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Das fremde China

Xenologische und kulturtheoretische Kritik des deutschsprachigen Diskurses über China und chinesische Kultur zwischen 1949 und 2005

©2008 Doktorarbeit / Dissertation 228 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die vorliegende Arbeit hat die Darstellung des Fremden in ihrer Entwicklungstendenz durch Beispiele der Chinaforschung in Deutschland mit den Sichtweisen der Forscher, den Diskursen und Methoden in der Vergangenheit und Gegenwart zusammengestellt und diskutiert. Im Rahmen dieser Arbeit wurden Fremdheitsprofile Chinas, der Chinesen und der chinesischen Kultur in der deutschen Forschungsliteratur (im weitesten Sinne) untersucht.
In der Forschung über China sind verschiedene kulturrelativistische und kulturalistische Ansätze verbreitet, die zwar fruchtbare Möglichkeiten bieten, sich China als fremder Kultur zu nähern, jedoch sollten nach Meinung der Verfasserin Kultur bezogene Erklärungen gesellschaftlicher (politischer oder ökonomischer) Vorgänge nicht überschätzt werden. Die Darstellungen Chinas als fremdes Land sind meist xenophob oder xenophil motiviert. Während sich die Chinaforschung mit chinesischer Kultur beschäftigt, findet kaum eine theoretische Reflexion über den Begriff Kultur statt. Ebenso wenig, wie über den Begriff der Kultur reflektiert wird, findet in der Forschung eine Reflexion über die Forschungsmethoden statt, besonders den Kulturvergleich und das Kulturverstehen. Traditionell wurde ein Kulturvergleich oft in der Weise vorgenommen, dass das Chinabild als positives oder negatives Gegenbild zum Westen entworfen wurde. Diese Kontrastierung wird der Wirklichkeit Chinas nicht gerecht. Auch wenn diese Kontrastierung des Westens mit einem einseitgen, entweder positiven oder negativen Chinabild heute durch vielfältige andere Chinadarstellungen ergänzt wird, ist es nötig, sich über den Kulturvergleich Gedanken zu machen. Wie dies aussehen könnte, wurde in der vorliegenden Arbeit gezeigt. Das Ziel der Forschung sollte sein, die Möglichkeiten des Kulturverstehens - sowohl der fremden als auch der eigenen - zu erweitern. Zu diesem Zweck sollte in der kulturtheoretischen Fremdheits- bzw. Chinaforschung eine verstärkte Reflexion über Begriff und Konzept des Kulturverstehens stattfinden, aber auch die Reflexion über das Spannungsverhältnis von Eigenem und Fremdem könnte in der Forschung noch vertieft werden. Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
Inhalt3
Einleitung8
1.Absicht und Methode der Arbeit8
1.1Gegenstand und Ziel der Untersuchung8
1.2Das Textkorpus9
1.3Aufbau und Gliederung der Arbeit11
1.4Zur Methode der Untersuchung13
2.Forschungsbericht: China als fremdes Land und fremde Kultur14
2.1Chinaforscher […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Yuxin Chen
Das fremde China
Xenologische und kulturtheoretische Kritik des deutschsprachigen Diskurses über China
und chinesische Kultur zwischen 1949 und 2005
ISBN: 978-3-8366-2617-0
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2009
Zugl. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland, Dissertation /
Doktorarbeit, 2008
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http://www.diplomica.de, Hamburg 2009

3
Danksagung
Die vorliegende Untersuchung ist aus meinem Interesse an den kulturvergleichenden
Forschungen über China als fremdes Land in deutschsprachiger Literatur heraus ent-
standen. Als Dissertation im Fach Sinologie hat die vorliegende Arbeit bei der Unter-
suchung auch einen interdisziplinären Charakter, der von den Studien der Verfasserin
in den Fächern Interkultureller Germanistik, Politikwissenschaft, Religionswissen-
schaft und Philosophy & Economics profitiert hat.
Prof. Dr. Alois Wierlacher, Initiator der (inter)kulturellen xenologischen Forschung
hat mich auf das Thema aufmerksam gemacht. Für seine Betreuung während des Ma-
gisterstudiums und während der Anfangsphase des Promotionsstudiums an der Uni-
versität Bayreuth ist die Verfasserin zum tiefsten Dank verpflichtet.
Mein herzlichster Dank gilt Herrn Prof. Dr. Wolfgang Kubin am Lehrstuhl Sinologie
der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Seine Übernahme der Gutachterschaft ermöglicht das Fortsetzen der Promotion der
Verfasserin. Ohne seine Betreuung aus Sicht wissenschaftlicher China-Forschung hät-
te der vorliegenden Arbeit, die sich als einen Beitrag für China-Forschung verstehen
wollte, an sinologischer Grundlage gefehlt.
Dem Freistaat Bayern danke ich für die finanzielle Unterstützung des Magisterstu-
diums.
Ohne die Unterstützung meiner Familie wäre die langjährige Studienzeit nicht mög-
lich gewesen.
Bonn, 2009
Yuxin Chen

4
,,Wenn Frau Kulicke auf der Treppe einem Chinesen begegnet, dann kommt sie
ganz aufgeregt nach Hause und erzählt: ,Wohnt eigentlich ein Chinese im Haus?
Eben bin ich auf der Treppe...'
Da klingelt es. Sie öffnet: der Chinese. Um Gottes
willen! Was -? Der Chinese möchte ein Zimmer mieten. Etwas misstrauisch lässt
sie ihn herein, der Chinese sieht das Zimmer an, es gefällt ihm [...]
­
er mietet, er
zieht ein. Der Chinese wird ein unerschöpfliches Gesprächsthema. Der Chinese
vertritt für Frau Kulicke China. Ungeahnte Möglichkeiten erwägt sie in ihrem Hirn,
Opiumhöllen, ausgerissene Seeräuberzöpfe, kleine Geishas (die liegen bei Frau
Kulicke in der chinesischen Schublade), aber inmitten dieses asiatischen Brodelns
ist eines sicher: China und dieser Chinese
­
das ist ein und dasselbe. Und Frau
Kulicke ist nur eins von hunderttausend Exemplaren: jeder Fremde vertritt für die
meisten Menschen sein ganzes Land, seine Regierung und seinen Fürsten. [...]
Und keiner kommt auf den naheliegenden Gedanken, dass der Fremde zu Hause
genau so ein unnützes, beiseite geschobenes Ding sein könnte wie der Betrachter,
dass sich sein Staat so wenig aus ihm macht wie der unsre aus uns [...] Und je
ohnmächtiger die Einheimischen sind, desto größere Fähigkeiten trauen sie dem
fremden Mann zu."
(Kurt Tucholsky (1975): Der Fremde. In: ders.: Gesammelte Werke in 10
Bänden, Bd. 3. 1921-1924. Hg. v. Mary Gerold-Tucholsky/Fritz J. Raddatz. Reinbeck 1975, S. 450 f.)

5
Inhalt
Einleitung ... 8
1. Absicht und Methode der Arbeit ... 8
1.1 Gegenstand und Ziel der Untersuchung ... 8
1.2 Das Textkorpus ... 9
1.3 Aufbau und Gliederung der Arbeit ... 11
1.4 Zur Methode der Untersuchung ... 13
2. Forschungsbericht: China als fremdes Land und fremde Kultur ... 14
2.1 Chinaforscher in der Geschichte ... 16
2.2 Chinaforscher in der Gegenwart ... 19
2.3 Die Sinologie ... 21
2.4 Die außeruniversitäre institutionelle Chinaforschung ... 25
2.5 Chinabilder in den Massenmedien ... 27
2.6 China-Reiseführer ... 31
2.7 Kulturtheoretische Kritik der Forschung ... 33
1. Kapitel: Dokumentation. Fremdheitsprofilierungen Chinas in verschiedenen
Diskursen zwischen 1949 und 2005 ... 37
1.1 Historischer Rückblick: Vorstellung über China als Fremde in der Geschichte 37
1.2 Chinaprofilierungen zwischen 1949 und 2005 ... 38
1.2.1 Zeit übergreifende Profile ... 38
1.2.2 Zeitspezifische Profilierungen ... 39
1.2.2.1 Von der Gründung der Volksrepublik bis Ende der 1960er Jahre ... 39
1.2.2.2 1970er bis Anfang der 1980er Jahre ... 40
1.2.2.3 Anfang der 1980er Jahre bis 1989 ... 41
1.2.2.4 1990 bis 1997 ... 42
1.2.2.5 Nach 1997 ... 43
1.2.2.6 Aktuelle Diskussionen ... 45
1.2.3 Profilierung in der gegenwärtigen Chinaforschung: Interessen und Themen
... 47
1.2.3.1 Politische China-Profilierung ... 51
1.2.3.1.1 Politisch-strategische China-Analysen... 51
1.2.3.1.2 Über das Dilemma zwischen politischen und wirtschaftlichen
Interessen... 53
1.2.3.1.3 Über die Situation der Menschenrechte ... 56

6
1.2.3.1.4 Über die Situation der Rechtsstaatlichkeit ... 58
1.2.3.1.5 Über die ,,Angemessenheit" der ,,westlichen Demokratie" und der
Menschenrechte für China ... 61
1.2.3.1.6 Über die Möglichkeit und Perspektive einer ,,chinesischen
Demokratie" ... 62
1.2.3.1.7 Traditionalismus und Nationalismus in China ... 67
1.2.3.2 Ökonomische China-Profilierung ... 69
1.2.3.2.1 Wirtschaftliche Interessen an China... 70
1.2.3.2.2 Volkswirtschaftliche Analyse ... 73
1.2.3.2.3 Über den Einfluss von Chinas Erfolg auf Deutschland bzw. den
Westen ... 75
1.2.3.2.4 Regionale Ungleichheit statt Ganzheit ... 76
1.2.3.2.5 Wirtschaftspolitische Analyse ... 77
1.2.3.2.6 Markterschließung, Investitionsberatung und Management-
Training ... 85
1.2.4 China in der kulturwissenschaftlichen Forschung ... 94
1.2.5 Kulturanthropologische Profilierung: ,,die Chinesen" ... 96
1.2.5.1 Zum chinesischen ,,Volkscharakter" ... 98
1.2.5.2 ,,Die heutigen Chinesen" ... 101
1.2.5.3 ,,Ethnische Chinesen" - ein neuer Diskurs gewinnt an Bedeutung ... 104
2. Kapitel: Xenologische Kritik an den Vorstellungen von China als kultureller
Fremde... 107
2.1 Grundlegende xenologische Annahmen ... 107
2.2 China als das ,,Fremde" und das ,,Eigene" in den Fremdheitsprofilen ... 111
2.2.1 Rätselhafte Fremde und xenophobe Profilierungen ... 111
2.2.2 ,,Schöne Fremde" ... 112
2.2.3 ,,Das Fremde als das aufgefasste Andere" ... 114
2.2.4 Das Fremde und das Eigene ... 116
3. Kapitel: Kritik an den kulturtheoretischen Vorstellungen von China als fremder
Kultur ... 123
3.1 Vorstellungen von chinesischer Kultur in den Fremdheitsprofilen ... 123
3.2 Umarbeitung chinesischer Kultur in konsistente Orientierungsmuster für die
interkulturelle Wirtschaftskommunikation ... 125
3.3 Eindeutige und widerspruchsfreie Entitäten und ,,kultureller Kern" ... 128
3.4 Traditionalistische Klischees statt Dynamik und Wandel ... 129

7
3.5 Chinesische Kultur: Selbstgärung ohne Umwelt?... 136
3.6 Einheit statt Vielfalt der chinesischen Kulturen... 137
3.7 Universalität versus Partikularität der kulturellen Merkmale ... 138
4. Kapitel: Kulturrelativistische und kulturalistische Ansätze in den
Fremdheitsprofilierungen ... 141
4.1 Kulturrelativismus ... 141
4.2 Kulturalismus ... 148
4.3 Überlegungen zum Kultur vergleichenden Profilieren der Fremde ... 154
4.3.1 Analyse konkreter Beispiele: ,,Gesicht", ,,Beziehung" etc. ... 154
4.3.2 Theoretische Überlegungen zum Kulturvergleich ... 167
4.3.2.1 Übersetzbarkeit und kontextuelle Rekonstruktion ... 169
4.3.2.2 Stereotypenforschung ... 170
4.3.2.3 ,,Interkulturalität" statt ,,Interkollektivität" ... 172
4.3.2.4 Gegenstand des Kulturvergleichs: Differenzen, Gemeinsamkeiten und
,,Kulturbegegnungen" ... 174
4.3.2.5 ,,Kulturthemen" - Phänomenologie des Kulturvergleichs ... 178
4.3.2.6 Motive, Zielsetzung und Anspruch ... 183
5. Kapitel: Kulturverstehen ­ Erkenntnisse über fremde Kulturen und Länder aus
Fremdheitsprofilierungen ... 186
5.1 Epistemisches aus der Fremdkulturfoschung ... 186
5.2 Interkulturelle Hermeneutik ... 187
5.2.1 Hermeneutische Forschung ... 187
5.2.2 Hermeneutik und Xenologie: Verstehen und Interpretation der Fremde .. 188
5.2.3 Hermeneutik der Interkulturalität ... 194
6. Kapitel: Ergebnisse und Zusammenfassung ... 206
7. Quellen- und Literaturverzeichnis... 211

8
Einleitung
1. Absicht und Methode der Arbeit
1.1 Gegenstand und Ziel der Untersuchung
Eine auf Erkenntnis und auf Verständigung angelegte Beschäftigung mit kultureller
Andersheit ist in der heutigen Zeit unverzichtbar geworden. Immer häufiger finden im
Kontext der Globalisierungsprozesse die Begegnungen von Menschen unterschiedli-
cher Kulturen, ihrer Sprachen und Traditionen schon in ihrer alltäglichen Lebenswelt
statt. Entsprechend wächst der Bedarf an solidem Wissen über fremde Kulturen. Um
dieses Wissen bereitzustellen, wurde insbesondere von Corinna Albrecht, Dietrich
Krusche und Alois Wierlacher eine kulturwissenschaftliche Fremdheitsforschung
(Xenologie) entwickelt. Ich verweise auf Wierlachers ,,Kulturthema Fremdheit"
(1993), auf die zahlreichen nachfolgenden Darstellungen, unter anderen im Jahrbuch
Deutsch als Fremdsprache, sowie auf das von Alois Wierlacher und Andrea Bogner
herausgegebene ,,Handbuch interkulturelle Germanistik" (2003) und die zusammen-
fassende Darstellung der kulturwissenschaftlichen Xenologie durch Corinna Albrecht
und Alois Wierlacher im Sammelband der Amerikanisten Ansgar und Vera Nünning
,,Konzepte der Kulturwissenschaften" (2003).
Statt des zu erwartenden und gängigen Begriffs des ,,Chinabildes" wird hier der Be-
griff Fremdheitsprofil bevorzugt: ,,Bilder" fremder Länder als Profilierungen entste-
hen nicht beiläufig, sondern aufgrund der Wahrnehmung dessen, was man als fremd
auffasst
1
; Dietrich Krusche hat es deshalb ,,Fremdheitsprofil" genannt.
2
Im Folgenden
geht es um solche Fremdheitsprofilierungen in Bezug auf die gegenwärtige chinesi-
sche Kultur.
Das Ziel der Arbeit ist die Kritik an den China-Diskursen und an den Ansichten über
China in der wissenschaftlichen Chinaforschung und Ratgeber-Literatur aus xenologi-
1
Siehe Corinna Albrecht (1997): Der Begriff der, die, das Fremde. Zum wissenschaftlichen Umgang
mit dem Thema Fremde. Ein Beitrag zur Klärung einer Kategorie. In: Yves Bizeul/Ulrich Bliese-
ner/Marek Prawda (Hg.): Vom Umgang mit dem Fremden. Hintergrund ­ Definitionen ­ Vorschläge.
Weinheim/Basel , S. 80-93, S. 86 ff.
2
Vgl. Dietrich Krusche (1983): Das Eigene als Fremdes. Zur Sprach- und Literaturdidaktik im Fach
Deutsch als Fremdsprache. In: Neue Sammlung 23, S. 27-42, S. 27 ff.

9
scher und kulturtheoretischer Sicht. Diese Forschung bzw. Literatur ist infolge ihrer
Disziplinen und Institutionen übergreifenden Charakteristik disziplinär und institutio-
nell zuzuordnen.
3
Das Ziel der Arbeit soll in der Beantwortung der leitenden Fragestellungen erreicht
werden: Wie wird das fremde China profiliert? Welche kulturelle Dimension wird po-
litischen, welche wirtschaftlichen Themen zugeschrieben? Welche Annahmen in der
Auffassung über China als Fremde und über die chinesische Kultur lassen sich erken-
nen?
1.2 Das Textkorpus
Die für die vorliegende Arbeit ausgewählten Texte, die China als fremdes Land und
fremde Kultur profilieren, sind vor allem Veröffentlichungen zur Chinaforschung mit
Schwerpunkt auf die sich als Ratgeber verstehende Literatur zwischen 1949 und 2005.
Neben Literatur spielen Auslandsberichte der Presse und Medien bei der Vermittlung
von China-Bildern in der deutschen Öffentlichkeit eine Rolle. Von den Veröffentli-
chungen machen vor allem politische, wirtschaftliche und kulturelle Analysen den do-
kumentierenden Teil der Arbeit aus. Im Kapitel 1.2.3 über Interesse und Themen der
China-Profilierungen wird die thematische Wahl des Textkorpus näher erläutert.
Die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit bilden zahlreiche interdisziplinäre xeno-
logische und kulturtheoretische Untersuchungen, darunter von der Interkulturellen Ge-
rmanistik zum Thema Fremdheit, Kultur, Hermeneutik
4
und das Konzept von Wierla-
3
Zur Forschung über die Chinaforschung vgl. Günter Schucher (1999): Chinawissenschaft an deutsch-
sprachigen Hochschulen. Ein institutioneller Überblick. In: Helmut Martin/Christiane Hammer (Hg.):
Chinawissenschaften ­ Deutschsprachige Entwicklungen. Geschichte, Personen, Perspektiven. Ham-
burg, S. 314-331, S. 322.
4
Vgl.: Alois Wierlacher (Hg.) (1993a): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kul-
turwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. Mit einer Forschungsbibliographie von Corinna Albrecht et
al. München; Alois Wierlacher/Corinna Albrecht (1995): Fremdgänge. Eine anthologische Fremdheits-
lehre für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Bonn; Alois Wierlacher (1996b): Internationalität
und Interkulturalität. Der kulturelle Pluralismus als Herausforderung der Literaturwissenschaft. Zur
Theorie Interkultureller Germanistik. In: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hg.): Wie international
ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: Kultu-
relle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950-
1990). Stuttgart/Weimar, S. 550-590; Alois Wierlacher/Corinna Albrecht (2003): Kulturwissenschaftli-
che Xenologie. In: Ansgar Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart, S. 280-306.

10
cher und Albrecht zur kulturwissenschaftlichen Xenologie.
5
Als weitere wichtige kul-
turtheoretische Grundlage werden vor allem die Konzepte des Kulturwissenschaftlers
Hermann Bausinger, des Soziologen Joachim Matthes, des Amerikanisten Klaus P.
Hansen und des bereits oben genannten Alois Wierlacher zum Kulturbegriff und Kul-
turvergleich herangezogen.
6
In den kulturtheoretischen Auseinandersetzungen mit
den China-Darstellungen folgt die Verfasserin chinawissenschaftlichen Forschungen
wie denen des Politikwissenschaftlers Tim Trampedach
7
, des Ostasienwissenchaftlers
Heiner Roetz
8
, des Politikwissenschaftlers Jürgen Domes
9
, der Ostasienwissenschaft-
lerin Anja Osiander und des Sinologen Ole Döring
10
sowie des Sinologen und Philo-
sophen François Jullien
11
.
5
Vgl.: Wierlacher/Albrecht, 2003; ferner Alois Wierlacher (1993b): Kulturwissenschaftliche Xenolo-
gie. Ausgangslage, Leitbegriffe und Problemfelder. In: ders. (Hg.): Kulturthema Fremdheit. Leitbegrif-
fe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. Mit einer Forschungsbibliographie
von Corinna Albrecht et al. München, S. 19-112.
6
Zum Kulturbegriff vgl. Wierlacher, 1996b, S. 559 ff. und Hermann Bausinger (1975): Zur Problema-
tik des Kulturbegriffs. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 1, S. 7-16, S. 7 ff.; zum Kulturvergleich:
Joachim Matthes (1992): The Operation Called ,,Vergleichen". In: ders. (Hg.): Zwischen den Kultu-
ren? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. (Soziale Welt. Sonderband 8)
Göttingen, S. 75-99; zum Kulturbegriff und den Kulturwissenschaften: Klaus Peter Hansen (1995):
Kultur und Kulturwissenschaften ­ Eine Einführung. Tübingen/Basel; Klaus Peter Hansen (2000): Kul-
tur und Kulturwissenschaften. 2. Auflage, Tübingen.
7
Vgl. Tim Trampedach (1999): Bilder vom Fremden: Die Deutschen und China. In: Helmut Mar-
tin/Christiane Hammer (Hg.): Chinawissenschaften ­ Deutschsprachige Entwicklungen. Geschichte,
Personen, Perspektiven. Hamburg, S. 81-97.
8
Vgl. Heiner Roetz (1998): Die traditionelle chinesische Philosophie ­ eine mögliche Grundlage der
Menschenrechte. In: Gregor Paul: Die Menschenrechtsfrage. Diskussion über China ­ Dialog mit Chi-
na. Ein wissenschaftliches Symposium. Göttingen, S. 19-38; Roetz, Heiner (1999): Aus Albert Schweit-
zers Nachlaß: Die ,,Geschichte des indischen und chinesischen Denkens". In: Helmut Mar-
tin/Christiane Hammer (Hg.): Chinawissenschaften ­ Deutschsprachige Entwicklungen. Geschichte,
Personen, Perspektiven. Hamburg, S. 528-545.
9
Vgl. Jürgen Domes (1997): Die Volksrepublik China im Spiegel deutscher Wissenschaft. In: Helmut
Martin/Maren Eckhardt (stellen den Reader zusammen): Zur Geschichte der Chinawissenschaften.
Ausgewählte Quellentexte aus dem deutschsprachigen Raum. Generelle Darstellungen, Institutionenge-
schichte, Wissenschaftler ­ Biographien und Bibliographien. Bochum, S. 1-8.
10
Vgl. Anja Osiander/Ole Döring (1999): Zur Modernisierung der Ostasienforschung. Konzepte,
Strukturen, Empfehlungen. Hamburg; Ole Döring (1997): Technischer Fortschritt und kulturelle Werte
in China. Humangenetik und Ethik. Hamburg; Ole Döring (1999): Zwischen Kulturalismus und Globa-
lisierung ­ die Sinologie am Scheideweg? In: Helmut Martin/Christiane Hammer (Hg.): Chinawissen-
schaften ­ Deutschsprachige Entwicklungen. Geschichte, Personen, Perspektiven. Hamburg, S. 63-80.
11
François Jullien (2002): Der Umweg über China. Ein Ortswechsel des Denkens. Aus dem Französi-
schen von Mira Köller. Berlin.

11
1.3 Aufbau und Gliederung der Arbeit
-
Im ersten Kapitel werden ausgewählte Fremdheitsprofilierungen in deutsch-
sprachigen Chinaforschungen dokumentiert. Diese Betrachtung ist zeitlich in
verschiedene Perioden gegliedert und konzentriert sich auf einige Schwerpunk-
te in der Gegenwartsforschung. Diese Schwerpunkte sind: politische Themen
(Menschenrechte, Demokratie), Themen der Wirtschaftskommunikation ein-
schließlich Managementtraining sowie Kulturanalyse (Kulturtradition, Kul-
turmerkmale). Wenn dabei von ,,Kultur" die Rede ist, wird der weite Kultur-
begriff gelegt, die "'Kultur' als sich wandelndes, auf Austausch angelegtes,
vielschichtiges und doch kohärentes, aber nicht widerspruchsfreies und inso-
fern offenes Regel-, Hypothesen-, Bedeutungs- und Geltunggsystem [begreift],
das sichtbare und unsichtbare Phänomene einschließt".
12
Solch ein dynami-
scher Kulturbegriff schließt die Möglichkeit ein, dass z. B. auch wirtschaftli-
che Entwicklungen eine Kultur tiefgreifend verändern können.
13
Anschließend
werden die im Kapitel 1 systematisierten Fremdheitsprofilierungen xenolo-
gisch (Kapitel 2) und kritisch (im Hinblick auf diverse Theorien zur chinesi-
schen Kultur; Kapitel 3) diskutiert. Dabei geht es um die kritische Auseinan-
dersetzung mit der den Fremdheitsprofilierungen zugrunde liegenden Auffas-
sung über China. Dabei setzt sich die Arbeit nicht zuletzt kritisch mit der xe-
nophilen und xenophoben Fremdheitsprofilierung bzw. mit der Auffassung
chinesischer Kultur als in sich widerspruchsfreier Entität und eines in sich ge-
schlossenen Einheitssystems mit traditionalistischen Klischees auseinander.
-
Das Kapitel 4 setzt sich mit den kulturrelativistischen und kulturalistischen
Ansätzen, die in den Fremdheitsprofilierungen über China häufig angewendet
werden, sowie mit dem Verfahren des Kulturvergleichs auseinander. Dabei
geht es auch um eine Auseinandersetzung mit Stereotypen, denn Kulturver-
gleiche sind häufig durch Vorurteile und Stereotypen belastet, die eine Barriere
zur Erkenntnisgewinnung darstellen. Was den Kulturvergleich betrifft, wird
Matthes zugestimmt, der für eine ,,mehrdimensionale Wechselseitigkeit des
12
Hermann Bausinger (2003): Kultur. In: Alois Wierlacher/Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkul-
turelle Germanistik. Stuttgart, S. 271- 276, S. 274 f.
13
Die Verfasserin vertritt diese Ansicht, obwohl Kühlmann meint, dass die Belege für eine wechselsei-
tige Beeinflussung von Ökonomie und Kultur bisher noch spärlich seien. Siehe Torsten Kühlmann
(2003): Kultur, Interkulturalität und Ökonomie. In: Alois Wierlacher/Andrea Bogner (Hg.): Handbuch
interkulturelle Germanistik. Stuttgart. S. 151-158, S. 154.

12
Vergleichens" plädiert.
14
An ein vergleichendes Vorgehen stellt er folgende
Anforderungen:
,,Das Vergleichen ist vorab ein gesellschaftlicher Vorgang, in dem Eigen- und Fremderfah-
rungen festgestellt, abgeglichen und stilisiert werden. Wenn das wissenschaftlich betriebene
Vergleichen einsetzt, liegen solche Vorgänge bereits vor, und dieses Vergleichen muss in
seinem Ansatz sein Verhältnis zu diesen Vorgängen abklären. [...] Vergleiche sollten in ei-
nem doppelten Sinne wie Übersetzungen betrieben werden: Wie haben sich in der Praxis
von Kultur(en)begegnung und Kultur(en)vergleich deren Elemente wechselseitig ineinander
übersetzt, und: wie sind solche Vorgänge in eine auf deren Analyse zielende ('Meta'-
)Sprache zu übersetzen, die auf allen beteiligten Seiten nachvollzogen werden kann? [...]
Vergleichende Forschungen sollten schon in ihrer Projektierung reziprok angelegt werden,
um de konzeptuellen und forschungspraktischen Übersetzungsprozess von Anbeginn in
Gang zu bringen [...]."
15
-
Im Anschluss an die Kritik an den Vorstellungen über China als fremdes Land
und fremde Kultur, die in den Fremdheitsprofilierungen zum Ausdruck ge-
bracht werden, sollen in Kapitel 5 Konsequenzen für das Kulturverstehen dis-
kutiert werden. In der vorliegenden Untersuchung wird einigen ausgewählten
Ansätzen der interkulturellen Verstehenskonzeptionen nachgegangen. Verste-
hen hat es Göllers Ansicht nach, der die Verfasserin folgt,
,,in epistemologischer Sicht ganz generell mit der Erkenntnis menschlicher Sinn-
phänomene überhaupt zu tun [...], während es sich beim Kulturverstehen um solche
Sinnphänomene handelt, die durch kulturale Bestimmtheit ausgezeichnet sind.
Beim interkulturellen Verstehen stehen schließlich kulturdifferente Sinnphänomene
zur Untersuchung. So gesehen ist interkulturelles Verstehen lediglich ein Sonder-
fall nicht nur von Verstehen überhaupt, sondern auch von Kulturverstehen."
16
,,Beim methodischen Kulturverstehen handelt es sich um die Erstellung von Aussa-
gen und Aussagenzusammenhängen über ein bestimmtes Kulturthema oder um be-
stimmte Kulturthemen. Diese Aussagen bilden [...] einen [...] methodisch (und
nicht bloß logisch) geordneten thematischen Zusammenhang. Aus diesem Grund
lässt sich der so geordnete Zusammenhang von Aussagen auch als Theorie (von ei-
nem Kulturthema oder Kulturthemen) bezeichnen. Lassen sich die einem solchen
Zusammenhang zugrunde liegende Methoden bzw. das diesen entsprechende Me-
14
Joachim Matthes (2003): Vergleichen. In: Alois Wierlacher/Andrea Bogner (Hg.): Handbuch inter-
kulturelle Germanistik. Stuttgart. S. 326-330, S. 329.
15
Ebd., S. 329 f. Zur kritischen Auseinandersetzung mit herkömmlichen Konzeptionen des Kulturver-
gleichs siehe auch Matthes, 1992.
16
Thomas Göller (2000): Kulturverstehen. Grundprobleme einer epistemologischen Theorie der Kultu-
ralität und kulturellen Erkenntnis. Würzburg, S. 451 f.

13
thodenkonzept in einem kulturwissenschaftlichen oder wissenschaftstheoretischen
Diskurs explizit machen, dann ist der Anforderung der Wissenschaftlichkeit des
kulturwissenschaftlichen Wissens Genüge getan."
17
Durch die kritische, xenologische und kulturtheoretische Auseinandersetzung
mit Fremdheitsprofilierungen soll schließlich, ebenfalls im 5. Kapitel, eine
gewisse produktive Bedeutung von Fremdheitsprofilen für die interkulturelle
Verständigung herausgearbeitet werden.
-
Zum Schluss werden in Kapitel 6 die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst,
Schlussfolgerungen gezogen und die Forschungsperspektive erläutert.
1.4 Zur Methode der Untersuchung
Die Methode der Untersuchung besteht darin, die Generalisierung der chinesischen
Kultur und verschiedene kulturalistische bzw. kulturrelativistische Darstellungen der-
selben zu kritisieren. ,,Kritik" wird dabei keinesfalls als einseitig negativer Begriff
verstanden, sondern nach Wierlacher als Verständigung befördernder Begriff.
18
Es gehört zu den ,,fundamentalen Bedingungen wissenschaftlicher Praxis: (a) dass
sich jede Untersuchung, die das Prädikat 'Forschung' beansprucht, der Kritik zu stellen
hat; (b) dass Wissenschaft in ihrer Qualität als Kooperation auf Kritik angelegt und
angewiesen ist; (c) und dass nur ein kreatives Milieu [...] Menschen als Wissenschaft-
ler in ein lebendiges Verhältnis zueinander zu setzen vermag [...]."
19
Selbstkritik ist ebenso erforderlich wie eine stetige Kritik der Kritik.
20
Zur Kritik ge-
hört die Fähigkeit des aktiven Zuhörens: ,,Es ist längst an der Zeit, das Zuhören als
eine kommunikative Kritikleistung zu erforschen, zu lehren und zu lernen [...]."
21
Es
ist nach Ansicht von Wierlacher zu vermeiden, Kritik nur als Konzept von ,,Aus-
einandersetzung"
22
zu betrachten, wie es sich im Westen und besonders in Deutsch-
17
Ebd., S. 454 f.
18
Alois Wierlacher (2003d): Kritik. In: Alois Wierlacher/Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkultu-
relle Germanistik. Stuttgart, S. 264-271, S. 265.
19
Ebd., S. 267.
20
Ebd., S. 268.
21
Ebd.
22
Ebd., S. 269.

14
land herausgebildet und legitimiert hat, und dadurch Kritik zu einem ,,diskursiven
Herrschaftsmittel"
23
zu degenerieren.
Wenn man Kritikfähigkeit als interkulturelle Kompetenz betrachtet, gehören dazu fol-
gende Inhalte:
,,(1) Kritk üben heißt, dem Gesprächs- oder Lektürepartner auch bei unterschiedlicher
Sprechweise, ungewohntem Sprechtempo und ungewohnter fremdkultureller Stimmlage [...]
geduldig zuzuhören in der Absicht, ihn besser zu verstehen [...];
(2) Kritik üben heißt, an einer Wissenschaftskultur zu partizipieren, zu deren Wissensbe-
ständen die Erkenntnis gehört, dass kulturelle Grenzen überschreitende diskursive Praxis im
Anderen und Fremden weit mehr als bislang den Partner einer kooperativen Erkenntnisar-
beit sehen muss [...];
(3) Kritik üben heißt auch, das Wissen zu beherzigen, dass jede Kritik eine rückbezügliche
Komponente im Sinne der xenologischen Rückbezüglichkeit interkultureller Germanistik
besitzt. Da wir dem Anderen als Fremdem mit unserer Auffassung nolens volens ein be-
stimmtes Fremdheitsprofil verleihen, sind wir für diese Profilbildung auch verantwortlich.
Erst dann, wenn wir unseren eigenen Fremdheitsprofilierungen unverbissen auf die Spur
kommen, befinden wir uns auf dem Weg zur kompetenten Begründung einer transkulturel-
len Denkgemeinschaft, die sich bei der Konstitution der gesuchten Zwischenwelten der
Interkulturalität nicht selbst im Wege steht."
24
2. Forschungsbericht: China als fremdes Land und fremde Kul-
tur
Der Forschungsbericht bezieht sich einerseits auf die (vor allem deutsche) wissen-
schaftliche Forschung, nicht zuletzt auch auf viele bekannte Persönlichkeiten in der
Sinologie. Andererseits geht es um die Forschung über China und die chinesische
Kultur, wobei der Begriff ,,Forschung" weit gefasst und auf die sich als Ratgeber ver-
stehende, einer breiten Öffentlichkeit bekannte Literatur ausgedehnt wird. Diese ist oft
selbst Objekt der wissenschaftlichen Forschung und wird von dieser kritisiert. Die
Verfasserin möchte vor allem die Forschungsliteratur untersuchen, die in der deut-
schen Öffentlichkeit ein großes Publikum erreicht und daher eine breite Wirkung be-
züglich der Vermittlung von Chinabildern hat. Die Forschung über China findet in
Deutschland nicht nur in allen möglichen Fachdisziplinen statt ­ aus je für sich rele-
23
Ebd.
24
Ebd., S. 269 f.

15
vantem Fachaspekt, sondern auch in zahlreichen nicht akademischen Forschungen.
25
In der Presse und in den Massenmedien werden beispielsweise auch Chinaprofilierun-
gen vermittelt.
26
In der Forschung findet, wie bereits gesagt, eine Kritik der (Forschungs-)Literatur
statt, und zwar wird einerseits die einer breiten Öffentlichkeit bekannte Ratgeberlitera-
tur, z. B. zur Wirtschaft und Politik Chinas, kritisiert, andererseits aber auch die wis-
senschaftliche Chinaforschung selbst.
27
Ebenso findet in der Forschung eine Kritik
der Massenmedien
28
statt, die der deutschen Öffentlichkeit Chinabilder vermitteln,
sowie weiterer Literaturgenres wie z. B. der Reiseführerliteratur
29
.
Im Folgenden sollen einige der wichtigsten Bereiche der wissenschaftlichen und nich-
twissenschaftlichen Chinaforschung herausgegriffen und beschrieben werden. An-
schließend werden die Mängel an der kulturtheoretischen und xenologischen Ausei-
nandersetzung in der Chinaforschung dargestellt.
25
Der Forschungskontext der wissenschaftlichen Chinastudien wird nicht zuletzt von Sinologen zu-
sammenfassend analysiert. Hierzu vgl. Helmut Martin (2001): Das kulturelle China und die Chinawis-
senschaften. Bochum; Helmut Martin/Christiane Hammer (Hg.) (1999): Chinawissenschaften ­
Deutschsprachige Entwicklungen. Geschichte, Personen, Perspektiven. Hamburg; Helmut Mar-
tin/Maren Eckhardt (1997): Zur Geschichte der Chinawissenschaften. Ausgewählte Quellentexte aus
dem deutschsprachigen Raum. Generelle Darstellungen, Institutionengeschichte, Wissenschaftler ­
Biographien und Bibliographien. Bochum; Anja Osiander/Ole Döring (1999): Zur Modernisierung der
Ostasienforschung. Konzepte, Strukturen, Empfehlungen. Hamburg. Kultur vergleichende Chinafor-
schung findet nicht zuletzt in den auf interkulturelle Kommunikation bezogenen Fachbereichen statt;
vgl. Alexander Thomas (Hg.) (1985): Interkultureller Austausch als interkulturelles Handeln. Saarbrü-
cken; Alexander Thomas (1993): Psychologie interkulturellen Lernens und Handelns. In: Alexander
Thomas (Hg.): Kulturvergleichende Psychologie. Göttingen, S. 377-424; Alexander Thomas (1996):
Analyse der Handlungswirksamkeit von Kulturstandards. In: ders. (Hg.): Psychologie interkulturellen
Handelns. Göttingen, S. 107-135; Studien aus linguistischer Sicht: Yong Liang (1996): Sprachroutinen
und Vermeidungsrituale im Chinesischen. In: Alexander Thomas (Hg.): Psychologie interkulturellen
Handelns. Göttingen, S. 247-268; Liang, Yong (1998): Höflichkeit im Chinesischen. Geschichte ­ Kon-
zepte ­ Handlungsmuster. München; Liang, Yong (2000): Höflichkeit als xenologisches Thema der
interkulturellen Kommunikation. In: Alois Wierlacher (Hg.): Kulturthema Kommunikation. Möhnesee,
S. 233-250.
26
Hierzu vgl. Christiane Hilsmann (1997): Chinabild im Wandel. Die Berichterstattung der deutschen
Presse. Eine Analyse ausgewählter Zeitungen. Eichstätt, S. 4 f.
27
Siehe z. B. Näth, Marie-Luise (1995): Die Volksrepublik China in Deutschland. Wahrnehmungen,
Wissenschaftskonzeptionen und Wirklichkeiten. Frankfurt a. M.
28
Z. B. bei Hilsmann, 1997.
29
Siehe Wang, Zhiqiang (2000): Fremdheitsprofile deutscher China-Reiseführer. Frankfurt, und ders.
(2003): Reiseführer und Reiseführerforschung. In: Alois Wierlacher/Andrea Bogner (Hg.): Handbuch
interkulturelle Germanistik. Stuttgart, S. 581-587.

16
2.1 Chinaforscher in der Geschichte
Die Anfänge der wissenschaftlichen Chinaforschung in Europa gehen Studien des Si-
nologen Günter Lewins zufolge auf das päpstliche Verlangen zurück, das Evangelium
in den Fernen Osten zu tragen.
30
Missionare, allen voran die Jesuiten, waren die ers-
ten Europäer, die China kennenlernten. Ihre Publikationen über China waren im Euro-
pa des 17. und 18. Jh. sehr erfolgreich.
31
Nach einer Phase großer Aufgeschlossenheit
gegenüber China im 17. und 18. Jh. folgte seit Ende des 18. Jh. eine Phase, die durch
eine ausschließliche Konzentration auf Europa gekennzeichnet war. Man hatte damals
wenig Interesse an und Wissen über China.
,,Man war in Europa stolz und selbstzufrieden über den in der Tat einmaligen wirtschaftli-
chen Aufschwung und technischen Fortschritt und voll von Verachtung für das in hoff-
nungslos erscheinender Rückständigkeit und Armut daniederliegende China. Dabei dachte
man nicht daran, daß ein knappes Jahrhundert vordem der größte Teil des Abendlandes
wohl noch ärmer und rückständiger gewesen war."
32
Europa und seine Völker wurden als einzig wahre Kulturträger angesehen, mit denen
sich keine Nation der Erde messen konnte. So verwarf Hegel die Vereinigung des mo-
ralischen und rechtlichen Prinzips bei den Chinesen, und Ranke sprach von den Chi-
nesen als zu ,,den Völkern des ewigen Stillstands" gehörend. Das 19. Jh. war voll von
ähnlichen Urteilen führender Persönlichkeiten, die nicht über die europäische Welt
hinausblicken konnten. Solche Auffassungen wirkten zum Teil bis ins 20. Jh. weiter.
Nach dem 1. Weltkrieg meldeten sich aber auch kritische Denker wie z. B. Karl Jas-
pers zu Wort, die eine Überwindung des allein auf Europa ausgerichteten Standpunk-
tes forderten.
33
Aber auch während einer Zeit, in der man eher auf Europa konzentriert war, gab es in
Deutschland eine Chinaforschung. Die Namen von bedeutenden Chinaforschern in der
Geschichte Deutschlands sind zahlreich. Viele haben auf unterschiedliche Weise zur
Chinaforschung beigetragen. Der Sinologe Reinhard Emmerich nennt Alfred Forke
30
Vgl. Günter Lewin (1999): Eduard Erkes und die Sinologie in Leipzig. In: Helmut Martin/Christiane
Hammer (Hg.): Chinawissenschaften ­ Deutschsprachige Entwicklungen. Geschichte, Personen, Pers-
pektiven. Hamburg, S. 449-473, S. 449.
31
Vgl. Herbert Franke (1995): In Search of China. Some General Remarks on the History of European
Sinology. In: Ming Wilson/John Cayley (Hg.): Europe Studies China. Papers from an International
Conference of the History of European Sinology. London, S. 11-25.
32
Wolfgang Franke (1962): China und das Abendland. Göttingen, S. 117.
33
Vgl. ebd., S. 118 f.

17
(1867-1944) als leitenden Sinologen seiner Zeit.
34
Albert Schweitzer (1875-1965)
lieferte durch seine Forschung über den Konfuzianismus und den Taoismus in den
Jahren 1937-1940 bedeutende vergleichende Schriften zur Geschichte der chinesi-
schen Ethik.
35
Im 20. Jahrhundert haben Max Weber (1920: Konfuzianismus und
Taoismus) und Karl Jaspers (1959: Die großen Philosophen) zur Forschung über die
chinesische Kultur und Gesellschaft beigetragen.
36
Diese deutschen China-Experten
und deren Erklärungsansätze zur Interpretationen chinesischer Kultur wiesen nicht nur
eine große theoretische Eigenständigkeit auf, sondern beeinflussten über Deutschland
hinaus die chinawissenschaftliche Diskussion in Europa und den USA nach dem
Zweiten Weltkrieg.
37
So bescheinigt der Sinologe und Soziologe Wolfram Eberhard der Arbeit Webers über
China ,,mehr Einsicht als irgendein anderes sinologisches Werk vor 1920."
38
In An-
lehnung an den Müncher Sinologen und Historiker Herbert Franke stellte Marie-Luise
Näth fest: Max Weber (1864-1920) hat
,,wissenschaftshistorisch den ersten Beitrag dazu geleistet, dass westliche China-Kunde ,aus
dem Ghetto der orientalischen Philologie herausgeführt wurde, und uns verstehen gelehrt,
dass China als soziales und historisches Phänomen und mit der Methode einer universalen
Wissenschaft erfasst und begriffen werden kann'."
39
Da Weber zum ersten Mal systematisch unter dem Stichwort ,,Konfuzianismus" chi-
nesische Wirtschaftsethik analysiert hat und diese Webersche Tradition von Chinafor-
schern in vieler Hinsicht weitergetragen wird, ist Weber sicherlich im Rahmen dieser
Arbeit zu erwähnen.
40
Allerdings stellt sich die Frage, ob Weber wirklich hierher ge-
34
Vgl. Reinhard Emmerich (1999): ,,Ich fühle mich immer wieder angezogen von originellen und frei-
en Geistern" ­ Alfred Forke (1867-1944). In: Helmut Martin/Christiane Hammer (Hg.): Chinawissen-
schaften ­ Deutschsprachige Entwicklungen. Geschichte, Personen, Perspektiven. Hamburg, S. 421-
448, S. 421.
35
Vgl.: Heiner Roetz (1999): Aus Albert Schweitzers Nachlaß: Die ,,Geschichte des indischen und
chinesischen Denkens". In: Helmut Martin/Christiane Hammer (Hg.): Chinawissenschaften ­ Deutsch-
sprachige Entwicklungen. Geschichte, Personen, Perspektiven. Hamburg, S. 528-545, S. 528.
36
Ebd.
37
Vgl. Klaus Mühlhahn (1999): Imaginiertes China. ,,Master Narratives" der deutschen Chinawissen-
schaft. In: Helmut Martin/Christiane Hammer (Hg.): Chinawissenschaften ­ Deutschsprachige Ent-
wicklungen. Geschichte, Personen, Perspektiven. Hamburg, S. 42-62, S. 43.
38
Vgl. Eberhard, S. 55; vgl. auch Mühlhahn, S. 56.
39
Siehe Näth, 1995, S. 139.
40
Die eifrige Rezeption Webers in Asien, vor allem in den kontroversen Kulturdebatten der Chinesen
in den 1980er Jahren um die Beziehung zwischen Rationalität und Modernisierung, beeinflusst auch in
China die bewusste Profilierung einer eigenen Kultur.

18
hört, wenn man den nicht primär an China gerichteten Ausgangspunkt seiner For-
schung berücksichtigt. Weber war ein interdisziplinärer Wissenschaftler, der innerhalb
der Soziologie, der Rechtsgeschichte, der Nationalökonomie und der Kulturwissen-
schaft forschte. Seine Studien über China befinden sich vor allem in den Schriften zur
Religionssoziologie, darunter nicht zuletzt das auf zahlreichen Vorarbeiten beruhende
Werk ,,Die Wirtschaftsethik der Weltreligion" (1915).
41
Dort beschreibt er in der Ein-
leitung und im ersten Kapitel den Konfuzianismus Chinas. Ausgangspunkt seiner Stu-
die ist das Interesse an einer Erklärung der ökonomischen Modernisierung aus der Ra-
tionalität der westlichen modernen Kultur als Wurzel - speziell aus der Rationalität
des Protestantismus. Die Untersuchung über China dient als Profilierung des Protes-
tantismus durch den Kulturvergleich, um zu zeigen, warum der den Protestantismus
kennzeichnende Rationalismus in China nicht existiert. Darauf basiert seine Chinafor-
schung. Die Webersche kontrastive Vorgehensweise zur konfuzianischen Wirtschafts-
ethik und sein kulturalistischer
42
Ansatz zur Analyse wirtschaftlicher Phänomene lie-
fert tief greifende Vorbilder für gegenwärtige Profilierungen Chinas bei vielen For-
schern:
,,Ein Großteil der sozialwissenschaftlich orientierten Geschichtsschreibung zum China der
Neuzeit stand und steht unter der Problemstellung der Modernisierung. [...] Die meisten
modernisierungstheoretischen Ansätze in der China-Geschichtsschreibung beziehen sich di-
rekt oder indirekt auf die Studie von Max Weber zu Konfuzianismus und Taoismus."
43
Während viele Forscher auf dem Weberschen Paradigma und seinem Ansatz zur Ana-
lyse einer fremden Kultur beharren, vernachlässigen sie die von Weber selbst zugege-
bene Unzulänglichkeit seiner Forschungsergebnisse. Sie erwecken den Eindruck, dass
sie Weber nur unvollständig verstanden haben. So kritisiert bereits Sinologe Klaus
Mühlhahn:
,,In der westlichen China-Wissenschaft wurden die Thesen von Max Weber ausführlich ge-
würdigt. Die Diskussion konzentrierte sich dabei zumeist auf zwei Fragestellungen: erstens,
inwieweit Webers Einschätzung des Konfuzianismus richtig gewesen sei, und zweitens, ob
überhaupt die gesellschaftliche Entwicklung in China vorrangig durch kulturelle Faktoren
41
Vgl. Max Weber (1947): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. I, Uni-Taschenbücher-
Ausgabe. 4. Auflage, Stuttgart 1947.
42
Der Kulturalismus argumentiert mit der ,,zentralen Bedeutung der Kultur für das Verständnis der
chinesischen Geschichte." Siehe Mühlhahn, S. 51. Weiter zum Begriff ,,kulturalistisch" bzw. ,,Kultura-
lismus" siehe Kapitel 4.2.
43
Siehe Mühlhahn, S. 43.

19
erklärt werden kann. Dabei ist der narrativen Struktur der Weberschen Ausführungen keine
Aufmerksamkeit geschenkt worden."
44
2.2 Chinaforscher in der Gegenwart
Zu den gegenwärtigen China-Forschern gehören nicht nur Wissenschaftler, sondern
auch Publizisten wie Ratgeberautoren und Journalisten, wenn man den Begriff ,,For-
schung" weit fasst. Ihre Meinungen münden in Zeitungsartikeln, Publikationen und
Medienberichten. Die namhaftesten deutschen China-Experten von den 1950er Jahren
bis zur Gegenwart werden von Marie-Luise Näth in ihrem Buch über die Erforschung
der Volksrepublik China in der Bundesrepublik resümierend dargestellt.
45
Sie kriti-
siert die kulturrelativistischen Ansätze
46
, mangelnden China-Kenntnisse und klischee-
haften Profilierungen vieler sogenannter China-Experten bei der Analyse chinesischer
Politik, Wirtschaft und Kultur.
47
Voller Spott stellt Näth fest: ,,der Idealtypus des
deutschen China-Experten" zeichne sich durch folgende Merkmale aus:
-
Bis auf wenige kennen die meisten die Sprache und Schrift Chinas nicht.
48
-
Höher-Schätzung eines kurzfristigen Vor-Ort-seins - mit der Devise ,,einmal
hinsehen ist besser als hundert Mal lesen" - als wissenschaftliche und sys-
tematische Forschungsergebnisse.
49
-
Die Annahme, ,,dass langfristig nicht Zuverlässigkeit in seinen Aussagen zählt.
[...] Wichtig ist vor allen Dingen, dass der eigene Name in der Öffentlich-
keit ständig mit dem Gegenstand assoziiert und dauernd präsent bleibt."
50
44
So Mühlhahn, S. 57.
45
Vgl. Näth, 1995.
46
Kulturrelativistische Ansätze lassen sich folgendermaßen charakterisieren:,,Als Relativismus wird in
der Philosophie eine erkenntnistheoretische Anschauung bezeichnet: jede Erkenntnis ist nur vom jewei-
ligen Standpunkt des Erkennenden aus richtig. Sie kann jedoch niemals allgemeingültig sein. [...] Damit
wendet sich der Kulturrelativismus gegen die unkritische Übertragung von Maßstäben und Werten der
eigenen Kultur und insbesondere gegen die Anwendung der durch diese geprägten Wissenschaft auf
fremde Kulturen." Wierlacher/Albrecht, 1995, S. 157.
47
Vgl.: ebd.
48
Ebd., S. 121.
49
Ebd., S. 123.
50
Ebd., S. 124.

20
Aus ihrer Analyse deutscher China-Experten, darunter vor allem Autoren von Ratge-
bern für Politik und Wirtschaft, resümiert Näth:
,,So scheinen die idealtypischen Kriterien des in der politischen Mitte Deutschlands akzep-
tierten China-Experten geradezu zwangsläufig Opportunismus, Konformismus und vor al-
lem Unwissenheit zu sein."
51
Ebenso kritisch wertet der Politikwissenschaftler Jürgen Domes die Äußerungen zahl-
reicher deutscher Wissenschaftler seit der Gründung der Volksrepublik bis Anfang der
1990er Jahre wegen ihrer China verschönenden Wahrnehmung. Seiner Meinung nach
sind
,,die [...] Wahrnehmungen und Behauptungen [...] nie mit der Vorwarnung versehen worden,
sie könnten sich teilweise oder auch ganz und gar als unhaltbar erweisen. [...] Deutsche
Wissenschaftler strengten sich aber womöglich von vorn herein nicht an, die Wirklichkeit
Chinas aus den vorhandenen Quellen zu ergründen. Die Öffentlichkeit nahm die am wenigs-
ten seriös anmutenden Darstellungen mit der größten Begierde auf. Sie wollte offenbar be-
trogen werden. Der eine oder andere spekulierte auch wohl darauf, dass er in der Stunde der
bitteren Wahrheitsfindung mit der Entschuldigung davonkäme, es hätten sich eben 'alle' ver-
tan. In der Tat brachte diese Spekulation immer wieder genügend Experten zusammen, um
deutsche China-Wissenschaft bis heute nicht an sich zweifeln zu lassen. Man hält in der
Stunde des offenkundigen intellektuellen Bankrotts um so fester zusammen. [...] Zusam-
mengefasst kann festgestellt werden, dass der Beitrag der deutschen China-Wissenschaft zur
Erhellung von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Vorgängen im chinesischen Raum
dürftig geblieben ist. Ihr Beitrag zur Verdunklung dieser Vorgänge kann demgegenüber als
besonders prominent bezeichnet werden."
52
Oskar Weggel mit seiner langjährigen Beschäftigung mit chinesischer Sprache und
Kultur ist einer der in der breiten deutschen Öffentlichkeit bekanntesten Buchautoren
über China. Weggel, nach Osiander und Döring
,,einer der letzten großen Kulturalisten in der sinologischen Tradition Otto Frankes [...], ist
heute in Deutschland zweifellos der populärste Vermittler eines China-Bildes, das die Be-
deutung historischer Entwicklungen und kultureller Kontinuitäten für die aktuellen Entwick-
lungen hervorhebt. Weggels zahlreiche Publikationen sind mit Nachdruck dem Anliegen
51
Siehe ebd.
52
Siehe Domes, S. 6 ff.

21
gewidmet, China 'aus sich selbst heraus' für das Verständnis unserer Zeit zum Sprechen zu
bringen und die gegenwärtigen Wandlungsprozesse nachvollziehbar werden zu lassen."
53
Die Profilierung Chinas durch Weggel bzw. durch viele Ratgeberautoren kann man ­
mit den Worten von Osiander und Döring - als ,,kultur-traditionalistische Argumenta-
tionsweise" bezeichnen.
54
Da die Weggelsche These über den ,,kulturellen Kern" des
,,Meta-Konfuzianismus" mit den Merkmalen der Gemeinschaftsbezogenheit, der chi-
nesischen Genügsamkeit und des Hierachie-Denkens etc.
55
einen Schwerpunkt des
deutschsprachigen Diskurses über chinesische Kultur bildet, wie sich später noch zei-
gen wird, nimmt sie in der vorliegenden Arbeit bei der Auseinandersetzung mit kul-
turtheoretischen Ansätzen (in Kapitel 3 und 4) eine bedeutende Stelle ein.
2.3 Die Sinologie
Die universitäre Fachdisziplin für Chinaforschung ist die Sinologie (oder Chinawis-
senschaften). Sie versteht sich als umfassende ,,Chinakunde" und erhebt seit jeher den
Anspruch, ,,sämtliche" Fragen zu China behandeln zu können.
56
Historisch gesehen
ist diese Fachdisziplin eine französisch-deutsche Errungenschaft von Orientforschern
des 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts.
57
Es wird behauptet, dass die ersten Lehrstühle
für Sinologie in Europa unter anderem im Jahre 1814 in Paris gegründet wurden, 1909
in Hamburg mit Otto Franke und 1912 in Berlin mit deGroot.
58
Aber aus Sicht von
Günter Lewin entstand die offizielle sinologische Forschung in Deutschland bereits im
Jahr 1879:
,,Ein Schreiben des Sächsischen Ministeriums des Cultus und Öffentlichen Unterrichts vom
21. Juni 1878 kann als die Geburtsurkunde der deutschen Sinologie gelten: Nach Prüfung
des Gutachtens der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig wurde Dr. Hans Georg
53
Siehe Osiander/Döring, S. 77.
54
Siehe Osiander/Döring, S. 77.
55
Vgl. Oskar Weggel (1988): China: zwischen Marx und Konfuzius. München, S. 290 ff.
56
Zur Geschichte und Entwicklung der Sinologie vgl. Osiander/Döring, S. 129 ff.
57
Vgl. ebd., S. 129.
58
Vgl. ebd.

22
von der Gabelentz mit Wirkung vom 1. Juli 1879 zum Außerordentlichen Professor für Ost-
asiatische Sprachen an der Universität Leipzig berufen."
59
Die in Deutschland wie im übrigen Europa (mit Ausnahme Frankreichs) recht späte
Entwicklung der sinologischen Forschung im Gegensatz zu dem bereits früh vorhan-
denen Forschungsinteresse an anderen orientaliescher Kulturen erklärt sich daraus,
,,daß bei der ausschließlich auf Europa ausgerichteten Einstellung der abendländischen Wis-
senschaft orientalischer Kulturen zunächst lediglich auf Grund ihre Bedeutung für die
abendländische Kulturwelt, insbesondere für die griechisch-römische, berücksichtigt."
60
Vorderasien und Ägypten wurden bereits früh aufgrund ihrer Verbindung zur grie-
chisch-römischen Welt in die wissenschaftliche Forschung eingeschlossen. Die Indo-
logie fand Eingang über die indogermanische Sprachwissenschaft, da Sanskrit, die
klassische Literatursprache Indiens, eine indogermanische Sprache ist. In Bezug auf
die Chinakunde fehlten solche Verwandschaftsbeziehungen kultureller oder sprachli-
cher Art, daher wurde China lange nicht beachtet. Drei Faktoren führten schließlich
im Laufe des 19. Jh. zur Aufnahme in die Wissenschaft:
1.
,,das ausschließlich sprachliche Interesse, ohne Berücksichtigung der hinter der
Sprache stehenden Kultur,
2.
gewisse historische Verbindungen über Zentralasien zwischen China und dem
Westen durch Türken, Mongolen und andere nichtchinesischen Völker,
3.
praktische Bedürfnisse im Gefolge der kolonialen Ausdehnung."
61
Nach dem 2. Weltkrieg verschob sich der Schwerpunkt des Interesses, und man er-
kannte immer mehr, wie bedeutungsvoll die chinesische Vergangenheit für die Ent-
wicklung der gesamten Menschheit ist und wie ungenügend das Wissen in Europa
darüber war und noch ist. Von der vorwiegenden Konzentration auf die chinesische
Sprache wendete man sich in zunehmendem Maße auch den zentralen Fragen der
Entwicklung des chinesichen Staates, seiner Gesellschaft und Kultur zu. Man bemühte
sich auch immer mehr zu erkennen, wie sich von chinesischer Seite her die Auseinan-
dersetzung mit dem Westen darstellt.
62
59
Siehe Lewin, S. 450.
60
Wolfgang Franke, S. 121.
61
Ebd., S. 122.
62
Vgl. ebd., S. 123 f.

23
Heute gibt es in der Sinologie in Deutschland ungefähr 20 Professuren.
63
Die
Deutsche Gesellschaft für Asienkunde e.V. (DGA) führt jedes Semester eine Erhebung
an den Hochschulen in Deutschland (auch in Österreich und der Schweiz) durch. Da-
bei werden alle asienkundlichen Lehrveranstaltungen erfragt. Die Ergebnisse werden
in der Zeitschrift Asien abgedruckt, gegliedert nach Hochschulorten und Institutionen.
Unter Hochschulen werden gleichermaßen Universitäten, Gesamthochschulen und
Fachhochschulen verstanden.
64
Aus dieser Erfassung geht folgender Befund bezüg-
lich der institutionellen Forschungslage der gegenwärtigen Chinawissenschaft an
Hochschulen hervor:
1.
Die chinawissenschaftlichen Lehrveranstaltungen werden nicht ausschließlich
von asienkundlichen Einrichtungen an den Hochschulen, sondern vor al-
lem auch von anderen Einrichtungen gehalten.
65
Nach Günter Schucher,
dem geschäftsführenden Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für
Asienkunde in Hamburg, kann dieser Umstand auf das seit Jahren gestie-
gene Interesse an China zurückgeführt werden. Insofern sind an Fachhoch-
schulen vor allem die wirtschaftsbezogenen Ausbildungsgänge hervorzu-
heben.
66
2.
Chinawissenschaftliche Veranstaltungen gibt es nach Forschungen von Schu-
cher an 37 Hochschulorten, innerhalb und außerhalb der Sinologie.
67
3.
Die Zahl der angebotenen Lehrveranstaltungen ist je nach Hochschulort sehr
unterschiedlich.
68
4.
Nur die Hälfte aller Themenveranstaltungen kann als ,,gegenwartsbezogen"
bezeichnet werden.
69
Wenn die deutsche Sinologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch Vorreiter
für ganz Europa und die USA in der wissenschaftlichen Forschung war, so ergibt sich
63
Vgl. Osiander/Döring, S. 131 ff.
64
Vgl. Schucher, 1999, S. 316.
65
Zu diesem Forschungsergebnis vgl. ebd., S. 319.
66
Ebd.
67
Dazu vgl. ebd., S. 320.
68
Vgl. ebd..
69
Ebd., S. 321.

24
laut der Untersuchung von Ole Döring die derzeitige Situation, dass ,,die deutsche Si-
nologie [...] in der internationalen Diskussion um aktuelle Fragen in China nicht mi-
thalten" kann.
70
Nach Näth sind Intensität und Umfang der Beschäftigung mit China
in Frankreich und in den beiden angelsächsischen Staaten ,,aus historischen ebenso
wie aus aktuellen politischen Gründen" größer als in Deutschland.
71
Nach der gemeinsamen Untersuchung von Osiander und Döring werden nachhaltige
Erkenntnisfortschritte in Deutschland dadurch behindert, dass einerseits die ostasiati-
sche Forschung als ein ,,kleines" und ,,exotisches" Fach nur mangelhaft ausgestattet
ist, andererseits dem Fach selber eine durchdachte Gesamtkonzeption fehlt, die die
Forschungen koordiniert.
72
Inhaltlich liegt die Schwäche darin, dass durch sinologi-
sche Forschung vor allem chinakundliche Fertigkeiten vermittelt werden, ohne Refle-
xionen über Forschungsmethoden und Erkenntnisziele und ohne dabei mit der Dyna-
mik des kulturellen Wandels mitzuhalten:
73
,,die deutsche Sinologie hat ihren über-
kommenen Charakter seit den Gründungsjahren kaum verändert."
74
Eine Änderung in der Gestaltung der Forschung ist nach Döring notwendig, um
,,den geänderten Gegenständen bzw. deren Erscheinungsweisen Rechnung zu tragen. Der
chinesische Raum und die darin lebenden chinesischen oder chinesisch geprägten Kulturen
sind heute nicht nur deutlich anders, sondern auch deutlich besser zugänglich für die Sino-
logie als vor hundert Jahren. Es ist also ein simples Klugheitsgebot, die entsprechenden
Wissenschaften dementsprechendend umzustrukturieren."
75
Die neue Perspektive für die Chinaforschung liegt für die Sinologie bzw. die China-
wissenschaften nach Döring in drei Aspekten:
1.
Unmittelbare Kontakte und Forschungen vor Ort.
76
2.
Es ist falsch, sich einseitig auf die lehrende Rolle, vor allem für die Praxis, zu
beschränken, ,,wie etwa auf Kulturseminare für Manager, oder auf populä-
70
Vgl. Döring, 1999, S. 75.
71
Vgl. Näth, S. 129.
72
Vgl. Osiander/Döring, S. 138f.
73
Vgl. ebd., S. 139.
74
Vgl. Döring, 1999, S. 76.
75
Siehe ebd., S. 68.
76
Ebd.

25
re Alltagstipps zum 'Überleben' für Handelsreisende in China".
77
Döring
empfiehlt entgegen solcher populärer Tendenzen in einer umgekehrten
Verfahrensweise, ,,die fachliche Kompetenz dieser Wissenschaften (Wirt-
schaftswissenschaften, Soziologie) systematisch in die Sinologie zu integ-
rieren und interdisziplinär weiterführende Fragestellungen und wissen-
schaftliche Programme zu entwickeln."
78
3.
Wissenschaftler sind gefragt, die die Aufgaben leisten, generalisierende Ste-
reotypen abzubauen, den 'Orient' zu entmystifizieren und in die jeweiligen
Unterschiede und Gemeinsamkeiten differenziert einzuführen.
79
Allerdings ist der Sinologe jenseits jeder Forderung nach Perfektion grundsätzlich,
wie Wolfgang Bauer erkannte, mit dem ,,Dilemma zwischen Dilettantismus und Spe-
zialistentum" konfrontiert.
80
Das bedeutet, entweder spezialisiert er sich auf ein be-
stimmtes Teilgebiet seines Fachs, oder er hat allgemeine, allerdings nicht sehr in die
Tiefe reichende Kenntnisse der chinesischen Kultur. In der Moderne jedoch erscheint
eine universelle Kenntnis der chinesischen Kultur sowohl unmöglich als auch nicht
mehr unbedingt nötig. Bauer meint dazu:
,,Die zunehmende Differenzierung der chinesischen Kultur in der Moderne [...] macht ei-
nen Wissenschaflter dieser Vielfalt nicht nur unmöglich, sondern in vieler Hinsicht auch
unnötig, denn für die Geschichtsauffassungen des modernsten China z.B. ist eine Kenntnis
der verschiedenen Geschichtstheorien im Osten und im Westen in der Tat wichtiger als eine
auch noch so umfassende Kenntnis der chinesischen Kultur allein."
81
2.4 Die außeruniversitäre institutionelle Chinaforschung
Die Chinaforschung an Instituten außerhalb der Universitäten hat laut Schucher einen
Vorteil: Sie ist ,,anders als die Hochschulen [...] in der Lage, kontinuierlich über län-
77
Zitiert nach ebd., S. 69.
78
Zitiert nach ebd.
79
Ebd.
80
In: Jahres-Chronik 1967/68 der Ludwig-Maximilians-Universität (1970). München, S. 115-122.
81
Ebd., S. 116.

26
gere Laufzeiten hinweg mit interdisziplinärem Zuschnitt und zum Teil auch mit inter-
nationaler Vernetzung (größere) Projekte zu bearbeiten."
82
Außeruniversitär wird die Chinaforschung an vielen amtlichen Instituten durchge-
führt: am Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln,
in der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen, am Max-Planck-Institut für
ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, am Institut für Weltwirt-
schaft in Kiel und am Institut für Wirtschaftsforschung (ifo) in München, am Institut
für Asienkunde in Hamburg (IfA) etc.
83
Das IfA hat die Aufgabe, kontinuierlich und
systematisch die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Länder
Asiens zu beobachten und zu erforschen. Seit Gründung des Instituts im Jahre 1956
steht die Erforschung Chinas im Mittelpunkt der Tätigkeit. Der Wissenschaftsrat be-
scheinigte den Forschungsarbeiten des Instituts insgesamt eine gute wissenschaftliche
Qualität und hohe Aktualität. Das Institut für Asienkunde in Hamburg bringt regelmä-
ßig Publikationen zur China-Kunde heraus. Die Monatszeitschrift für China, China
aktuell, enthält 12mal jährlich eine umfassende Darstellung der Entwicklung in Au-
ßenpolitik, Innenpolitik, Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und Außenwirtschaft
über die VR China, Hongkong, Macau und Taiwan in Form von Berichten, Analysen,
Dokumenten und Statistiken.
84
Auch das Institut Monumenta Serica in Sankt Augus-
tin beschäftigt sich mit dem Studium der chinesischen Kultur und gibt unter anderem
die Zeitschrift Monumenta Serica - Journal of Oriental Studies heraus, die einmal
jährlich erscheint. Zahlreiche Monographien zu sinologischen Themen sind bereits am
Institut Monumenta Serica erschienen.
85
Das Kulturwissenschaftliche Institut (KWI)
in Essen, ein interdisziplinäres Forschungskolleg für Geistes- und Kulturwissenschaf-
ten, erforscht die Grundlagen der modernen Kultur. Ein Thema dabei ist die Selbst-
deutung und Deutung des Fremden in diversen Kontexten. Das Institut versteht sich
als Forum und Kristallisationskern für fach- und institutionenübergreifende Fragestel-
lungen und Projekte und bietet einem breiten Publikum ein wissenschaftliches und
kulturelles Programm. Bei den Projekten, Veröffentlichungen und Vorträgen, an de-
82
Vgl. Schucher, S. 323.
83
Vgl. Osiander/Döring, S. 134 ff.; vgl. auch Schucher, S. 324.
84
Vgl. Schucher, ebd.
85
Siehe die Selbstdarstellung des Instituts unter http://www.monumenta-serica.de.

27
nen das KWI beteiligt ist, spielt auch die Auseinandersetzung mit China und der chi-
nesischen Kultur eine Rolle.
86
Neben den Forschungsinstituten wird auch bedeutende Informationsarbeit durch
,,Chinagesellschaften", ,,Chinavereine" oder ,,Chinaseminare" geleistet. Ferner beste-
hen seit Ende der 1980er Jahre bilaterale Forschungsbeziehungen mit chinesischen
Institutionen auf allen Ebenen und in allen Wissenschaftsbereichen. Daraus entstande-
ne Partnerschaften und Forschungsprojekte werden immer häufiger von nicht-
sinologischen Institutionen bearbeitet, kennzeichnend dabei ist vor allem die Entwick-
lung im naturwissenschaftlich-technischen Bereich.
87
Wegen des überwiegend natur-
wissenschaftlich-technischen Interesses der Chinesen wurde in den 1980er Jahren der
geistes- und sozialwissenschaftliche Austausch vernachlässigt. Bestehende deutsche
geistes- und sozialwissenschaftliche Institute in China haben eher Ausbildungs- als
Forschungsaufgaben, wie es bei ähnlichen Instituten in Deutschland der Fall ist.
88
Schucher rät zur Gründung eines China-Instituts für geistes- und sozialwissenschaftli-
che Forschung vor Ort in China mit detaillierten Aufgaben- und Konzeptionsvorstel-
lungen.
89
2.5 Chinabilder in den Massenmedien
Die Chinabilder, die der deutschen Öffentlichkeit in den Massenmedien wie Fernse-
hen und Zeitung vermittelt werden, spielen neben den oben bereits genannten Sachbü-
chern bzw. Ratgebern eine wichtige Rolle, denn:
,,Tatsächlich aber ist der Einfluß der Wissenschaft auf die Ausprägung des hiesigen China-
bildes insgesamt eher gering. Die 'Verbindung mit den Massen' halten andere: die Autoren
einzelner populärer Bücher in Form von Roman oder Sachbuch, vor allem aber Journalisten,
die für die Boulevardzeitungen, die beiden großen Nachrichtenmagazine sowie Fernsehen
und Rundfunk arbeiten und nur selten den Kontakt mit der Wissenschaft suchen."
90
86
Siehe http://www.kwi-nrw.de/home/kwi.html.
87
Schucher, S. 15.
88
Ebd., S. 50.
89
Ebd.
90
Tim Trampedach (1999): Bilder vom Fremden: Die Deutschen und China. In: Helmut Mar-
tin/Christiane Hammer (Hg.): Chinawissenschaften ­ Deutschsprachige Entwicklungen. Geschichte,
Personen, Perspektiven. Hamburg, S. 81-97, S. 97.

28
Zu den Massenmedien lässt sich allgemein sagen, dass sie einen großen Einfluss auf
die Bildung von Bildern bzw. Images bestimmter Länder haben:
,,Sie sind gerade dort, wo die eigene Anschauung fehlt, in der Lage, Images überhaupt erst
zu schaffen. Presse, Hörfunk und Fernsehen bilden weithin die dominierende, ja oft einzige
Quelle für Informationen über räumlich entfernte, fremde Länder und Kulturen. Doch selbst
wenn die Massenmedien nicht die einzigen Quellen der Informationen sind, so sind sie ­ in-
folge ihres Strebens nach höchster Aktualität ­ häufig die ersten, die uns mit Informationen
über neue oder nicht bekannte, für die Imagebildung relevante Sachverhalte versorgen. An-
dererseits haben sie aber auch durchaus Teil an der Tradierung historischer Elemente von
Images. Der Rückgriff auf 'Stereotypen' ist [...] bedingt durch den Zeitdruck der journalisti-
schen Arbeit."
91
Charakteristische Merkmale der China-Berichterstattung sind nach Hilsmanns Analy-
se deutscher Zeitungen die Darstellung von Fremdheit und der seit 1990 zunehmende
Negativismus.
92
,,Negativismus" bedeutet, dass oft von Konflikten, Kontroversen,
Aggression, Zerstörung und Tod die Rede ist. Dies sagt Hilsmanns Ansicht nach nicht
unbedingt etwas über die Beurteilung Chinas aus, zeichnet aber mit am Chinabild.
93
Eine typische Formulierung war die vom ,,bedrohenden" China.
94
Es überwiegt aber
eine neutrale Bewertung der Handlungsakteure in Artikeln über China.
95
Fremdheit
war einer der wichtigsten Begriffe in der Berichterstattung und wurde meist dem Wes-
ten, Europa oder Deutschland gegenübergestellt. Dabei spielte auch die Faszination
für das ,,geheimnisvolle" China eine Rolle, das sich vor allem auf den kulturellen Be-
reich bezog.
96
Insgesamt bestimmten jedoch vor allem politische Themen die Be-
richterstattung. Kulturelle Themen hatten eine geringere Bedeutung.
97
Hilsmann meint zusammenfassend:
,,Die Berichterstattung der deutschen Presse über China wird offensichtlich von Interessen
und Wertvorstellungen getragen. Mit der gewachsenen Rolle Chinas in Wirtschaft und Poli-
tik hat auch die Bedeutung Chinas in der Berichterstattung zugenommen. [...] Kam dem
'Reich der Mitte' 1984 noch wohlwollendes Interesse und Zustimmung ob der Öffnung und
Reformen zu, wandelte es sich nach den Ereignissen von 1989 [der Niederschlagung der
91
Jürgen Wilke (1989): Imagebildung durch Massenmedien. In: Bundeszentrale für politische Bildung
(Hg.): Völker und Nationen im Spiegel der Medien. Bonn, S. 11-21, S. 16.
92
Vgl. Hilsmann, 1997, S. 72, S. 83.
93
Ebd., S. 72.
94
Ebd., S. 75.
95
Ebd., S. 74.
96
Ebd., S. 83.
97
Ebd., S. 93.

29
Demokratiebewegung] vom 'geheimnisvollen' zum 'bedrohlichen' Staat. Eine Annäherung
Chinas an westliche Ideen veranlaßte die Presse zu einer eher positiven Darstellung, das Be-
harren auf alten politischen Strukturen und selbstbewußte Eigenständigkeit zu einer kriti-
schen Berichterstattung."
98
Hilsmann meint, dass Journalisten nicht nur kritisieren, sondern den Blick auch auf
positive Entwicklungen richten und sich so weit wie möglich um das Verstehen der
fremden Kultur bemühen sollten, um sowohl sachlich informieren als auch kritisieren
zu können.
99
Im Folgenden sollen zwei Beispiele für die Darstellung von China in den deutschen
Medien näher vorgestellt werden, zunächst ein Artikel in der Zeit vom 27. 03. 1992,
100
in welchem das 1991 erschienene Buch Korruption in China von Thomas Heberer
besprochen wird. Bereits die Überschrift ,,Geächtet und gebilligt" weckt negative As-
soziationen, entsprechend dem rezensierten Buch, das sich mit einem negativen ge-
sellschaftlichen Phänomen beschäftigt. Der Artikel beginnt mit der Schilderung von
,,Korruption und ideologischem Verfall" als Dilemma sozialistischer Länder, das auch
China betrifft. Der Unterschied zwischen westlichem und chinesischem Korruptions-
begriff wird zur Kritik an China genutzt: ,,Die chinesische Führung wertet Korruption
als moralische Verfehlung einzelner Funktionäre, nicht jedoch als Folge des politi-
schen Systems."
101
Die westliche Sozialwissenschaft wertet sie jedoch als politisch-
ökonomisches bzw. soziales Phänomen - eine Ansicht, der der Autor des Artikels an-
scheinend implizit zustimmt. Im weiteren Verlauf wird das politische System kriti-
siert, dem Korruption immanent sei:
,,Obgleich die Parteiführung sich als ,,einzige Kraft gegen Korruption" hinzustellen ver-
sucht, bleiben alle Maßnahmen halbherzig, weil die Systemimmanenz und die Korruption
auf höchster Ebene tabuisiert sind. Zwar wird Korruption offiziell bekämpft. Die Dichoto-
mie der Korruption, nämlich einerseits eine staatlich geächtete, die die Gesetze verletzt, an-
dererseits eine staatlich gebilligte, die sich im Rahmen des Erlaubten abspielt, erschwert ei-
ne effektive Bekämpfung."
102
98
Ebd., S. 98.
99
Ebd.
100
Xiaoling Behnke (1992): Geächtet und gebilligt. In: Zeit vom 27. 03. 1992.
101
Ebd.
102
Ebd.

30
Hier wird also das Phänomen der Korruption in China genutzt, um das politische Sys-
tem des Sozialismus grundsätzlich zu kritisieren; der chinesische Staat wird als kor-
rupt aufgrund des dort herrschenden Sozialismus dargestellt.
Ein Artikel über Chinas Reaktion auf die Terroranschläge in den USA am 11. Sep-
tember 2001 erschien zwei Tage danach, am 13. September, in der Frankfurter Rund-
schau. Auch hier wirkt bereits die Überschrift negativ: ,,In China wird auch Schaden-
freude laut". Im ersten Abschnitt wird ein Gegensatz zwischen offizieller Stellung-
nahme der Regierung und Reaktionen der chinesischen Bevölkerung dargestellt:
,,Während Chinas Regierung die Terroranschläge in den USA scharf verurteilte und
Washington seine Anteilnahme übermittelte, spüren viele Chinesen heimliche Scha-
denfreude über das Unglück der USA."
103
Einerseits wird über die chinesische Regie-
rung gesagt, sie schüre eine anti-amerikanische Stimmung im Volk, womit sich ihre
offiziellen Verlautbarungen als Lügen herausstellen, und diese Darstellung suggeriert,
dass die Bevölkerung nur das ausspricht, was die Regierung nicht offiziell sagen darf.
Andererseits gibt es auch in der chinesischen Bevölkerung unterschiedliche Reaktio-
nen auf die Anschläge, die von Zynismus und Schadenfreude bis zu spontanen Bei-
leidsäußerungen gegenüber in China lebenden Amerikanern reichen. Allerdings neh-
men die schadenfrohen und zynischen Reaktionen von Chinesen im Artikel mehr
Raum ein, sie werden ausführlicher geschildert und teilweise im Wortlaut wiederge-
geben. Die Beileidsbekundungen der Bevölkerung dagegen bekommen längst nicht
diese Aufmerksamkeit, sie werden nur in den letzten drei Zeilen des Artikels kurz zu-
sammengefasst. Bereits die Überschrift konzentriert sich ausschließlich auf den nega-
tiven Aspekt, auf die Schadenfreude, alle sonstigen Reaktionen verbergen sich hinter
dem Wörtchen ,,auch".
In beiden Artikeln wird der von Hilsmann festgestellte Negativismus deutlich. Beson-
ders im zweiten untersuchten Artikel zeigt sich, dass die Tatsachen, die China und die
Chinesen in einem schlechten Licht erscheinen lassen, besonders hervorgehoben wer-
den. Im ersten Artikel wird Kritik am chinesischen Sozialismus geäußert, und westli-
che Werte und die westliche Demokratie werden als dem chinesischen System überle-
gen dargestellt - ein Ausdruck einer ethnozentrischen Haltung. In den hier untersuch-
ten Artikeln zeigt sich also eine einseitig negative Berichterstattung über China.
Selbstverständlich gibt es auch andere Chinabilder in den Medien, doch der Negati-
103
Harald Maass (2001): In Peking wird auch Schadenfreude laut. In: Frankfurter Rundschau vom 13.
09. 2001.

31
vismus überwiegt in den letzten Jahren, wie bereits erwähnt wurde, und durch die
Auswahl der Artikel sollte einmal an konkreten Beispielen deutlich gemacht werden,
auf welche Weise dies unter anderem geschieht.
2.6 China-Reiseführer
Chinabilder werden auch in Reiseführern vermittelt, deren Anliegen es ist, über China
als Reiseziel zu informieren. ,,Der deutsche Ausdruck 'Reiseführer' bezeichnet Perso-
nen und Texte, die Menschen auf ihre Reisen in fremde Länder und Regionen vorbe-
reiten oder sie dort begleiten" - so wurden Reiseführer schon 1893 im Deutschen
Wörterbuch der Gebrüder Grimm definiert.
104
Reiseführer gehören der Sache nach
zur Reiseliteratur.
105
Die Gattung der Reiseführer wurde nach der Kritik von Zhiqiang
Wang bisher weitgehend vernachlässigt.
106
Dabei haben Reiseführer eine große Be-
deutung:
,,Ihnen wächst zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufgrund der Intensivierung der weltweiten
Mobilität, der Internationalisierung unserer Kontakte und der globalen Verflechtung der Le-
bens- und Arbeitswelten eine neue Dimension ihrer Aufgaben und eine zusätzliche Funktion
zu. Nachdem sich weltweit immer mehr Menschen mit fremden Kulturen und Fremdheits-
problemen in der eigenen Gesellschaft konfrontiert sehen, wird sowohl der Erwerb von Kul-
turwissen als auch der Aufbau einer interkulturellen Kompetenz für die praktische Leben-
führung und die Bewältigung zeitbedingter Probleme immer unabdingbarer."
107
Die Gattung der Reiseführer ist heute auf dem Buchmarkt stark verbreitet. Immer
mehr Verlage beteiligen sich an der Reiseführerproduktion. Schätzungen zufolge wur-
den seit Anfang der 1990er Jahre allein in Deutschland bereits mehr als 8000 Titel
produziert und über 10 Millionen Exemplare verkauft.
108
Die Fremdheitsprofile z. B. moderner China-Reiseführer geben laut Wang vielfach
Anlass zur Kritik. Den Anspruch, Wegweiser in die Fremde oder Fremdkulturführer
zu sein, lösen die meisen der Texte nicht ein:
,,Sie zeichnen sich weithin durch ethnozentrische Haltungen gegenüber der kulturellen An-
dersheit aus, verwischen oder ignorieren kultur-, gesellschafts-, system- und zivilisationsbe-
dingte Divergenzen, übertragen in ihren Kommentaren und vergleichenden Hinweisen ei-
104
Siehe Wang, 2003, S. 581 f.
105
Ders. (2000): Fremdheitsprofile moderner deutscher China-Reiseführer. Frankfurt, S. 29.
106
Ebd., S. 582.
107
Ebd.
108
Ebd.

32
genkulturelle Wertsysteme auf die andere Kultur und tardieren vorgeformte Vorurteile, die
sie von ihren Vorgängern manchmal auch wörtlich abschreiben. Sie steuern auf diese kri-
tikwürdige Weise die selektive Wahrnehmung und Bewertung der fremdkulturellen Realität
durch ihre Leser und verfehlen das Ziel, diesen als Touristen ein praxisrelevantes Orientie-
rungswissen über Unterschiede zwischen der eigenen und der fremden Kultur an die Hand
zu geben und auf diese Weise letztlich auch Verständigungsprozesse zwischen den Kulturen
zu fördern."
109
Viele Reiseführer sind durch eine ,,Diskrepanz zwischen Historizität und Realität"
110
gekennzeichnet. Das bedeutet, sie verharren auf einem aus der Vergangenheit überlie-
ferten historischen China-Bild. Über die Gegenwart sind Reiseführer schlecht infor-
miert, oder sie gehen bewusst oder unbewusst an der gegenwärtigen Realität vorbei.
111
Die Orientierung der Reiseführer an einem traditionellen Kulturkonzept führt dazu,
dass die Alltagskultur nicht als kulturelles Objekt wahrgenommen wird. Deshalb wird
über Gegenstände, vor allem über Sehenswürdigkeiten, aber kaum über Menschen be-
richtet.
112
Die xenologischen Probleme moderner deutscher China-Reiseführer sind
Wangs Ansicht nach ,,Ergebnisse der Berufung der Reiseführer-Verfasser auf die Ei-
genkulturkategorien. Epistemisch betrachtet geht es bei der Aktivierung der kultur-
konservativen Position der Reiseführer-Verfasser um eine Überschreitung der eigen-
kulturellen Geltungsraums."
113
Ein Beispiel für einen Reiseführer ist der von Oliver Fülling verfasste aus der Reihe
Richtig Reisen des DuMont Verlages.
114
Positiv hervorzuheben ist der Umfang des
Werkes von weit über 400 Seiten, die Raum für eine differenzierte Darstellung bieten.
Nach einem allgemeinen Teil mit ca. 70 Seiten folgen zehn Kapitel, in denen jeweils
eine chinesische Region ausführlicher vorgestellt wird. Wangs Kritik ist auch hier
nicht ganz von der Hand zu weisen, denn die chinesische Vergangenheit spielt eine
große Rolle. Aber immerhin ist im ersten Teil auch ein Kapitel ,,China und seinen
Menschen" gewidmet. Es werden sowohl China als auch dem Westen gegenüber kriti-
sche Töne angeschlagen, so z. B. gegenüber der westlichen Menschenrechtskritik:
109
Ebd., S. 585.
110
Wang, 2000, S. 74.
111
Ebd.
112
Ebd.
113
Ebd., S. 186.
114
Oliver Fülling (1998): China. (Richtig Reisen). Köln.

33
,,Da ermahnen Europäer wie Amerikaner wiederholt die Chinesen zur Anerkennung von
Menschenrechten, Demokratie und Freiheit und wundern sich, daß sie nicht nur die politi-
sche Führung verärgern, sondern auch die Bevölkerung, deren Los sie doch verbessern wol-
len. [...] Wer Opposition üben will, der muß dies von innen tun, durch Teilnahme am inner-
elitären Tauziehen, niemals aber von außen her, schon deshalb, weil sonst die ritualisierte
Einheit zwischen Führung und Volk verlorengeht."
115
Obwohl dabei gleichzeitig die chinesische Führung bzw. auch die Gesellschaft kriti-
siert wird, weil sie ,,den Individualismus als Hautpstörfaktor ansieht" und kein
Schuldbewusstsein entwickelt, wenn sie im westlichen Sinne gegen die Menschen-
rechte verstößt, wirkt diese Aussage zumindest glaubwürdiger als eine einseitige Kri-
tik, die sich ausschließlich an China richtet.
Der zweite, umfangreichere Teil des Buches (ca. 300 Seiten) wird vor allem dazu ge-
nutzt, um sehr viele Sehenswürdigkeiten als mögliche Reiseziele vorzustellen. Auch
dabei spielen historische Ausführungen eine große Rolle, etwa wenn es darum geht,
die Geschichte einer bestimmten Stadt oder Sehenswürdigkeit darzustellen. Chinesi-
sche Alltagskultur spielt in diesem Buch, wie in vielen anderen Reiseführern, kaum
eine Rolle.
Weitere Kategorien der Reiseliteratur haben anscheinend keinen großen Einfluss auf
das Chinabild der Deutschen. Es gibt zwar eine große Menge an Reiseliteratur, sowohl
ältere als auch aktuelle, die auch relativ gut erforscht ist, aber China kommt darin sel-
ten vor.
116
Eher scheinen noch Romane eine Rolle zu spielen. In Bibliotheken und
Buchhandlungen findet man zahlreiche Unterhaltungsromane über China. Da es in
dieser Untersuchung jedoch vorrangig um Forschungsliteratur, Sachbücher und Rat-
geber gehen soll, wird auf diese nicht näher eingegangen.
2.7 Kulturtheoretische Kritik der Forschung
Wie der Diskurs um ,,asiatische Werte" zeigt, - der übrigens von Ole Döring als ,,eine
grundlegende konzeptionelle Schwäche der heutigen Chinawissenschaften" bezeich-
115
Ebd., S. 50, 53.
116
Siehe z. B. Ulla Biernat (2004): ,,Ich bin nicht der erste Fremde hier". Zur deutschsprachigen Rei-
seliteratur nach 1945. Würzburg. Nach Biernat hatten Reisen von DDR-Schriftstellern ins sozialistische
Ausland seit den 1950er Jahren in der DDR Tradition, woraus auch China-Reiseberichte hervorgingen.
Siehe: ebd., S. 41. Nach der Wende erschien z. B. Christian Krachts Asien-Reisebericht ,,Der gelbe
Bleistift" (2000). Siehe: ebd., S. 189.

34
net wurde
117
- so ist der kulturalistische Ansatz auch in der interdisziplinären China-
forschung ein gängiger, aber zu kritisierender Ansatz. Die Schwäche der Chinawis-
senschaften durch den unreflektierten Gebrauch oben genannter, veralteter Ansätze
zeigt sich besonders deutlich darin, dass deutsche Forscher durch Thesen wie die Sa-
muel Huntingtons vom ,,Kampf der Kulturen"
118
verunsichert wurden und mit ,,Ohn-
macht" reagieren,
119
obwohl Huntingtons Analyse auf unwissenschaftlichen und irra-
tionalen Postulaten und Behauptungen beruht. Denn die Sinologie ist laut Döring sel-
ber gefangen in einem uralten Diskurs und hat es ,,regelmäßig versäumt", rationalisie-
rende Diskurse in die Forschung einzubringen.
120
Der einstige kulturalistische Dis-
kurs, u. a. bei Max Weber, der der deutschen Chinaforschung zur Vorreiterschaft ver-
holfen hat, ist nun ein Nachteil für die deutsche Chinaforschung.
Zusätzlich zu den oben festgestellen Mängeln sind in allen Chinaforschungen kultur-
theoretische und xenologische Unzulänglichkeiten zu kritisieren. Bevor hier auf die
doppelte Problematik eingegangen wird, ist zunächst die Verknüpfung der Chinafor-
schung mit kulturtheoretischer sowie xenologischer Forschung zu erklären.
Im Jahr 1990 fand ein Symposium mit dem Ziel der Entwicklung einer interdisziplinä-
ren und interkulturellen Fremdheitsforschung statt.
121
Zu diesem Zweck wurde die
Fremdheitsanalyse aus der Sicht verschiedener Fachdisziplinen (Ethnologie, Volks-
kunde, Soziologie, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Interkulturelle Germanis-
tik etc.) diskutiert. Bei den Untersuchungen wurden in den meisten Wissenschaften
verschiedene Defizite im Bereich der Fremdheitsforschung festgestellt. Die Folge der
Veranstaltung war der Aufbau einer kulturwissenschaftlichen Fremdheitsforschung.
Die ausgearbeiteten Beiträge des Kolloquiums wurden mit einer xenologischen Aus-
wahlbibliographie versehen und unter dem Titel ,,Kulturthema Fremdheit" herausge-
geben.
122
117
Döring, 1999, S. 69.
118
Der amerikanische Politikwissenschaftler Huntington vertritt die These der Ablösung der National-
staaten durch Kulturen und sagt den Kampf der Kulturen (im Hinblick auf die Auseinandersetzung von
Muslimen und Nichtmuslimen) voraus: Samuel P. Huntington (1996): The Clash of Civilizations. New
York (deutsche Übersetzung: Kampf der Kulturen, München 1996).
119
Diese deutliche Kritik stammt von Döring. Vgl. Döring, 1999, S. 70.
120
Ebd.
121
Vgl. Wierlacher, 1993a.
122
Zu dieser Entwicklung der Fremdheitsforschung vgl. Wierlacher, 1993a; Albrecht, 1992, S. 544-
546; ältere Beiträge der Interkulturellen Germanistik zu diesem Thema finden sich u. a. in: Alois Wier-

35
Die kulturwissenschaftliche Xenologie entwickelte sich in den Anfängen unsystema-
tisch, vom Lexikonartikel ,,Xenos" des Theologen Gustav Stählin (1954) über das
Buch ,,Xenologie" des afrikanischen Ethnologen Munasu Duala-M´bedy (1977) im
Sinne einer transdisziplinären Fremdheitsreflexion bis zur Bezeichnung des Faches
Deutsch als Fremdsprache als ,,Xenogermanistik" durch den Romanisten und Germa-
nisten Harald Weinrich im Jahre 1980, bis Wierlacher sie als Fremdheitslehre syste-
matisierte.
123
In Metzlers Lexikon für Literatur- und Kulturtheorie wird sie, Alois
Wierlacher folgend, definiert:
,,Xenologie (gr. xenos: fremd, Fremder; gr. logos: Vernunft, Rede, Wort), Bezeichnung für
interdisziplinär und interkulturell ausgerichtete Fremdheitsforschung. Die Hauptgegenstän-
de der aus der interkulturellen Germanistik hervorgegangen Xenologie (...) sind die Er-
scheinungsformen und Einschätzungen kultureller Fremdheit und des Fremden, das Ver-
hältnis und die Interdependenz von Fremdem und Eigenem, die Konstitution von Fremd-
heitsprofilen und Fremdheitskonstruktionen, Möglichkeiten und Grenzen des Fremdverste-
hens, interkulturelle Verständigungsprobleme sowie Formen und Funktionen von Stereoty-
pen, Vorurteilen und Xenophobie."
124
Zu den Forschungsaufgaben der Xenologie gehören nach Wierlacher
,,die Theorie kultureller Alterität, die verhaltensleitenden Rahmenbegriffe interkultureller
Kommunikation und Hermeneutik, die kulturdifferente Konstitution von Fremdheitsprofilen
und Fremdheitsgraden, die kulturelle Funktion und Wirkungsweise fremdheitsfeindlicher
Vorurteile, das Instrumentarium der Toleranz, die Funktion von Fremdheitskonstruktionen,
die Interrelation von Fremdheit und Initiative, die Rolle Fremder im Kulturwandel, die Be-
deutungssetzungen von Fremderfahrungen in der Kunst und die Probleme interkulturellen
,Verstehens'."
125
Die Fremdheitsforschung (Xenologie) berücksichtigt die konstitutive Rolle kultureller
Fremdheit.
126
Diese Funktion erfüllt sie laut Corinna Albrecht auf folgende Weise:
,,Sie ist Ort theoretisch-methodischer Arbeit an den [...] Aufgaben, die im Interesse einer
interkulturell orientierten interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Fremdheitsforschung
liegen. Gleichzeitig ordnet sie die spezifischen Fremdheitsfragen des Faches in einen größe-
lacher (Hg.) (1985a): Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik.
München.
123
Vgl. Wierlacher/Albrecht, 2003, S. 281 ff.
124
Zitiert nach Ansgar Nünning (1998): ,,Xenologie". In: Metzler Lexikon Kultur- und Literaturtheo-
rien. Stuttgart, S. 576.
125
Zitiert nach Wierlacher, 1993b, S. 52.
126
Siehe Albrecht, 2003a, S. 544.

36
ren Forschungskontext ein. Sie stellt die Schnittstelle zu anderen kulturwissenschaftlichen
Forschungsansätzen und -ergebnissen her und dient dem interdisziplinären Austausch, der
Rezeption und Umsetzung von interdisziplinären Ansätzen in die eigene Forschungs- und
Lehrpraxis. Genuine und zentrale Anliegen dieser Praxis sind der Erwerb und die Vermitt-
lung von Fremdheitswissen. [...] Dieses theoretisch-begriffliche Fremdheitswissen wird er-
gänzt durch ein kulturhistorisch akzentuiertes Wissen über Fremdheit, Fremdes und den
Umgang mit ihnen. [...] Die Vernetzung verschiedener Gegenstandsbereiche, Fragestellun-
gen und analytischer Vorgehensweisen gibt der Komponente Xenologie eine besonders an-
schlussfähige Stellung im Gesamtkonzept des Faches."
127
Anknüpfungspunkte gibt es zur Medienforschung sowie zu den ,,literaturwissenschaft-
lichen, linguistischen, landeskundlichen und kulturvergleichenden Komponenten".
128
Die xenologische und kulturtheoretische Kritik an der Forschung über China als ei-
nem fremden Land und einer fremden Kultur hat bisher wenig stattgefunden. Eine
kulturwissenschaftliche Methodenreflexion über fremdkulturprofilierende China-
Studien zum Zweck des Erkenntnisgewinns über eine fremde Kultur ist überfällig.
Zwar sind unzählige Forschungen über Chinabilder der Deutschen entstanden, aber
eine systematische Reflexion über die Chinaprofilierungen mit grundlegenden kultur-
wissenschaftstheoretischen Überlegungen wie die Reflexion über den Begriff der Kul-
tur und über die Methode des Kulturvergleichs, die der Fremdheitsprofilierung über
China zugrunde liegen, liegt nicht vor. Das gilt auch für Interkulturelle Germanistik
selbst, obwohl es viele theoretische Reflexionen geleistet hat, wie es an vielen Stellen
der Arbeit erwähnt ist. Nur Zhiqiang Wang hat mit seiner Dissertation über Fremd-
heitsprofile einer deutschen Literaturgattung, der China-Reiseführer, eine xenologi-
sche Verbindung zur Kulturforschung über China hergestellt,
129
während die Unter-
suchung und Arbeit von Jinfu Tan
130
kaum über die Kulturtheorie oder die allgemeine
Xenologie Chinas reflektiert. Die vorliegende Arbeit versteht sich somit als konkretes
Beispiel und Beitrag der xenologischen und Forschung über China.
127
Ebd., S. 544 f.
128
Ebd., S. 545.
129
Hierzu siehe Wang, 2000.
130
Siehe: Jinfu Tan (1997): Die Entwicklung der deutsch-chinesischen Kulturbeziehungen 1949-1989.
Regensburg.

37
1. Kapitel: Dokumentation. Fremdheitsprofilierungen Chinas in
verschiedenen Diskursen zwischen 1949 und 2005
1.1 Historischer Rückblick: Vorstellung über China als Fremde
in der Geschichte
Die Wahrnehmung Chinas in Europa findet seit langer Zeit statt. Abgesehen von den
Berichten, die von legendären Reisenden wie Marco Polo (13. Jahrhundert) geliefert
wurden, begann die gegenseitige Beziehungsaufnahme, die Vertiefung der Wahrneh-
mung und Profilierung Chinas im 14. Jahrhundert durch Kontakte der christlichen
Missionare. Nach der Kolonialzeit und der Epoche der europäischen Mächte in China
im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde die chinesische Volksrepublik gegründet.
Mit der Anerkennung der chinesischen Volksrepublik von Seiten der deutschen Bun-
desrepublik setzte die bis zur Gegenwart andauernde Ära der diplomatischen Bezie-
hungen ein. Seitdem wird immer wieder China und das autoritäre Gesellschaftssystem
des Landes dem demokratischen Deutschland gegenübergestellt.
Die Profilierung Chinas verlief von Epochen zu Epochen ,,zwischen Idealisierung und
Verteufelung"
131
. Bis zum 18. Jahrhundert wurde China vor allem von Jesuiten und
philosophischen Aufklärern positiv dargestellt.
132
Ab dem 19. Jahrhundert wurde
China als rückständiges Land im Kontrast zum fortschrittlichen Europa dargestellt.
133
Der Sinologe und freie Publizist Hans-Wilm Schütte beschreibt es wie folgt:
,,Im Zeitalter der Aufklärung, namentlich bei Leibniz und Voltaire [...], so bedeutend die
Rolle Chinas bei namhaften Denkern jener Ära auch war, so wenig ist doch zu übersehen,
dass China vom Ende des 18. Jahrhunderts an in einem Abgrund von Verachtung und De-
sinteresse versank. Schon in Rousseaus Zivilisationskritik fungierte das uralte Reich der
Mitte als Musterfall einer degenerierten Kultur."
134
131
Vgl. Hilsmann, S. 14.
132
Ebd., S. 15 f.
133
Ebd, S. 16.
134
Zitiert nach Hans-Wilm Schütte (1999): Die akademische Etablisierung der Chinawissenschaft. Mit
einem Blick auf die Wissenschafts- und Kulturgeschichte. In: Helmut Martin/Christiane Hammer (Hg.):
Chinawissenschaften ­ Deutschsprachige Entwicklungen. Geschichte, Personen, Perspektiven. Ham-
burg, S. 19-26, S. 19 f.

38
Ab dem 20. Jahrhundert entwickelte sich - nach Hilsmanns Analyse von Presseberich-
ten - allmählich ein vielgesichtiges Chinabild.
135
Welche Unterschiede es bei der Dar-
stellung Chinas von Epoche zu Epoche zwischen den beiden extremen Einstellungen
Faszination und Ablehnung gab und welche zeitübergreifenden Gemeinsamkteiten
sich finden, wird im foglenden Abschnitt erläutert.
1.2 Chinaprofilierungen zwischen 1949 und 2005
1.2.1 Zeit übergreifende Profile
Es ist die (behauptete) Fremdheit, die den Grundton in den zeitübergreifenden China-
profilierungen bestimmt. Diese Fremdheit, die in Presseberichten und in China-
Büchern vermittelt wird, durchzieht wie ein roter Faden die Chinaprofilierung vom
Anfang bis heute. Dabei sind zwei typische Fremdheitsmerkmale in Chinadarstellun-
gen zu erkennen: Faszination und Abneigung. Dazu gehört die emotionale, negative
und furchtsame Einstellung, wie sie z. B. in dem in verschiedenen Varianten oft zitier-
ten Ausspruch Napoléons zum Ausdruck kommt: ,,Wenn China erwacht, erbebt die
Welt".
136
Typische Darstellungen über China sind solche über die Bevölkerungsmas-
sen, über die Reformen und die kulturelle und politische Darstellung Chinas als Ge-
gensatz zum Westen.
137
In Bezug auf die wirtschaftlichen Reformen und sozialen
Umbrüche wird vor allem der Aspekt ,,Wandel" oder ,,Dynamik" hervorgehoben.
Kontrastiert wird immer wieder zwischen dem 'alten' und dem 'neuen' China.
138
So-
ziokulturell wird China oft als ,,Reflex von Tradition und Neuerung" interpretiert.
139
Nach Ansicht der Verfasserin handelt es sich bei der Andersheit und Fremdheit Chi-
nas um ein Vorurteil, das vor jeder eigenen Erkenntnis vorausgesetzt wird, wenn man
China als ,,unberechenbar"
140
und ,,geheimnisvoll"
141
darstellt. Aufgrund ihrer Un-
wissenheit und Ungewissheit über China schwanken die Autoren zwischen ,,Ergrün-
135
Hierzu vgl. Hilsmann, S. 16 ff.
136
Zitiert nach ebd., vgl. Hilsmann, S. 1.
137
Ebd., S. 80 ff.
138
Dazu vgl.: ebd., S. 87 f.
139
Zitiert nach dem Titel des Buches: Gregor Paul/ Martin Woesler (Hg.) (2000): Zwischen Mao und
Konfuzius? Die Geschichte der Volksrepublik China als Resultat und Reflex und Tradition und Neue-
rung. Bochum.
140
Diese Formulierung zitiert nach Edgar Bauer (1997): Die unberechenbare Weltmacht. China nach
Deng Xiaoping. Berlin.
141
Diese Formulierung zitiert nach Hilsmann, S. 1.

39
denwollen und Unverständnis".
142
Indem China und die chinesische Kultur als An-
dersheit vorausgesetzt werden, entstehen in den China-Büchern Etiketten wie 'chinesi-
sche Denkweise', 'asiatisches Verhalten', 'chinesischer Weg', 'chinesische Tradition'
oder 'asiatische Ordnung'.
1.2.2 Zeitspezifische Profilierungen
Wenn man die Publikationen über China untersucht, kann man Schwerpunktthemen in
verschiedenen Perioden feststellen, die jeweils einem auslösenden Ereignis folgten:
-
Gründung der Volksrepublik China 1949;
-
Reformen und Öffnung Chinas 1978;
-
Wirtschaftsentwicklung im Zuge der Reformen der 1980er Jahre;
-
Niederschlagung der 1989er Studentenbewegung;
-
Wirtschaftsboom der 1990er Jahre;
-
1997: Rückgabe Hongkongs und asiatische Finanzkrise;
-
Jahrtausendwende: innere soziale Konfliktpotentiale, ökologische Probleme,
Rolle Chinas in der Globalisierung.
1.2.2.1 Von der Gründung der Volksrepublik bis Ende der 1960er Jahre
Wegen des gegenüber der Außenwelt verschlossenen kommunistischen Regimes in
den Jahren nach der Gründung der Volksrepublik war das Chinabild von der Ost-
West-Konfrontation geprägt: China wird als ,,Karte im weltpolitischen Kräftespiel"
betrachtet.
143
Die damaligen Diskurse über die Sozialisierung des Eigentums, den so-
genannten Großen Sprung nach vorne und den propagierten Kollektivismus im Ge-
142
Zitiert nach ebd.
143
So Näth, S. 30.

40
sellschaftsleben in China sind bis heute bekannt. Die Reflexion über die Fremde wur-
de Anlass zur Interpretation eigener, deutscher Kultur und Geschichte: während der
Studentenbewegung in Deutschland wurden Mao und seine kollektivistischen und so-
zialistischen Theorien idealisiert.
Das von Xenophilie geprägte Nichtwissen in dieser Zeit kennzeichnete das Chinabild
in der damaligen deutschen Fremdheitswahrnehmung über China. Jürgen Domes
meint, die Verschönung des Fremden habe bewusst stattgefunden. Er kritisiert die
Verschönung der kritischen Realität des damaligen China in Deutschland:
,,Aus der Katastrophe der Politik des 'Großen Sprungs nach vorn', der größten und nach
Aussagen ihrer politischen Mitverursacher hausgemachten Hungersnot Chinas in der ge-
samten Geschichte, ging die chinesische Volksrepublik im damaligen Wirtschaftswunder-
land Bundesrepublik Deutschland als ein 'Entwicklungsmodell' hervor. Wissenschaftler und
politische Referenten sahen sehr wohl, was tatsächlich in China vor sich ging, aber sie mein-
ten mehrheitlich, die Ausmaße des Hungers einschränken und in diesen Einschränkungen
mit den ältesten, keineswegs harmlosen, aber andererseits einzigen Problemen entschuldi-
gen zu dürfen, die der chinesische Bauer kennt: allzu starke Regenfälle hier, allzu lang an-
dauernde Trockenperioden dort und saisonale Stürme und Überflutungen der großen Strö-
me. "
144
1.2.2.2 1970er bis Anfang der 1980er Jahre
Während der Zeit des Kalten Krieges stand China in einer Zwischenposition: Zwar ist
es ein 'sozialistischer Staat', der sich jedoch - im Vergleich zur Sowjetunion ­ auf
dem Weg zur Liberalisierung und Öffnung befindet. Entsprechend zwiespältig waren
die Berichterstattungen und Publikationen, wie Hilsmann beschreibt:
,,Die Reformen fanden eine große Zustimmung. Dahingegen wurden kommunistische As-
pekte weitestgehend kritisch behandelt."
145
Die in der westlichen Presse verwendeten, auf China bezogenen Formulierungen war-
en auch in 1970er Jahren oft ,,langer Marsch", ,,Großer Sprung", ,,Mao Zedong"
etc.
146
Einer der frühesten Vorwürfe mit dem Stichwort 'Menschenrechte' fand Näth
144
Zitiert nach Domes, S. 3.
145
Zitiert nach Hilsmann, S. 81.
146
Solche Formulierungen werden zusammenfasst bei Hilsmann, S. 76.

41
zufolge in einer von den USA initiierten Untersuchung statt. Anlass war die Zwangs-
abtreibung in der Ein-Kind-Politik und die Geburtenkontrolle.
147
Ungewissheit und
Unwissenheit prägten weiterhin die China-Darstellungen. Die Zukunft der wirtschaft-
lichen und politischen Reformen erschien der internationalen Öffentlichkeit meistens
unvorhersehbar. Dieses Nichtwissen wurde aus der kulturellen Verschiedenheit heraus
erklärt: So scheint beispielsweise ,,die traditionelle Machtidee" auf chinesischer
Staatsebene dem Westen auf den ersten Blick ,,kulturell fremd" zu sein.
148
1.2.2.3 Anfang der 1980er Jahre bis 1989
Das Interesse der deutschen Medien, über China zu berichten und China darzustellen,
steigt in dieser Zeit:
,,Die Zahl der ausländischen Korrespondenten in China ist in den letzten Jahren kontinuier-
lich angestiegen. 1978 waren knapp 60 in Peking akkreditiert, 1987 betrug die Zahl mit 150
mehr als das Doppelte. Inzwischen hat sie sich ein weiteres Mal verdoppelt. (...) Die Bun-
desrepublik Deutschland ist mit 19 akkreditierten Medienvertretern die insgesamt fünft-
stärkste Nation in Peking, die zweitstärkste aus Europa. Die meisten Anmeldungen haben
die USA (56), Japan (41), Südkorea (22) und Großbritannien (21). [...] Unter den 19 deut-
schen Medienvertretern, gehören acht den Sendern der ARD (Hörfunk und Fernsehen) und
des ZDF an. Zwei sind Korrespondenten der dpa. Die übrigen neun vertreten hauptsächlich
Tageszeitungen und Wochenblätter: die FAZ, die Berliner Zeitung, die taz, das Handels-
blatt, die Wirtschaftswoche, den Spiegel sowie die Zeit und die Süddeutsche Zeitung."
149
Obwohl noch immer vorwiegend über politische Themen berichtet wurde, häuften
sich mit der Zeit die Darstellungen über Chinas wirtschaftliche Entwicklung. Positiv
wurde über die wirtschaftliche Liberalisierungstendenz und über die Reformen berich-
tet. Man glaubte nun, Entwicklungstendenzen Chinas deutlicher erkennen zu können:
die Liberalisierung der politischen und gesellschaftlichen Systeme sowie die Entwick-
lung und Liberalisierung der Wirtschaft. Seit der Niederschlagung der 1989er Demo-
kratiebewegung konzentrierte sich die westliche Beobachtung wieder auf politische
Themen. Viele Publikationen in dieser Zeit beschäftigen sich mit der Diskrepanz zwi-
schen der wirtschaftlichen und politischen Modernisierung bzw. mit der Koexistenz
147
Hierzu vgl. Näth, S. 39.
148
Zu dieser Auffassung über China in der deutschen Presse siehe Hilsmann, S. 81.
149
Zitiert nach Hilsmann., S. 33.

42
des liberalen Wirtschaftssystems mit dem autoritären Politiksystem.
150
Die dadurch
verursachte Spannung bringt wieder Ungewissheit in die Berichte über das fremde
China und über die weitere Entwicklung des Landes, wie Hilsmann die damalige Si-
tuation beschreibt:
,,So standen die Gesellschaften in West und Ost desorientiert da, als der Überfall der chine-
sischen Volksbefreiungsarmee auf die chinesische Zivilbevölkerung begann. Mit einem Ma-
le schien wieder rundweg alles für möglich gehalten zu werden müssen."
151
1.2.2.4 1990 bis 1997
Wegen des oben beschriebenen Einschnitts aufgrund der Niederschlagung der demo-
kratischen Bewegung gewinnt das Thema Menschenrechte rasant an Bedeutung.
152
Mit dem Thema Menschenrechte eng verbunden ist die allgemeine ,,negative Ten-
denz" in journalistischen Berichten über China,
153
so dass seit 1989 China ,,ein nega-
tives Image in Deutschland"
154
hat. Die jeweilige ,,politische Ausrichtung der Zei-
tung" hat der Untersuchung von Hilsmann zufolge keinen Einfluß auf die Einstellung
gegenüber China. ,,Eine eindeutige Grenze zwischen der Berichterstattung konservati-
ver und der linksliberaler Blätter ließ sich nicht ziehen."
155
Das politische Interesse nahm mit dem Trend des ,,Negativismus" in der China-
Berichterstattung an Bedeutung zu.
156
Anstatt ,,relativer gleichmäßiger"
157
Verteilung
der negativen und positiven Formulierungen wie in der Berichterstattung über China
Mitte der 1980er Jahre ,,traten alle Begriffe" in den Jahren seit 1990 ,,hinter dem des
'drohenden Chinas' zurück."
158
China wurde in der Presse überwiegend dargestellt als
150
Vgl. dazu Kapitel 1.2.3.1.5 und 1.2.3.1.6.
151
Zitiert nach Hilsmann., S. 6.
152
Diese Tendenz in den Medienberichten wird dargestellt in der Untersuchung von Hilsmann, S. 94
ff.
153
Vgl. ebd., S. 95.
154
Vgl. Trampedach., S. 87.
155
Siehe ebd., S. 96.
156
Diese Tendenz wird von Hilsmann angeführt, siehe ebd., S. 62 ff.
157
Vgl. Hilsmann, S. 76.
158
Diese Formulierung zitiert nach ebd.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783836626170
Dateigröße
1.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn – Philosophische Fakultät
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
2,0
Schlagworte
china sinologie fremdheit kulturvergleich menschenrechte
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Titel: Das fremde China
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