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Pädagogik der Anerkennung

©2008 Diplomarbeit 144 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Kulturen und Gesellschaften fordern zeitgenössische Lerntheorien und sich darauf beziehende Pädagogien. Jene können jedoch erst dann wahrhaftig wirksam werden, wenn ihre zeitgenössischen Forderungen erkannt und der Mensch in ihr und durch sie verstanden wird. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem ganzheitlichen Verständnis des Menschen und impliziert im Focus seine größte Begabung: die Fähigkeit zu lernen. In Kapitel 2, Scham und Anerkennung, wird vorerst auf das eingegangen, was Lernen be- oder verhindert. Nur so kann deutlich werden, was die größte Begabung des Menschen fordert, die Selbstanerkennung und Selbstwirksamkeit. Kapitel 3 befasst sich mit den Beweggründen des menschlichen Lernens und seinen Unterschieden. In Kapitel 4 wird Lernen aus den unterschiedlichen Perspektiven der Neurobiologie und Pädagogik beleuchtet. Das Kapitel 5 befasst sich mit verschiedenen Lerntheorien in Bezug auf ihren geschichtlichen Kontext. Da der Mensch in einer anerkennenden aktuellen Pädagogik generell individuell zu beleuchten ist, wird im Kapitel 6 der didaktische Konstruktivismus, als Lern- und Erkenntnistheorie ausführlicher dargestellt. Inwieweit der Mensch in seinen Gegebenheiten ganzheitlichen, gesellschaftlichen Prägungen ausgesetzt und unterlegen ist, die sein Lernen entscheidend beeinflussen, wird in Kapitel 7 Sozialisation besprochen.
Die intimsten und prägendsten Gruppengefüge, die im Sozialisationskontext verankert sind, werden im Kapitel 8 der Gruppen beleuchtet. Der Mensch wurde in den vorherigen Kapiteln aus unterschiedlichen Perspektiven und im Kontext seiner Sozialisationsbedingungen betrachtet. Kapitel 9 legt den Focus auf seine Identität, sein Selbst und seine Moralentwicklung. Kapitel 10 bildet den Abschluss und befasst sich mit der wichtigsten Unterstützung, der ein Mensch im aktuellen Kontext in Bezug auf Lernen bedarf: der Resilienz- und Selbstwirksamkeitsförderung. Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
1.Einleitung1
2.Scham und Anerkennung3
2.1Scham3
2.2Formen der Scham4
2.3Gibt es eine Ur-Scham6
2.4Schamabwehrverhalten7
2.5Beschäme und herrsche9
2.6Anerkennung versus Scham- eine pädagogische Geheimwaffe11
2.7Selbstanerkennung14
3.Lernen, wir unterscheiden uns16
3.1Warum lernen Menschen?16
3.2Wir sehen das, was wir kennen19
4.Was ist Lernen?24
4.1Lernen aus der Sicht der Neurobiologie24
4.2Allgemeines Lernen, wie funktioniert es?25
4.3Lernen unterteilt sich in Phasen27
4.4Die […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kristina Lange
Pädagogik der Anerkennung
ISBN: 978-3-8366-2522-7
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2009
Zugl. Universität Kassel, Kassel, Deutschland, Diplomarbeit, 2008
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2009

Vorwort
Es sind die einfachen alltäglichen Dinge im Leben, die mich dazu be-
wegen, stark oder schwach zu sein. Ich habe immer wieder bemerkt,
dass ich selbst einen entscheidenden Anteil dazu beitrage, wie meine
Umwelt mit mir und ich mit ihr umgehe. In den letzten Jahren habe
ich stetig versucht, meinem jeweiligen Gegenüber Offenheit, Beach-
tung und Anerkennung zu vermitteln. Große Worte, die jedoch im
Vergleich kleine Gesten fordern. Ein Lächeln, Zuspruch, eine Motiva-
tion, wirkliches Interesse, eine sachliche Kritik, ernst gemeinte Hilfe-
stellung oder eine Umarmung können in einem Menschen viel Positi-
ves auslösen. Dieses Level ist natürlich nicht immer zu halten, deswe-
gen versuche ich, mir eine entsprechend gesunde innerliche Haltung
anzueignen und sie authentisch im Alltag zu leben.
Unabhängig davon, welcher pädagogische Ansatz vertreten wird, ist
es wichtig zu verstehen, dass die heutige Gesellschaft, die einerseits
gekennzeichnet ist durch Überfluss, Schnelllebigkeit, Leistungsdruck,
Oberflächlichkeit und Egoismus, aber andererseits auch durch Armut
und Ausgrenzung, einen Ausgleich fordert.
Nicht nur die Starken sollten gefordert und gefördert werden, son-
dern eben auch die Schwachen. Eine Pädagogik der Anerkennung
betrachtet den Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven, steht
ihm offen in seinem Wesen gegenüber, schenkt gesunde Anerken-
nung und Wertschätzung und fördert individuell die Selbstwirksam-
keit wie ebenfalls die Selbstwirksamkeitsüberzeugung des einzelnen.
In Filmprojekte mit der Methode der biographischen Spielfilmarbeit
konnte ich mehrfach Erfahrungen sammeln, was ein resilienter Um-
gang bewirken kann. Wenn kleine Gangster beginnen mit ihrem Ge-
genüber rücksichtsvoll umzugehen, demotivierte zurückgezogene

Außenseiter es genießen, im Rampenlicht zu stehen, schüchterne
Mädchen bemerken, dass ihre Stimme gefordert ist oder Quatsch-
köpfe anfangen, über ihr Verhalten nachzudenken und Versager zu
Recht stolz auf sich sind, dann ist das ein sichtbarer und deutlicher
Erfolg. Potentiale, die durch Selbstwirksamkeitsbestärkung freigesetzt
werden können, vermögen Erstaunliches zu bewirken. Einzelgänger
werden gemeinschaftsfähig, Nieten zielorientiert und Ignorante rück-
sichtsvoll. Kompetenzen, die für einen gelungenen positiven Lebens-
weg die Basis bilden. Diese Entwicklungsgänge sind erstarkende
Lernprozesse, die ich in Projekten der biographischen Spielfilmarbeit
beobachten konnte. Die positiven Erfahrungen bestärken mich und
sind Beweggrund, mich mit einer wirksamen Pädagogik der Anerken-
nung auseinanderzusetzen.

Inhaltsverzeichnis
I
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung ... 1
2
Scham und Anerkennung ... 3
2.1
Scham ... 3
2.2
Formen der Scham ... 4
2.3
Gibt es eine Ur-Scham ... 6
2.4
Schamabwehrverhalten ... 7
2.5
Beschäme und herrsche ... 9
2.6
Anerkennung versus Scham- eine pädagogische Geheimwaffe ... 11
2.7
Selbstanerkennung ... 14
3
Lernen, wir unterscheiden uns ... 16
3.1
Warum lernen Menschen? ... 16
3.2
Wir sehen das, was wir kennen ... 19
4
Was ist Lernen? ... 24
4.1
Lernen aus der Sicht der Neurobiologie ... 24
4.2
Allgemeines Lernen, wie funktioniert es? ... 25
4.3
Lernen unterteilt sich in Phasen ... 27
4.4
Die Wahrnehmungs-Erfahrungs-Landkarte ... 29
4.5
Was bedeutet Wahrnehmung? ... 31
4.6
Neurobiologie und Pädagogik ... 34
5
Die Klassischen Lerntheorien ... 35
5.1
Die Klassische Konditionierung ... 35
5.2
Geschichtliche Einbettung der Klassischen Konditionierung ... 35
5.3
Der Ansatz der Klassischen Konditionierung ... 36

Inhaltsverzeichnis
II
5.4
Die Operante Konditionierung ... 39
5.5
Geschichtliche Einbettung der operanten Konditionierung ... 40
5.6
Der Ansatz der operanten Konditionierung ... 41
5.7
Der Ansatz integrativer Lerntheorien ... 43
5.8
Geschichtliche Einbettung integrativer Lerntheorien ... 44
5.9
Clark Leonard Hull 1884-1952 ... 45
5.10
O. Hobart Mowrer 1907-1982 ... 46
5.11
Edward Chace Tolman 1886-1959 ... 47
5.12
Der Ansatz sozialer Lerntheorien ... 47
5.13
Geschichtliche Einbettung sozialen Lernens ... 48
5.14
Julian B. Rotter (1906-) ... 49
5.15
Martin Seligman (1942-) ... 50
5.16
Albert Bandura (1925-) ... 51
5.17
Die Gestaltpsychologie... 52
5.18
Geschichtliche Einbettung der Gestaltpsychologie ... 52
5.19
Der Ansatz der Gestaltpsychologie ... 53
6
Der didaktische Konstruktivismus ... 57
6.1
Übergreifende konstruktivistische Begriffe... 57
6.2
Der Mensch ist ein geschlossenes System ... 57
6.3
Der Mensch konstruiert seine eigene Welt ... 58
6.4
Die Intersubjektivität ... 59
6.5
Die Viabilität ... 60
6.6
Einführungen in die konstruktivistische Lerntheorie ... 61
6.7
Die Entwicklung der konstruktivistische Didaktik ... 63
6.8
Konstruktivistische Didaktik ... 64
7
Sozialisation ... 66
7.1
Individualität und Sozialcharakter ... 68
7.2
Innere und äußere Welt ... 70

Inhaltsverzeichnis
III
7.3
Strukturen des Sozialisationsprozesses ...71
7.4
Phasen des Sozialisationsprozesses ... 74
7.5
Die Selbstwirksamkeit ... 77
8
Gruppen ... 80
8.1
Primärgruppen ... 80
8.2
Die Familie als einflussreichste formelle Primärgruppe ... 81
8.3
Eltern und Kind ... 82
8.4
Geschwister ... 86
8.5
Familie und Autonomie ... 89
8.6
Informelle Gruppen ... 92
8.7
Peer-Groups und ihre Funktionen ... 93
8.8
Selbstvertrauen als Basis der Peer-Groups ... 96
8.9
Freundschaften ... 98
9
Identität ... 101
9.1
Das Selbst aus unterschiedlichen Perspektiven ... 104
9.2
Das Entscheidende des Selbst - die Moral ... 107
9.3
Ich ­Stärke vs. moralisches Wissen und unmoralisches Handeln ... 110
9.4
Moralentwicklung... 110
10
Resilienz ... 114
10.1
Die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben der Altersstufen ... 115
10.2
Widerstandskraft ... 117
10.3
Resilienz ist lernbar ... 119
10.4
Was kennzeichnet resiliente Kinder und ihr Umfeld ... 120
10.5
Wie wird ein Mensch resilienzfähiger ... 123
10.6
Resilienzförderung ... 124
11
Resümee ... 127
12
Quellenverzeichnis ... 129

Einleitung
1
1
Einleitung
Kulturen und Gesellschaften fordern zeitgenössische Lerntheorien
und sich darauf beziehende Pädagogien. Jene können jedoch erst
dann wahrhaftig wirksam werden, wenn ihre zeitgenössischen Forde-
rungen erkannt und der Mensch in ihr und durch sie verstanden wird.
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem ganzheitlichen Verständ-
nis des Menschen und impliziert im Focus seine größte Begabung: die
Fähigkeit zu lernen.
In Kapitel 2, Scham und Anerkennung, wird vorerst auf das eingegan-
gen, was Lernen be-oder verhindert. Nur so kann deutlich werden,
was die größte Begabung des Menschen fordert, die Selbstanerken-
nung und Selbstwirksamkeit.
Kapitel 3 befasst sich mit den Beweggründen des menschlichen Ler-
nens und seinen Unterschieden.
In Kapitel 4 wird Lernen aus den unterschiedlichen Perspektiven der
Neurobiologie und Pädagogik beleuchtet.
Das Kapitel 5 befasst sich mit verschiedenen Lerntheorien in Bezug
auf ihren geschichtlichen Kontext.
Da der Mensch in einer anerkennenden aktuellen Pädagogik generell
individuell zu beleuchten ist, wird im Kapitel 6 der didaktische Kons-
truktivismus, als Lern- und Erkenntnistheorie ausführlicher darges-
tellt.
Inwieweit der Mensch in seinen Gegebenheiten ganzheitlichen, ge-
sellschaftlichen Prägungen ausgesetzt und unterlegen ist, die sein
Lernen entscheidend beeinflussen, wird in Kapitel 7 Sozialisation
besprochen.

Einleitung
2
Die intimsten und prägendsten Gruppengefüge, die im Sozialisations-
kontext verankert sind, werden im Kapitel 8 der Gruppen beleuchtet.
Der Mensch wurde in den vorherigen Kapiteln aus unterschiedlichen
Perspektiven und im Kontext seiner Sozialisationsbedingungen be-
trachtet. Kapitel 9 legt den Focus auf seine Identität, sein Selbst und
seine Moralentwicklung.
Kapitel 10 bildet den Abschluss und befasst sich mit der wichtigsten
Unterstützung, der ein Mensch im aktuellen Kontext in Bezug auf
Lernen bedarf: der Resilienz- und Selbstwirksamkeitsförderung.

Scham und Anerkennung
3
2
Scham und Anerkennung
2.1
Scham
,,Ich sitze vor meinem Computer und betrachte John, die Tulpe, einen
Tulpenmann aus Stoff, den mir mein Vater geschenkt hat. Er trägt eine
zu kurz geratene grüne Latzhose, streckt seine Blattarme in die Höhe
und lächelt mich hämisch von der Seite an. Wir beide haben oft Blick-
kontakt. Ich würde fast behaupten, dass er sich im Laufe der Zeit zu
einer Art Freund oder Sympathisant entwickelt hat. Natürlich weiß ich
es besser, trotzallem gebe ich ihm zuweilen einen neuen Spitznamen.
John die Tulpe, alias Don Tulpo, begleitet mich durch meine Diplomar-
beit. Ich gehe davon aus, dass viele Menschen ein solch spielerisches
Verhalten an den Tag legen, um ihn leichter zu gestalten. Oder sollte
ich mich für diese Tatsache schämen?"
Scham zählt neben Liebe und Hass zu den bedeutendsten Gefühlen,
die menschliches Verhalten steuern (im Sinne von Motivation siehe
Lerntheorien). Durch sie wird gesellschaftliches Leben gefördert,
behindert oder gar torpediert.
1
Scham ist ein Thema, über das wenig
in der Öffentlichkeit gesprochen wird. Schämen wir uns für unsere
Scham?
1
Vgl
.:
AAA - Allgemeine Angst Auskunft, Was ist Scham, Absatz 1

Scham und Anerkennung
4
2.2
Formen der Scham
Sicher ist, jeder Mensch empfindet Scham, ein Leben lang. Beginnen-
des Erröten kombiniert sich gern mit dem Wunsch plötzlich zu ver-
schwinden.
2
Auslöser können körperlich- oder geistige Grenzüber-
schreitung, Erniedrigung, Missbrauch, Entblößung, fehlgeschlagene
Erwartung, Schwäche, Armut, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder gar ein
einfacher unbedachter Scherz auf Kosten eines Anderen sein. Scham
ist mit dem Erleben verbunden, ,,anders" zu sein. Ihre Ebene und
Ausprägung ist abhängig von der jeweiligen individuellen kulturellen
Sozialisierung.
3
Für einen afrikanischen Buschmann ist ein Lenden-
schurz eine gesellschaftlich adäquate Bekleidung. In Europa würde
ein solches Auftreten auf Ablehnung stoßen und Scham beim Träger
eines Lendenschurzes verursachen.
,,Es gibt mindestens zwei Formen der Scham: eine dient der sozialen
Anpassung, die andere der Entwicklung von Individualität und der
Wahrung persönlicher Integrität, " schreibt die Allgemeine Angst
Auskunft. (Ich habe mich bewusst für diese Quelle entschieden, um
zu verdeutlichen, dass mit Scham anonym beschämt umgegangen
wird) Stefan Marks führt diesen Ansatz aus: ,,Grundsätzlich unter-
scheiden wir zwischen gesunder, entwicklungsfördernder und patho-
logischer oder traumatischer Scham. Gesunde Scham schützt das uns
Wertvolle, unsere Intimsphäre und Grenzen in Interaktionen mit An-
deren(...)."
4
Scham tritt also dann auf, wenn Handeln mit Gewissen, Moral und
Wertesystemen nicht vereinbar ist oder jene überschritten wie
durchbrochen werden.
2
Vgl
.:
AAA - Allgemeine Angst Auskunft, Was ist Scham, Absatz 1
3
Vgl.: Marks, Von der Beschämung zur Anerkennung, S., S1
4
Marks, Von der Beschämung zur Anerkennung, S., S1

Scham und Anerkennung
5
,,Vor ein paar Monaten verbrachte ich mit Freundinnen ein Wochen-
ende in Hamburg. Nachdem wir fürstlich gefrühstückt hatten, ent-
schieden wir uns für einen ausgedehnten Einkaufsbummel. Wie sollte
es auch bei drei jungen Frauen anders sein. Es war Samstag und die
Läden überfüllt. Ich entschied mich, vor einem Geschäft eine Zigarette
zu rauchen und auf meine Mädels zu warten. Einige Meter neben mir
stand ein Straßenkünstler. Er erweckte erst meine Aufmerksamkeit,
als die Traube der Menschen, die um ihn stand, schallend anfing zu
lachen. Der junge Mann schien talentiert. Er imitiert bildhaft und
herzlich, wie ich mit meiner Zigarette zitternd und frierend in der Käl-
te stand. Ich kann mich erinnern, dass ich im ersten Moment irritiert
war, dann so tat, als fände ich es ebenfalls witzig, mich jedoch flugs
entschied die Zigarette so schnell wie möglich los zu werden. Ich
schämte mich, fühlte mich diskriminiert und verschwand im Laden,
um meine Verbündeten zu suchen."(Ein Schambeispiel im Sinne der
sozialen Anpassung.)
Wird im Verlauf des menschlichen Lebens frühzeitig Scham ausge-
löst, kann ihn jene dauerhaft beherrschen.
5
Die traumatische Scham
tritt hervor, wenn sich ein Mensch ungeliebt, gar isoliert fühlt, also
sein Selbstwertgefühl gemindert (oder zerstört) wird.
6
,,Aus Angst, (erneut) abgelehnt zu werden, gehen manche Schambe-
troffenen lieber auf Distanz, was im Extremfall zu einer ,,sozialen
Phobie" führen kann. Auch bei (...) Erkrankungen (wie Essstörungen,
Depression, Sucht, narzisstischen Persönlichkeitsstörungen, Hypo-
chondrie, Zwangsstörungen) spielt Scham oft eine zentrale Rolle. Die
erwähnten Leiden sind zugleich typische ,,Masken der Scham"."
7
5
AAA - Allgemeine Angst Auskunft, Was ist Scham, Absatz 11
6
Vgl.: Marks, Von der Beschämung zur Anerkennung, S., S1
7
AAA - Allgemeine Angst Auskunft, Was ist Scham, Absatz 1

Scham und Anerkennung
6
,,Ich kann dies bestätigen, da ich selbst lange mit einer Essstörung zu
kämpfen hatte. In dieser Zeit war der Kontakt zu meiner Familie fast
isoliert und bis auf das Nötigste beschränkt. Die Dinge, die man tut,
um nicht als ,,anders" erkannt zu werden, sind erstaunlich. Lügen,
Verharmlosung und Selbstbetrug zählen zu den milden Schamab-
wehrhandlungen." (Schamabwehr wird noch besprochen.)
2.3
Gibt es eine Ur-Scham
Aus entwicklungspsychologischer Sicht entwickelt sich ein Vorläufer
der Scham aus der elterlichen Beziehung zum Kind. Schon ein Kind
hat das Bedürfnis gesehen zu werden. Wird ihm dies verwehrt, ent-
steht in ihm ein Gefühl des abgelehnt Werdens, dem Vorläufer der
Scham.
8
Erik Erikson bespricht im ,,Stufenmodell der Psychosozialen
Entwicklung", dass das Kind auf die Zuverlässigkeit seiner Bezugsper-
sonen angewiesen ist. Werden kindliche Bedürfnisse wie Schutz,
Nahrung, Liebe, Nähe oder Geborgenheit verwehrt, entstehen in
ihm Bedrohungsgefühle und Angstzustände. Demnach entsteht, laut
Scheck, ein Ur-Misstrauen
9
. Grossmann betrachtet den Entzug von
kindlichen Bedürfnissen aus einem anderen Blickwinkel, dem der
Bindungstheorie. Die Bindungstheorie erklärt, dass, wenn Nähe, Zärt-
lichkeit, Fürsorge und Schutz verwehrt werden, emotionaler Schmerz
entsteht.
10
Dieser Schmerz ist jedoch kein Ur-Misstrauen, sondern die
Veräußerlichung einer bestehenden Bindung. Denn ,,das Kind ist auf
Erwachsene, die es versorgen, biologisch vorprogrammiert."
11
Wird
ihm dies verwehrt, entsteht Frustration.
12
Ob der Entzug von kindlichen Bedürfnissen Scham entstehen lässt,
wird durch die Bindungstheorie in Frage gestellt. Dass jener Entzug
8
Vgl. Scheck, Das Stufenmodell von Erik Erikson, S.4
9
Vgl. Scheck, Das Stufenmodell von Erik Erikson, S.4
10
Grossmann, Bindung, das Gefüge psychischer Sicherheit, S.65
11
Grossmann, Bindung, das Gefüge psychischer Sicherheit, S.55

Scham und Anerkennung
7
jedoch das Selbstwertgefühl oder die Selbstsicherheit mindert steht
außer Frage. Diese Minderung ermöglicht der Scham ihr Potential zu
erhöhen. Denn, wer ein geringes Selbstwertgefühl hat, ist zugängli-
cher (anfälliger) für Scham und Beschämung.
Nicht nur durch mangelnde Zuwendungen können wir Scham erfah-
ren, sondern auch durch Erniedrigungen. Wenn wir in einer Kultur
oder Gesellschaft aufwachsen, die dem Einzelnen wenig Wertschät-
zung entgegenbringt. Wenn beispielsweise in einer erniedrigenden
Struktur gelebt oder gearbeitet wird.
13
Scham steht in enger Verbindung mit Selbsterkenntnis. Selbst- und
Fremdwahrnehmungen machen Handeln spürbar und fordern Kon-
sequenzen.
2.4
Schamabwehrverhalten
Ein Mensch kann sich bestätigt oder in Frage gestellt fühlen. Diese
Konsequenzen ,,erzeugen Individualität (...)und verdeutlichen Unter-
schiede zu anderen Menschen(...).
14
Dieser Zustand kann dann heikel werden, wenn ein Mensch be-
schämt feststellt, einen Fehler begangen zu haben und beginnt, je-
nen nicht als solchen zu betrachten, sondern sich als solchen wahr-
nimmt.
15
Wenn er sich nicht für sein Tun, sondern für sich selbst
schämt. Setzt dieser Zustand ein, ist er mit einer tiefen Angst ver-
bunden, aus der Gesellschaft ausgestoßen zu werden.
16
Ein solcher
Zustand ist mit dem der körperlichen Bedrohung gleich zu setzten. Er
kann höhere Funktionen der Gehirnrinde zum Entgleisen bringen.
17
12
Grossmann, Bindung, das Gefüge psychischer Sicherheit, S.65
13
Vgl.: Marks, Von der Beschämung zur Anerkennung, S., S 2
14
AAA - Allgemeine Angst Auskunft, Was ist Scham, Absatz 4
15
Vgl.: Marks, Von der Beschämung zur Anerkennung, S., S 3
16
Vgl.: Marks, Von der Beschämung zur Anerkennung, S., S 3
17
Vgl.: Marks, Von der Beschämung zur Anerkennung, S., S 3

Scham und Anerkennung
8
,,Das Nervensystem ist ganz darauf ausgerichtet, der Angstquelle zu
entkommen und reduziert sich auf die simpelsten Muster: angreifen,
verteidigen und verstecken."
18
Diese Abwehrmechanismen implizie-
ren ,,unbewusste psychische Abläufe und Vorgänge mit dem Ziel,
nicht akzeptierte Antriebe, Impulse und Emotionen abzuwehren und
zu unterdrücken, um so Schuldgefühle und Ängste zu vermeiden und
Konflikte zu mildern."
19
Zu den wichtigsten Scham-Abwehrformen zählen:
emotionale Erstarrung und sich veräußerlichende chronische
Langeweile (,,mir ist langweilig, weil es mir egal ist, was du
sagst über mich"),
die Projektion des eigenen Schamgefühls auf andere, implizie-
rend entsprechender Beschimpfungen (,,du und die anderen,
ihr seid doch genauso, also muss ich mich nicht schämen"),
Gegenangriffe, im Sinne entsprechender Verachtung und Be-
schämung (,,sie mal dich an, das ist doch noch viel schlimmer,
über mich brauchen wir nicht sprechen"),
Zynismus und Negativismus (,,ihr seid selbst schuld, das ist
schlecht und ungerecht, immer ich, das funktioniert so nicht,
ich sehe zuerst das, was nicht funktioniert, das Glas ist immer
halb leer anstatt halb voll"),
Arroganz (,,ist mir doch egal, was ihr denkt oder wie was sein
soll, ihr interessiert mich nicht, ihr steht unter mir"),
Gewalt (,,ich werde dir zeigen, wie was läuft"),
Größenphantasien (,,ich möchte später mal, demnächst wer-
de ich, und dann"),
Idealisierung (,,es ist alles ganz toll, mir geht es super, mein
Freund ist der beste und so erfolgreich, ich bin ein Teil da-
von"),
18
Marks, Von der Beschämung zur Anerkennung, S., S 3
19
Berner, Spiele der Erwachsenen, S. 305

Scham und Anerkennung
9
Schamlosigkeit (,,also ich finde das ganz normal, du bist ver-
klemmt"),
Herstellung der verlorenen Ehre (,,ich werde euch zeigen, dass
ich ganz fleißig bin, ich helfe dir"),
Perfektionismus (,,ich möchte immer alles perfekt machen
und erklären können, ich bin so hilfsbereit, man muss mich
lieben"),
Sucht (,,Drogen machen gleichgültig, ich bin dann besser
drauf"),
Schamübertragung auf eigene Kinder(,,sie dürfen doch noch
Fehler machen, also belehre ich sie und übertrage meine
Scham").
20
Dekonstruktive narzisstische Züge tragen ebenfalls dazu bei, ei-
gene Scham abzuwenden. Der Blick des Gegenübers wird vortäu-
schend ausgelöscht
21
(Ich bin der, für den Du mich hältst
22
).
2.5
Beschäme und herrsche
,,Ich erinnere mich noch sehr gut an den Französisch Unterricht wäh-
rend meiner Schulzeit. Der Lehrer, der in diesem Fach unterrichtete,
war ein kleiner, hagerer Italiener, der enge Lederjacken und Hosen mit
Bügelfalte trug. Eigentlich war sein Auftreten recht freundlich, den-
noch hatte jeder Schüler Angst vor seinem Unterricht. Französisch
gehörte zu den Fächern, für die ich immer meine Hausaufgaben
machte. Dennoch saß ich regelmäßig nervös und schweißgebadet im
Unterricht. Es war üblich, dass alle Schüler einen Teil ihrer Aufgaben
laut vortragen mussten. Dabei hatte mein Lehrer immer wieder neue
Lieblinge, die er schikanierte. Ich kann mich gut an den Moment erin-
20
Vgl
.:
Marks, Von der Beschämung zur Anerkennung, S., S 3,4 , eigene Ergänzungen sind in Klammern
gesetzt
21
Vgl.: Seidler, Der Blick des Anderen, S.296
22
Narziss, griechische Mythologie

Scham und Anerkennung
10
nern, als ich ebenfalls einer dieser Lieblinge wurde. Waren Aufgaben
falsch gelöst, folgten Aussagen wie ,,du hast doch nur Stroh im Kopf,
stell dich doch mal da in den Schrank, da bist du besser aufgehoben".
Ich stand im Schrank. Das war eindeutig kein besonders schönes Ge-
fühl. Wie sich das anfühlte, ist schwer zu beschreiben. Es war für mich
erdrückend, traurig und peinigend. Ich kam mir klein, dumm, nackt
und ausgestoßen vor. Zwar kannten meine Mitschüler seine Rituale,
doch dies änderte nicht mein beschämendes Gefühl. Es gab Schüler,
die sich diesen Aufforderungen widersetzten, die Konsequenzen, die
daraufhin folgten, waren jedoch meist noch beschämender. In dieser
Rollenverteilung, Lehrer-Schüler, blieb nichts anderes übrig, als sich
der Herrschaft zu beugen und dem Willen zu folgen."
,,Weil Schamgefühle so peinigend (und oft unbewusst) sind
,
stellen
sie ein Potential dar, das leicht zu instrumentalisieren ist nach dem
Prinzip: ,,beschämen und herrschen!""
23
Demnach kann Scham (auch)
Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen sein. Als Träger des freien
Willens ist der Mensch ein freies Wesen.
24
,,Wenn ich jemandem
meinen Willen aufzwänge und den seinen unterdrücke, ihm sage, wie
etwas läuft, zwinge ich dem anderen meine Herrschaft auf und neh-
me ihm seine Freiheit und beschäme ihn."
Dass Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft existent sind, steht
außer Zweifel. Es reicht, den Blick in seinem eigenen Radius schwei-
fen zu lassen, um zu erkennen, dass durch Herrschaft, in vielerlei Hin-
sicht, der Alltag bestimmt wird. In Schulen, Familien, Cliquen, Bil-
dungseinrichtungen oder Firmen sind daraus resultierende Struktu-
ren zu finden. Dabei sollten Hierarchie- und Herrschaftsverhältnisse
nicht verwechselt werden. Dass Herrschaftsverhältnisse und Beschä-
23
Marks, Von der Beschämung zur Anerkennung, S., S 4
24
Vgl.: Scher, Pädagogik der Anerkennung, S. 84

Scham und Anerkennung
11
mung (regelmäßig) die Kreativität, Lebensfreude, Motivation und
Gesundheit zerstören, ist eine Sache.
25
Dass über Scham und Herr-
schaft gerade in pädagogischen Bereichen wenig gesprochen wird,
die andere. Wird sich heimlich vor sich selbst geschämt, weil eigene
und gesellschaftliche Wertsysteme und Moral überschritten werden.
Weil ein hilfloser Durchbruch als Konsequenz Beschämung und Herr-
schaft fordert. Die Scham vor sich selbst und vor anderen verursacht
auch bei denjenigen, die in einem pädagogisch handelnden Kontext
stehen (also Pädagogen), Schamabwehrverhalten. (Auch hier ist
Selbstanerkennung gefordert.)
2.6
Anerkennung versus Scham- eine pädagogische Geheimwaffe
Wenn wir mit Menschen pädagogisch sinnvoll umgehen wollen, müs-
sen wir etwas finden, was der Scham und Herrschaft entgegen wirkt.
Weil Individuen nach Beachtung und Wertschätzung streben und
unter auferlegter Isolation, Abwertung und Herrschaft leiden,
26
soll-
ten wir so klug sein, und Beachtung und Wertschätzung für sie ein-
setzen.
Denn Beachtung und Wertschätzung erhöhen die Selbstachtung und
Selbstwertschätzung (siehe Selbstanerkennung) des Menschen.
27
Um
sie wirksam werden zu lassen, ist ein würdevoller Umgang erforder-
lich. Dieser ist möglich, wenn Gedanken der Demokratie und Men-
schenrechte zum Tragen kommen.
28
Dies bedeutet, dass das Mensch-
sein oder die Menschheit nicht nur in der eigenen Person, sondern
25
Marks, Von der Beschämung zur Anerkennung, S., S 8
26
Vgl.: Scher, Pädagogik der Anerkennung, S. 28
27
Elias, Scotson, Etablierte und Außenseiter, S. 307,
Elias geht davon aus, dass Menschen ein Bedürfnis nach einer Erhöhung der Selbstachtung haben, dass die
alltägliche Wertschätzung ebenso unverzichtbar sei, wie tägliche Nahrung.
28
Scher, Pädagogik der Anerkennung, S. 9 Im Kern stimmt die Idee der Pädagogik der Anerkennung
substanziell mit einem Verständnis der modernen Gesellschaft als Demokratie überein.

Scham und Anerkennung
12
auch im Gegenüber anerkannt wird.
29
Dass alle Menschen Träger
gleicher Rechte sind.
30
Im Sinne der Pädagogik ,,lässt sich Demokratie nicht einüben."
31
Sie
ist ein Lebensgefühl und ,,Interaktion zwischen verschiedenen Grup-
pen und Kulturen in einer gemeinsam geteilten Öffentlichkeit."
32
Um
jene in sich tragen zu können, muss ein (heranwachsender) Mensch
sie grundlegend erlebt und automatisch erfahren haben. Ein Ort, an
dem dies geschehen kann, ist beispielsweise die Institution Schule.
,,Schulen sind embryonale Gesellschaften, sie bereiten auf das Leben
in der Demokratie vor, weil und indem sie selbst demokratisch ver-
fasst sind."
33
Demokratie will also gelernt sein, um gelebt werden zu können.
34
Wirken Demokratie und Menschenrechte, impliziert dies, dass Herr-
schaft und Beschämung ausgeschlossen und Anerkennung wie Wert-
schätzung integriert werden. Weil Herrschaft ein einfaches pädagogi-
sches Mittel ist, ist es eine Kunst, ihr nicht zu folgen. Ganz im Gegen-
teil, eine anerkennende Pädagogik sollte dafür sorgen, den anderen
so sein zu lassen, wie er ist.
Ausschlaggebend ist jedoch, dass dies nicht vorgetäuscht, sondern
authentisch gelebt wird. Wir sollten wahrhaftig achtsam sein und
,,Achtsamkeit nicht zu einem pädagogischen, therapeutischen oder
spirituellen Programm machen."
35
Anerkennung kann und darf kein pädagogisches Programm sein.
Vielmehr sollte sie eine innere Einstellung und Haltung sein, um wirk-
29
Vgl.: Scher, Pädagogik der Anerkennung, S. 80
30
Vgl.: Scher, Pädagogik der Anerkennung, S. 114
31
Stimmer, Lexikon der Sozialpädagogik, S.126
32
Dewey,The Middle Works, Democracy and Education, S. 93
33
Stimmer, Lexikon der Sozialpädagogik, S.125
34
Scher, Pädagogik der Anerkennung, S. 106
35
Dauber, Achtsamkeit in der Pädagogik zur Dialektik von Selbstverwirklichung und Selbsthingabe, S.2

Scham und Anerkennung
13
lich zu werden. ,,Der Mensch lebt nicht vom Brot allein (...)"
36
, son-
dern auch von anerkennenden, wertschätzenden Worten und Ge-
sten. Hierbei ist jedoch zwischen der Vermittlung von Toleranz (Rück-
sicht, Verständnis, Duldung
37
) und Akzeptanz (Annahme, Bejahung,
Zustimmung
38
) zu differenzieren. ,,Ich kann einen Menschen tolerie-
ren, wie er als Mensch ist, und ich gestehe ihm ein, dass er sich än-
dern kann. Ich wertschätze ihn, aber ich akzeptiere nicht jedes Ver-
halten. Denn anerkennende Pädagogik ist keine Kuschelpädagogik.
Wenn ich jemanden wertschätze, erhalte ich die Möglichkeit, nicht
nur offensichtliche, sondern auch versteckte (weitaus wesentlichere)
Defizite zu entdecken." Wo Grenzen der Toleranz und Akzeptanz ge-
steckt sind, hängt von gesellschaftlichen Gesetzgebungen als auch
von individuellen wie gesellschaftlichen Einstellungen, Normen und
Werten ab.
Fest steht, Anerkennung und Wertschätzung muss ihre wohl dosierte
Präsenz im Alltag finden. Denn gerade hier wird sie mit am nötigsten
gebraucht.
,,Vor ein paar Tagen war ich in der Bibliothek, um mir neue Bücher
auszuleihen. Da ich die meiste Zeit vor dem Rechner verbringe, erach-
te ich es nicht als nötig, mich konventionell zu kleiden, sondern bevor-
zuge meinen Trainingsanzug. Die Zeit war knapp und ich entschied,
rosa Moon Boots würden für den Weg zur Bibliothek ausreichen. Als
ich mit meinen Büchern über das Universitätsgelände lief, schien mein
Outfit Aufmerksamkeit zu erregen, es wurde über mich gelacht und
auf mich gezeigt. Mich überkam ein peinliches, diskriminierendes Ge-
fühl, und ich überlegte, ob ich mich nicht doch etwas anders hätte
36
Matthäus , Bibel, 4.4
37
Textor, Sag es treffender, S.883
38
Textor, Sag es treffender, S.560

Scham und Anerkennung
14
kleiden sollen. Ich war fast erstaunt, dass meine Gefühle von jeman-
dem, den ich nicht kannte, verletzt werden konnten."
Anerkennung fängt dort an, wo sie den Menschen in seinem Inners-
ten trifft, bei seinen Gefühlen.
2.7
Selbstanerkennung
,,Du sollst deinen nächsten lieben wie Dich selbst",
39
Anerkennung
steht in enger Verbindung mit Selbstanerkennung, Selbstachtung und
Selbstwertschätzung. Wenn ich mich nicht anerkenne, kann ich auch
mein Gegenüber nicht anerkennen.
Die Fähigkeit zur Selbstanerkennung impliziert zwei Faktoren: dass
ich mich wertschätze, weil ich etwas geleistet habe und dass ich mich
wertschätze, weil ich bin.
40
,,Weißt du, was du bist? Du bist ein Wunder! Du bist einmalig! Auf
der ganzen Welt gibt es keinen zweiten Menschen, der genauso ist
wie du. Und Millionen von Jahren sind vergangen, ohne dass es je
einen Menschen gegeben hätte wie dich. Schau deinen Körper an,
welch ein Wunder! Deine Beine, deine Arme, deine geschickten Fin-
ger, dein Gang. Jawohl, du bist ein Wunder!"
41
Damit sich ein Mensch für sein Dasein wie seine Leistungen selbst
wertschätzt, bedarf es einer gesunden, wohl dosierten, äußerlichen
unterstützenden Anerkennung.
Erfährt ein Mensch die Anerkennung, die er braucht, versetzt ihn dies
in die Lage Kraft und Mut zu schöpfen, um neue höhere Ziele errei-
chen zu können. Er kann das in sich wach rufen, was er vorher von
39
Lev.19,18, Bibel
40
Vgl.
:
Marks, Von der Beschämung zur Anerkennung, S.10
41
Casals, bei Marks, S., Von der Beschämung zur Anerkennung, S. 10

Scham und Anerkennung
15
sich nicht kannte.
42
Anerkennung löst eine Steigerung dessen im
Mensch aus, was der Mensch selbst von sich glaubte zu sein.
Somit ist der Grundbaustein für einen gesunden Lernprozess gelegt.
,,Lernen ist des Menschen Bedingung und Chance."
43
Damit dies ge-
lingt, braucht der Mensch Sicherheit (im Sinne von Anerkennung).
Durch sie kann er gesund lernen, sich entwickeln und reflektieren.
Nur wenn ich erkannt habe, wer ich war und bin, habe ich die Chan-
ce, mich zu ändern (biographisches Lernen), kann fragen, was ich sein
möchte und beginne es zu werden.
42
Dauber, Achtsamkeit in der Pädagogik zur Dialektik von Selbstverwirklichung und Selbsthingabe
43
Göhhlich, Wulf, Zirfas, Pädagogische Theorien des Lernens, 2007, S.7

Lernen, wir unterscheiden uns
16
3
Lernen, wir unterscheiden uns
3.1
Warum lernen Menschen?
Lernen und Gedächtnis sind unmittelbar miteinander verbunden und
bilden den Grundbaustein zum Überleben. Menschen wie Tiere be-
finden sich in einem fortlaufenden Lernprozess, um sich ihrer Um-
welt stetig anzugleichen. In erster Hinsicht bezieht sich das Lernen
auf das Überleben des Organismus. Um überleben zu können, muss
auf Veränderungen der Umwelt eine Veränderung des Verhaltens
folgen. Denn ,,Lernen ist eine Verhaltensänderung aufgrund von Er-
fahrung."
44
Ein passendes Beispiel dafür, dass Lernen Veränderung
und Überleben bedeutet kann, bietet die Tierwelt. Können Tiere ler-
nen, bedeutet dies, dass sie beispielsweise fähig sein müssen, sich
eine neue Futterquelle zu suchen, wenn ihre bislang bestehende ver-
ebbt ist. Demnach spiegeln sich verändernde Verhaltensweisen Er-
lerntes und Lernen wider. Lernen ist nur dann nicht erforderlich,
wenn das Verhalten zum Überleben genetisch festgelegt ist, wie bei
der Zecke.
Das folgende Paradigma soll ebenfalls verdeutlichten, dass Lernen,
als Basis zum Überleben des Menschen, relevant ist:
Der Redakteur einer Zeitung muss den zeitgemäßen Schreibstil be-
herrschen, um in seinem Beruf bestehen zu können.
Umso ausführlicher und komplexer Lebewesen organisiert sind, desto
flexibler werden sie. Dieser Zuwachs an Flexibilität bringt gleicher-
maßen einen Zuwachs an Handlungsvarianten mit sich, unter denen
situativ entschieden werden muss.
44
Lefrancois, Psychologie des Lernens, Gedächtnis und Aufmerksamkeit, S. 159

Lernen, wir unterscheiden uns
17
Lernen ist mit der Auseinandersetzung und Überwindung von Prob-
lemen verbunden. Der Lösung von Problemen liegt die natürliche
Neugierde zugrunde, welche den Drang mit sich bringt, Unbekanntes
zu ergründen und zu verstehen. Werden Probleme gelöst, impliziert
dies eine Erkenntnisgewinnung. ,,Erkenntnis
45
sind die Prozesse, die
vergangene und gegenwärtige Erfahrungen integrieren, um neue
Tätigkeiten auszubilden, entweder als Nerventätigkeit, die wir inner-
lich als Denken und Wollen wahrnehmen können, oder aber als äu-
ßerlich wahrnehmbare Sprache und Bewegung."
46
Wird gelernt oder treffender formuliert, werden Probleme gelöst,
impliziert dies eine Steigerung der subjektiven Lebensqualität, wel-
che sich durch verstärkende Einblicke in die Welt und Wirklichkeits-
zusammenhänge darstellt. Dass jeder Mensch an einer Steigerung
seiner subjektiven Lebensqualität interessiert ist, um sein Überleben
abzusichern, liegt in seiner Natur.
Die Natur des Menschen ist stark sozial ausgerichtet und integriert
Motivation, Mitgefühl, Gewissen, Sympathie und die Bereitschaft
zum Kampf um zu überleben (auf die genannten Faktoren wird im
Späteren noch eingegangen).Erst diese Bedingungen machen den
Menschen zum Mensch und ermöglichen gesellschaftliches Zusam-
menleben.
47
Woher wissen wir aber, dass der Natur des Menschen
ein Überlebensinstinkt inne wohnt? Die Antwort ist sehr einfach: Wir
vermeiden gefährliche Situationen. Dass wir sie vermeiden, liegt wie-
derum an unserem Überlebensinstinkt (Verlauf zirkulär).
48
In der heu-
tigen Gesellschaft sind die Natur des Menschen und seine Instinkte
nur noch schwer erkennbar, denn vorherrschenden kulturellen Ein-
45
,,
Erkenntnis" ist an dieser Stelle gleichzusetzen mit der Bedeutung von" Einsicht." Im Kapitel ,,Ansätze der
Gestaltpsychologie" wird näher auf das Verständnis zu Einsicht eingegangen.
46
von Foerster, Wissen und Gewissen, Zukunft der Wahrnehmung: Wahrnehmung der Zukunft, S. 4
47
Darwin, Die Abstammung des Menschen, S.141
48
Lefrancois, Psychologie des Lernens, Gedächtnis und Aufmerksamkeit, S. 179

Lernen, wir unterscheiden uns
18
flüssen überdecken sie so weit, dass eine Unterscheidung zwischen
Instinkten und Erlerntem schwer fällt.
Kehren wir zurück zum Drang der Erkenntnisgewinnung. Schon bei
einem Kind ist unwiderruflich erkennbar, dass jener eine intrinsische
(von innen kommende) Freude mit sich bringt. Kleinkinder lernen
beispielsweise gutwillig und freudig zu krabbeln, zu laufen und zu
sprechen. Die kleinen Forscher können sich ernsthaft und intensiv in
Dinge vertiefen, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Unzählige Versu-
che, die ersten eigenen Schritte zu machen und der freudige Erfolg,
wenn das Kind das erste Mal von Mama zu Papa läuft, lassen sich
selbstverständlich bei den Eltern, aber erst recht beim Kind wieder
finden.
An diesem Beispiel wird deutlich, dass Lernen unabhängig von Be-
wusstsein zu betrachten ist. Denn kein Kind fasst den bewussten Ent-
schluss, laufen zu lernen, sondern ahmt nach und hat ein Ziel, das es
erreichen möchte.
Demnach muss Lernen nicht unbedingt an Be-
wusstsein gekoppelt sein. Denn ,,Bewusstsein ist (...) keine notwendi-
ge Bedingung von Wahrnehmen, von Lernen und von Gedächtnis."
49
Vielmehr ist ,,Bewusstsein (...) ein Bündel inhaltlich sehr verschiede-
ner Zustände, die gemeinsam haben, dass sie erstens bewusst erlebt
werden, dass zweitens dieses Erleben unmittelbar ist, d. h. ohne ir-
gendeine Instanz dazwischen, und dass sie drittens im Prinzip sprach-
lich berichtet werden können."
50
Würden wir alles um uns herum
stetig bewusst wahrnehmen, wären wir einer ständigen Reizüberflu-
tung ausgesetzt und überfüllt mit Sinneseindrücken. Glücklicherweise
hat das Gehirn die Fähigkeit, unsere Sinneseindrücke bezüglich der
individuellen Viabilität zu differenzieren (siehe didaktische Lerntheo-
rien). Demzufolge nehmen Lebewesen individuell unterschiedliche
49
Florey, Gedächtnis, Gehirn und Zeit, S. 170
50
Roth, Aus der Sicht des Gehirns, Suhrkamp, S.126

Lernen, wir unterscheiden uns
19
Dinge wahr. Wenn das Gehirn in der Lage ist, unbewusst und bewusst
wahrzunehmen, ist es ebenfalls in der Lage, bewusst und unbewusst
zu lernen. Dementsprechend entscheiden wir, was wir lernen und
was nicht. Dieser Gedanke mag konstruktivistischer Natur sein, er-
weist sich aber an diesem Punkt als treffend. Auf konstruktivistische
Ansätze wird später noch einzugehen sein.
,,Durch Gespräche mit meinen Eltern komme ich zu folgendem Bei-
spiel: Ich bin das zweite Kind der Familie und im Gegensatz zu meiner
drei Jahre älteren Schwester ein praktisch veranlagter Mensch. Mei-
ner Erinnerung zufolge gab es eine Zeit im Kindergartenalter, in der
ich sehr viel Zeit im Garten verbrachte. Ich erinnere mich an unzählige
Versuche, Frösche im alten Schwimmbad zu fangen und im Anschluss
meiner Mutter zu präsentieren. Bis heute beherrsche ich die richtige
Technik einen Frosch zu fangen und auf der Hand zu tragen."
Diese natürliche Hingabe, Vertiefung und Freude ist ebenfalls bei
Erwachsenen feststellbar. Sind Problemlösungen gelungen, Ziele er-
reicht und neue Fähigkeiten erlernt, ist ein Student, der seine Dip-
lomarbeit abgeschlossen hat, ebenso freudig wie ein kleines Kind.
Demzufolge lernt der Mensch auch, um Glücksmomente zu erleben.
3.2
Wir sehen das, was wir kennen
Was jeden einzelnen Menschen glücklich und zufrieden macht, liegt
im individuellen Auge des Betrachters. Denn ,,Menschen beurteilen
das Verhalten ihrer Mitmenschen, auf Grund der Meinungen, die in
ihrem eigenen Leben fußgefasst haben, ohne sich dieser Gegeben-
heit tatsächlich bewusst zu sein."
51
51
Vgl.: Tschira, Wie Kinder lernen-und warum sie es manchmal nicht tun, S. 87

Lernen, wir unterscheiden uns
20
Dass ich, die in Europa lebe, eine lange Regenzeit als meteorologi-
schen Umstand bezeichne und nicht als Zorn eines Donnergottes ver-
stehe, basiert auf meiner Zugangsweise zum Alltag.
52
,,Dass ich eine lautstarke Diskussion innerhalb meiner Familie nicht als
Streit empfinde, sondern eher als produktiven Austausch und Berat-
schlagung, liegt daran, dass ich es nicht anders kenne, als alles, was
mich berührt, innerhalb meiner Familie zu besprechen und von allen
Seiten zu beleuchten." ,,Ich erinnere mich an meine Schulzeit und die
stetig abnehmenden Besuche meiner Freundinnen, die sich weigerten,
bei meinen Eltern zu Mittag zu essen. Das immer wiederkehrende Ar-
gument ,,wir kommen erst nach dem Essen zu dir, weil deine Eltern auf
gutes Benehmen am Tisch beharren und deshalb anstrengend sind",
bewegte mich zunehmend dazu, mein Verhalten bei Tisch dem meiner
Freundinnen, und noch schlimmer, anzupassen. Meine Mutter erinner-
te sich an einen Mittag bei Tisch, an dem sie mich aufforderte, mich
ordentlich hinzusetzen. Denn kein Junge wolle ein Mädchen haben,
welches beim Essen seinen Kopf mit der Hand abstütze. Mit meinem
Kopf direkt über dem Suppenteller antwortete ich ihr patzig, ich wolle
nur einen Freund, der genau so bei Tisch säße und die Suppe schlürfe
wie ich. Einen Freund, der keinen Wert auf gutes Benehmen läge."
Dies kann ein Beispiel dafür sein, dass auf Reize Reaktionen folgen
(siehe Kapitel der Lerntheorien). Dieser Gedanke ist sehr einfach ge-
fasst, kann aber eine gute Überleitung zur eben erwähnten Tatsache
bieten.
Reaktionen auf Reize sind nur dann vorhersehbar, wenn ihnen biolo-
gische Gesetzmäßigkeiten zu Grunde liegen, wie beispielsweise Refle-
52
Vgl.: Tschira, Wie Kinder lernen-und warum sie es manchmal nicht tun, S. 87

Lernen, wir unterscheiden uns
21
xe. Susan A. Greenfield
53
schreibt ,,Ein Reflex lässt sich definieren als
festgelegte Reaktion auf einen bestimmten Auslöser."
54
In welcher
Weise ein Reflex verarbeitet wird, steht in Zusammenhang mit der bis
dato erstellten ,,Wahrnehmungs-Erfahrungs-Landkarte."
55
(Was unter
der ,,Wahrnehmungs-Erfahrungs-Landkarte" zu verstehen ist, ist im
gleichnamigen Kapitel zu finden). Mein vorgestelltes Beispiel der Si-
tuation ,,Mittagstisch mit Freundinnen" bietet sich als geeigneter
Beleg.
Wahrnehmungen und Erfahrungen prägen den Menschen und de-
mentsprechend unterscheiden und verändern sich individuelle Ver-
ständnisse von Situationen. Der Mensch lernt vom Beginn seines Le-
bens, und ,,dass wir Menschen wirklich zum Lernen geboren sind,
beweisen alle Säuglinge."
56
Hierbei bilden sich im Menschen indivi-
duelle ,,Wahrnehmungs-Erfahrungs-Landkarten", die sich ein Leben
lag ergänzen wie erweitern und zur unbewussten Orientierung die-
nen.
Individuelle Wahrnehmungen und Erfahrungen rufen entsprechend
individuelle Erwartungen hervor und umgekehrt.
,,Aus heutiger Sicht muss ich meinen Wunsch bezüglich der Wahl mei-
nes Partners revidieren. Gutes, ästhetisches Benehmen bei Tisch ge-
hört zu den Dingen, auf die ich heute viel Wert lege und es als anzie-
hend erachte."
Dies ist ebenfalls ein Beispiel dafür, dass sich die individuelle Wahr-
nehmungs-Erfahrungs-Landkarte jedes Einzelnen erweitert und ver-
53
eine berühmte Wissenschaftlerin Großbritanniens, sowie Mitglied im britischen House of Lords. Sie trägt
einen Orden der französischen Ehrenlegion
54
Greenfield, Reiseführer Gehirn, S. 54
55
Vgl.: Tschira, Wie Kinder lernen-und warum sie es manchmal nicht tun, S. 89

Lernen, wir unterscheiden uns
22
ändert. Diese individuelle Erweiterung geschieht automatisch immer
dann, wenn der Mensch Informationen verarbeitet, wenn er wahr-
nimmt, denkt oder fühlt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Prägung. Sie erweist sich als es-
senzielle biologische Form des Lernens. Prägung findet in Zeitfens-
tern oder sensiblen Phasen statt. Zeitabschnitte, in denen Verhal-
tensweisen und Wissen verhältnismäßig unkompliziert und selbst-
ständig angeeignet werden können (Zeitfenster werden im Kapitel
über Neurobiologie ebenfalls behandelt).
Prägung erfolgt artenspezifisch und fordert Schlüsselreize. Sie findet
einmalig statt und kann nicht mehr gelöscht werden. Bowlby besp-
richt 1951, dass Prägung immer im Zusammenhang mit Bindung
stattfindet. Denn nur durch denjenigen, zudem ich eine Bindung ha-
be, kann ich geprägt werden. Wird sie gestört, unterbrochen oder
abgewendet, kann dies eine spätere psychische Störung zur Folge
haben. Eine solche Prägung und Bindung erfolgt beispielsweise im
sechsten bis neunten Monat durch die Mutterfigur. Hier bemüht sich
das Kind, das Dasein und Sorgeverhalten der Mutter zu sichern.
57
Bowlbys Verständnis, dass Prägung nur in Bezug auf die Mutterfigur
möglich ist, scheint überholt zu sein, schreiben Guy Bodenmann u. a.
in ,,Klassische Lerntheorien" aus dem Jahr 2004.
58
Wichtig ist an die-
sem Punkt, dass emotionale Bindung einen entscheidenden Teil dazu
beiträgt, warum gelernt wird. Frühkindliche positive Bindungserfah-
rungen wie Geborgenheit und Sicherheit tragen dazu bei, dass sich
ein gefestigtes ruhiges Selbstwertgefühl entwickelt. Hat der Mensch
sich schätzen und lieben gelernt, befähigt ihn dies, sich der Welt of-
fen, wertschätzend und liebend gegenüberzustellen (siehe Selbst-
wirksamkeit). Diese Grundeinstellung ermöglicht ihm Neugierde und
56
Spitzer, Wie funktioniert das Gehirn?, OECD, S.3
57
Vgl.:
Bowlby, Maternal care and mental health, Geneva: World Health Organization Monograph Series 35

Lernen, wir unterscheiden uns
23
Wissensdurst. Zudem schenkt ein gut ausgebildetes Selbstwertgefühl
dem Menschen die Gabe, sich voll und ganz auf vorliegende Aufga-
ben zu konzentrieren, ohne seine Gedanken schweifen zu lassen (sie-
he Resilienz). Weitere Grundbausteine zum Lernen sind gelegt. In
späteren Kapiteln wird auf den Aspekt der Bindung erneut einzuge-
hen sein.
Es wurde dargelegt, dass Lernen sehr komplex zu betrachten ist. Ler-
nen impliziert Erkenntnisse, die Verhaltensänderungen hervorrufen.
Jene eröffnen neue Handlungsvarianten und verankern im Gedäch-
tnis entsprechende Erfahrungen. Die Biographie des Einzelnen indivi-
dualisiert sich durch die entstehenden Wahrnehmungs-Erfahrungs-
Landkarten. Die sich daraus entwickelnden neuen Erfahrungen eröff-
nen einen neuen Kreislauf des Lernens, der sich immer fort entwi-
ckelt. Damit sich der Prozess des Lebens, die Biographie, gesund ent-
wickelt, bedarf es der Neugierde. Erst sie eröffnet dem Menschen die
Welt. Um neugierig zu sein, muss man sich sicher fühlen. Das beruht
auf einer gesunden Bindungs-Prägung, wie a.a.O. besprochen.
Aus welchen weiteren Perspektiven Lernen zu betrachten ist, bespre-
chen die folgenden Kapitel.
58
Vgl.: Bodenmann , Perrrez, Schär, Trep, Klassische Lerntheorien, S. 21

Was ist Lernen?
24
4
Was ist Lernen?
Folgt man der Frage, was Lernen eigentlich bedeutet, münzt dies un-
weigerlich auf die Frage, wie Lernen funktioniert. Aus dem Blickwin-
kel der Neurobiologie kann dargestellt werden, wie Lernen auf der
organischen Ebene funktioniert, wie Lernprozesse im Körper realisiert
und der Mensch verändert wird.
59
Denn ,,die Gehirnforschung er-
weist sich (...) als notwendige Grundlage zum Verständnis von Lern-
prozessen."
60
4.1
Lernen aus der Sicht der Neurobiologie
Dass Lernen als Mühsal und Arbeit verstanden wird, auf die eine Be-
lohnung folgen muss, gilt bis in die heutige Zeit. Der Mensch ist stetig
dazu geneigt, seine Zeit in Arbeitszeit, Lernzeit, Schulzeit oder Freizeit
einzuteilen. Dass der Mensch jedoch für das Lernen die besten kör-
perlichen Bedingungen in sich trägt, scheinen wir, die Lernen als be-
lastend verstehen, in erster Hinsicht zu vergessen. ,,So ist unser Ge-
hirn für das Lernen optimiert."(...) ,,Nein, unser Gehirn kann nichts
besser und tut nichts lieber!"
61
Spitzer vergleicht das Gehirn hierbei
mit der Flosse eines Wales, die optimal an die Bedingungen im Meer,
wie die Dichte und Viskosität angepasst ist.
62
,,Während eines Gesprächs mit meiner Mutter fiel irgendwann die
Bemerkung ihrerseits: ,,Kristina, du hast einfach alles nachgeplap-
pert.""
59
Vgl.: Tschira, Wie Kinder lernen-und warum sie es manchmal nicht tun, S. 91
60
Spitzer, Wie funktioniert das Gehirn?, OECD, S.2
61
Spitzer, Wie funktioniert das Gehirn?, OECD, S.3

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783836625227
DOI
10.3239/9783836625227
Dateigröße
1.2 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Kassel – Sozialpädagogik, Sozialpädagogik
Erscheinungsdatum
2009 (Januar)
Note
1,0
Schlagworte
lerntheorien resilienz neurobiologie humanistische pädagogik konstruktivismus
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Titel: Pädagogik der Anerkennung
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