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Identität und kulturelle Differenz

Qualitative Studie zur Reintegration nach einjährigem Auslandsaufenthalt

©2005 Diplomarbeit 133 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Mit zunehmender Globalisierung aller Lebenstätigkeiten, besonders im Rahmen der Globalisierung der Wirtschaft, nehmen interkulturelle Erfahrungen heutzutage einen hohen Stellenwert ein. Der Auslandsaustausch ist daher ein aktuelles Thema in der Bildungspolitik. In bestimmten Berufsbranchen wird interkulturelle Erfahrung mittlerweile als „Muss“ im Lebenslauf eines karriereorientierten Menschen vorausgesetzt. So wird gerade bei Berufsanfängern Wert darauf gelegt, dass diese sich in Form von Studienaufenthalten oder Praktika „wertvolle internationale Erfahrungen“ und nicht zuletzt Sprachkenntnisse in einem fremden Land angeeignet haben. Zahlreiche Organisationen und Programme haben sich zu diesem Zweck auf den Austausch in unterschiedlichen Bereichen spezialisiert, z.B. auf die Vermittlung von Auslandssemestern oder -praktika im akademischen Bereich oder das High School Jahr im Schüleraustausch. Obwohl oft der Gedanke des Kennenlernens anderer Kulturen und somit Völkerverständigung im Vordergrund steht, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass hier wirtschaftliches Denken eine große Rolle spielt. So sind etwa internationale Konzerne bei der Auslandsentsendung von Mitarbeitern darauf angewiesen, auf flexible und anpassungsfähige „menschliche Ressourcen“ zurückgreifen zu können.
Durch Veränderungen der Gesellschaft werden höhere Anforderungen an die individuelle Mobilität gestellt. Damit wird der Mensch aus dem traditionellen Lebenszusammenhang herausgerissen und unter Umständen von seiner Herkunftsregion getrennt. Zur Auswirkung gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen auf das Leben des Einzelnen bemerkt Straub kritisch: Das ‚Sein‘ wird in modernen Gesellschaften in hohem Maß als ein von Kontingenz durchsetztes, durch Offenheit charakterisiertes Werden erfahren, das den einzelnen erhebliche Anpassungsleistungen, Eigenverantwortung und eine ihr Leben keineswegs nur bereichernde ‚Flexibilität‘ und Veränderungsbereitschaft abverlangt.
Schon viel früher diagnostizierte Beck als prominenter Vertreter einer soziologischen Gesellschaftsbetrachtung erhöhte Anforderungen an das Individuum: Indem es keine vorgezeichneten Lebensentwürfe mehr gibt, muss sich der Einzelne ohne verbindliche Vorlagen selbst entwerfen. Mit einem Mehr an persönlicher Freiheit und Autonomie geht also der Verlust verlässlicher Orientierungsschablonen und Bindungen einher.
Indem die Selbstverantwortlichkeit größer geworden ist, trägt im Gegensatz zu früheren […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Sonja Schröder
Identität und kulturelle Differenz
Qualitative Studie zur Reintegration nach einjährigem Auslandsaufenthalt
ISBN: 978-3-8366-2621-7
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2009
Zugl. Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland, Diplomarbeit, 2005
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2009

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Inhaltsverzeichnis
I Einleitung
1 Aktualität des Forschungsthemas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2 Eigenes Forschungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II Theoretischer Überblick
1 Reintegrationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Spezielle Probleme der Reintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3 Ziele und Methodik der Reintegrationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4 Kulturspezifi sche Aspekte von Identität im Kontext Reintegration . . .
1.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2 Kultur und kulturelle Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Kulturelle Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3 Verwandte Formen von Wanderung und Kulturwechsel . . . . . . . . . . . .
2.3.1 Migrationsforschung: Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . .
2.3.2 Wohnortwechsel als kritisches Lebensereignis: Unterschiede und
Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 Identitätstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Personale und soziale Identität: Strukturtheoretische Überlegungen . .
3.2 Empirische Untersuchung von Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3 Interaktionistische Identitätstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.1 Krappmann: Balancierte Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.2 Objektbeziehungstheorien angewandt auf Identität . . . . . . . . . . . .
3.3.3 Identitätstheorien angewandt auf den Forschungsgegenstand
der interkulturellen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4 Das Fremde und das Eigene oder: Identität und Differenz . . . . . . . . . . .
4 Präzisierung der Forschungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III Methodisches Konzept
1 Projektwerkstatt qualitativen Arbeitens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2 Das problemzentrierte Interview nach Witzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Begründung des gewählten Vorgehens des problemzentrierten Inter-
views . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Struktur des PZI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1 Teilelemente / Instrumente des PZI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.2 Gesprächstechniken des PZI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 Leitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Generierung des Leitfadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.1 Vorgehen und generelle Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.2 Generierungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2 Endversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.1 Erläuterung der Themenblöcke im Leitfaden . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2 Interviewerverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 Beschreibung der Stichprobenkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4.2 Gewinnung der Interviewpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5 Fallauswahl
5.1 Schrittweise Auswahl als Grundprinzip qualitativer Forschung . . .
5.2 Theoretisches Sampling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3 Begründete Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.4 Datenerhebungsprozess und begründete Auswahl aus den vorlie-
genden Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.5 Samplestruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6 Auswertungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1 Auswertung des PZI nach Witzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2 Handlungstheoretisches Modell der Grounded Theory . . . . . . . . . .
6.3 Exemplarische Darstellung des Auswertungsvorgehens . . . . . . . . . .
IV Ergebnisse
1 Portraits der Interviewpartner und Situationsbeschreibungen von Fremdheit
im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 ,,Franziska" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 ,,Sven" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3 ,,Carolin" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4 ,,Matthias" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2 Modell ,,Fremdheit im Ausland" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Modellbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.1 Fremdheitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.2 Phänomen des Fremdheitserlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.3 Fremdheitsreduzierendes oder -aufrechterhaltendes Handeln .
2.1.3.1 Veränderungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.3.2 Legitimationsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.3.3 Einschätzungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.3.4 Rückzugsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.3.5 Aufsuchende Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.4 Intervenierende Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.5 Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.5.1 Reduzierung von Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.5.2 Aufrechterhaltung von Fremdheit als Folge fehlgeschla-
genen Reduktionshandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.5.3 Aufrechterhaltung von Fremdheit als Ziel . . . . . . . . . . . .
3 Modell ,,Fremdheit in der Reintegration" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Kontext der Reintegration und Situationsbeschreibungen von
Fremdheit in der Reintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.1 ,,Franziska" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.2 ,,Sven" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.3 ,,Carolin" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.4 ,,Matthias" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2 Modellbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.1 Fremdheitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.1.1 Kontrasterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.1.2 Interaktionsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.1.3 Wunsch nach Zugehörigkeit vs. Individualität . . . . . . . .
.
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102
Inhaltsverzeichnis

3
3.2.2 Phänomen des Fremdheitserlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.3 Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.3.1 Veränderungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.3.2 Legitimationsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.3.3 Einschätzungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.3.4 Rückzugsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.3.5 Aufsuchende Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.4 Intervenierende Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.5 Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.5.1 Reduzierung von Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.5.2 Aufrechterhaltung von Fremdheit als Folge fehlgeschla-
genen Reduktionshandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.5.3 Aufrechterhaltung von Fremdheit als Ziel . . . . . . . . . . . .
4 Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 Hauptergebnisse aus dem Modell ,,Fremdheitserleben im Ausland" . .
4.2 Hauptergebnisse aus dem Modell ,,Fremdheitserleben in der Reintegra-
tion" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.1 Evaluation von Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.2 Individualität und Abgrenzung vs. (Re)Integration . . . . . . . . . . . .
4.3 Refl ektion der Modellbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 Theoretischer Rückbezug der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2 Methodische Refl ektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
A. Aufruf (e-mail Vorlage) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
B. Kurzfragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C. Interviewvertrag mit Datenschutzvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
D. Interviewleitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
E. Kontextprotokoll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
F. Transkriptionsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Schematische Darstellung des Modells zum
Fremdheitserleben im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abbildung 2: Schematische Darstellung des Modells zum
Fremdheitserleben in der Reintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1:
Samplestruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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111
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112
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115
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133
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54
Inhaltsverzeichnis

5
I Einleitung
Und so geschah es,
dass das 4. Zeitalter in Mittelerde anbrach,
und die Gemeinschaft des Rings,
obgleich ewig verbunden in Liebe und Freundschaft,
löste sich auf.
Genau vor 13 Monaten hatte uns Gandalf
auf unsere lange Reise geschickt,
und nun bot sich uns ein vertrauter Anblick.
Wir waren zuhause!
~
Wie knüpft man an an ein früheres Leben?
Wie macht man weiter,
wenn man tief im Herzen
zu verstehen beginnt,
dass man nicht mehr zurück kann?
Manche Dinge kann auch die Zeit nicht heilen,
manchen Schmerz,
der zu tief sitzt
und einen fest umklammert...
(Der Herr der Ringe 3, © 2003 New Line Cinema)
1
Aktualität des Forschungsthemas
Mit zunehmender Globalisierung aller Lebenstätigkeiten, besonders im Rahmen
der Globalisierung der Wirtschaft, nehmen interkulturelle Erfahrungen heutzutage
einen hohen Stellenwert ein. Der Auslandsaustausch ist daher ein aktuelles Thema
in der Bildungspolitik. In bestimmten Berufsbranchen wird interkulturelle Erfahrung
mittlerweile als ,,Muss" im Lebenslauf eines karriereorientierten Menschen vorausgesetzt.
So wird gerade bei Berufsanfängern Wert darauf gelegt, dass diese sich in Form von
Studienaufenthalten oder Praktika ,,wertvolle internationale Erfahrungen" und nicht zuletzt
Sprachkenntnisse in einem fremden Land angeeignet haben. Zahlreiche Organisationen
und Programme haben sich zu diesem Zweck auf den Austausch in unterschiedlichen
Bereichen spezialisiert, z.B. auf die Vermittlung von Auslandssemestern oder -praktika
im akademischen Bereich oder das High School Jahr im Schüleraustausch. Obwohl oft
der Gedanke des Kennenlernens anderer Kulturen und somit Völkerverständigung im
Vordergrund steht, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass hier wirtschaftliches Denken
eine große Rolle spielt. So sind etwa internationale Konzerne bei der Auslandsentsendung
von Mitarbeitern darauf angewiesen, auf fl exible und anpassungsfähige ,,menschliche
Ressourcen" zurückgreifen zu können.
Durch Veränderungen der Gesellschaft werden höhere Anforderungen an die
individuelle Mobilität gestellt. Damit wird der Mensch aus dem traditionellen

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Einleitung
Lebenszusammenhang herausgerissen und unter Umständen von seiner Herkunftsregion
getrennt (vgl. Atabay, 1995). Zur Auswirkung gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen
auf das Leben des Einzelnen bemerkt Straub kritisch:
Das ,Sein` wird in modernen Gesellschaften in hohem Maß als ein von Kontingenz
durchsetztes, durch Offenheit charakterisiertes Werden erfahren, das den einzelnen erhebliche
Anpassungsleistungen, Eigenverantwortung und eine ihr Leben keineswegs nur bereichernde
,Flexibilität` und Veränderungsbereitschaft abverlangt (Straub, 2000, S. 186).
Schon viel früher diagnostizierte Beck (1986) als prominenter Vertreter einer
soziologischen Gesellschaftsbetrachtung erhöhte Anforderungen an das Individuum:
Indem es keine vorgezeichneten Lebensentwürfe mehr gibt, muss sich der Einzelne ohne
verbindliche Vorlagen selbst entwerfen. Mit einem Mehr an persönlicher Freiheit und
Autonomie geht also der Verlust verlässlicher Orientierungsschablonen und Bindungen
einher (Mecheril & Bales, 1994).
Indem die Selbstverantwortlichkeit größer geworden ist, trägt im Gegensatz zu früheren
Zeiten jeder Verantwortung für die eigene Biographie (Beck, 1986). In diesem Sinne kann
ein zweckorientierter Auslandsaufenthalt durchaus als der Versuch gelten, die eigene
Biographie aktiv zu gestalten. Das Basteln am eigenen Lebenslauf und das bewusste
Steuern von Erfahrungen wäre im Sinne Becks, den Weg ,,von der Normalbiographie zur
Wahlbiographie" (ebd., S. 217) einzuschlagen.
Mit der Möglichkeit zur persönlichen Weiterentwicklung wird auch für Teilnehmer
an Austauschprogrammen geworben. Die nicht hinterfragte Annahme, dass ein Aus-
landsaufenthalt zu einer Erweiterung des Horizonts, mehr Selbstbewusstsein und
allgemein zur persönlichen Weiterentwicklung verhilft, kann ein wichtiger Grund für
Auslandsaufenthalte sein. Auf die wissenschaftliche Überprüfung dieser Annahme,
z.B. von Adler (1981), die persönliche Veränderungen im Zuge von Auslandseinsätzen
kanadischer Angestellter berichtet, wird in Kap. II.1.4 noch näher eingegangen.
Unabhängig von der persönlichen Ebene ist der längere Auslandsaufenthalt zu Studien-
oder Arbeitszwecken innerhalb der Ausbildung ein zunehmender Trend in der heutigen
Gesellschaft, der allgemein begrüßt wird; legt er doch einen Grundstein für Flexibilität
und (berufl iche) Mobilität.
2
Eigenes Forschungsinteresse
Eigene Erfahrungen mit längeren nicht-touristischen Auslandsaufenthalten markieren
den Anfang meines Forschungsinteresses. Zum Zeitpunkt der Themensuche für die
vorliegende Arbeit war ich gerade selbst von einem Auslandspraktikum zurückgekehrt. Die
Suche nach einem ,,interkulturellen" Thema führte mich zur Frage nach der persönlichen
Bedeutsamkeit von Auslandserfahrungen. Auch erinnerte ich mich an eine Wiederkehr
in Zusammenhang mit einem länger zurückliegenden Auslandsaufenthalt, die damals

7
sehr bedeutsam für mich war, und die ich nach heutigem Wissen als Rückkehrschock
bezeichnen kann (s. zum Begriff ,,Rückkehrschock" Kap. II.1.2). Die Verwobenheit von
persönlichem und wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse spiegelt sich nicht nur auf der
Ebene der Entwicklung der Fragestellung wieder, sondern hat sich auch in der konkreten
Interaktion mit meinen Interviewpartnern
1
niedergeschlagen, wenn ich Erfahrungen im
selben oder einem ähnlichen Land gemacht hatte (s. Kap. III.5.4).
Schon vor Beginn der Arbeit wusste ich durch Gespräche mit Menschen mit ähnlichen
Erfahrungen,
dass meine persönliche Betroffenheit kein ,,Einzelschicksal" ist. Für viele
stellt der Auslandsaufenthalt eine äußerst bedeutsame Erfahrung dar, die oft auch als
eine Zäsur in der Lebensgeschichte empfunden wird. In der Diplomarbeit wollte ich
mich daher näher mit Fragen des Erlebens einer fremden Welt beschäftigen: Was hat das
Fremde des Auslands mit mir zu tun, wie ,,passiert" persönliche Veränderung und warum
ist das Zurückkommen manchmal so schwer?
Der Zuspruch nicht nur von Bekannten und Unbekannten, sondern später auch das
Interesse von Organisationen, an die ich mich zwecks Interviewpartnersuche gewendet
hatte, bestätigten die praktische Relevanz der Reintegrationsthematik. Auf eine breitere,
empirische Basis konnte ich meine Alltagsbeobachtungen durch die Literaturrecherche
stellen, wonach Reintegration ein zunehmend relevantes Thema in Forschung und Praxis
darstellt.
Eigenes Forschungsinteresse
1
Der besseren Lesbarkeit halber verwende ich in der vorliegenden Arbeit für Bezeichnungen von Personengruppen die
männliche Form, wobei ich weibliche Personen gleichberechtigt eingeschlossen wissen möchte.

9
II Theoretischer Überblick
1
Reintegrationsforschung
Viele Menschen hatten und haben nach längerer Zeit des Auslandsaufenthalts
Schwierigkeiten bei der Rückanpassung im Heimatland. Dabei gibt es keine Regel-
mäßigkeit: manche erleben wenig bis keine Effekte des Wiedereintritts, andere haben
Probleme, deren Dauer von einigen Monaten bis zu einem Jahr schwankt (vgl. Adler,
1981; Gaw, 2000). Dennoch sind Repatriierungsschwierigkeiten
2
und Stress bei
Untersuchungen an so verschiedenen Populationen wie Business Personal, Gaststudenten,
Auslandspraktikanten, Diplomaten und Entwicklungshelfern, ein robuster Befund in
allen Studien (Sussman, 2001).
In diesem Kapitel werde ich einen Überblick über die Literatur zur Reintegra-
tionsforschung geben. Dabei soll zunächst die Entwicklung dieser Forschungsrichtung
aus der Kulturschockforschung umrissen werden, um dann auf wichtige Befunde
einzugehen, die auf die Identitätsrelevanz des Themas verweisen.
1.1
Historische Entwicklung
Im Zuge der in der Einleitung (Kap. I) erwähnten Zunahme von internationalen
Unternehmungen mit wirtschaftlichem Hintergrund ist in den vergangenen Jahrzehnten
ein Praxis- und Forschungsschwerpunkt auf den viel zitierten Kulturschock (Furnham
& Bochner, 1986) gelegt worden. Der Aspekt des Weggehens und Sich Bewährens in
fremder Umgebung wurde im Hinblick auf schnelle Anpassung und damit verbunden
hohe Leistungsfähigkeit im Auslandseinsatz untersucht. Dabei wurde Auslandserfahrung
implizit und unrefl ektiert als gut und wichtig für das persönliche Wachstum (s. Kap.
I.1) erachtet. Adler (1981) z.B. fand spezielle Lerneffekte bzgl. Ambiguitätstoleranz,
Perspektivenübernahme, besserer Entscheidungsfähigkeit in mehrdeutigen, unsicheren
Situationen sowie ein höheres Selbstbewusstsein und ein verbessertes Selbstbild.
In der wissenschaftlichen Betrachtung wird der Auslandsaufenthalt als Transitions-
zyklus,
3
also eine Abfolge von Kulturübergängen, konzipiert, wobei die Phasen der
Vorbereitung (,,vorher"), des eigentlichen Aufenthaltes im Gastlands (,,während") und
der Rückkehr in das eigene Land (,,danach") voneinander unterschieden und abgegrenzt
werden.
Relativ jung ist der Ansatz, sich forschungsthematisch mit der letzten Phase, also dem
Aspekt der Rückkehr und Reintegration in das Heimatland auseinander zu setzen (vgl.
Sussman, 1986; Winter, 1992; Gaw, 2000). Die Erweiterung der Kulturschockforschung
2
Repatriierung = Rückkehr aus dem Ausland in das Land der eigenen Staatsangehörigkeit.
3
Transition = Übergang, Wechsel; im Kontext dieser Arbeit: Kulturwechsel.

10
Theoretischer Überblick
auf Reakkulturation resultierte aus der Erfahrung, dass es durchaus nicht jedem leicht
fällt, sich nach einer gewissen Zeit der Abwesenheit wieder in seinem eigenen Land
einzurichten. Es gibt also nicht nur im Gastland beim Eintauchen in eine fremde Kultur
Anpassungsschwierigkeiten, die bewältigt werden müssen, auch im Nachhinein kann der
Auslandsaufenthalt physische und psychische Kosten verursachen.
Zunächst wurde der Rückanpassungsprozess als analog zur Anpassung im fremden
Land erfasst. Dieses deskriptive Modell aber griff zu kurz, denn es erklärt weder, warum
und wie Rückanpassung stattfi ndet, noch differenziert es zwischen Anpassung beim
Eintritt in eine fremde Kultur und Rückanpassung. Verschiedene Studien stützen aber
die Ansicht, dass es sich um zwei sehr unterschiedliche Prozesse handelt (vgl. Sussman,
1986).
Im Hinblick auf die historische Entwicklung der Forschungsrichtung sehe ich zwei
bedeutsame Entwicklungsschritte: Der erste bezeichnet die Tatsache, dass Reintegration
im Kontext einer Auslandserfahrung überhaupt Gegenstand der wissenschaftlichen
Betrachtung wurde, der zweite beinhaltet, dass Rückanpassung im Heimatland nicht
mehr analog zum Anpassungsprozess im Ausland konzipiert, sondern konzeptuell als
eigene Phase betrachtet wurde.
1.2
Spezielle Probleme der Reintegration
Unter dem Begriff des ,,Rückkehrschocks" werden verschiedene krisenhafte
,,Rückkehrschocks"
,,Rückkehrschocks"
Phänomene in der Phase der Rückkehr, wo es um Reintegration und Rückanpassung des
Einzelnen an die alte Umgebung geht, zusammengefasst.
Der Rückkehrschock ist defi niert als Prozess der Wiederanpassung, Reakkulturation
und Reassimilation an die Heimatkultur, nachdem man eine bestimmte Zeit in einer
anderen Kultur gelebt hat (Gaw, 2000). Dieses Etikett beinhaltet eine Pathologisierung,
und verweist gleichzeitig auf den Kulturschock als ,,Mutterkonzept". In der Verwendung
der englischen Begriffe ,,Reverse Culture Shock" und später ,,Re-entry Shock" wird
einmal mehr deutlich, wie die Rückanpassung zunächst analog zum Anpassungsprozess
im Ausland erforscht und konzeptualisiert und erst später als eigenständiger Prozess
erkannt worden ist. Ein griffi ges Zitat grenzt die beiden Konzepte voneinander ab, indem
es implizit auf Ursachen hinweist: ,,Cultureshock is the expected confrontation with the
unfamiliar. Reentry shock is the unexpected confrontation with the familiar."
4
(Martin,
1986, S.149)
Es sei festgehalten, dass diese Phase krisenhaft verlaufen kann, aber nicht muss. Im
Folgenden werde ich empirisch-explorativ erhaltene Ergebnisse nennen, welche als
Identitätsaspekte verstanden werden können (vgl. hierzu Kap. II.3). Dabei stelle ich eine
für meine Arbeit bedeutsame Auswahl vor. Gleichzeitig ist gewährleistet, dass es sich bei
dieser Auswahl um theoretisch zentrale Befunde handelt.
4
Freie Übersetzung der Verfasserin: "Kulturschock meint die erwartete Konfrontation mit dem Unvertrauten. Der
Rückkehrschock dagegen ist die unerwartete Konfrontation mit dem Vertrauten."

11
Gaw (2000) nennt u.a. Konfl ikte der kulturellen Identität, interpersonale Schwierig-
keiten, Entfremdung und Wertekonfusion als Probleme, die in Zusammenhang mit
Reintegration auftreten können. Diese stehen mit dem Konstrukt Identität in Verbindung.
Symptome wie sozialer Rückzug, Depression und Ängste, Zwänge, Des-orientierung,
Stress, Wut und Feindseligkeit sowie Hilfl osigkeit, weisen ganz besonders auf die
mögliche Krisenhaftigkeit dieser Phase hin.
Um von der Symptomebene Abstand zu nehmen, wird auf einer differenzierteren Ebene
nach Ursachen des Rückkehrschocks gesucht. Diese Erklärungsansätze verdeutlichen, dass
es sich um spezifi sche Probleme handelt, welche sich ­ wie Winter in dem vermeintlichen
Paradoxon vom ,,Fremdsein in der Heimat" (1992) ausdrückt ­ nur durch die Rückkehr in
eine einst vertraute Umgebung ergeben können. Zusammenfassend lassen sich folgende
Besonderheiten der Rückanpassungsproblematik aufzählen (Sussman, 1986; Winter,
1992; Onwumechili, Nwosu, Jackson & James-Hughes, 2003):
1. Unerwartetheit der Probleme, gepaart mit falschen Attributionen für deren
Ursachen.
2. Latente Persönlichkeitsveränderungen, deren die Person sich nicht unbedingt
bewusst ist.
3. Unterschätzung von zwischenzeitlich eingetretenen Veränderungen im
Heimatland (Politik, Wirtschaft...).
4. Freunde, Familie, Kollegen erwarten ,,normales" nicht verändertes Verhalten
vom Rückkehrer, im Unterschied zum Gastland, wo merkwürdiges oder
anderes Verhalten von einem Ausländer erwartet wird.
5. Mangelndes Interesse von Freunden und Kollegen an den Auslandserfahrungen
als Quelle von Enttäuschung und Frustration.
Besonders die latenten Persönlichkeitsveränderungen (2.) und die Auseinandersetzung
mit den Erwartungen und dem Desinteresse der Umwelt (4. und 5.) weisen auf eine
Identitätsrelevanz hin.
1.3
Ziele und Methodik der Reintegrationsforschung
Entsprechend ökonomischer Interessen ist die Identifi kation von reintegrations-
hemmenden und -fördernden Faktoren das dominierende Untersuchungsziel. Insofern
handelt es sich um praxis- und interventionsorientierte Ansätze. Die Art und Intensität
von Reintegrationsschwierigkeiten wird beeinfl usst durch eine Reihe von Faktoren, die
bei Sussman (1986) und Martin & Harrell (im Druck, zit. nach Onwumechili et al., 2003)
aufgezählt und hier zusammengefasst dargestellt werden:
1. Strukturelle Schwierigkeiten: Karriereweg, Akademischer Kalender,
technologische Umgebung.
Reintegrationsforschung

12
Theoretischer Überblick
2. Objektive Veränderungen der heimatlichen Umgebung: Neben politischen
etc. Veränderungen auch Änderung in signifi kanten Beziehungen, z.B. durch
mehr Unabhängigkeit der Familie.
3. Veränderung des Rückkehrers: individuelle Änderungen von Meinungen,
Verhalten, Weltsicht (Werteveränderung), veränderte Wahrnehmung des
Heimatlandes.
4. Biographische Variablen: Persönlichkeitseigenschaften, vorhergehende
Reiseerfahrungen, Motivation für den Auslandsaufenthalt, Länge des
Aufenthalts, Information (Menge) über das Heimatland während der
Abwesenheit, Zufriedenheit im Gastland und im Heimatland, Wunsch
nach Heimkehr.
All diese Variablen können einen Einfl uss auf Reakkulturation haben, und erklären,
warum Menschen unterschiedlich reagieren. Insbesondere der Selbstbezug von Ver-
änderungen und Biographie des Rückkehrers (3. + 4.) impliziert Identitätsfragen.
Einen persönlichkeitstheoretischen Ansatz zur Erklärung von bzw. Betonung der
interindividuellen Unterschiede liefert Nancy Adler (1981), indem sie die Menschen auf
den Dimensionen ,,Optimismus-Pessimismus" und ,,Aktivität-Passivität" nach Coping-
strategien einteilt. Das bedeutet, es scheint auch speziell persönlichkeitsabhängige
Einfl ussfaktoren der Reaktion auf die Rückkehr zu geben.
Nach der empirischen Trennung von verschiedenen Phasen des Transitionszyklus
bestehen wiederum Ansätze zur Integration dieser in persönlichkeitsrelevanten Erklärungen
zum Zusammenhang von Auslandsaufenthalt und Rückkehr. Bei dem Versuch, die
Anpassung im Gastland, also den initialen Kulturschock mit dem Reintegrationsstress in
Verbindung zu setzen, dominierten zwei Hypothesenstränge (vgl. dazu Sussman, 1986),
welche scheinbar genau gegensätzlich sind. Zum einen soll eine höhere Anpassung im
Ausland zu vermehrten Rückkehrproblemen führen, da die Anpassung als Veränderung
gesehen wird, welche im Zuge der Rückkehr als nicht kompatibel mit der alten Umgebung
wirksam werden. Zum anderen soll eine höhere Anpassung im Ausland zu weniger
Rückkehrproblemen führen, weil dieser ­ so die Annahme ­ das Erlernen interkultureller
Anpassungsstrategien zugrunde liegt, die als erworbene ,,Fähigkeiten" genauso bei der
Rückkehr eingesetzt werden. Zur Aufl ösung dieses Gegensatzes schlägt Sussman (1986)
vor, dass erstere Hypothese v.a. für erstmalige Transitionserfahrungen gelten könne, und
die zweite hauptsächlich auf erfahrene Auslandsreisende zutrifft.
Inwiefern Personen selbst Zusammenhänge zwischen verschiedenen Zeitpunkten des
Transitionszyklus herstellen, hat etwas mit der Frage nach Identitätsleistungen (speziell
dem Herstellen von Kontinuität) zu tun. Auf diese Frage wird im Kap. II.3 (Identität)
näher eingegangen.
Insofern die Wirtschaft ein besonderes Interesse an der Reintegrationsforschung
hat, lag Theoriebildung nicht im Fokus der Aufmerksamkeit. Die fehlende theoretische
Basis wird dementsprechend von vielen Autoren bemängelt: ,,Nur [...] kursorisch sind
die gelegentlichen Versuche einer theoretischen Einordnung und Verdichtung der

13
empirischen Daten, die zumeist aus kleineren, stark praxisorientierten Befragungsstudien
zur Rückanpassung [...] stammen." (Winter, 1992, S. 100)
5
.
Aus den Zielen der Forschung ergibt sich die methodische Umsetzung. Ein Überblick
über das Forschungsgebiet zeigt einen Wechsel von anfänglicher explorativer qualitativer
Forschung zu vermehrt quantitativer Forschung, um identifi zierte Einfl ussfaktoren zu
überprüfen. Die Forderung nach mehr genauen (hypothesengeleiteten) Untersuchungs-
designs kam besonders von akademischer Seite auf (Winter, 1992).
Einer der wenigen Autoren, die sich im deutschsprachigen Raum mit dem Phänomen
,,Reintegration" beschäftigt, ist Winter (1996), der die momentane Datenlage ebenfalls
als ungenügend bemängelt.
Methodisch dominieren Selbstaussagen der Rückkehrer, post hoc per Interview,
Exploration oder Fragebogen erhoben. Was v.a. fehlt, sind seiner Meinung nach Aus-
wertungsmethoden qualitativer Art (wie z.B. Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring).
Deshalb liegt es nahe, mein Forschungsvorhaben methodisch qualitativ empirisch aus-
zurichten und damit theoriegenerierend anzulegen (s. Kap. III). Passenderweise zeigt
sich auf der inhaltlich-thematischen Ebene auch die Forschungsfrage nach Identität als
qualitativ bearbeitbar. Um noch einmal zusammen zu fassen, wo Fragen der Identität
im Kontext der Reintegration berührt sind, seien die empirisch gefundenen Faktoren
der latenten Persönlichkeitsveränderungen und interpersonalen Schwierigkeiten
genannt (Gaw, 2000; Martin & Harrell, im Druck, zit. nach Onwumechili et al., 2003;
Onwumechili et al., 2003; Sussman, 1986; Winter, 1992).
1.4
Kulturspezifi sche Aspekte von Identität im Kontext Reintegration
Nachdem ich bereits dargelegt habe, dass es in der Reintegrationsforschung Hinweise
auf Identitätsrelevanz in der Phase der Rückkehr gibt, verwundert es doch, dass im
Zusammenhang des Auslandsaustauschs so wenig vom kulturellen Aspekt von Identität
die Rede ist.
Zum Zusammenhang zwischen kultureller Identität und Reintegration gibt es
keine empirische Forschung (vgl. Sussman, 2000). Obwohl es Hinweise auf eine
Identitätsrelevanz in der Phase der Reintegration gibt, und es naheliegend wäre, speziell
die kulturelle Identität in diesem Kontext zu untersuchen, ist auf Fragen der Identität im
Allgemeinen und der kulturellen Identität im Besonderen, wenn überhaupt, nur am Rande
eingegangen worden.
So vermuteten bereits Gullahorn & Gullahorn (1963, zit. nach Gaw, 2000)
Identitätsveränderung bei jüngeren Probanden als Ursache für deren größere
Anpassungsprobleme. Mehrere Studien weisen auf mögliche Identitätsveränderung
durch interkulturelle Erfahrung auch abgesehen von normalen Reifungsprozessen hin,
ohne dass dies allerdings explizit zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wurde.
5
Ein Überblick über die bisherigen theoretischen Erklärungsansätze fi ndet sich bei Winter (1992).
Reintegrationsforschung

14
Theoretischer Überblick
Zwar identifi zieren Onwumechili et al. (2003) u.a. kulturelle Identität aus dem
Blickwinkel der Akkulturation und damit einhergehend Identitätsverhandlungen in
der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen als aktuelle Trends der Forschung,
doch gehen ­ da Identität nicht unter dem Gesichtspunkt von Herstellungs- und
Transformationsprozessen betrachtet wird ­ die dort genannten Untersuchungen das
Identitätsthema auf einer für mein Forschungsinteresse viel zu oberfl ächlichen Ebene
an.
Als Ausnahme hervorzuheben ist Sussmans (2000) Modell für die Erklärung von Re-
patriierungstransitionen, womit sie sich weg vom deskriptiven hin zu einem prädiktiven
Ansatz bewegt. Ausgehend von der dynamischen Natur kultureller Identität, schlägt
Sussman (2000) ein Modell vor, in dem Identitätsrelevanz, kulturelle Anpassung und
Selbstkonzeptstörungen so zusammen wirken, dass sich vier mögliche Veränderungstypen
der kulturellen Identität ergeben:
6
Subtraktiv: Entfremdung von der Heimatkultur, Rückkehrer fühlen sich weniger
angenehm, nehmen weniger Ähnlichkeit mit Personen aus der Heimat wahr:
,,sich weniger deutsch fühlen als vorher".
Additiv: Rückkehrer nehmen Elemente der Gastkultur auf (Werte, Bräuche, soziale
Rituale, Emotionen und Gedanken), Identitätsgewinn, mehr Ähnlichkeit mit der
Gastkultur: ,,sich mehr amerikanisch fühlen als vorher".
Affi rmativ: Identifi kation mit Heimatkultur ist beibehalten und intensiviert,
Bestätigung der kulturellen Identität: ,,sich nach wie vor deutsch fühlen".
Interkulturell: Mehrere kulturelle Skripts können nebeneinander bestehen und
je nach aktueller Situation aktiviert werden. Rückkehrer fühlen sich zu einer
,,Global Community" zugehörig, oft sind dies Leute mit multipler internationaler
Erfahrung: ,,sich mehr global/ international fühlen als vorher".
Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die Annahme, dass die kulturelle Identität einer
Person in der alltäglichen Interaktion mit kulturell ähnlichen Menschen unbemerkt bleibt
bzw. nicht konstruiert wird. Trotzdem beeinfl usst sie alltägliche Kommunikation und
Interaktion. Die vom Individuum selbst defi nierte Identität mag sich dabei unterscheiden
von der Wahrnehmung oder Zuschreibung anderer.
Erst in der besonderen Situation des kulturellen Übergangs wird die Person, indem sie
in einem fremden Land zum Outgroup-Mitglied wird, sensibilisiert für ihre Heimatkultur.
Hier nimmt die Autorin Bezug auf sozialpsychologische Theorien, wonach die soziale
Identität in Intergruppenkontakten in den Vordergrund rückt, während sich die personale
Identität eher in Intragruppenkontakten zeigt, wie etwa eines im Ausland befi ndlichen
Expatriates
7
im Kreise eigener Landsleute. Das Gleiche gilt für Autostereotype,
8
die
zwischen Gruppen relevanter sind als innerhalb einer Gruppe.
6
Die Beispiele sind zum besseren Verständnis in der Nationalität modifi ziert und beziehen sich auf eine(n) Deutsche(n),
der / die aus den USA zurückkommt. Die Originalstichprobe bestand aus US-Amerikanischen Rückkehrern.
7
Expatriate (engl.): ständig im Ausland lebende Person.
8
Autostereotype bezeichnen das Selbstbild über die eigene Kultur und die eigenen Landsleute.

15
Das Modell propagiert zwei Punkte im Transitionszyklus, an denen die kulturelle
Identität wichtig wird, nämlich beim Übergang in die fremde Kultur, wo die eigene
kulturelle Identität ins Bewusstsein rückt, und dann beim Wiedereintritt in die
Heimatkultur, wo sich Veränderungen eben dieser zeigen und relevant werden. So
können Repatriierungsschwierigkeiten mit Veränderungen erklärt werden, denn diese
beeinfl ussen die affektive Reaktion auf die Rückkehr.
Erklärt werden Veränderungen der kulturellen Identität folgendermaßen: Neben dem
Bewusstwerden der eigenen kulturellen Prägung durch den Übergang in eine fremde
Kultur, verstärkt der neue soziale Status, im fremden Land plötzlich Angehöriger der
Outgroup zu sein, zumindest anfänglich, die Identifi kation mit der eigenen Kultur.
Kulturelles Bewusstsein ist verbunden mit konsistentem Verhalten. Da dieses Verhalten
aber nun (im Sinne eines person-environment-fi t) abweichend von der Umgebung ist, wird
eine soziokulturelle Adaptation angestoßen. Darin eingeschlossen sind Veränderungen
auf Verhaltens- und Kognitionsebene, welche Störungen im Selbstkonzept bewirken, und
nachfolgend Veränderungen der kulturellen Identität. Erst in einem erneuten Übergang
aber, nämlich der Rückkehr in die Heimatkultur, werden solche Veränderungen sichtbar
und bewusst. Die neu gebildete kulturelle Identität in Form von neuen Skripten,
Verhaltensweisen und Kognitionen passt nicht mehr zur Umgebung der Heimatkultur,
woraus Stress entstehen kann. Die Rückkehrer fi nden sich als solche in einer neuen
Outgroup innerhalb der Heimatkultur.
Selbstkonzeptstörungen und Identitätsveränderungen kommt also eine zentrale Rolle
bei Erklärung und Vorhersage des psychischen Erlebens der Reintegration zu.
Bewertung und Kritik: Sussmans Modell (2000) ist v.a. wegen der Beschreibung des
Zyklus´ und Identifi kation der Zeitpunkte, an denen Identität besonders virulent wird, für
mein Forschungsinteresse relevant.
In der Defi nition von kultureller Identität bleibt sie leider unpräzise, sie bemerkt
lediglich, kulturelle Identität sei ein kritischer, aber latenter Faktor des Selbstkonzepts,
ohne weiter auf strukturtheoretische Fragen einzugehen. Auch die Klassifi kation
möglicher Veränderungen scheint auf den ersten Blick klar und übersichtlich, ist aber ­
zumindest aus der Perspektive der Identitätsforschung ­ bei näherer Auseinandersetzung
unbefriedigend. Die Frage, welche Aspekte sich genau verändern, bleibt ebenso wie
das Zusammenspiel von kulturellen Identitätsaspekten und anderen Identitätsinhalten
unberücksichtigt.
Deutlich wird diese Beschränkung auch an ihrer Folgeuntersuchung zu Repatriierungs-
transitionen, in der das soeben erläuterte Modell getestet wird (Sussman, 2001). Hier
untersucht sie u.a. ,,cultural identity strength" und ,,cultural identity change", welches
Prädiktoren für ,,repatriation distress" sind. Modellkonform zeigt sich ein Zusammenhang
zwischen subtraktiver oder additiver Veränderung von kultureller Identität und höherem
Rückkehrstress.
Dabei erfolgte eine retrospektive Messung der Auslandsvariablen (Anpassung im
Gastland) und aktuelle Messung der Repatriierungsvariablen. Bei näherem Hinsehen
entpuppt sich die Aktualität als fragwürdig, da der Range der zwischen Rückkehr und
Reintegrationsforschung

16
Theoretischer Überblick
Erhebung verstrichenen Zeit von 1 bis 144 Monaten, mit einem Durchschnitt von 30
Monaten (2 1/2 Jahren), reicht. Ein weiterer Kritikpunkt ist Operationalisierung der Ver-
änderung der kulturellen Identität. Sie wird mit drei einzelnen Items gemessen: ,,In some
ways I feel less American than I did before my international assignment." (subtraktiv);
,,I feel more Japanese since my assignment" (additiv); ,,I feel that I`m a more global or
international person now." (interkulturell).
Die Unzulänglichkeit, mit dieser Methodik der Komplexität psychischen Erlebens
gerecht zu werden, räumt Sussman selbst ein; allerdings verbunden mit der Forderung
nach besseren quantitativen Messmöglichkeiten, aber auch nach qualitativen Methoden
wie z.B. Interviews oder Tagebuchstudien zur Untermauerung der theoretischen
Konstrukte der Veränderungstypen.
Trotz meiner Kritik an der oberfl ächlichen Behandlung von Identitätsfragen, sind
dies die einzigen empirischen Untersuchungen, in denen die Felder ,,kulturelle Identität"
und ,,Reintegration" entsprechend meinem eigenen Forschungsinteresse miteinander
verknüpft werden. Deshalb kann ich mich in der Planung der eigenen Untersuchung
an
den in Kap. II.1.2 und II.1.3 genannten identitätsrelevanten Faktoren orientieren
und in der Auswertung auf die Klassifi kation von möglichen Identitätsveränderungen
zurück kommen, wenn es sich sinnvoll aus den Daten ergibt. Da der Geltungsbereich für
Angehörige von individualistischen Kulturen angegeben ist, wo kulturelle Identität weder
zentral noch besonders wichtig ist (hier USA-Sample), ist es m.E. legitim, die Ergebnisse
auf Deutschland zu übertragen. Eine tiefe Skepsis, ob mit einem einzelnen Fragebogenitem
tatsächlich auch nur annähernd die subjektive Wahrnehmung der kulturellen Identität
erfasst werden kann, bestärkt mich darin, nach methodischen Alternativen zu suchen und
suchen zu müssen (s. Kap. III). - Nicht zuletzt deshalb, weil es mir um ein Verständnis
von Bewusstwerdungs- und Veränderungsprozessen geht.
1.5
Zusammenfassung
Reintegration ist ein bisher eher vernachlässigtes Gebiet der interkulturellen
Austauschforschung (Winter, 1996), vorherrschende Perspektiven betrafen überwiegend
die Resozialisation und Reakkulturation von Heimkehrern (Sussman, 1986).
Als theoretische Erklärungen zur Wiedereingliederungsproblematik werden die
kognitive Inkonsistenz zwischen Erwartungen und Vorgefundenem, der stressreiche
Transitionsvorgang als kritisches Lebensereignis, sowie die Herausarbeitung des Unter-
schieds zu allgemeinen Transitionserfahrungen (z.B. Kulturschock) angeführt.
Als Ergebnis meiner Literaturrezeption zeigt sich an Symptomen, die unter dem
Begriff des Rückkehrschocks gebündelt werden, dass Identitätsfragen hier eine Rolle
spielen. Da diese aber für ein identitätstheoretisches Interesse methodisch unzureichend
untersucht sind, kann sich die geplante Arbeit auf keine empirische Basis stützen.

17
2
Kultur und kulturelle Identität
Nachdem ich soeben die Rolle von kultureller Identität in einem klar umrissenen
Forschungsgebiet beleuchtet habe, wende ich mich nun einer genaueren Betrachtung der
Begriffe ,,Kultur" und ,,kulturelle Identität" zu.
2.1
Kultur
Auf der Suche nach einer passenden Defi nition von Kultur wird schnell deutlich,
wie infl ationär dieser Begriff gebraucht wird. Im Grunde genommen ist menschliches
Handeln ohne die Einbettung in kulturelle Kontexte nicht denkbar, geschweige denn
analysierbar. Umgekehrt wird bei der Berücksichtigung des situationalen Kontexts jeder
Interaktion alles zu Kultur, was auf einer individuellen Ebene Einfl uss hat oder haben
könnte. Ohne den allumfassenden Einfl uss von Kultur gering zu schätzen, bemerkt
Valsiner (2000) dazu, es gäbe so viele Bedeutungen des Kulturbegriffs, dass dabei dessen
Aussagefähigkeit verloren gehe. Wenn alles menschliche Handeln als kulturell deklariert
wird, verliere sich der wissenschaftliche Gehalt des Begriffs.
Kroeber & Kluckhohn (1963, zit. nach Boesch, 1991) haben in einer viel zitierten
Arbeit über 160 (!) Kulturdefi nitionen zusammen getragen. Zentrales Element aller
Aussagen lautet wie folgt:
Kultur besteht aus expliziten und impliziten Mustern, die durch Symbole von und für Verhalten
erworben und weitergegeben werden. Sie konstituiert die distinkte Leistung menschlicher
Gruppen, inklusive deren Verkörperung in Artefakten. Der essentielle Kern von Kultur
besteht aus traditionellen Ideen (z.B. historisch abgeleitet und ausgewählt) und besonders ihre
dazugehörigen Werte. Kulturelle Systeme können als Produkte von Handlung einerseits, oder als
konditionierende Elemente von zukünftiger Handlung andererseits gesehen werden. (Boesch,
1991, S. 29, Übersetzung und Hervorhebungen der Verfasserin)
Valsiner (2000) legt in seiner Defi nition den Akzent auf Kultur als Zeichensystem:
Die semiotische
9
Vermittlung ist Teil des Systems von organisierten psychischen Funktionen.
Diese Funktionen können intrapersonal (intrapsychische Prozesse einer Person, während sie
die Welt erfährt; z.B. fühlen, denken, erinnern, vergessen, planen etc.) sein oder interpersonal
(z.B. verschiedene Personen sind dabei sich zu unterhalten, streiten, sich zu überzeugen, sich zu
meiden etc.). Kultur im Sinne von semiotischer Mediation ist ein Werkzeug für zielorientiertes
Handeln von sozialen Institutionen, welche versuchen, die intra- und interpsychischen
Funktionen zu steuern. (Valsiner, 2000, S. 49, Übersetzung der Verfasserin)
Diese anthroplogische Sichtweise wird ergänzt durch das kognitive Element
des Gemeinsamen, die von einer Gruppe von Menschen geteilten ,,konzeptuelle[n]
Kultur und kulturelle Identität
9
Semiotik= Wissenschaft von den Zeichen, Ausdruck, Bedeutungslehre.

18
Theoretischer Überblick
Kernstrukturen, die die Basis bilden für eine intersubjektiv geteilte Repräsentation
der Welt, in der die Personen leben" (nach Valsiner, 2000, S. 50, Übersetzung der
Verfasserin).
Unter einer entwicklungspsychologischen Perspektive stellt Kultur einen
Einfl ussfaktor auf die Entwicklung des Individuums dar. In Bronfenbrenners Theorie
der ökologischen Systeme (1979, zit. nach Oerter, 1998) kommt die Kultur dem
allumfassenden Makrosystem gleich. Das Makrosystem als höchstes der Systeme kann
als die alle Individuen regulierende Gesamtkultur verstanden werden, bezieht sich aber
auch auf Ausschnitte der Kultur, v.a. auf das Werte- und Normsystem. So uniformiert das
Makrosystem als übergeordnetes System die anderen Systeme durch kulturell gemeinsame
organisierende Konzepte, die auch als Konsistenzen bzgl. der umgebenden Gesellschaft,
inkl. Glaubens-/ Ideologiesystem, beschreibbar sind (Bronfenbrenner, 1979, zit. nach
Valsiner, 2000). Dieser Ansatz, der Umwelten in abgestufte Systeme ordnet, erlaubt,
die Verbindungen zwischen verschiedenen Organisationsstufen der Person-Umwelt-
Beziehungen zu sehen. Je nach Organisationsebene kann Kultur demnach im engeren
Sinn als Nation,
10
Ethnie oder aber in einem sehr weit gefassten Verständnis defi niert
werden. Nach Letzterem können unterschiedlich große Gruppen eine Kultur bilden,
damit sind z.B. Unternehmenskulturen oder Subkulturen in der Defi nition von Kultur
eingeschlossen. Autoren, die im Sinne eines weit gefassten Verständnisses von Kultur
argumentieren, lenken den Blick auf Veränderung und Beeinfl ussung des Individuums
durch Kultur (Mecheril & Bales, 1994) oder soziokulturelle Verschiedenheiten als
potentiell kulturschaffende Gruppenzugehörigkeiten (Soraya, 1994).
Kultur als unabgeschlossenes, prozesshaftes System ist allerdings nicht statisch,
sondern ­ ähnlich wie Identität (s. Kap. II.3) ­ immer in Veränderung begriffen (vgl. z.B.
Atabay, 1995). In der Person-Kultur-Interaktion wirkt dieser Entwicklungsgedanke in
zwei Richtungen: Personen wirken auf ihre Umwelt ein und verändern sie, passen sich
ihr umgekehrt aber auch wieder an. Unter dem Einfl uss einer bestimmten Kultur auf
diese angehörenden Personen sollten kulturgebundene Persönlichkeitsmuster resultieren
(Schönpfl ug, 1987), diese werden unter dem Begriff der kulturellen Identität im nächsten
Abschnitt behandelt.
2.2
Kulturelle Identität
Mit dem Verständnis von Kultur als den Einzelnen beeinfl ussendes System sind also
Fragen von Identität, speziell kultureller Identität, bereits impliziert.
Die Defi nition von Oerter (1998) soll in ihrer Einfachheit als Arbeitsdefi nition für
kulturelle Identität gelten. Diese beinhaltet demnach all jene ,,Züge [der Identität],
die kulturspezifi sch sind, und auf diese Weise Persönlichkeiten, die der einen Kultur
angehören, von solchen anderer Kulturen unterscheidet" (Oerter, 1998, S.107).
Auernheimer (1997) merkt an, dass kulturelle Identität nicht gleich zu setzen oder zu
10
Eine Diskussion des Begriffs ,,Nation" mit seinen verschiedenen Bedeutungen fi ndet sich bei H. Kloss (1987).

19
verwechseln ist mit Prägung. Dies sei wichtig, da der Begriff der Prägung die Vorstellung
einer nicht revidierbaren Determination nahe legt. Weder ist Kultur etwas Starres
(sondern ist nur in dynamischer Weise als stets im Wandel zu begreifen), noch kann die
kulturelle Identität mit einer statischen Sichtweise erfasst werden (sondern nur ebenfalls
als dynamisch betrachtet werden). Persönliche Neuorientierungen, Transformationen und
Synthesen entstehen andauernd in der Konfrontation mit neuen Lebenssituationen und
Wertordnungen.
Generell entwickelt sich die kulturelle Identität eines Menschen auf zwei Wegen, und
zwar primär durch Enkulturation (die kulturelle Übertragung von der Erwachsenen- auf
die Kindergeneration) und sekundär durch Akkulturation (vgl. Oerter, 1998, S.90). Die
Akkulturation kann als eine Art sekundäre Enkulturation verstanden werden. Sie setzt
ein, wenn bereits durch Enkulturation eine kulturelle Identität erworben wurde und die
Kulturweitergeber Angehörige einer anderen Kultur sind. In der Situation von Menschen
im Ausland können ­ unter der Voraussetzung verändernder Prozesse ­ Akkulturations-
mechanismen wirken. Der Vorgang der Akkulturation ist selbstverständlich nur bedingt
übertragbar auf die Situation eines relativ kurzen Auslandsaufenthalts, wie ich im nächsten
Abschnitt (2.3.1) deutlich machen werde, indem zweckgebundene Auslandsaufenthalte
von Migration abgegrenzt werden.
Wenn kulturelle Identität als etwas nur latent Vorhandenes begriffen wird (vgl. auch
Sussman, Kap. II.1.4), stellt sich die für mein Forschungsinteresse zentrale Frage, wann
und wie Bewusstsein über die eigene Identität entstehen kann. Verschiedene Autoren
weisen darauf hin, dass gerade in der interkulturellen Begegnung die eigene kulturelle
Identität ins Bewusstsein tritt (vgl. Berg, 1994; Winter, 1999; Pfeiffer, 1995).
So bemerkt etwa Berg im Zusammenhang mit Jugendaustausch, dass Identitätsbildung
durch ,,Refl exion der eigenen Lebenssituation und des eigenen kulturellen Selbst-
verständnisses" (1994, S. 126) geschieht. Wie wohl jeder aus eigener Erfahrung be-
stätigen kann, rückt in internationaler Begegnung die nationale Identität der Teilnehmer
unweigerlich ins Bewusstsein, angestoßen durch Fragen wie ,,Woher kommst du?",
oder Zuschreibungen wie ,,Du bist die Frau aus Deutschland". Dannenbeck (2002),
der jugendliche Nutzer eines Freizeitheims in einem ,,multikulturellen" Wohnviertel
interviewte, beschäftigt sich in seiner Dissertation neben Fragen der Herkunft und
Zugehörigkeit, gelungenen und gescheiterten Legitimierungsstrategien, Nähe und Distanz,
mit der Bedeutung von Selbstverständnis und Fremdbeurteilung. Die Fragestellung dabei
ist folgende: Was veranlasst einen Menschen wann und warum dazu, aus einem Ensemble
an unterschiedlichen kollektiven Zugehörigkeiten eine ganz bestimmte (die ethnisch-
nationale) herauszugreifen und zum Maßstab des Umgangs mit anderen zu machen?
An diesen beiden Beispielen kann aufgezeigt werden, dass sich verschiedene
Perspektiven der kulturellen Identifi zierung unterscheiden lassen, nämlich Selbst-
verständnis und Fremdbeurteilung. Diese werden analog auch als Innen- und Außen-
perspektive bezeichnet, worauf ich in Kap. II.3.1 genauer eingehen werde.
In meiner Arbeit sollen Deutsche ­ in Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur
­ zu Aspekten ihrer eigenen Kultur befragt werden. Zwar könnte dann der Titel der
Kultur und kulturelle Identität

20
Theoretischer Überblick
Arbeit auch ,,nationale Identität" heißen, und danach wird auch explizit gefragt werden,
dennoch wird dem Begriff der kulturellen Identität der Vorrang gegeben, um eine größere
Offenheit zu bewahren. Schließlich ist die deutsche Zugehörigkeit auch wieder eingebettet
in größere Zusammenhänge wie Europa und den westlichen Kulturkreis (oder aber auch
subsumiert unter Zugehörigkeiten wie Berliner oder Münchner), so dass es denkbar ist,
dass sich Personen trotz ihrer deutschen Staatsangehörigkeit nicht primär als deutsch
defi nieren. Angesichts der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands ist dies
m.E. sogar sehr wahrscheinlich. Deutsche Identität kann sich wiederum unterscheiden,
ob die Person im Osten oder im Westen aufgewachsen ist. Auch hier haben wir es unter
einem weitgefassten Kulturbegriff mit zwei unterschiedlichen Kulturen zu tun. Diese
Unterscheidung wird für die geplante Arbeit aber keine Rolle spielen.
Gerade in der Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur rücken verschiedene
Zugehörigkeiten in den Blickpunkt. Inwieweit sich eine Person in Verbindung mit der
deutschen Identität auch mit anderen kulturellen Einfl üssen beschäftigt, soll mit einem
weit gefassten Verständnis von Kultur zu explorieren bleiben.
2.3
Verwandte Formen von Wanderung und Kulturwechsel
Bei den vorangegangenen Überlegungen zur Kultur und Kulturwechsel im Rahmen
einer zeitlich begrenzten Auslandserfahrung, fallen Ähnlichkeiten zu den benachbarten
Themenfeldern der Migration und des innergrenzlichen Wohnortwechsels ins Auge.
Um das Forschungsthema meiner Arbeit zu präzisieren, soll daher eine Abgrenzung von
diesen verwandten Formen von Wanderung vorgenommen werden.
Im Folgenden werde ich Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten herausstellen,
wobei Ableitungen in der Präzisierung der Fragestellung, sowie in Form von Fragen-
komplexen im Interviewleitfaden und Stichprobenkriterien in die Konzeption der Arbeit
eingehen werden.
2.3.1 Migrationsforschung: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Bei der vorliegenden Thematik handelt es sich um eine, wenn auch zeitlich begrenzte,
Wanderbewegung. Insofern liegt es nahe, sich an Beiträgen zur Migrationsforschung zu
orientieren. Aufgrund der Zeitperspektive (die Rückkehr ist schon vor der Abreise fest
geplant) lässt sich die Situation von Auslandsreisenden mit der von Migranten wenig
vergleichen. Durch die Gewissheit der Rückkehr und den meist klar defi nierten Zweck
des Aufenthalts stellen sich andere Anforderungen an das Individuum. Dennoch müssen
sich beide Gruppen in einer fremden Kultur im Alltag zurechtfi nden.
Valsiner (2000) weist auf die Ubiquität von Migration hin: ,,[...] migration of some
kind is a central part of human life" (ebd., S. 136). Historisch gesehen ist Migration ein
Motor für Anpassung, und insofern für Entwicklung. Obwohl oft unvermeidbar und oft
unerwünscht, hängt die Bewertung dabei auch von den Umständen oder der sozialen

21
Schicht ab. So ist z.B. der Tourismus ein (positiv bewertetes) sozial konstruiertes Be-
dürfnis der heutigen Zeit.
Migration kann in der Terminologie Bronfenbrenners als ökologischer Übergang
bezeichnet werden (Ruddat, 1994). ,,Ein ökologischer Übergang fi ndet statt, wenn eine
Person ihre Position in der ökologisch verstandenen Umwelt durch einen Wechsel ihrer
Rolle, ihres Lebensbereiches oder beider verändert" (Bronfenbrenner, 1981, S. 43,
zit. nach Ruddat, 1994). Insofern kann man den Auslandsaufenthalt als ökologischen
Übergang sehen, denn auch hierbei sind alle Lebensbereiche des Individuums verändert.
In ihrem umfassenden Eingriff in sämtliche Lebensbereiche ist Migration ein höchst
identitätsrelevanter Vorgang. Das Dilemma der Migration ist es, dass der eigentlich
gewünschte Erfolg im neuen Land gleichzeitig Angst weckt, vom eigenen Land- und
somit von der eigenen Identität entfremdet zu werden (Cropley & Lüthke, 1994). Das
dürfte aufgrund der festen Rückkehrabsicht beim zweckgebundenen Auslandsaufenthalt
nicht zutreffen, doch die Identitätsrelevanz ist gleichermaßen durch den ökologischen
Übergang gegeben. Insofern ist mein Vorhaben, Identität und Auslandsaufenthalt in
der Präzisierung der Forschungsfrage (wie in Kap. II.4 vorgenommen) zu verknüpfen,
gestützt.
Mecheril & Bales (1994) beziehen sich mit dem Label der ,,multikulturellen Person"
auf Migranten der 2. und 3. Generation, also Menschen, die in Deutschland ihre
Lebensmitte haben, selbst aber nicht unbedingt in der anderen Kultur aufgewachsen sind.
Diese erleben, indem sie dem Einfl uss zweier Kulturen ausgesetzt sind, Ambivalenz in
einer ganz besonderen Form, die als Art von Identitätsaufgabe bewältigt werden muss.
Eine ähnliche Ambivalenz in der Form von sich widersprechenden Handlungsstandards,
Normen und Werten ergibt sich auch für den Auslandsreisenden, somit liegt es nahe, dies
als Fragenkomplex in den Interviewleitfaden aufzunehmen (s. Kap. III.3).
In der deutschsprachigen Literatur sind Untersuchungen über nach Deutschland
immigrierte Ausländer vorherrschend, so dass es bei Aussagen über kulturelle Identität in
erster Linie um die nichtdeutsche Identität geht. Eine Ausnahme bildet die Untersuchung
von Lüthke (1989), der Deutsche, die nach Australien auswanderten, untersuchte. Vielfach
wird darauf hingewiesen, dass Migration immer selektiv ist (z. B. Cropley & Lüthke, 1994;
Lüthke, 1989). Trotz objektiv gleicher (schlechter) Lebensbedingungen wandert immer
nur ein geringer Bruchteil der Bevölkerung aus. Demnach entwickelt der Autor angelehnt
an den psychoanalytisch orientierten Ansatz von Balint (1972, zit. nach Cropley & Lüthke,
1994), ein ,,Modell der auswanderungswilligen Persönlichkeit". Persönlichkeitsvariablen
sollen zur Erklärung von Wanderung versus Sesshaftigkeit dienen. Er überprüfte die
Nützlichkeit dieses Ansatzes zur Erklärung der Auswanderungswilligkeit in Längs- und
Querschnitt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Entscheidung zur Auswanderung stärker
von persönlichen Merkmalen abhing als von ökonomischen, demographischen etc.
Faktoren. Persönlichkeitsmerkmale konnten auch Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit im
Auswanderungsland vorhersagen. Persönlichkeit, Bindungen und Beziehungen sind also
im Kontext einer Wanderung nicht zu vernachlässigende Größen und werden in Form
von entsprechenden Fragen im Interviewleitfaden (s. Kap. III.3) auch in der vorliegenden
Arbeit mitbedacht.
Kultur und kulturelle Identität

22
Theoretischer Überblick
Migrationsformen lassen sich nicht zuletzt danach unterscheiden, ob sie permanent
oder temporär sind. Einen zweckorientierten Auslandsaufenthalt als kurzfristige, zeitlich
begrenzte Migration zu konzipieren, wäre laut Lüthke (1989) verfehlt, denn es bestehen
andere Formen des ,,social commitments": Es existiert im Unterschied zur Migration
sozusagen die Verpfl ichtung gegenüber den Bezugsgruppen im Ursprungs- und im
Gastland, eines Tages, meist zu einem vorher feststehenden Zeitpunkt, in die Heimat
zurückzukehren.
Aus diesem Unterschied der sozialen Verpfl ichtung, in diesem Fall dem Gastland
gegenüber, leite ich den bedeutendsten Faktor für mein Forschungsvorhaben ab. Der
Gedanke der verpfl ichtenden Bezugnahme und des Einlassens wird die Auswahl zentraler
Stichprobenkriterien in Bezug auf Einbindungen und Dauer des Aufenthaltes leiten (s.
Kap. III.4.1).
Ein weiteres Konzept, welches ich aus der Migrationsforschung übernehme, dient der
Erläuterung von Unterscheidungsdimensionen von ,,Ausland": Der Abstand zwischen
Ursprungs- und Zielregion kann u.a. aufgefasst werden als geographische oder kulturelle
Distanz, welche jeweils subjektiv unterschiedlich wahrgenommen werden (Lüthke,
1989). Diese Dimensionen sind voneinander unabhängig. Am Beispiel von England
und Australien wird deutlich, dass große geographische Distanz mit geringer kultureller
Distanz einhergehen kann. Dagegen wäre der Unterschied zwischen West- und Ostberlin
zu Zeiten der Teilung Deutschlands ein Beispiel für eine hohe kulturelle Distanz bei
geringer geographischer Distanz. Die subjektiv unterschiedliche Wahrnehmung der
geographischen Distanz wird im Vergleich eines wenig Gereisten mit einem erfahrenen
Reisenden deutlich. Für das Differenzerleben des Einzelnen ist i.S. meiner Fragestellung
v.a. die subjektiv wahrgenommene kulturelle Distanz entscheidend, weshalb ich bei der
Festlegung der Stichprobenkriterien weniger Wert auf eine diese Kriterien betreffende
Vergleichbarkeit der Gastländer legen werde (s. Kap. III.4.1).
2.3.2 Wohnortwechsel als kritisches Lebensereignis: Unterschiede und
Gemeinsamkeiten
Ein anderes verwandtes Themenfeld, von dem der Kulturwechsel abgegrenzt werden
muss, ist der innerdeutsche Wohnortwechsel.
Auch hier ist (meistens) einer der Hauptunterschiede die Zeitperspektive, zum anderen
fi ndet kein Kulturwechsel statt, zumindest nicht, wenn man Kultur mit Nation gleichsetzt.
Dennoch kann man auch hier davon ausgehen, dass ein innerdeutscher Umzug ebenfalls
einen Einschnitt in viele Lebensbereiche impliziert.
Wohnortwechsel und Verlust der Ortsidentität werden häufi g als Beispiel für nicht-
normative Lebenskrisen angeführt (Fischer & Fischer, 1995). Ein derartiger Wechsel
schließt eine Vielzahl kognitiver, emotionaler und behavioraler Umweltbeziehungen
ein, seine Vielschichtigkeit und Langfristigkeit machen ihn zu einem Ereignis, das
krisenbehaftet sein kann. Es fi ndet, wie auch beim Kulturwechsel ein Ablösungs- und
Anpassungsprozess statt.

23
Ein Wohnortwechsel und damit einhergehende einschneidende Veränderungen können
aber auch die Chance zum persönlichen Wachstum beinhalten (Filipp, 1995). Indem er zur
Mobilisierung von Anpassungsreserven zwingt, kann damit prinzipiell eine Erweiterung
des Kompetenzreservoirs einhergehen. Filipp (1995) geht generell davon aus, dass
kritischen Lebensereignissen sowohl Risiken als auch Wachstumschancen durch deren
Bewältigung innewohnen.
Da wie eingangs erwähnt, auch dem Auslandsaufenthalt Entwicklungsmöglichkeit
und Chance zum persönlichen Wachstum bei gleichzeitig möglicher Krisenhaftigkeit
der Rückkehrphase (vgl. Kap. I.1.2) nachgesagt wird, sehe ich hier eine Gemeinsamkeit
der beiden Wanderungstypen. Daraus leite ich eine generelle Identitätsrelevanz von
Wanderung als Bestätigung meines Forschungsvorhabens sowie die Übernahme der
Konzeption von Risiken und Chancen aus dem Konzept der kritischen Lebensereignisse
für meine Arbeit ab.
3
Identitätstheorien
Die subjektive Relevanz von Identität in der interkulturellen Auseinandersetzung
wurde in den vorangegangenen Abschnitten bereits mehrfach angesprochen. Nachdem
ich den Begriff der Identität bisher ohne nähere Erläuterungen verwendet habe, sollen
im Folgenden allgemeine formal-strukturelle Überlegungen zu personaler und sozialer
Identität angestellt und die Stellung der kulturellen Identität innerhalb einer denkbaren
Struktur von Identitätsaspekten herausgearbeitet werden. Im Anschluss gehe ich auf
Fragen der empirischen Umsetzung ein. Danach wende ich mich dem sozialen Aspekt
von Identitätskonstruktionen zu, um abschließend einige Überlegungen zum ,,Fremden
und Eigenen" zum spezifi schen Thema der Differenz in meiner Arbeit anzustellen.
3.1
Personale und soziale Identität: Strukturtheoretische Überlegungen
Das Wort ,,Identität" wird in den Sozialwissenschaften in unterschiedlichen Zusam-
menhängen verwendet und oft verbergen sich dahinter ganz unterschiedliche Dinge.
Bei dem Versuch einer begriffl ichen Klärung und strukturellen Ordnung wird schnell
deutlich, dass gerade der Begriff der kulturellen Identität sehr unterschiedlich verwendet
wird. Unklar bleibt, bzw. es wird uneinheitlich defi niert, ob kulturelle Identität im
Sinne kollektiver Erfahrung als Teil der sozialen Identität gelte oder als qualitatives
Beschreibungsmerkmal der personalen Identität zugehörig sei.
Eine Ordnung erscheint daher für die vorliegende Arbeit unerlässlich, wobei v.a. die
Arbeiten von Frey & Haußer (1987) und Straub (2000) zur Orientierung dienen sollen.
Mit dem Begriff der personalen Identität wird die Einheit einer orientierungs-,
handlungs-, interaktions- und beziehungsfähigen Person bezeichnet. Dabei ist diese nicht
Identitätstheorien

24
Theoretischer Überblick
als statischer Zustand zu betrachten, die einmal erworben, der Person immer zueigen
ist, sondern Identität ist immer etwas Vorläufi ges, eher ein Prozess als Produkt, sie muss
erworben und erhalten werden. Die Dynamik der Struktur zeigt sich in der beständig
und
und
zu reproduzierenden Synthese des Vielen und Verschiedenen. Durch sozial vermittelte,
psychische Integrations- und Syntheseleistungen erhält das Individuum sein Selbstsein
aufrecht, insofern ist Identität die ,,fragile Einheit der ihr zugrundeliegenden Differenzen"
(Straub, 2000, S. 176).
11
Straub (2000) defi niert personale Identität als formaltheoretisches Konstrukt, worunter
die durch Kohärenz (moralischer, ästhetischer Maximensysteme und sozialer Rollen)
und (primär narrativ konstruierte) Kontinuität gewährleistete Einheit einer Person zu
verstehen ist. Erlebnisorientierter formulieren Mecheril & Bales (1994) personale Identität
als ,,Erfahrung meiner selbst" oder als ,,die Gewissheit, dass ich als der, der ich bin, bzw.
als die, die ich bin, existiere" (Mecheril & Bales, 1994, S. 43). Kohärenz ist dabei die
gegenwärtige Selbsterfahrung eines einheitlichen Zusammenhangs, die nicht lückenlos
als logische Widerspruchsfreiheit rekonstruierbar ist. Eine Person kann Kohärenz spüren
und erleben, obwohl sie scheinbar nicht Zusammenpassendes lebt und umgekehrt (Straub,
2000). Eine Kohärenzkrise zeichnet sich demnach durch die gegenwärtige Erfahrung von
Ambivalenzen, Spannungen, Widersprüchen aus (Mecheril & Bales, 1994).
Kontinuität bedeutet, sich als ein- und derselbe über die Zeit zu erfahren, und verweist
über die Zeit
über die Zeit
so auf die temporale Strukturierung der personalen Identität. Sie wird meist retrospektiv
anhand von narrativen Selbstthematisierungen in Bezug auf die Vergangenheit konstituiert,
verweist aber auch antizipatorisch in die Zukunft (Straub, 2000). Kontinuitätskrisen
manifestieren sich in der Erfahrung von Entwicklungssprüngen oder Brüchen (Mecheril
& Bales, 1994).
Obwohl der ,,Begriff personaler Identität [...] von Anfang an zentral für identitäts-
theoretisches Denken [war und...] alle subjekttheoretischen Entwürfe [verbindet]"
(Straub, 2000, S. 169), steht personale Identität hier nicht im Kontrast zur sozialen
Identität; denn der Mensch als soziales Wesen ist immer auf die soziale Vermittlung seiner
Identität angewiesen (vgl. auch Simon & Mummendey, 1997). In der Literatur suggeriert
die Unterscheidung zwischen ,,sozial" und ,,personal" aber die Gegensätzlichkeit dieser
Konzepte (Frey & Haußer, 1987), weshalb ein Versuch, kulturelle Identität einzuordnen,
schnell zu Verwirrung führt.
Frey & Haußer (1987) weisen auf die Begriffsverwirrung angesichts sozialer und
personaler Identität hin. Zur Klärung und Ordnung schlagen sie die explizite begriffl iche
Trennung von Außen- und Innenperspektive der Identifi zierung vor.
Die terminologische Trennung zwischen öffentlicher, sozialer Identität (Identifi zierung
einer Person durch andere; Außenperspektive) und personaler
Identität als Selbst-
Erfahrung (Identifi zierung einer Person durch sich selbst; Innenperspektive) übernehme
11
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der hier gewählte Ansatz von einer Identitätsentwicklung über die
Lebensspanne ausgeht (zu Identitätstransformationen im Erwachsenenalter vgl. Siegert & Chapman, 1987).

25
ich für die vorliegende Arbeit. Danach kann die kulturelle Identität, je nach Sichtweise,
dem sozialen und dem personalen Identitätsbereich einer Person zugeordnet sein. Ich
möchte sie allerdings hier primär als subjektverortet, d.h. aus einer Innenperspektive
heraus, verstanden wissen, wobei nicht vernachlässigt wird, dass auch eine Theorie
selbstrefl exiver Identität auf das Außen zurückgreifen muss, denn selbstverständlich
hängt beides miteinander zusammen.
Wie auch Mecheril & Bales (1994), unterscheidet Straub (2000) zwischen formaler
und qualitativer Ebene von personaler Identität. Obgleich diese Ebenen empirisch
getrennt voneinander untersucht werden können, gehören sie zum Verständnis von
personaler Identität zusammen.
Auf der formalen Ebene wird die Erfahrung von Kontinuität, Kohärenz und Konsistenz
untersucht (wobei Konsistenz für die Innenperspektive von psychischem Erleben von
untergeordneter Bedeutung ist). Hier wird Identität also als strukturtheoretischer Begriff
defi niert.
Auf der qualitativen Ebene werden inhaltlich unterschiedliche Defi nitionsräume von
Identität untersucht, welche soziokulturell und individuell verschieden (variabel) sein
können. Dazu zählen soziodemographische Aspekte, wie z.B. Alter oder Geschlecht, aber
auch weitere Aspekte, z.B. defi niert durch Gruppenzugehörigkeiten, Hobbys, politische
und sexuelle Orientierung etc.
Straub (2000) unterscheidet diese qualitativen Aspekte weiterhin hinsichtlich ihrer
individuellen Bedeutung als fundamental oder akzidentell, als persönlich wichtig oder
unwichtig, oder nach Lewinscher Terminologie auch als zentral oder peripher.
Im Sinne dieser Ausführungen ist kulturelle Identität (,,ich als Deutsche/r") der
qualitativen Identität zuzuordnen. Es handelt sich also um einen Aspekt aus einer Fülle
weiterer Merkmale, die das eigene Selbstverständnis bedingen.
In einem Versuch, die Aussagen von Straub (2000) und Frey & Haußer (1987) zu
vereinen, entsteht ein Gebilde, in dem die kulturelle Identität als Teil der qualitativen
Identität, sowohl einen personalen als auch einen sozialen Anteil hat. Gleichsam kann das
Subjekt sich ,,von innen" selbst betrachten (,,ich bin deutsch"= personal; ,,wir Deutschen"=
sozial) oder auch ,,von außen" gesehen werden (,,die Frau aus Deutschland"= personal;
,,die Deutschen"= sozial).
Graumann (1999) setzt in Bezug auf Mead soziale Identität mit kultureller Identität
gleich, und stellt fest, dass jede soziale Identität nicht nur interpersonal-interaktiv
eingebunden, sondern immer auch orts- und dingbezogen ist. Objekte der Identifi kation
können Personen, Dinge und Orte sein. Die Identifi kation erfolgt über Symbolisierung,
als Internalisierung von ,,Werte[n], die in ihrer Gesamtheit eine Kultur defi nieren" (ebd.,
S. 64). Identifi kation ist also immer wertbezogen und somit die Identifi kation mit der
jeweiligen Gesellschaft.
Identitätstheorien

26
Theoretischer Überblick
3.2
Empirische Untersuchung von Identität
Nachdem ich zur Einordnung kultureller Identität im vorangegangenen Abschnitt eine
Begriffsbestimmung der personalen Identität vorgenommen habe, wende ich mich nun
der Frage zu, wie Identität unter der Voraussetzung, sich ständig zu wandeln und nie
abgeschlossener Prozess zu sein, überhaupt empirisch untersuchbar sein kann.
In Auseinandersetzung mit einigen der insgesamt 4 ,,Ansatzpunkte einer empirisch
orientierten Identitätsforschung" Frey & Haußers (1987, S. 11-19) möchte ich aufzeigen,
welchen Beitrag meine Arbeit zu eben dieser möglicherweise leisten kann.
1. Die Verknüpfung persönlicher Identität mit identitätskritischen Lebenslagen.
Unter der Annahme, dass Identität da erforschbar ist, wo sie scheinbar nicht gelingt,
sind ,,individuelle Krisenlagen" (Frey & Haußer, 1987, S. 12), die nicht normiert in der
Biographie des Einzelnen mit unterschiedlicher Zeit, Häufi gkeit und Intensität auftreten,
prädestiniert für die empirische Untersuchung von Identität. Diese müssen nicht immer
bedrohlich, aber in ihrer Infragestellung der persönlichen Identität für die Person kritisch
sein. Die Rückkehr nach einem längeren Auslandsaufenthalt ist ein untersuchungsfähiges
identitätskritisches Ereignis, dessen subjektiv unterschiedliche Wahrnehmung in meiner
Arbeit untersucht werden soll. Folgende von Frey und Haußer formulierte Entwicklungs-
aufgabe trifft den Kern meiner Forschungsannahme für die Reintegration und damit
verbunden, möglicher Identitätstransformation: ,,Die Person muss prüfen, ob sie noch
dieselbe ist, was sich möglicherweise geändert hat, ob sie diese Änderung als Teil ihrer
neuen persönlichen Identität akzeptieren will und wie sie ihre neue Identität nach außen
vertreten und darstellen will" (ebd., S. 13).
2. Die empirische Beschreibung von Identität anhand ausgewählter Defi nitions-
räume.
Des Weiteren weisen Frey und Haußer (1987) qualitative Anteile der personalen
Identität als empirischen Zugang aus: ,,Innerhalb eines Defi nitionsraumes lässt
sich Identität empirisch fassen, und es können die Bedingungen und Prozesse ihrer
subjektiven Herstellung theoretisch sinnvoll analysiert werden." (ebd., S. 15) Neben
subjektiven Herstellung theoretisch sinnvoll analysiert werden."
subjektiven Herstellung theoretisch sinnvoll analysiert werden."
Alter, Geschlecht, Herkunft oder eben auch Nationalität, ist die kulturelle Identität
ein solcher Defi nitionsraum, in dem zugeschriebene, erworbene, und übernommene
Identitätsfaktoren untersucht werden können. Dabei interessieren folgende Fragen:
Wie defi niert sich eine Person als Deutsche/r? Welche Aspekte der deutschen Identität
hebt eine Person hervor? Welche Attribute nimmt sie an, welche lehnt sie ab? Welchen
Stellenwert hat die kulturelle Identität, und verändert sich dieser? ,,Die Prozesse der
Herstellung von [...] Teilidentitäten, die Selektion von Designata und die Herstellung
von Relationen zwischen ihnen, der Umgang mit Widersprüchen, kurz: die aktive
Gestaltung und Darstellung von Identität [...]" (ebd., S. 16) soll auch Gegenstand meiner
Untersuchung sein.

27
3. Die Analyse des dynamischen Prozesses der Herstellung und Darstellung von
Identität.
Aufgrund eines zu großen interessierenden Zeitraums ist eine wirkliche Analyse des
dynamischen Prozesses im Rahmen einer Diplomarbeit nicht möglich, denn sie würde
einen Längsschnitt erforderlich machen. Der Dynamik von Identitätskonstruktionen kann
höchstens in der punktuellen Analyse von Konstruktionsleistungen (z.B. die Integration
von Fremdem) Rechnung getragen werden. Dabei ist sinnvollerweise zwischen der
Außen- und der Innenperspektive von Identität zu unterscheiden, denn ,,Herstellen
und Darstellen von Identität heißt nichts anderes, als zwischen Außen und Innen, aber
auch zwischen Innen und Außen Relationen aufzubauen, wobei es wohl sinnvoll ist,
innerhalb der Innenperspektive zu differenzieren." (ebd., S. 17) Zur Unterscheidung von
innerhalb der Innenperspektive zu differenzieren."
innerhalb der Innenperspektive zu differenzieren."
Identitätsproblemen ist die jeweilige Perspektive entscheidend. So merken die Autoren
an, dass es sich bei der Relation von Außen- und Innenperspektive um Realitätsprobleme
handelt. Wenn es aber um die Relation zwischen verschiedenen Elementen der
Innenperspektive geht, gehören dazu Konsistenzprobleme, bei der Frage nach Stabilität
und Wandel dieser Elemente entsprechend um Kontinuitätsprobleme. In meiner Arbeit
erwarte ich v.a. Konsistenz- und Kontinuitätsprobleme als analysierbaren Zugang zu
Identitätsherstellungs- und Darstellungsleistungen.
3.3
Interaktionistische Identitätstheorien
In Identitätstheorien, welche die Bedeutung von Anderen für Identität besonders
hervorheben, ist die Interaktion mit signifi kanten Anderen, bzw. die Internalisierung
des generalisierten Anderen, basal für den Aufbau von Identität, zusammen mit der
Identifi kation mit Anderen und Anderem.
12
3.3.1 Krappmann: Balancierte Identität
In Anlehnung an Meads dialektische Konzeption des Selbst führt Krappmann (1978)
das Konzept der Identitätsbalance ein. Hiernach ist ,,Identität [...] eine ungesicherte
Qualität des Teilnehmers an sozialen Handlungsprozessen, die erworben und mit anderen
ausgehandelt wird, die man erstrebt oder die gegenseitig abverlangt wird, die erfolgreich
behauptet oder zerstört werden kann." (Krappmann, 1978, S. 132).
Identität wird also im Spannungsverhältnis der eigenen Bedürfnisse und der
Erwartungen anderer jeweils ausgehandelt. Damit stellt er sich in die Reihen der
Theoretiker, welche Identität als dynamischen Prozess verstehen. Die synchrone
Veränderbarkeit, d.h. die Veränderbarkeit der Identität von Situation zu Situation, wird in
diesem Ansatz betont:
Identitätstheorien
12
Weitere Autoren, die ­ im Kontext von Migration (vgl. Kap. II.2.3.1) ­ den interaktionistischen Charakter der
Identitätsbildung betonen, sind Mecheril & Bales (1994) sowie Cropley & Lüthke (1994).

28
Theoretischer Überblick
Denn je nach Situation werden wir anders angesprochen und anders gefordert, uns unserer
jeweiligen Rolle, Funktion oder auch nur unseren angenommenen Fähigkeiten und Neigungen
gemäß zu verhalten bzw. an der jeweiligen Interaktion zu beteiligen, und zwar nach den jeweils
dafür geltenden Normen und Regeln. (Graumann, 1999, S. 68)
Diskrepanzen in Form zeitlicher Merkmalsveränderungen (Wie kann ich noch ein und
derselbe sein, obwohl ich mich doch ständig verändere?) oder situativ unterschiedlicher
Verhaltensweisen (Wie kann ich ein und derselbe sein, obwohl ich mich in
unterschiedlichen Situationen, unterschiedlichen Rollen sehr unterschiedlich verhalte?)
können ausgehalten werden. Den Umgang mit diesen Diskrepanzen hat Krappmann als
Balanceleistung beschrieben (Frey & Haußer, 1987).
In Abgrenzung von Erikson (1973), der die Herausbildung von allgemein
konsensfähigen Moralprinzipien als grundlegend erachtet, betrachtet Krappmann die
Sicherung von Identität als Notwendigkeit dafür, dass Interaktion überhaupt möglich
wird: ,,Damit soziale Prozesse möglich werden, müssen die Beteiligten sich als identisch
Handelnde darstellen." (Krappmann, 1978, S. 133). Im Handlungsprozess verankert
sind Forderungen an das Individuum, nämlich (in der Terminologie Krappmanns) nach
Autonomie (sich zu den Erwartungen anderer in ein Verhältnis setzen zu können), nach
Konsistenz (frühere und andere Handlungsbeteiligungen nicht zu leugnen) und nach
Konsistenz
Konsistenz
Charakter (sich als jemand zu erweisen, der zu Vereinbarungen steht).
Charakter
Charakter
Für die Teilnahme an Interaktionen ist zum einen Identitätsbewusstsein und -dar-
stellung wichtig, also die Fähigkeit, die eigene Position zu erkennen und anderen
gegenüber darzustellen. Zum anderen ist neben Rollendistanz (Fähigkeit, sich nicht
Rollendistanz
Rollendistanz
vollständig mit einer sozialen Rolle zu identifi zieren) und Role-taking (erreicht durch
Role-taking
Role-taking
Empathie oder durch Perspektivenübernahme)
13
Ambiguitätstoleranz die wichtigste
Ambiguitätstoleranz
Ambiguitätstoleranz
identitätsfördernde Fähigkeit des Individuums. Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit,
widersprüchliche Anforderungen und Rollenerwartungen auszuhalten, Mehrdeutigkeit
und Rollenkonfl ikte ertragen zu können.
Diese zur identitätssichernden Teilnahme an Interaktion wichtigen Grundqualifi kationen
werden bereits in der frühkindlichen sozialisatorischen Interaktion in der Familie angelegt
(und nicht erst wie z.B. bei Erikson, 1973) in der Adoleszenz bzw. Pubertät).
Die Betonung des Prozesscharakters von Identität und die Idee der immer wieder
neu herzustellenden Balance sind die grundlegenden Charakteristika von Krappmanns
Theorie.
3.3.2 Objektbeziehungstheorien angewandt auf Identität
Nunner-Winkler (2000) weist auf einige Ungenauigkeiten bei Krappmann hin: Sie
erachtet u.a. inhaltliche Bindungen als notwendig für das subjektive Identitätsgefühl.
Unter Bezugnahme auf Margaret Mahlers Theorie der Objektbeziehungen betont sie
13
Unter Perspektivenübernahme versteht Krappmann (1978) die Antizipation oder Vorwegnahme der Rollenerwartungen
anderer.

29
Bindung, welche des Objektbezugs (z.B. Personen, Werte, Projekte) als ein konstitutives
Moment von Ich-Identität bedarf.
Identitätssicherung, Objektkonstanz, und Autonomie bilden sich zwar in den ersten
Lebensjahren, sind aber nicht abgeschlossen, sondern beeinfl ussen als lebenslange
Herausforderungen das Verhalten und Erleben des Erwachsenen. Nach Mahler (zit. nach
Lüthke, 1989), die sich mit Bindung und Loslösung in Bezug auf Objektbeziehungen
beschäftigt, können Objekte sämtliche belebten oder unbelebten Erscheinungen sein, die
von einer Person affektiv besetzt sind. Im Kontext eines Auslandsaufenthalts wären dies
etwa Landschaft, Sprache, Kultur, Menschen, Gegenstände (Lüthke, 1989).
Nicht zuletzt handelt es sich bei Bindung um ein lebensbegleitendes, allgemeines
Phänomen. Die Untersuchung des Verhältnisses zu signifi kanten Anderen während des
Auslandsaufenthalts und der Reintegration kann also, neben Strukturmerkmalen (s. Kap.
II.3.1) von Identität, mit der Objektbeziehungstheorie ergänzt werden.
3.3.3 Identitätstheorien angewandt auf den Forschungsgegenstand
der interkulturellen Erfahrung
Wenn es um die Frage geht, worin genau die von Identitätstheoretikern wie z.B.
Straub (2000; vgl. Kap. II.3.1) geforderten Leistungen zur Einheit bestehen, d.h. wie das
Individuum zunächst Fremdes integriert bzw. Nicht-Zusammenhängendes aushält in dem
Bemühen, ein Gefühl der Einheit zu erreichen, dann ist es spannend, Identitätsprozesse
unter einer Perspektive zu untersuchen, die sich durch besondere Akzentuierung von
Differenz und Heterogenität auszeichnet. In meiner Bündelung der Forschungsgebiete
Identität und Kultur ist mit dem Auslandsaufenthalt eine Situation von kultureller
Differenz gegeben, in der Syntheseleistungen des Individuums sichtbar und analysierbar
werden sollten.
Abgeleitet aus den oben dargestellten Identitätstheorien können im Zusammenhang mit
den konkreten Erfahrungen im Ausland und bei der Rückkehr folgende identitätsrelevante
Themenbereiche untersucht werden: Identitätsbildung, -akzentuierung und -veränderung
in sozialen Interaktionen, Anpassung an die Erwartungen anderer und somit Veränderung,
Erleben von Konsistenz und konsistentes Handeln in verschiedenen Situationen sowie
der Umgang mit stereotypen Zuschreibungen bzgl. Eigen- und Fremdkultur.
Da im Zusammenhang mit Auslandsaufenthalten auch immer von Persönlichkeitsverän-
derungen die Rede ist, orientiere ich mich mit Krappmann (Kap. II. 3.3.1) an einem Ansatz,
der von einer Identitätsentwicklung über die Lebensspanne ausgeht, denn sein Konzept
der interaktiven Aushandlung impliziert die Möglichkeit zur Identitätsänderung.
Im Rahmen von Krappmanns Theorie der balancierten Identität sind die folgenden
Überlegungen zum Umweltaspekt relevant. In der Konzeption des gesamten Zyklus gibt
es zwei verschiedenen Umwelten, an deren Erwartungen sich das Individuum orientieren
muss: zum einen besteht sie während des Auslandsaufenthalts aus Angehörigen der
Gastkultur, zum anderen nach der Rückkehr aus Angehörigen der eigenen, bekannten
Kultur. Wie in Kap. II.1.2 dargelegt wurde, stellen die Erwartungen der Umwelt
Identitätstheorien

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2005
ISBN (eBook)
9783836626217
Dateigröße
1.4 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Berlin – Geisteswissenschaften, Psychologie und Arbeitswissenschaft
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,0
Schlagworte
identität auslandsaufenthalt reintegration grounded theory kulturschock
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Titel: Identität und kulturelle Differenz
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