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Hypertextuelles Erzählen im zeitgenössischen Film

Erzählstrukturen, Zeit- und Raumkonstruktionen und Virtualität in Tom Tykwers "Lola rennt"

©2006 Masterarbeit 106 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Erzählen ist ein hauptsächliches Element des Films und immer noch das Feld für die lebendigsten Experimente beim Filmemachen. Nachdem neue Medien mit neuen Erzählweisen aufgetaucht sind, sind narratologische Experimente im Medium Film seit kurzem auffällig lebendiger geworden. Das neue Erzählen in neuen Medien wie dem Internet und den Computerspielen hat langsam aber deutlich das Erzählen in klassischen Medien wie Literatur und Film beeinflusst. Sie haben ihrerseits das neue Erzählen rezipiert und umgesetzt. Diese Veränderungen des Erzählens haben die neuen Gedankensysteme - Poststrukturalismus und Postmodernismus – als theoretische Basis begleitet.
Seit den 1990er Jahren halten solche postmodernen Filme im Kino verstärkt Einzug. Die Digitaltechnik hat das noch gefördert. In vielen der postmodernen zeitgenössischen Filme lässt sich experimentelles filmisches Erzählen finden. Hypertextuelles Erzählen zählt dazu. Hypertextuelles Erzählen ist ein Erzählen, in dem die Prozesse des Hypertextes die wesentliche Rolle spielen und dessen hauptsächliche Form heute im Internet zu finden ist.
Hypertext bezeichnet einen Text ,über’ einen Text, einen Text, der immer wieder über sich hinaus wuchert. Der griechische Wortteil ,hyper’ hat die deutsche Bedeutung von ,über’. Hypertextualität ist nun ein komplexer Begriff, der sich vom Hypertext herleitet. Sie stammt aus dem Hypertext als Apparat und ist grundsätzlich auf dessen ursprünglichen etymologischen Begriff des ,Über-sich-hinaus-Sein’ bezogen. Als grundlegende Eigenschaften von Hypertextualität können Nonlinearität und Interaktivität genannt werden, die auf einer tieferen Ebene folgende Eigenschaften umfassen: Multilinearität, Zufälligkeit, Unverschlossenheit, Zusammenfallen von innen und außen. Diese Hypertextualitäten sind in ihrem Wesen untereinander nicht trennbar, was der Grund dafür ist, warum hypertextuelle Erzähltexte zugleich mehrere hypertextuelle Modi in sich vereinen. Hypertextuelle Modi funktionieren in einem Erzähltext als dynamische Prozesse, die das hypertextuelle Erzählen generieren.
Tom Tykwers Film ‘Lola rennt’ wähle ich als relevantes Beispiel dafür, weil der Film seine Geschichte dreimal variiert und damit zeitlich und auch räumlich die hypertextuellen Prozesse des ,Über-sich-hinaus-Sein’ verwirklicht. Dem Film ist es gelungen, die Erzählweise der neuen Medien filmisch umzusetzen. Die hypertextuellen Modi funktionieren im Film dynamisch und das Erzählen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

0 Einleitung

1 Zum theoretischen Hintergrund
1.1 Hypertexttheorie
1.1.0 Hypertext
1.1.1 Hypertextualität
1.2 Virtualitätstheorie
1.2.1 Das Virtuelle als Illusion
1.2.2 Das Virtuelle als Potenzial
1.3 Narratologie
1.3.1 Filmwissenschaftliche Narratologie
1.3.2 Eine postklassische Narratologie: ,Possible worlds’ Theorie
1.4 Resümee + Perspektive

2 Analyse des Films
2.1 Hypertextuelle Erzählstrukturen
2.1.1 Wiederholung
2.1.2 Zufälligkeit
2.1.3 Mögliche Welten
2.2 Hypertextuelle Zeit- und Raumkonstruktion
2.2.1 Zeit und Raum als Thema
2.2.2 Hypertextuelle Zeitkonstruktion
2.2.2.1 Umkehrbarkeit
2.2.2.2 (Dis-)Kontinuität
2.2.3 Hypertextuelle Raumkonstruktion
2.2.3.1 Räume
2.2.3.2 Möbius
2.3 Virtualität als hypertextuelle Erzählweise
2.3.1 Virtualisierung und Aktualisierung
2.3.2 Spirale

3 Konklusion

4 Literaturverzeichnis

5 Anhang .

0 Einleitung

Erzählen ist ein hauptsächliches Element des Films und immer noch das Feld für die lebendigsten Experimente beim Filmemachen. Nachdem neue Medien mit neuen Erzählweisen aufgetaucht sind, sind narratologische Experimente im Medium Film seit kurzem auffällig lebendiger geworden. Das neue Erzählen in neuen Medien wie dem Internet und den Computerspielen hat langsam aber deutlich das Erzählen in klassischen Medien wie Literatur und Film beeinflusst. Sie haben ihrerseits das neue Erzählen rezipiert und umgesetzt. Diese Veränderungen des Erzählens haben die neuen Gedankensysteme - Poststrukturalismus und Postmodernismus – als theoretische Basis begleitet.

Seit den 1990er Jahren halten solche postmodernen Filme im Kino verstärkt Einzug. Die Digitaltechnik hat das noch gefördert. In vielen der postmodernen zeitgenössischen Filme lässt sich experimentelles filmisches Erzählen finden. Hypertextuelles Erzählen zählt dazu. Hypertextuelles Erzählen ist ein Erzählen, in dem die Prozesse des Hypertextes die wesentliche Rolle spielen und dessen hauptsächliche Form heute im Internet zu finden ist.

Hypertext bezeichnet einen Text ,über’ einen Text, einen Text, der immer wieder über sich hinaus wuchert. Der griechische Wortteil ,hyper’ hat die deutsche Bedeutung von ,über’. Hypertextualität ist nun ein komplexer Begriff, der sich vom Hypertext herleitet. Sie stammt aus dem Hypertext als Apparat und ist grundsätzlich auf dessen ursprünglichen etymologischen Begriff des ,Über-sich-hinaus-Sein’ bezogen. Als grundlegende Eigenschaften von Hypertextualität können Nonlinearität und Interaktivität genannt werden, die auf einer tieferen Ebene folgende Eigenschaften umfassen: Multilinearität, Zufälligkeit, Unverschlossenheit, Zusammenfallen von innen und außen. Diese Hypertextualitäten[1] sind in ihrem Wesen untereinander nicht trennbar, was der Grund dafür ist, warum hypertextuelle Erzähltexte zugleich mehrere hypertextuelle Modi in sich vereinen. Hypertextuelle Modi funktionieren in einem Erzähltext als dynamische Prozesse, die das hypertextuelle Erzählen generieren.

Tom Tykwers Film „Lola rennt“ wähle ich als relevantes Beispiel dafür, weil der Film seine Geschichte dreimal variiert und damit zeitlich und auch räumlich die hypertextuellen Prozesse des ,Über-sich-hinaus-Sein’ verwirklicht. Dem Film ist es gelungen, die Erzählweise der neuen Medien filmisch umzusetzen. Die hypertextuellen Modi funktionieren im Film dynamisch und das Erzählen des Films erreicht eine vertiefte, volle Hypertextualität: Text ,über’ Text als wiederholter Prozess.

Hypertextualität bildet daher den Oberbegriff dieser Arbeit, die vom hypertextuellen Erzählen im zeitgenössischen Film handelt. Exemplarisch betrachte und interpretiere ich den deutschen Film „Lola rennt“ aus dem Jahre 1998 als den neuralgischen Punkt, an dem sich Film und Hypertext, d. h. Medienästhetik, Narratologie, Hypertexttheorie und Virtualitätstheorie treffen.

Der Film erzählt seine Geschichte auf eine ungewöhnliche Weise: Er variiert eine Geschichte dreimal. Und das Movens dieser dreifachen Variation der Geschichte ist der Zufall. „Lola rennt“ ist eine Sammlung von möglichen Fällen einer Geschichte. Die im Film funktionierenden hypertextuellen Prozesse sollen im Verlauf dieser Arbeit detailliert analysiert werden.

Slavoj Žižek diskutiert in seinem Artikel „Isolde rennt“ in der Analyse von „Lola rennt“ die Relation zwischen Film und Hypertext. Indem er das Erzählen des Films analysiert, findet er die neue Möglichkeit des Erzählens im Prozess des hypertextuellen Erzählens. Das folgende Zitat daraus soll als Beleg dafür dienen, dass nach seiner Meinung das hypertextuelle Erzählen die ,natürliche’ Erzählweise für die Darstellung des heutigen Lebens sein müsse:

„Eine neue „Erfahrung des Lebens“ liegt in der Luft, jene Wahrnehmung des Lebens, die die Form der linearen Erzählung sprengt und das Leben als vielgestaltiges Fließen erscheinen lässt: Bis hinauf ins Reich der „harten“ Wissenschaften werden wir anscheinend von der Zufälligkeit des Lebens und den alternativen Möglichkeiten der Realität verfolgt. [...] Entweder wird das Leben als Reihe multipler paralleler Schicksale erfahren, die interagieren und entscheidend durch sinnlose zufällige Begegnungen beeinflusst werden [...] oder es werden immer wieder verschiedene Versionen/Schlüsse derselben Geschichte inszeniert. [...] (immerhin haben sogar „seriöse“ Historiker vor kurzem einen Band über Virtuelle Geschichte zusammengestellt, in dem gezeigt wird, dass die entscheidenden Jahrhundertereignisse der Neuzeit, von Cromwells Sieg über die Stuarts und dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bis hin zum Zerfall des Kommunismus von unvorhersagbaren und manchmal sogar unwahrscheinlichen Zufällen mitermöglicht wurden.) Diese Wahrnehmung unserer Wirklichkeit als einer Wirklichkeit der möglichen – oft nicht einmal wahrscheinlichsten - Ausgänge einer ,offenen’ Situation, diese Vorstellung, dass andere mögliche Ausgänge nicht einfach aus der Welt sind, sondern weiterhin in unserer ,wahren’ Wirklichkeit als Gespenster dessen, was hätte geschehen können, herumspuken und unserer Wirklichkeit so den Status extremer Fragilität und Kontingenz verleihen, gerät mit den herrschenden ,linearen’ Erzählformen unserer Literatur und unseres Films implizit in Konflikte. Sie scheinen nach einem neuen künstlerischen Medium zu rufen, in dem sie nicht mehr exzentrischer Exzess wären, sondern der ,eigentliche’ Modus seines Funktionierens. Man kann die These wagen, dass der Cyberspace-Hypertext dieses neue Medium ist, in dem die besagte Erfahrung des Lebens ihr „natürliches“, angemesseneres objektives Korrelat finden wird“[2].

Hier betont Žižek, dass die Filme (und auch die literarischen Texte) der linearen Erzählformen nicht mehr angemessen seien, um unsere zeitgenössische Wirklichkeit relevant darzustellen, da sie von Pluralität, Zufälligkeit und Möglichkeiten geprägt ist. Unser Leben erscheine als „vielgestaltiges Fließen“[3], als „Wirklichkeit der möglichen Ausgänge der ,offenen’ Situation“[4]. Es erfordere ein neues künstlerisches Medium[5]. Hypertextuelles Erzählen gelte anstelle des konventionellen Erzählens „als das ,natürlichere’ Ausdrucksmittel für die heutigen Kontingenzerfahrungen“[6]. „Lola rennt“ ist für ihn die angemessene Umsetzung dieser neuen paradigmatischen Erzählweise im zeitgenössischen Kino. Ich vertrete in dieser Arbeit die Ansicht, dass die neuen relevanten Aspekte des Erzählens im zeitgenössischen Kino nicht mehr mit dem konventionellen linearen Erzählmuster zu interpretieren sind, sondern aus der Perspektive des nicht-linearen neuen Erzählmusters.

Ich entdecke diesen Punkt gerade im Film „Lola rennt“. Von diesem Standpunkt aus werde ich in dieser Arbeit das Erzählen des Films in Bezug auf Hypertextualität betrachten. Somit kann sich diese Arbeit einerseits an der postklassischen Filmnarratologie und andererseits an der Intermedialitätsforschung orientieren. Zuerst soll der theoretische Hintergrund zur Analyse des hypertextuellen Erzählens im Film abgesteckt und anschließend hypertextuelle Momente des Erzählens in Tom Tykwers Film „Lola rennt“ in Bezug auf drei vorgestellte Theorien – Hypertexttheorie, Virtualitätstheorie und Narratologie - detailliert analysiert werden.

Hierzu werden im ersten Kapitel ,Zum theoretischen Hintergrund’ die ,Hypertexttheorie’ mit ihren zentralen Begriffen Hypertext und Hypertextualität vorgestellt. Danach werden im Abschnitt ,Virtualitätstheorie’ zwei Perspektiven auf das Virtuelle – das Virtuelle als Illusion bei Jean Baudrillard und das Virtuelle als Potenzial bei Pierre Lévy – betrachtet. Darauffolgend beschäftigt sich der Abschnitt ,Narratologie’ zuerst mit den filmwissenschaftlichen Narratologien von Seymour Chatman und David Bordwell und einem postklassischen Modell der Handlungsanalyse, der ,Possible worlds’-Theorie.

Im 2. Kapitel ,Analyse des Films’ analysiere ich Tom Tykwers “Lola rennt” hinsichtlich folgender drei Aspekte: Erzählstrukturen, Zeit- und Raumkonstruktion sowie Virtualität. Erzählstrukturen sowie Zeit- und Raumkonstruktion sind grundlegende Kategorien der Analyse des Erzählens. Virtualität ist ein spezifischer Aspekt, der in „Lola rennt“ eine wesentliche Rolle spielt. Drei Unterkapitel - ,Hypertextuelle Erzählstrukturen’ ,Hypertextuelle Zeit- und Raumkonstruktion’ und ,Virtualität als hypertextuelle Erzählweise’ – sind der Untersuchung dieser Aspekte gewidmet.

Das Kapitel ,Hypertextuelle Erzählstrukturen’ setzt sich aus drei Abschnitten zusammen: ,Wiederholung’ ,Zufälligkeit’ und ,Mögliche Welten’.

Im Abschnitt ,Wiederholung’ werde ich erläutern, wie die Erzählstruktur von “Lola rennt” durch Wiederholung multilinear wie ein Hypertext konstituiert ist. Der Abschnitt ,Zufälligkeit’ untersucht die Funktion der Zufälligkeit im Erzählen des Films und den Bezug der Zufälligkeit auf Hypertextualität. Danach will ich im Abschnitt ,Mögliche Welten’ veranschaulichen, wie sich diese hypertextuellen Erzählstrukturen von „Lola rennt’ mithilfe von ,Possible worlds’-Theorie verstehen lassen, womit gemeint ist, dass plurale Erzählpfade in einem Text verborgen seien. Die in diesen möglichen Welten gestellten existenzialistischen Fragen werde ich auch im Verhältnis zu den Handlungen des Films betrachten.

Das Kapitel ,2.2 Hypertextuelle Zeit- und Raumkonstruktion’ gliedert sich in drei Abschnitte: ,Zeit und Raum als Thema’ ,Hypertextuelle Zeitkonstruktion’ und ,Hypertextuelle Raumkonstruktion’. Im ersten Abschnitt werden die allgemeinen Zeit- und Raumsituationen in „Lola rennt“ veranschaulicht. Anschließend im zweiten und dritten Abschnitt analysiere ich die hypertextuellen Zeit- und Raumkonstruktionen im Film.

Im Abschnitt ,Umkehrbarkeit’ untersuche ich die Umkehrungen der Zeitstruktur im Film, die ein wesentliches Merkmal der hypertextuellen Zeitkonstruktion sind. Als nächstes berücksichtige ich im Abschnitt ,(Dis-)Kontinuität’, wie die Zeit im Laufe der Runden sowohl diskontinuierlich als auch kontinuierlich konstruiert wird. Der Zuwachs an Erfahrung der Figur und der Zuwachs der Erzählung im Film per se werden dabei mitbetrachtet.

Im folgenden Abschnitt ,Räume’ analysiere ich die Raumkonstruktion im Film und veranschauliche, wie sich die Inszenierung der pluralen Räume im Film auf Multilinearität beziehen lässt. Im Abschnitt ,Möbius’ geht es um das Zusammenfallen von innen und außen bei der Raumkonstruktion im Film. Das Möbiussche Band dient darin als eine metaphorische Vorstellung für die die Grenze zwischen den verschiedenen Raumebenen überschreitende Raumstruktur im Film. Hier wird es um Inszenierung eines selbstreferentiellen Animationsfilms gehen.

In jedem Abschnitt dieses Kapitels wird berücksichtigt, was solche Aspekte der Zeit- und Raumkonstruktion mit der Hypertextualität zu tun haben.

Anschließend, im dritten Unterkapitel ,Virtualität als hypertextuelle Erzählweise’, nehme ich die Variation der Geschichte in diesem Film als das Aktualisierte des Virtuellen an und will zeigen, dass sich die Virtualität in “Lola rennt” nicht als Realitätsverlust im Sinne von Baudrillard, sondern als Potenzial im Sinne von Pierre Lévy verstehen lässt. Daher will ich die Virtualität des Films als Prozess der Problemlösung durch Zuwachs an Erfahrung, als Prozess der Virtualisierung und der Aktualisierung erklären. Im Ergebnis möchte ich zeigen, dass die Virtualität des Films als hypertextuelle Erzählweise zu verstehen ist. Im sich anschließenden Abschnitt ,Spirale’ betrachte ich die Spirale-Symbolik im Film, mit Rücksicht auf Virtualität und Hypertextualität.

In der ,Konklusion’ werde ich die Analyse der drei Aspekten – Erzählstrukturen, Zeit- und Raumkonstruktion sowie Virtualität – zusammenfassen und die Signifikanz des hypertextuellen Erzählens im zeitgenössischen Film abschließend kritisch würdigen.

1 Zum theoretischen Hintergrund

1.1 Hypertexttheorie

1.1.1 Hypertext

Nach Metzler Lexikon heißt Hypertext:

„Ein in der Regel digital produziertes Medienangebot, das eine nicht-sequenzielle Struktur hat, geschriebenes, visuell-graphisches – und teilweise auch visuell-audiophones – Material auf dem Bildschirm eines Personalcomputers präsentiert und eine direkte, medientechnische Intervention (Interaktion) des Rezipienten erfordert, um durch eine je neue Vernetzung von einzelnen Bausteinen seine Strukturmöglichkeiten zu nutzen.“[7]

Diese Definition betont die digitale Materialität des Hypertextes und die Interaktion des Rezipienten. Im Glossar „Hypertext/Hypermedia Handbook“ findet sich folgende Definition für Hypertext:

„Hypertext: the technology of non-sequential reading and writing. Hypertext is technique, data structure, and user interface. (…) A hypertext (or hyperdocument) is an assemblage of texts, images, and sounds – nodes – connected by electronical links so as to form a system, whose existence is contingent upon the computer. The user/reader moves from node to node either by following established links or by creating new ones.”[8]

Hier werden ganz konkret die Elemente des Hypertextes, d. h. ,nodes’ und ,links’ erwähnt. Beide Definitionen betonen den nicht-sequenziellen Charakter des Hypertextes und die aktive Rolle des Rezipienten.

Hypertext bezeichnet einen Text, dessen Erzählstruktur nicht linear ist, sondern durch Knoten (Nodes) und Verknüpfungen (Links) nonlinear formuliert ist. Der Hypertexttheoretiker George P. Landow definiert Hypertext als „text composed of blocks of text – what Barthes terms a lexia[9] - and the electronic links that join them.”[10] Also, ein Hypertext ist eine Ansammlung verknüpfter Knoten. Diese wiederum sind die textuelle Einheit des Hypertextes.

Etymologisch bedeutet ‚Hyper’ im Altgriechischen ‚über’[11]: „Eine Suche nach den Wurzeln der Vorsilbe "hyper-" führt zurück zum Altgriechischen: "hyper" als Adverb, Präposition oder Präfix bedeutet im räumlichen Sinn "über", "jenseits", im übertragenen Sinn "mehr (wert) als", drückt somit eine Steigerung und im positiven Sinn eine Qualitätsverbesserung aus.“[12] Hypertext ist wesentlich ein offener Text mit vielen möglichen Texten ,über sich hinaus’. Hypertext ist ein Text im Sinne von ,mehr als’ ein Text. Dies deswegen, da ein Knoten schon viele Verknüpfungen in sich vereint, die zu anderen Knoten führen, und auch zu einem Hypertext können jederzeit neue Knoten hingefügt werden. Außerdem erlaubt der Hypertext zu verschiedenen Lesern verschiedene Erzählpfade, indem in ihm neue Pfade gefunden werden können.

Hypertexttheoretiker vergleichen Hypertext mit dem Rhizom, da viele Knoten ohne irgendwelche hierarchische Struktur chaotisch in alle Richtungen wuchern. Rhizom bezeichnet ursprünglich eine Pflanze, die selbst Wurzel ist und in alle Richtungen ohne Regeln wuchert. Deleuze schreibt über das Rhizom wie Folgendes in „Tausend Plateaus":

„Ein Rhizom ist als unterirdischer Strang grundsätzlich verschieden von großen und kleinen Wurzeln. Zwiebel- und Knollengewächse sind Rhizome. [...] Jeder Punkt eines Rhizoms kann (und muss) mit jedem anderen verbunden werden. Das ist ganz anders als beim Baum oder bei der Wurzel, bei denen ein Punkt, eine Ordnung, festgelegt ist.“[13]

Rhizom ist ein metaphorisches Modell von Gilles Deleuze’ Nomadologie, die das aus dem Vergleich von Nomaden und Sesshaften entwickelte philosophische Modell der herumreisenden Denkweise ist. Im Sinne des Hypertextes versteht sich Rhizom als Metapher für das chaotisch in alle Richtungen wuchernde Netzwerksystem des Hypertextes. Nomadologie ist auch ein metaphorischer Begriff für Hypertextualität.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[14] Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[15]

Hypertext Rhizom

Das Hypertext - Konzept wurde zum ersten Mal von Vannevar Bush formuliert. 1945 hat er in dem Artikel „As We May Think“ in einer Ausgabe des „Atlantic Monthly“ ein zukünftiges System namens ‚Memex’ erwähnt:

„A memex is a device in which an individual stores all his books, records and communications, and which is mechanized so that it may be consulted with exceeding speed and flexibility. It is an enlarged intimate supplement to his memory.”[16]

Memex ist ein Speichersystem von Daten, in dem das Wissen eines bestimmten Gebietes elektronisch gespeichert und durch ,associative indexing’ zugänglich gemacht wird. Memex gilt als das erste Hypertext-Konzept, in dem die Idee vom heutigen World Wide Web (WWW) vorweggenommen ist. ,associative indexing’ weist auf die Bedeutung der ,links’ in einem Hypertext hin, die die nicht-lineare Textualität als aktive Prozesse konstituieren.

Zwanzig Jahre danach, 1965 hat Theodor H. Nelson, ein Soziologe, Filmemacher und Philosoph, den Terminus "Hypertext" in seinem Buch "Literary Machines" erstmals benutzt:

„By Hypertext, I mean nonsequential writing - text that branches and allows choices to the reader, best read at an interactive screen. As popularly conceived, this is a series of text chunks connected by links which offer the reader different pathways”[17].

Nelsons Aussage stellt dar, was Hypertext sei - besonders dessen Merkmal der Interaktivität.

Das erste Hypertextsystem, das einer größeren Gruppe zugänglich war, war die von Apple im Jahre 1987 auf den Markt gebrachte "HyperCard", die mit den Computern von Apple Macintosh ausgeliefert wurde. Im demselben Jahr hat Michael Joyce mit "Afternoon. A Story" den Klassiker der Hypertext-Erzählung, der mit dem Hypertextsystem "Writing Space" geschrieben wurde, veröffentlicht.

Das heute am weitesten verbreitete Hypertextsystem, World Wide Web (WWW) wurde 1989 von Tim Berners-Lee im Projekt am CERN in Genf in der Schweiz erfunden. Das ursprüngliche Ziel des WWWs war es, Forschungsergebnisse auf einfache Art und Weise mit Kollegen auszutauschen, die örtlich getrennt sind.[18] In diesem System ist jeder ,Kollege’ zugleich Leser und Autor. Die Interaktivität des Hypertextes, die den Leser auch zum Autor werden lässt, steckt schon im Motiv der Erfindung des WWWs.

Der Begriff des Hypertextes ist getrennt von der Entwicklungsgeschichte der Hypertexttechnik nicht zu verstehen. Denn der heutige Hypertext ist das Ergebnis neuer Ideen und Apparate, die in dessen Entwicklungsgeschichte konstituiv zu finden sind. George P. Landow bezeichnete in seinem Buch „Hypertext 2.0“ die Geschichte des Hypertextes als „History as a Concept“[19].

1.1.2 Hypertextualität

Hypertextualität heißt die Eigenschaft des Hypertextes. Dabei ist wichtig, dass auch die nicht elektronischen Medien hypertextuell sein können. Dies in dem Sinne, wie ein Gedicht malerisch sein, eine Erzählung musikalisch oder ein Film theatralisch sein kann. Aber Hypertextualität versteht sich nicht nur als Eigenschaften des Hypertextes per se, sondern auch als eine neue gedankliche Strömung in der zeitgenössischen Kultur. Dem Hypertexttheoretiker George P. Landow zufolge weisen die Ideen der Poststrukturalisten auf Hypertextualität hin[20]:

“Hypertext, information technology consisting of individual blocks of texts, or lexias, and the electronic links that join them, has much in common with recent literary and critical theory. For example, like much recent work by poststructuralists, such as Roland Barthes and Jacques Derrida, hypertext reconceives conventional, long-held assumptions about authors and readers and the texts they write and read. Electronic linking, which provides one of the defining features of hypertext, also embodies Julia Kristeva’s notions of intertextuality, Mikhail Bakhtin’s emphasis upon multivocality, Michael Foucault’s conceptions of networks of power, and Gilles Deleuze and Félix Guattari’s ideas of rhizomatic, „nomad thought.” The very idea of hypertextuality seems to have taken from at approximately the same time that poststructuralism developed, but their points of convergence have a closer relation than that of mere contingency, for both grow out of dissatisfaction with the related phenomena of the printed book and hierarchical thought.”[21]

Hypertextualität ist, wie wir in diesem Zitat lesen können, eine neue Strömung der Kultur, eine geistige und gesellschaftliche Veränderung, wonach eine Geschichte auf lineare und hierarchische Art und Weise nicht mehr relevant oder genau genug erzählen kann. Eine neue Textualität wurde notwendig, damit die viel zu kompliziert gewordene Wirklichkeit in ihrer Relevanz erkannt und davon erzählt werden kann. Es ist also festzuhalten, dass die Hypertextualität als neue Textualität grundsätzlich auf unserer veränderten Erkenntnisweise der Gesellschaft sowie Kultur beruht.

Warum es um Hypertext geht, diskutiert Silvio Gaggi im Buch „From Text to Hypertext“, indem er Fredric Jamesons Aussage interpretiert:

„Fredric Jameson, in Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, discusses the organization of various contemporary art forms – painting, photography, architecture, film, video, and literature – as formal analogies of postmodern hyperspace, a disjointed and incoherent space in which the individual becomes disoriented and loses his or her sense of clear physical placement in a whole that is comprehensible. (…) Jameson advocates a double attitude toward postmodern forms. On one hand those forms are mystifications and distractions that disguise reality and divert us from it. On the other hand, they can be “read as new forms of realism” that are valid reflections of the world of multinational capitalism. In their latter aspect they hold out the hope that they may point toward a new political art that will be capable of representing this confusing and disorienting new world, that will provide us with a cognitive map enabling us to gain a critical perspective on that world.”[22]

Unter Postmodernisten versteht man Hypertextualität als bedeutende Eigenschaft zeitgenössischer Kunstformen. Hypertextualität ist durch folgende Eigenschaften gekenneichnet.[23]

Nonlinearität

„A nonlinear text is an object of verbal communication that is not simply one fixed sequence of letters, words, and sentences but one in which the words or sequence of words may differ from reading to reading because of the shape, conventions, or mechanisms of the text. […] Hypertext, when regarded as a type of text, shares with a variety of other textual types a fundamental trait, which we defines as nonlinearity.”[24]

- Espen J. Aarseth, Nonlinearity and Literary Theory

Nonlinearität ist eine wesentliche Eigenschaft Hypertextes. Hypertext ist grundsätzlich nonlinear, weil er eine Ansammlung von Textblöcken, „a chaotically distributed network (the rhizome)“[25] ist. Er kann nicht linear sein, weil in ihm die Textblöcke – Knoten - ohne Hierarchie und Regeln mit einander verknüpft sind und es daher keine festgelegten Pfade gibt, um die Knoten zu lesen. Die Pfade werden vom Rezipienten gefunden und können bei jeder Rezeption verschieden sein. Mit anderen Worten:

„Der Autor eines Hypertextes verteilt seine Daten auf Module, die durch [...] Hyperlinks miteinander verknüpft sind. Metaphorisch gesprochen entsteht ein Wegnetz, mit den Hyperlinks als Wegverbindungen zwischen den Modulen [,nodes’] als den Orten, an denen Daten gespeichert sind. Die Verweisverfolgung geschieht durch das Aktivieren von Linkanzeigern [...].“[26]

Metaphorisch kann Hypertext als „ein Wegnetz“ verstanden werden, der durch die Nonlinearität die verschiedenen „Wegverbindungen“ ermöglicht.

Multilinearität

Multilinearität ist die andere Seite der Nonlinearität des Hypertextes. Ein Hypertext hat per se keine lineare Struktur. Wenn jedoch ein Leser einen Hypertext liest, dann wird ein Rezeptionspfad aktiviert und dabei entsteht eine lineare Struktur. Weil es dabei viele verschiedene Möglichkeiten für den Rezipienten und für das Rezipieren gibt, d. h. verschiedene Möglichkeiten lesbarer Erzählpfade, findet sich Multilinearität beim Hypertext.

Wenn man z. B. Michael Joyce' Hyperfiktion „Afternoon. A Story“ liest, liest man eine durch sich, den Leser selbst konstituierte Geschichte unter vielen anderen möglichen Geschichten. Was „Afternoon. A Story“ sein könnte, wäre dann die Summe der möglichen Geschichten im Plural.

Zu diesem Aspekt ist zu sagen, dass die Multilinearität des Hypertextes auf dessen Nonlinearität basiert. Aber es ist umgekehrt auch so, dass Nonlinearität beim Hypertext auf Multilinearität beruhe, wie Kurt Röttgers sagt:

„Ein Cybertext hat die Linearität des Textes durchbrochen, nicht in dem Sinne, dass es keine Linearität mehr gäbe, im Gegenteil, es gibt deren zu viele, und sie wachsen vieldimensional fort. In diesem vieldimensionalen Cybertext, dem World Wide Web, ist der Überblick eine lächerliche Illusion. Die labyrinthische Wissensproliferation lässt nur noch nomadische Strategien zu.“[27]

Hier meint Röttgers, dass der Hypertext die Linearität des Textes in dem Sinne durchbrochen habe, dass es „zu viele“ Linearitäten im Hypertext gibt. Dem kann zugestimmt werden. Aber es kann viele Linearitäten im Hypertext geben, weil es keine hierarchische Linearität gibt. Also ist festzustellen, dass Nonlinearität und Multilinearität im Hypertext zu einander gehören.

Interaktivität

Interaktivität im Hypertext entsteht daraus, dass die ,Geschichte’ im Hypertext erst durch die Teilnahme des Nutzers aufgebaut wird. Der Nutzer des Hypertextes hat deshalb die Freiheit und den „Zwang, ständig Entscheidungen über dem weiteren Rezeptionsweg treffen zu müssen“[28]. Marie-Laure Ryan diskutiert im Aufsatz „Hypertext: The Functions and Effects of Selective Interactivity“ ihres Buches die Interaktivität des Hypertextes wie folgt:

„In a hypertextual system, text is broken into fragments and stored in a network whose nodes are connected by electronic links. By clicking on a link, usually a highlighted phrase, the reader causes the system to display the contents of a specific node. A fragment typically contains a number of different links, offering the reader a choice of directions to follow. By letting readers determine their own paths of navigation through database, hypertext promotes what is customarily regarded as a nonlinear mode of reading.”[29]

Durch die Interaktivität wird die Grenze zwischen Produktion und Rezeption im Hypertext verwischt. Lesen ist zugleich auch Schreiben im Hypertext. Leser lesen die von ihnen selbst aufgebaute Geschichte. Der Rezipient des Hypertextes ist deshalb eher ein „wreader“[30] als ,reader’.

Zufälligkeit

„Dem scheinbar Chaotischen, Ungeordneten, dieser extremen Erfahrung der modernen Polis und deren Spiegel, der Picturopolis, eingebettet in die elektronischen Medien und den weltweiten digitalen Datenverband, liegt also eine Konstruktion zugrunde, die die Zufälligkeit erst sichtbar macht, die aber auch die Zufälligkeit als kreatives Element handhabbar macht. Letzteres dürfte für jene Einschätzung mitverantwortlich sein, in der das Netz als chaotisch und als anarchisch bezeichnete wird.“[31]

- Franz Krahberger, Hypertext, Hyperraum, Kulturentwicklung

Zufälligkeit ist die echte Triebkraft des Hypertextes, die in dessen Struktur wesentlich chaotisch angelegt ist. Zufälligkeit funktioniert als kreatives Element der Interaktivität. Im Hypertext hängt die Entwicklung der Geschichte davon ab, welche Verknüpfungen (Links) geklickt werden, und welche Verknüpfungen zu welchen Knoten führen. Dabei kann die Geschichte abhängig von den Entscheidungen verschieden verlaufen. Zugleich sind die Entscheidungen der Auswahl unter den Verknüpfungen jeweils verschieden, je nach Rezipient und Rezeption. Daher handelt es sich im Hypertext um Zufälligkeit.

Umkehrbarkeit

Umkehrbarkeit ist noch ein wichtiger Aspekt des Hypertextes. Weil der Hypertext keine lineare Struktur hat und sich jederzeit durch den Erzählpfad eines Rezipienten frei konstruieren lässt, kann der Rezipient des Hypertextes jederzeit von einem Knoten zum anderen Knoten übergehen, auch zum von sich schon gelesenen Punkt oder ganz zum Ausgangpunkt. Dieses Verhalten finden wir in unserer Internetverwendung sehr leicht, wenn wir beim Surfen im Internet sehr oft ,Zurück’ oder ,Zum Anfang zurück’ klicken und dadurch zur vorherigen Seite oder zum Beginn eines Hypertextes zurückkehren, also auf einem einmal gewählten Pfad umkehren. Das ist möglich, weil der Hypertext nicht hierarchisch konstruiert, sondern ein „Netz’’ ist. Aus der Umkehrbarkeit folgen im Hypertext die nicht-hierarchischen Verbindungen der Knoten und verschiedenen Erzählpfade. Dieser Punkt wird im Aufsatz „Lost in Space“ von Schamma Schahadat eingehend diskutiert:

„Das Internet, das den in der Intertextualitätstheorie noch metaphorisch gebrauchten Begriff des "Netzes" in die Praxis umsetzt, lässt sich als eine Radikalisierung dieses Konzeptes deuten, indem es aufgrund unendlich vieler Links ein endloses Weiterlesen erlaubt. An Stelle einer Hierarchisierung der Texte tritt die dynamische Umkehrbarkeit der Einzeltexte im Hypertext.“[32]

Wie Schahadat meint, ist Umkehrbarkeit ein wichtiges Merkmal des Hypertextes, die dem Rezipienten eine dynamische Navigation erlaubt. Umkehrbarkeit im Hypertext ist möglich, weil es da keine Hierarchie gibt.

Zusammenfallen von innen und außen

Im Hypertext findet sich die Grenze von innen und außen nicht mehr. Darin kann ein Knoten (Knoten A) per Verknüpfungen in einen anderen Knoten (Knoten B) hereingenommen werden und kann der Knoten B, umgekehrt, in den Knoten A hereingenommen werden. So fällt im Hypertext die Grenze von innen und außen zusammen und es entsteht eine möbiusscher Raumstruktur.

Diesen Aspekt des Hypertextes kann man sich am Beispiel von Wikipedia verdeutlichen. Ein Artikel zum Thema A enthält in Wikipedia u. U. viele Verknüpfungen. Wenn man eine davon anklickt, dann entfaltet sich ein anderer Artikel B. Es scheint, als ob sich Artikel B zwangsläufig aufgrund von Artikel A entfaltet hätte. Aber ist es nicht so, weil Artikel A sich auf Artikel B entfaltet, wenn man auf der Seite vom Artikel B die Verknüpfung zum Artikel A klicken würde. Es existiert keine Richtung, keine Ebene, keine Hierarchie. Im Hypertext findet sich, wie bei diesem Beispiel, die Grenze von innen und außen nicht mehr.

Hanjo Beressem notiert diesen Aspekt des Hypertextes in seinem Text „Unterwegs im Docuversum. Zur Topologie des Hypertextes“ mit den Worten „Zusammenfallen von innen und außen; Unentscheidbarkeit, welcher Text sich auf welchem Text entfaltet hat“[33]. Mit den Worten „irrelevance of distinction between inside and outside a particular text“[34] bringt auch George P. Landow diese Eigenschaft des Hypertextes in seinem Buch auf den Punkt.

Unverschlossenheit

Etymologisch bedeutet ‚Hyper’ ‚über’.[35] Im Hypertext ist es vorausgesetzt, dass sich noch etwas ,über’ einen Text befinden könnte. Das ist zunächst so, weil Hypertext aus vielen Knoten verschiedener Texten besteht. Hypertext ist auch ein prinzipiell nie zu vollendender Text, da er für neue Knoten offen ist. Außerdem gibt es viele verschiedene Möglichkeiten für Rezeptionspfade. Hypertext ist ein für die Entdeckung neuer Erzählpfade offener Text. Hypertextualität versteht sich in diesem Aspekt als ,Werden’, ,Unterwegs sein’, Prozess. Angelika Storrer drückt diesen Punkt des Hypertextes in ihrem Aufsatz „Was ist ,hyper’ am Hypertext?“ in „Sprache und neue Medien“ in den Worten „Mehr-als-Text“ „Noch-nicht-Text“, und „Text-in-Bewegung“ aus:

Mehr-als-Text: „Eine wichtige Konzeptualisierung des ,hyper’ ist die als ,extension to text’[36] bzw. als Text, der „immer über sich hinausgreifen möchte und Verbindungen zu anderen Texten herstellen will“[37]. Der bei dieser Deutung fokussierte Mehrwert besteht darin, dass Texte, die in der Printwelt in verschiedenen Büchern publiziert waren, nun direkt über Hyperlinks verknüpfbar sind, wobei solche Verknüpfungen sowohl von den Produzenten als auch von den Nutzern des Hypertextes angelegt werden können.“[38]

Noch-nicht-Text: „Gerade im WWW sind Hypertexte [...] oft gar nicht mehr auf einen

Abschluss hin ausgelegt sind, sondern dokumentieren die Geschichte und den je aktuellen Stand einer zeitlich nicht begrenzten Beschäftigung einer Gruppe mit einem Thema. Durch den Besuch dieser „Sites“ können auch interessierte Außenstehende den Projektverlauf mitverfolgen“[39].

Text-in-Bewegung: „Hypertexte werden häufig als [...] „fluid medium“ bezeichnet. [...] Der neu hinzukommende Aspekt von „Textverflüssigung“ in Hypertext, der hier als „Text-in-Bewegung“ bezeichnet wird, besteht darin, dass Hypertexte gerade im WWW typischerweise nicht aus einer festen Anzahl von Modulen bestehen, sondern sich in ständigen Auf- und Umbau befinden. [...] Viele Module existieren überhaupt nur virtuell“[40].

Die Aspekte der Hypertextualität, die ich bis dahin diskutiert habe, finden wir in folgendem Zitat aus Roland Barthes „S/Z“ zusammengefasst. Barthes Vorstellung von der idealen Textualität beschreibt Hypertextualität so genau, dass sie wie Beschreibung des Hypertextes erscheint.

„In diesem idealen Text sind die Beziehungen im Textgewebe so vielfältig und treten so zueinander ins Spiel, dass keine von ihnen alle andere abdecken könnte. Dieser Text ist eine Galaxie von Signifikanten und nicht Struktur von Signifikaten. Er hat keinen Anfang, ist umkehrbar. [...] Dieses absolut pluralen Textes können sich Sinnessysteme bemächtigen, deren Zahl niemals abgeschlossen ist, da sie zum Maß das Unendliche der Sprache haben.”[41]

Im Kapitel ,Hypertexttheorie’ habe ich den Begriff des Hypertextes, die Entstehungsgeschichte des Hypertextes und die verschiedenen Aspekte der Hypertextualität betrachtet. In Bezug auf die Hypertextualitäten, die ich im Abschnitt ,Hypertextualität’ diskutiert habe - Nonlinearität, Multilinearität, Interaktivität, Zufälligkeit, Umkehrbarkeit, Zusammenfallen von innen und außen, Unverschlossenheit – werde ich im Kapitel ,Analyse des Films’ dieser Arbeit das Erzählen in „Lola rennt“ auf dieser theoretischen Grundlage detailliert analysieren. In „Lola rennt“ funktionieren diese verschiedenen Hypertextualitäten dynamisch und der Film generiert ein eigenartiges, hypertextuelles Erzählen.

1.2 Virtualitätstheorie

Zur Virtualität gibt es plurale komplementäre Ideen. Was ich in der Arbeit thematisieren will, sind die zwei miteinander inkompatiblen Ideen zweier Philosophen: das Virtuelle als Illusion bei Jean Baudrillard und das Virtuelle als Potenzial bei Pierre Lévy. Diese zwei Arten von Virtualität sind die von den postklassischen Narratologisten am häufigsten diskutierten (vgl. z. B. Marie-Laure Ryan). Sie stammen aus zwei verschiedenen Traditionen des Gebrauchs des Wortes ,virtuell’:

„Etymology tells us that ,virtual’ comes from the Latin virtus (strength, manliness, virtue), (…) In scholastic Latin, virtualis designates the Potenzial, ,what is in the power (virtus) of the force.’ (…) In scholastic philosophy ,actual’ and ,virtual’ exist in a dialectical relation rather than in one of radical opposition: the virtual is not that which is deprived of existence, but that which possesses the Potenzial, or force of developing into actual existence. Later uses of the term, beginning in the eighteenth and nineteenth centuries, turn this dialectical relation to actual into binary opposition to real: the virtual becomes the fictive and the non-existent.”[42]

Das Virtuelle hat, wie das obige Zitat zeigt, zumindest zwei verschiedene Bedeutungen – Irrealität und Potenzial. Diese beiden Lesearten bilden die Basis für zwei komplementären, die im Folgenden vorgestellt werden.

[...]


[1] Sie werden im Kapitel ,1.1.1 Hypertextualität’ detailliert untersucht werden.

[2] Slavoj Žižek, Isolde rennt: Auf dem Weg zum Cyberspace-Tristan. In: Lettre International (51), S. 105.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Vgl. ebd.

[6] Vgl. Deglers Interpretation zum Žižeks Aufsatz. In: Frank Degler, Medienspiele – Spielmedien. Zur Intermedialität von Film und Computerspiel. In: Andreas Böhn (Hg.), Formzitat und Intermedialität, St. Ingbert 2003, S. 70.

[7] Helmut Schanze, Metzler Lexikon Medientheorie, Medienwissenschaft, Stuttgart/Weimar 2002, S. 142.

[8] Emily Berk/Joseph Delvin (Hg.), Hypertext/Hypermedia Handbook, New York 1991, S. 543.

[9] Knoten kann man auch ,lexia’ benennen. ,Lexia’ ist das Wort, das Roland Barthes im Sinne von kleinem Textblock eines Texts in "S/Z" verwendet hat. Da dieser Begriff den Begriff Knoten gut erklärt, ist lexia fast als Synonym von Knoten zu verwenden.

[10] George P. Landow, Hypertext 2.0, Baltimore 1997, S. 3.

[11] Vgl. Helmut Schanze: Metzler Lexikon Medientheorie, Medienwissenschaft, Stuttgart/Weimar 2002, S. 142.

[12] Klaus Niedermair, Das Hypertext-Design der CD-ROM der Pädagogik: Ein Hypertext soll mehr sein als ein Text. <http://ub.uibk.ac.at/c10803/htdpaed.html>.

[13] Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992, S.16.

[14] <http://www.lg-nw.de/_pdf/BIN01.pdf>.

[15] Martin Arnold, Das Rhizom. <http://kunst.erzwiss.uni-hamburg.de/Meyer/Hypermed/rhizom.htm>.

[16] Vannevar Bush, As We May Think. In: The Atlantic Monthly, July 1945. <http://www.theatlantic.com/doc/194507/ bush>.

[17] Theodor H. Nelson: Literary Machines, Swarthmore 1981, S. 0/2. Rezitiert nach George P. Landow, Hypertext 2.0, Baltimore1997, S. 3.

[18] Zur Entwicklungsgeschichte des Hypertextes habe ich folgende Materialien nachgeschlagen: George. P. Landow, Hypertext 2.0, S.3-10; Michael Joyce, Of Two Minds, S. 21ff; Angelika Storrer, Was ist “hyper” am Hypertext?. In: Werner Kallmeyer (Hg.), Sprache und neue Medien, Berlin 2000. <http://www.hytex.uni-dortmund.de/storrer/papers/hyper.Pdf>; die Internetseite von Neue Medien in den Geistes- und Kulturwissenschaften (NMGK) an der Universität Wien, <http://www.nmgk.org/sub.php?main=students&sub=wiarb&hkey=0&mkey=3&lang=de&sb=1>; „Hypertext“ Artikel bei Wikipedia. <http://de.wikipedia.org/wiki/Hypertext#Geschichte_und_Entwicklung>.

[19] George P. Landow, Hypertext 2.0, S.3.

[20] Außer Barthes’ lexia und Deleuze’ Rhizom werden hierzu Julia Kristevas Intertextualität (in dem Sinne, dass die Knoten intertextuell miteinander zusammenhängen und sich einander beeinflussen) oder Mikhail Bakhtins Multivokalität (in dem Sinne, dass die verschiedenen ,Stimmen’ in verschiedenen Knoten koexistieren und untereinander Dialog führen) genannt.

[21] George P. Landow, Hyper/Text/Theory, Baltimore 1994, S. 1.

[22] Silvio Gaggi, From Text to Hypertext: Decentering the Subject in Fiction, Film, the Visual Arts, and Electronic Media, Philadelphia 1997, S. 98-100.

[23] Vgl. George P. Landow, Hypertext 2.0; George P. Landow, Hyper/Text/Theory; Silvio Gaggi, From Text to Hypertext; Hanjo Beressem, Unterwegs in Docuversum: Zur Topologie des Hypertext.

[24] Espen J. Aarseth, Nonlinearity and Literary Theory. In: Landow 1994, S. 51f.

[25] Stuart Moulthrop, Rhizome and Resistance. In: Landow 1994, S. 301.

[26] Angelika Storrer, Was ist „hyper“ am Hypertext? In: Werner Kallmeyer (Hg.), Sprache und neue Medien, Berlin 2000. <http://www.hytex.uni-dortmund.de/storrer/papers/hyper.pdf>

[27] Kurt Röttgers, Nomadismus außerhalb und innerhalb der Archive, 27. 09. 2004, S. 15. <http://www.fil.hu/tudrend/N OMADI_archive.pdf>.

[28] Angelika Storrer, Was ist „hyper“ am Hypertext? In: Werner Kallmeyer (Hg.), Sprache und neue Medien, Berlin 2000. S. 13, als PDF-Datei im Internet: <http://www.hytex.uni-dortmund.de/storrer/papers/hyper.pdf>.

[29] Marie-Laure Ryan, Narrative as Virtual Reality, Baltimore 2001, S. 206. (Zur nähreren Diskussion vgl. das dieses Zitat enthaltende Kapitel “Hypertext. The Function and Effects of Selective Interactivity“ auf den Seiten 204-224 in demselben Buch.)

[30] Ebd., S.9.

[31] Franz Krahberger, Hypertext, Hyperraum, Kulturentwicklung. <http://ezines.onb.ac.at:8080/ejournal/pub/ejour-97-II/neuemed/hypertext.html>.

[32] Schamma Schahadat, Lost in Space. Vom Buch ins Netz. In: du. Die Zeitschrift der Kultur . Themenheft "Das Gedächtnis der Worte. Von Büchern und Bibliotheken“, Heft Nr. 1 Januar 1998, S. 75. <http://www.lupi.ch/Internet/ LostInSpace.html>.

[33] Hanjo Beressem, Unterwegs im Docuversum: Zur Topologie des Hypertext, S. 1. <http://www.uni-weimar.de/medien /europa/lehre/ss2005/ss2004/hypertext_content/maas_hypertext.pdf>.

[34] George P. Landow, Hypertext 2.0, S. 33.

[35] Vgl. Helmut Schanze: Metzler Lexikon Medientheorie, Medienwissenschaft, Stuttgart/Weimar 2002, S. 142.

[36] Roy Rada, Hypertext: From Text to Expertext, London 1991, S. 1. Zitiert in Storrer 2000, S. 10.

[37] Jay D. Bolter, Das Internet in der Geschichte der Technologien des Schreibens. In: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.), Mythos Internet, Frankfurt am Main 1997, S. 42. Zitiert in Storrer 2000, S. 10.

[38] Angelika Storrer, Was ist „hyper“ am Hypertext? In: Werner Kallmeyer (Hg.), Sprache und neue Medien, Berlin 2000. S. 10, als PDF-Datei im Internet: <http://www.hytex.uni-dortmund. de/storrer/papers/hyper.pdf>.

[39] Ebd., S. 11.

[40] Ebd., S. 12.

[41] Roland Barthes, S/Z, Frankfurt am Main 1976, S. 9-10.

[42] Marie-Laure Ryan, Cyberspace, Virtuality, and the Text. In: Marie-Laure Ryan, Cyberspace Textuality: Computer Technology and Literary Theory, Bloomington 1999, S. 88f.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783836627474
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Bayreuth – Sprach- und Literaturwissenschaftliche Faktultät
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,3
Schlagworte
hypertext erzählen film tykwer virtualität
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Titel: Hypertextuelles Erzählen im zeitgenössischen Film
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