweltschutz von 14% der Befragten angegeben. Der Bereich innere Sicherheit wurde von 9% und sonstige Bereiche von 2% der Jugendlichen genannt (vgl. Schneekloth 2006, S. 119f.).

Besonders von dem Bereich Arbeitsmarkt erwarten die Jugendlichen mehr gesellschaftliches Engagement. Im Vergleich zum Jahr 2004 konnte in diesem Bereich ein Zuwachs von 8% verzeichnet werden. Dies zeigt sehr anschaulich wie stark die Arbeitssituation in Deutschland bereits die Jugend belastet.

2.4 Zusammenfassung

Die thematischen Sorgen der Jugend sind heute weitgehend die gleichen wie die der Erwachsenen. Sie beziehen sich einerseits auf die Sicherung der ökonomischen Grundlage der Existenz angesichts drohender Arbeitslosigkeit. Andererseits gilt es sich zu orientieren in einer Welt des Pluralismus und der Individualität. Dass es dabei zu Verunsicherung, Zukunftsängsten und Desorientierung kommt, ist nicht weiter verwunderlich. Wichtig wäre es hierbei, die Jugendlichen bestmöglich auf künftige Handlungsfelder vorzubereiten. Da es in dieser schnelllebigen Zeit nicht vorhersehbar ist, welche Veränderungen in den nächsten Jahren auf unsere Gesellschaft zukommen, müssen Heranwachsende lernen, sich neue Themengebiete selbst zu erschließen um handlungsfähig zu bleiben und bei bevorstehenden Problemen nicht verunsichert zu werden. Wie im vorangegangenen Abschnitt ersichtlich, ist das den Jugendlichen durchaus bewusst. Knapp die Hälfte der Befragten Jugendlichen wünscht sich eine Veränderung im Bereich der Bildung.

Auch benötigt dieser bereits mehrfach betonte gesellschaftliche Wandel eine stabile Persönlichkeit, aber auch Flexibilität. Um diese Entwicklung zu unterstützen, müssen Erfahrungsfelder geschaffen werden, die es Jugendlichen ermöglicht, sich kritisch mit sich selbst und ihrem Umfeld auseinanderzusetzen.

Werte, Normen und Umgangsformen zu vermitteln, sollte ein weiterer gesamtgesellschaftlicher Anspruch sein, um den Jugendlichen Strukturen zu geben, an denen sie sich orientieren können. Da sich zunehmend der Einfluss der Familien verringert, wird in Zukunft ein Teil dieser Aufgabe von anderen Institutionen übernommen werden müssen, wie zum Beispiel von Schulen. Als Anknüpfungspunkte können hierbei das bereits hohe Interesse an Bildung, Medien und gesellschaftlichen Themen von Seiten der Jugend gesehen werden. Diese bevorstehenden gesellschaftlichen Aufgaben zu lösen, indem Bildung mit den bestehenden Interessenlagen der Jugendlichen verknüpft wird, könnte eine sinnvolle und zukunftsorientierte Methode für das pädagogische Arbeiten mit Heranwachsenden und Schulverweigerern sein.

In diesem Kapitel wurde die Jugendphase beschrieben. Jugendliche stehen vor der Herausforderung sich in einer pluralistischen Welt zu orientieren und durchzusetzen. Dass dabei einige von ihnen aus dem System fallen und den Anforderungen aus vielfältigen Ursachen nicht gerecht werden können, ist verständlich. Das folgende Kapitel widmet sich speziell dieser Gruppe und berichtet über das Phänomen „Schulverweigerung“. Neben der Begriffsbestimmung werden Umfang, Ursachen und Umgang der Problematik beschrieben.

3 Schulverweigerung

3.1 Heterogene Begriffsbestimmung

Nach Steffen Uhlig ist „Schulverweigerung ein Sammelbegriff für bestimmte Verhaltensweisen von i.d.R. schulpflichtigen jungen Menschen. Diese Verhaltensweisen sind Ausdruck einer Beziehungs­störung, zunächst innerhalb des Systems Schule, oftmals aber auch anderer Kontexte (Familien etc.). Die Verhaltensweisen können verschiedene Formen annehmen, ihnen ist aber eines gemeinsam, dass sie den Erwartungen verschiedener Beteiligter, vor allem von LehrerInnen, Eltern oder aber gesetzlichen Vorgaben nicht entsprechen.“ (Uhlig 2002, S. 60). Der Begriff ist in besonderer Weise gebräuchlich im Zusammenhang mit Projekten der Jugendhilfe bzw. der Jugendsozialarbeit, die durch sozialpädagogische Angebote das Herausfallen solcher Jugendlicher aus dem Bildungssystem zu verhindern suchen (vgl. Thimm 1998, S. 43). Ehmann und Rademacker kritisieren, dass mit dieser Begrifflichkeit „den Jugendlichen ein Maß an Bewusstheit ihres Verhaltens und damit an Verantwortlichkeit zugeschrieben wird, das in vielen Fällen ungerechtfertigt ist und Defizite der Persönlichkeitsentwicklung damit eher verdeckt als benennt.“ (Ehmann/Rademacker 2003, S. 19) Dementsprechend werden unterschiedliche, engere oder weitere Begriffsauslegungen benutzt. Eine einheitliche Definition gibt es nicht. Im Alltag spricht man von „Schwänzen“, ebenso werden die Begriffe „Schulausstieg“, „Schulabsentismus“, „Schulvermeidung“, „Schulphobie“, „Schulaversion“, „Zurückhalten“ und „Trennungsangst“ in der Fachliteratur verwendet (vgl. Ricking 2003, S. 61ff.). Jeder dieser Begriffe hat einen anderen Bedeutungsinhalt und verweist auf mögliche Erklärungen für das Fernbleiben vom Unterricht bzw. von der Schule aus der Sicht unterschiedlicher Professionen.

Heinrich Ricking geht bei seinen Ausführungen von „Schulabsentismus“ als neutralen Oberbegriff aus und unterteilt diesen in drei Einheiten (vgl. Ricking 2003, S. 55):

1. Schulschwänzen: Initiative des Schülers, dieser hat Disziplinprobleme und hält sich meist außer Haus während der Schulzeit auf, die Eltern wissen i.d.R. nichts vom Schulschwänzen
2. Schulverweigerung: Schüler hat Angst vor der Schule, Lehrern oder Mitschülern, bleibt meist zuhause, Eltern wissen um die Schulverweigerung, aber missbilligen sie
3. Zurückhalten: Verhaltensweisen der Eltern, die den Schüler vom Schulbesuch zurück halten

Schulze und Wittrock hingegen verwenden dem Begriff des schulaversiven Verhaltens und untergliedern wie folgt (vgl. Schulze/Wittrock 2001, S. 38ff.):

1. Schulabsentismus: Schulschwänzen, Schulverweigerung, Zurückgehaltenwerden
2. Unterrichtsabsentismus: Schüler befindet sich zwar in der Schule, befindet sich aber partiell während der Unterrichtszeit nicht im Klassenzimmer
3. Unterrichtsverweigerung: Schüler sind physisch anwesend, verweigern aber die Teilnahme am Unterricht

Für Gertrud Plasse liegen den verschiedenen Begrifflichkeiten zu Grunde, dass die Ursachen für die Schulverweigerung, die eigene Lern- und Leistungsmotivation, die körperlichen Symptome und die Eltern-Kind-Beziehung in diesen Fällen sich stark unterscheiden (vgl. Plasse 2004, S. 27). Gemeinsam ist allen Begriffen, dass sie Kinder und Jugendliche bezeichnen, die sich in unterschiedlichen Ausmaß und auf unterschiedlicher Art und Weise dem Unterricht bzw. der Schule entziehen (vgl. Schreiber-Kittl/Schröpfer 2002, S. 34).

Entscheidend ist, dass Schüler, die gelegentlich den Unterricht schwänzen, in der Fachliteratur nicht als Schulschwänzer oder Schulverweigerer im Sinne eines Abweichens von der Norm bezeichnet werden. Gelegentliches Unterrichtsschwänzen kennt wohl fast jeder Schüler in seiner Schulzeit. Dieser Sachverhalt gilt nicht als Schulverweigerung, sondern eher als Kavaliersdelikt (vgl. Schreiber-Kittl/Schröpfer 2002, S. 35). Neben diesen „Gelegenheitsschwänzern“ gibt es aber diejenigen, die wiederholt und über eine längere Zeitspanne dem Unterricht fernbleiben, sowie solche, die nach einiger Zeit den Unterricht überhaupt nicht mehr besuchen. Um diese Fälle geht es, wenn von Schulverweigerung als einem sozialen und gesellschaftlichen Problem gesprochen wird (vgl. ebenda, S. 35).

„Aussichtsarmut hinsichtlich der Umkehrbarkeit, Häufigkeit, Dauer – das entscheidet in dem fließenden Prozess der Abkehr oder Bekämpfung von Schule bzw. Unterricht, ab welchem kaum definierbaren Kippunkt aus Schwänzen und Stören Unterrichts- und Schulverweigerung werden.“ (Thimm 1998, S. 43).

Bei den verschiedenen Formen der Verweigerung differenzieren die meisten Autoren „passive“ und „aktive“ Schulverweigerung (vgl. Schreiber-Kittl/Schröpfer 2002, S. 38)

Zu den passiven Schulverweigerern werden jene gezählt, die zwar im Unterricht physisch anwesend sind, sich jedoch geistig den schulischen Anforderungen entziehen. Diese Schüler verhalten sich eher unauffällig, so dass sie erst relativ spät von den Unterrichtenden als Verweigerer identifiziert werden. Ähnlich kann es Jugendlichen ergehen, die verdeckt die Schule schwänzen, indem sie sich von Ärzten, Eltern oder anderen Personen entschuldigen lassen. Einerseits können hier sowohl Erziehungsberechtigte als auch Lehrkräfte die Schulverweigerung oft erst spät erkennen, andererseits empfinden sich die Betroffenen selbst in keiner Weise als Schulschwänzer oder gar als Verweigerer. In einigen Fällen erweisen sich sogar die Erziehungsberechtigten als die treibenden Faktoren der schulverweigernden Haltung ihrer Jugendlichen, in dem sie diese durch Entschuldigungen decken (vgl. Thimm 1998, S. 43; Schreiber-Kittl/ Schröpfer 2002, S. 38f.).

Die passiven Schulverweigerer werden in der Literatur zwar erwähnt, die meisten empirischen Untersuchungen erfassen die Gruppe jedoch nicht. Im Mittelpunkt diverser Untersuchungen stehen die aktiven Schulverweigerer (vgl. Schreiber-Kittl/Schröpfer 2002, S. 39 und Abschnitt 3.2.1).

Aufgrund ihres Verhaltens, dass sie nichts mehr mit Schule zu tun haben wollen, erzwingen sie geradezu die Aufmerksamkeit ihrer Umwelt. Dieses nach außen gerichtete Verhalten lässt sich nochmals unterscheiden. Die Gruppe der aktiven Verweigerer, die zwar noch den schulischen Unterricht besuchen, aber durch Störungen und aggressivem Verhalten sowohl gegenüber Lehrern als auch Mitschülern ihre Ablehnung zum Ausdruck bringen. Die zweite Gruppe hat das Schwänzen von der Schule als eine Möglichkeit gewählt, die Probleme in und mit der Schule zu lösen. Dabei reicht die Intensität des Fernbleibens von einzelnen Stunden über Tage und Wochen. Manche Schüler waren Jahre nicht mehr in der Schule (vgl. Thimm 1998, S. 43 und Schreiber-Kittl/Schröpfer 2002, S. 39).

Überblick von passiver Schulablehnung (1.), vermeidungsorientierte Schulverweigerung (2.) und aktionsorientierte Schulverweigerung (3.):

1. Passive Schulablehnung beinhaltet den inneren Ausstieg aus dem Unterrichtsgeschehen: Inaktivität, Abschalten, Träumen (vgl. Thimm 1998, S. 44).
2. Vermeidungsorientierte Schulverweigerung meint die dauerhafte Abwesenheit in der Schule auf Grund von prägenden Erfahrungen in Schule bzw. Familie, um während der Schulzeit anderen Beschäftigungen nachzugehen (vgl. ebenda, S. 44).
3. Aktionsorientierte Unterrichtsverweigerung meint eine systematische Ablehnung von Schule, ständige Nichterfüllung von anstehenden Aufgaben und extreme Beleidigungen gegenüber Lehrkräften (vgl. ebenda, S. 44).

Häufig lässt sich die aktive nicht so leicht von der passiven Form der Schulverweigerung trennen. Auch wenn ein Übergang von zunächst passiver zu letztlich aktiver Schulverweigerung aus Sicht der betroffenen Schüler nachvollziehbar erscheint, ist dies keineswegs die Regel. Entwicklungen von aktiver in passive Verweigerung sind durchaus ebenso möglich (vgl. Schreiber-Kittl/Schröpfer 2002, S. 40).

Für die vorliegende Arbeit wird in erster Linie der pädagogische Sammelbegriff „Schulverweigerung“ benutzt, da er die Gesamtheit des Problems allgemein erfasst und weil er am ehesten die Haltung der betroffenen Schüler beschreibt. Dabei ist zu betonen, dass Schulverweigerung ein Ergebnis eines Prozesses mit vielen Zwischenetappen und Wendepunkten ist. Zu Beginn stehen dabei in der Regel Formen von Schulunlust, Schulmüdigkeit und Schulverdrossenheit, was sich in Lernunlust, Nicht-Erfüllung von Lehrererwartungen und innerer Emigration im Unterricht ausdrücken kann (vgl. Thimm 1998, S. 43). Passive Formen von Rückzug bzw. verdeckte Unterrichtsverweigerungen sowie die Verweigerung der Mitarbeit sind konkrete Merkmale dieses frühen Stadiums. Auch der Begriff „Schulschwänzer“ wird für die vorliegende Arbeit gebraucht, da er zum einen in der Umgangssprache gängig ist und zum anderen meist „der Anfang vom Ende“ (Thimm 1998, S. 43) ist.

Im Folgenden wird der Umfang von Schulverweigerung durch einige ausgewählte Studien, die im Laufe der letzten Jahre in der Bundesrepublik Deutschland zum Thema durchgeführt wurden, kurz beschrieben. Des Weiteren wird geklärt, ob Schulverweigerung in den letzten Jahren signifikant zugenommen hat. Hinsichtlich dieser Ergebnisse wird im Fazit versucht, ein Trend von Schulverweigerung zu skizzieren. Zunächst werden aber auf bestehende Probleme zur Erfassung von Daten zum Thema Schulverweigerung hingewiesen.

3.2 Der Umfang von Schulverweigerung

„Sie vergnügen sich in Spielhallen und Internet-Cafés, während ihre Altersgenossen über Matheaufgaben und Aufsätzen schwitzen: Etwa 400.000 Schüler schwänzen in Deutschland den Unterricht.“ (Spiegel Online 2003)

So in etwa beginnen derzeit aktuelle Presseartikel zum Thema Schulverweigerung. Dabei entsteht der Eindruck, dass Schulverweigerung in letzter Zeit dramatisch angestiegen ist. Es gibt jedoch bislang keine bundesweit angelegte Datenerhebung zum Umfang der Schulverweigerung (vgl. Goethe 2005, S. 65). In der Regel werden die Zahlen der Schulverweigerer geschätzt. Laut Spiegel Online schwänzen bundesweit etwa 400.000 Schüler die Schule (vgl. Spiegel Online 2003). Zum gleichen Zeitpunkt verweist der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung Ludwig Eckinger auf der Homepage der Süddeutschen Zeitung auf ca. 100.000 Schulverweigerer (vgl. sueddeutsche.de 2003). Wie sich solche Schätzungen auf empirische Befunde zurückführen lassen, wird selten belegt. Des Weiteren sind diese Schätzungen fragwürdig, da, wie aus dem Verständnis von Schulverweigerung ersichtlich, in der Regel keine einheitliche Begriffsbestimmung besteht.

Durchaus bestehen aber auf Länderebene empirische Befunde zum Thema. Diese Erhebungen beziehen sich auf Daten, die an den Schulen vorhanden sind, wie Schülerakten und Zeugnisdaten oder von Befragungen der Schüler selbst (vgl. Goethe 2005, S. 65). Die Registrierung der Abwesenheit der Schüler geschieht auf der Ebene der Einzelschulen (vgl. ebenda, S. 66). Die Erfassung der Fehltage und Fehlstunden durch die Lehrkräfte hängt also einerseits davon ab, ob der Lehrer fehlende Schüler registriert hat und andererseits davon, ob er zwischen entschuldigtem und unentschuldigtem Fernbleiben unterscheidet (vgl. ebenda, S. 66). Das Ausmaß der Schulverweigerung lässt sich im Wesentlichen durch vier Erhebungsmethoden erfassen:

1. Befragung von Schülern mittels Fragebogen
2. Befragung von Lehrkräften und Schulleitern mittels Fragebogen
3. Durchführung von Interviews mit außerschulischen Experten
4. Durchführung von Interviews mit Schulverweigerern in außerschulischen Projekten

Die ersten beiden Methoden eignen sich für eine rein quantitative Erhebung von Datenmengen. Die Durchführung von Interviews nutzt vor allem zur Erschließung von Hintergründen und Bedingungen der Schulverweigerer.

3.2.1 Studien zu Schulverweigerung

Im Folgenden wird eine Auswahl von jüngeren Studien zum Umfang von Schulverweigerung aus der Bundesrepublik Deutschland dargestellt. Der Überblick der genannten Erhebungen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Vorstellung der Untersuchungen konzentriert sich auf Ergebnisse, die sich direkt auf Schulverweigerung beziehen.

1999 hatten Wagner u.a. 1.824 Schüler im Alter von 12 bis 17 Jahren in Kölner Schulen über ihren Schulbesuch befragt: 35% gaben an, dass sie bereits einmal oder auch mehrmals ganze Schultage geschwänzt hatten. Für 8% wurde festgestellt, dass sie sich weitgehend von der Schule zurückgezogen hatten. Dieser Anteil betrug 15% bei den Hauptschulen und 5% bei den Gymnasien (vgl. Schreiber-Kittl/Schröpfer 2002, S. 52ff.).

Eine von Wetzels im Jahr 1999 geleitete Repräsentativuntersuchung von 1.662 Schülern der 9. Klasse in Rostock ergab, dass während der letzten sechs Monate vor der Untersuchung 35% zumindest gelegentlich die Schule geschwänzt hatten. Etwa 10% hatten Perioden von unentschuldigten Abwesenheiten von mindestens fünf Tagen, beinahe 4% von zehn und mehr Tagen. Wieder wies die Hauptschule die höchsten Abwesenheitsraten auf (vgl. ebenda, S. 57ff.).

In einer repräsentativ angelegten Datenerhebung in Brandenburg für die Schuljahre 7 bis 12 (2.188 Schüler) von Sturzbecher u.a., die in den Schulklassen durchgeführt wurde, gaben 5% der Befragten an, dass sie zumindest gelegentlich ganze Schultage geschwänzt hatten. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass Phasen des passiven Rückzugs dem aktiven Schwänzen vorausgehen und dass das aktive Schwänzen im Alter von 12 beginnt und über die Jahre zunimmt (vgl. ebenda, S. 75ff.).

Eine von Simon in der Stadt Schönebeck durchgeführte Untersuchung im Jahr 2001 von 520 Schülern im Alter von 12 bis 16 Jahren ergab, dass 44% gelegentlich oder sogar häufig die Schule schwänzten. Innerhalb dieser Gruppe gaben 8,5% an, etwa einen Tag in der Woche zu fehlen, 5,4% hatten Abwesenheitsblöcke von ca. zwei Wochen (vgl. Simon 2002, S. 109ff.).

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783836628006
DOI
10.3239/9783836628006
Dateigröße
1.4 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Fachhochschule Potsdam – Sozialwesen
Erscheinungsdatum
2009 (März)
Note
1,7
Schlagworte
schulverweigerung medienkompetenz schule bildung
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Titel: Schullust statt Schulfrust
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