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Werner von Rheinbaben und die deutsche Außenpolitik zwischen 1925/1926 und 1933

©2008 Bachelorarbeit 80 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Mit Blick auf die soziale Zusammensetzung des diplomatischen Korps des Deutschen Reiches ist vielfach von der Auswärtigen Politik als einer ‘Adelsdomäne’ gesprochen worden. Und tatsächlich, einer der ersten Aspekte, die dem Betrachter ins Auge stechen, der nach Kontinuitätslinien zwischen den unterschiedlichen Formen deutscher Staatlichkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sucht, ist das außerordentlich hohe Maß an sozialer Homogenität, das die höhere Mitarbeiterschaft des Auswärtigen Amtes in der Berliner Wilhelm-Straße in dieser Zeit kennzeichnete: Ungeachtet aller politischen Umwälzungen, die das Reich in den ersten fünf Jahrzehnten des Säkulums durchmachte, die Wahrnehmung der außenpolitischen Geschäfte blieb immer das beinahe selbstverständliche Vorrecht der Herren ‘von’ und ‘zu’.
Die Männer mit dem ‘blauen Blut’ und den klangvollen Namen bildeten stets das unverzichtbare Rückgrat, das das außenpolitische Getriebe zusammenhielt - egal ob das Reich gerade als halbautokratische Monarchie (wie unter Wilhelm II.), als demokratische Republik (wie in den 1920er Jahren) oder als totalitär- anarchistischer Führerstaat existierte (wie in den 1930er und 1940er Jahren). Dank ihrer ‘gut verschanzten Positionen’ im Apparat der Wilhelmstraße, waren die Adeligen für seinen reibungslosen Betrieb praktisch ‘unentbehrlich’. Dementsprechend tauchen Namen, wie von Bülow, von Bismarck oder von Weizsäcker über alle Epochenzäsuren hinweg zu praktisch jeder Zeit in den Namensregistern des Auswärtigen Amtes auf. Ein prominenter Vertreter dieses außenpolitischen Establishments, der in allen drei Inkarnationen des Deutschen Reiches diplomatisch tätig war, war der ehemalige Marineoffizier und Legationssekretär Werner von Rheinbaben. Als außenpolitischer Sprecher seiner Partei - der von Gustav Stresemann geführten Deutschen Volkspartei (DVP) – im Berliner Reichstag, als Vertreter seiner Fraktion im Auswärtigen Ausschuss des Parlaments, und als Mitglied der deutschen Delegationen beim Völkerbund in Genf zwischen 1926 und 1933, und bei der Genfer Abrüstungskonferenz der Jahre 1932 und 1933 avancierte von Rheinbaben in der Weimar er Zeit zu einem der maßgeblichen Außenpolitiker des Reiches.
Das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es nun, sein außenpolitisches Wirken in den Jahren 1925/1926 bis 1933 genauer in den Blick zu nehmen. Das Augenmerk gilt dabei in erster Linie Rheinbabens außenpolitischem Streben auf theoretischer Ebene, […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Rainer Orth
Werner von Rheinbaben und die deutsche Außenpolitik zwischen 1925/1926 und 1933
ISBN: 978-3-8366-2449-7
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2009
Zugl. Universität Konstanz, Konstanz, Deutschland, Bachelorarbeit, 2008
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2009

Inhaltsverzeichnis
Seite
Einleitung
04
I.1. Quellenlage, methodische Schwierigkeiten und Bewertungsdilemmata 07
I.2. Biografischer Abriss
12
II. Rheinbaben und die Außenpolitik
19
II.1. Die Voraussetzungen von Rheinbabens außenpolitischer Gedankenwelt 20
II.1.1. Das Dogma von der ,,Großmacht Deutschland"
20
II.1.2. Das Changieren zwischen Liberalismus und Autoritarismus
23
II.1.3. Rheinbaben und die Kriegsschuldfrage 1914
26
II.1.4. Der ,,Stresemannianer"
29
II.2. Ziele der Außenpolitik
31
II.3. Revisionspolitik
34
II.3.1. Die Reparationsfrage
35
II.3.2. Besatzungs- und Kontrollpolitik
37
II.3.3. Die deutschen Grenzen und der ,,Anschluss"
43
II.3.4. Die koloniale Frage
45
II.4. Die bilateralen Beziehungen des Reiches
46
II.4.1. Frankreich
46
II.4.2. Großbritannien
51
II.4.3. Russland
52
II.4.4. Polen
54
II.5. Völkerbund
56
II.6. Abrüstung und Reichswehr
62
II.6.1. Die Genfer Abrüstungskonferenz 1932/1933
66
III. Fazit
69
IV. Literaturverzeichnis
74
3

Einleitung
Mit Blick auf die soziale Zusammensetzung des diplomatischen Korps des Deutschen Reiches
ist vielfach von der Auswärtigen Politik als einer ,,Adelsdomäne" gesprochen worden. Und
tatsächlich, einer der ersten Aspekte, die dem Betrachter ins Auge stechen, der nach
Kontinuitätslinien zwischen den unterschiedlichen Formen deutscher Staatlichkeit in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sucht, ist das außerordentlich hohe Maß an sozialer
Homogenität, das die höhere Mitarbeiterschaft des Auswärtigen Amtes in der Berliner
Wilhelm-Straße in dieser Zeit kennzeichnete: Ungeachtet aller politischen Umwälzungen, die
das Reich in den ersten fünf Jahrzehnten des Säkulums durchmachte, die Wahrnehmung der
außenpolitischen Geschäfte blieb immer das beinahe selbstverständliche Vorrecht der Herren
,,von" und ,,zu".
1
Die Männer mit dem ,,blauen Blut" und den klangvollen Namen bildeten stets das
unverzichtbare Rückgrat, das das außenpolitische Getriebe zusammenhielt ­ egal ob das
Reich gerade als halbautokratische Monarchie (wie unter Wilhelm II.), als demokratische
Republik (wie in den 1920er Jahren) oder als totalitär-anarchistischer Führerstaat existierte
(wie in den 1930er und 1940er Jahren). Dank ihrer ,,gut verschanzten Positionen" im Apparat
der Wilhelmstraße, waren die Adeligen für seinen reibungslosen Betrieb praktisch
,,unentbehrlich".
2
Dementsprechend tauchen Namen, wie von Bülow, von Bismarck oder von Weizsäcker über
alle Epochenzäsuren hinweg zu praktisch jeder Zeit in den Namensregistern des Auswärtigen
Amtes auf.
Ein prominenter Vertreter dieses außenpolitischen Establishments, der in allen drei
Inkarnationen des Deutschen Reiches diplomatisch tätig war, war der ehemalige
Marineoffizier und Legationssekretär Werner von Rheinbaben. Als außenpolitischer Sprecher
seiner Partei ­ der von Gustav Stresemann geführten Deutschen Volkspartei (DVP) ­ im
Berliner Reichstag, als Vertreter seiner Fraktion im Auswärtigen Ausschuss des Parlaments,
und als Mitglied der deutschen Delegationen beim Völkerbund in Genf zwischen 1926 und
1933, und bei der Genfer Abrüstungskonferenz der Jahre 1932 und 1933 avancierte von
Rheinbaben in der Weimarer Zeit zu einem der maßgeblichen Außenpolitiker des Reiches.
3
1
Stellvertretend hierfür, siehe etwa: Fischer: Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in
Deutschland 1871-1945, Düsseldorf 1979.
2
Haffner: Anmerkungen zu Hitler, S. 67.
3
Beleg hierfür ist schon allein der Umstand, dass Rheinbaben 1919 von der Führung der DVP damit beauftragt
wurde, das offizielle außenpolitische Programm seiner Partei zu verfassen (Siehe Wright: Stresemann, S. 555)
das noch im selben Jahr von den zuständigen Parteigremien
gebilligt und angenommen wurde. Bis zum Verbot
der DVP 1933 blieb es die Richtschnur der Volkspartei bei der Festlegung ihrer außenpolitischen Linie. Die
4

Das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es nun, sein außenpolitisches Wirken in den Jahren
1925/1926 bis 1933 genauer in den Blick zu nehmen. Das Augenmerk gilt dabei in erster
Linie Rheinbabens außenpolitischem Streben auf theoretischer Ebene, also den Ideen,
Vorstellungen und Anschauungen, denen er in diesen Jahren anhing sowie den von ihm
verfolgten Plänen und Zielen.
Seiner praktische Tätigkeit auf den außenpolitischen Bühnen von Berlin und Genf in ihrer
stückwerkhaften Tagesroutine soll demgegenüber eine nur mehr untergeordnete Rolle
eingeräumt werden.
Die Darstellung von Rheinbabens außenpolitischer Gedankenwelt orientiert sich im
Nachfolgenden in erster Linie an den bestimmenden Themenfeldern der deutschen
Auswärtigen Politik jener Jahre: Das Streben nach einer Revision der Versailler
Vertragsbestimmungen von 1919 und dem Wiederaufstieg des Reiches in den Rang einer
Großmacht, dann, die bilateralen Beziehungen des Reiches zu seinen wichtigsten Nachbarn
(Frankreich, Großbritannien, Polen und der Sowjetunion) und seine Rollenfindung in der
neuartigen Institution des Völkerbundes sowie schließlich die Konflikte, die sich um die
Frage der Auf- bzw. Abrüstungspolitik entsponnen.
Um die Gedankenwelt Rheinbabens besser verstehen, und in ihren Sinnzusammenhängen
begreifen, zu können, wird Abschnitt I.2. eine kurze biografische Skizze bieten, die den
Lebenshintergrund nachzeichnet, vor dem er als Außenpolitiker agierte. Während ihn die
Erfahrungen in den Jahren 1878 bis 1919 sozusagen geistig vorprägten, also bestimmte Denk-
und Wahrnehmungsmuster in ihm dispositionierten, ohne die auch sein Handeln und Urteilen
in zahlreichen außenpolitischen Fragen kaum verständlich ist, stellen die Ereignisse der
späteren Jahre ­ in die seine aktive Politikerzeit fällt ­ Einflüsse dar, die schon aufgrund der
Unmittelbarkeit mit der sie auf ihn einwirkten nicht unerwähnt bleiben dürfen.
Um der, sich aus der Natur dieser Arbeit ­ die ja auf die Wiederzutageförderung der
subjektiven Sichtweisen einer einzelnen Person abhebt ­ ergebenden Gefahr einer
Bedeutung der außenpolitischen Haltung der DVP wird wiederum aus der Tatsache ersichtlich, dass sie während
der knapp vierzehn Jahre der Republik von Weimar mit Gustav Stresemann (1923 bis 1929) und Julius Curtius
(1929-1931) acht Jahre lang den Außenminister stellte.
Als Belege für Rheinbabens herausragende Stellung als Außenpolitiker in den 1920er Jahren seien hier
stellvertretend Urteile von Harry Graf Kessler (Kessler: Tagebücher, S. 232: ,,Er war [...] über viele Jahre
hinweg in Fragen der Außenpolitik die führende Stimme der Partei."), Hans Fürstenberg (Fürstenberg: Mein
Weg als Bankier, S. 269: ,,dieser hochbegabte Mann"), Wolfgang Stresemann (W. Stresemann: Vater, S. 229:
,,Zweifellos dank Fleiß und Begabung ein außenpolitischer Experte von Rang."), Guido Müller (Müller:
Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, S. 348: ,,namenhafter Außenpolitiker") und
Hermann Rauschning (Rauschning: Destruction, S. 100: ,,a prominent German Democrat") wiedergegeben. Die
Zeitung Grenzland Schlesien attestierte ihm in ihrer Ausgabe vom 19. November 1928 einen ,,hervorragenden
Sachverstand in außenpolitischen und wirtschaftspolitischen Fragen". Das Auswärtige Amt sah ihn noch 1930
(neben Brüning und Scholz) als einen ,,führenden Abgeordneten" (Aktenvermerk vom 5. März 1930. AdAA
4483/E096 058-60).
5

,,perspektivischen Verengung" vorzubeugen, soll ihr analytischer Horizont dadurch erweitert
werden, dass Rheinbabens Blickpunkte beständig in einen größeren Gesamtkontext eingereiht
werden. Als Mittel zu diesem Zweck soll die beständige Einbettung von Rheinbabens
Anschauungen und Deutungen in den Chor der Meinungen seiner Zeitgenossen und der
Urteile von nachbetrachtenden Forschern dienen.
Seine Ideen, Standpunkte und Ziele sollen schließlich, auf der Grundlage dieser kontrastiven
,,Gegenzeichnung", auf ihren Realismus und ihre Tragfähigkeit hin überprüft werden.
Die chronologischen Eckpunkte dieser Arbeit, 1925/1926 und 1933, ergeben sich dabei
geradezu von selbst: Die Jahre 1925/1926 markieren, mit dem Abschluss des Vertrages von
Locarno und dem Eintritt Deutschlands in den Genfer Völkerbund, faktisch nichts anderes als
das Heraustreten des Reiches aus der Isolation.
4
Sein Dasein als europäischer Paria, das es in
den ersten Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gefristet hatte, findet mit diesen
Schritten ein Ende. Mit der Rückkehr in das ,,Konzert der europäischen Großmächte" beginnt
gerade für Rheinbabens außenpolitisches Wirken die interessanteste Zeit: Während seine
Gedanken zur Außenpolitik in den vorangegangenen Jahren im Großen und Ganzen nichts
weiter waren als ,,Theoretereien" ohne eine Möglichkeit zu ihrer Verwirklichung, erhalten
seine Gedanken ab 1925/1926 eine ganz neue Qualität, da sie nun mit Blick auf ein völlig
gewandeltes Maß an Realisierbarkeit gedacht werden.
Das Jahr 1933 ist eine noch einfacher zu begründende Zäsur: Mit Rheinbabens Entlassung aus
dem diplomatischen Dienst, gemäß Artikel §6 des nationalsozialistischen ,,Gesetzes zur
Wiedereinführung des Berufsbeamtentums", unmittelbar nach dem deutschen Austritt aus
dem Völkerbund im Oktober 1933, endet seine Tätigkeit im Umfeld der Schaltstellen der
deutschen Außenpolitik. Da er fortan nur noch als Privatdiplomat tätig ist, und somit keinen
Hebel mehr in er Hand hat, um die Gestaltung der internationalen Beziehungen in seinem
Sinne zu beeinflussen, sind seine Ansichten zu den außenpolitischen Ereignissen der
anbrechenden Jahre meist ohne Folgen, und daher an dieser Stelle nur von untergeordnetem
Interesse.
4
In Aufbau, S. 75 urteilt Rheinbaben selbst: ,,Bis 1923 gab es ja so gut wie keine deutsche Außenpolitik."
6

I.1. Quellenlage, methodische Schwierigkeiten und Bewertungsdilemmata
Das politische Wirken Rheinbabens hat in der historischen Forschung bislang nur wenig
Beachtung gefunden: Dies spiegelt sich darin wider, dass Monographien und Aufsätze die
sich seiner Person oder einzelnen Aspekten seines Denkens und Handelns widmen völlig
fehlen.
5
Die Hauptgrundlage der vorliegenden Arbeit bilden daher einerseits Rheinbabens Nachlass,
der in zwei Teilen in der Koblenzer Zweigstelle des Bundesarchivs und im politischen Archiv
des Auswärtigen Amtes in Berlin lagert,
6
und zum zweiten die zahlreichen Werke, die er
zwischen 1919 und 1969 veröffentlichte.
Um die monoperspektivische Sicht, die sich am Ende der Rekonstruktion der Gedanken- und
Wahrnehmungswelt einer Einzelperson unweigerlich ergibt, nachträglich von möglichen
Irrtümern und Verzerrungen frei machen zu können sind noch verschiedene andere
Materialien herangezogen worden: Einmal die Serien B und C der offiziellen
Quelleneditionen der ,,Akten zur deutschen Auswärtigen Politik", die die Dokumente des
Auswärtigen Amtes aus den Jahren 1925 bis 1935 abdecken sowie eine Reihe von
Buchpublikationen. Zu diesen zählen verschiedene Erinnerungsbücher anderer relevanter
Akteure und Zeugen, die in dem hier interessierenden Zeitraum an entscheidender Stelle
politisch wirken oder beobachten konnten. Dann diverse publizistische Erzeugnisse von
Journalisten, Kommentatoren u.ä. aus der betreffenden Zeit selbst, und schließlich historische
Fachpublikationen, die sich um eine nachträgliche Deutung und Bewertung der fraglichen
Ereignisse und Sinnzusammenhänge bemühen.
5
Dieser Zustand überrascht angesichts von Rheinbabens zeitweise exponierter Stellung als ranghohes
Regierungsmitglied und Diplomat. Dennoch: Eine breit angelegte Recherche im KVK, bei Jstor, in den
Historical Abstracts u.a. hat keinerlei Arbeiten eruieren können, die Rheinbaben in den Mittelpunkt ihrer
Betrachtung stellen. Die mündliche Auskunft des zuständigen Archivars im Bundesarchiv Koblenz vom 3.
Januar 2008, dass Rheinbabens Nachlass seines Wissens seit der Einlagerung 1976 unbearbeitet geblieben sei,
spricht um so mehr für diesen Eindruck. Die Sekundärliteratur beschränkt sich ante datum lediglich auf einige
Rezensionen der von ihm verfasste Schriften sowie einige Lexika- und Enzyklopädieeinträge (die ebenfalls keine
Monographien und Aufsätze zu nennen wissen).
6
Rheinbabens Nachlass ist wie folgt aufgeteilt: Während das BAK mit einem als ,,NL 1237" gekennzeichneten,
elf Ordner, mit einem Gesamtumfang von einem halben Regalmeter, umfassenden Materialbestand, den weitaus
größten Teil der verbliebenen Unterlagen behaust, findet sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes
(PadAA) in Berlin lediglich ein dünnes ,,Supplement" von 41 Dokumenten, das offiziell ebenfalls als ,,Nachlass"
gekennzeichnet ist. Weitere Archivalien, die als für den Zeitraum dieser Arbeit unerheblich ausgeklammert
wurden, sind Rheinbabens Personalakte im Auswärtigen Amt sowie einige Unterlagen im BAMA in Freiburg
(zwei als ,,MSg 1/844" und ,,MSg 1/845" gekennzeichnete Manuskripte sowie ein ,,Album zum Besuch einer
chinesischen Marinekommission in Stettin und Hamburg, 1910"). Bei den Unterlagen des BAMA ergibt sich
dies aus ihrem Entstehungszeitraum (vor 1911), auf die Sichtung der Personalunterlagen des PadAA wurde nach
einer Email-Rücksprache mit dem dortigen Archivar Dr. Martin Krögers am 6. Februar 2008 verzichtet, in der
dieser mitteilte: ,,Die bis 1944 reichenden Personalunterlagen berühren Rheinbabens Tätigkeit beim Völkerbund
tatsächlich nicht."
7

Mit Blick auf Rheinbabens Nachlässe ist es erforderlich auf drei Umstände hinzuweisen:
Zunächst handelt es sich bei diesen um ,,R e s t-Nachlässe" (so die offizielle Kennzeichnung
des BAK und in der NDB), was naturgemäß verschiedene Fragen aufwirft: Welche Teile des
ursprünglich vorhandenen Materials sind nicht mehr vorhanden? Unter welchen Umständen
sind sie verloren gegangen? Und aus welchen Gründen, sind sie verloren gegangen, oder ­
ärgsten Falls ­ welche Motive hatten die vorsätzlichen ,,Vernichter" und
,,Beiseiteschaffer" (wenn es sie gab), diese Unterlagen der Nachwelt vorzuenthalten? Doktor
Reiser vom BAK bemerkt im Findbuch zu Rheinbabens dortigen Nachlass, Rheinbabens
Witwe habe dem Bundesarchiv gegenüber 1976 die Auskunft erteilt, ,,ein Großteil der Papiere
(habe) den Krieg nicht überdauert und Rheinbaben selbst Teile der Unterlagen aus der
Nachkriegszeit (z.B. Verlagskorrespondenzen) vernichtet."
7
Grundsätzlich scheinen drei Motive bzw. Ereigniszusammenhänge denkbar, die zur
Vernichtung von ­ aus Forschersicht ­ besonders interessantem Material in Rheinbabens
Besitz geführt haben mögen: Einmal ist es nicht aus der Luft gegriffen, anzunehmen dass die
Ereignisse der Jahre 1933/1934 ­ in denen immerhin einige Personen seines engeren
Umfeldes, wie sein politischer und privater Freund und Wegbegleiter Kurt von Schleicher
oder der Gatte seiner Cousine,
8
gewaltsam ums Leben kamen ­ Rheinbaben dazu bewogen
haben, sich gewisser Dokumente aus seinem Privatbesitz zu entledigen. Gerade Unterlagen
aus der ,,Systemzeit" wären, wenn sie bei ihm gefunden worden wären, in der Wertung der
neuen Machthaber potentiell inkriminierend gewesen.
9
Die Möglichkeit, dass durch
,,Kriegseinwirkungen"
10
Material in seinem Haus in Dahlem vernichtet oder entwendet wurde,
ist ebenfalls nicht ausgeschlossen. Nicht zuletzt muss die Möglichkeit ins Auge gefasst
werden, dass Rheinbaben im Angesicht der Kriegsniederlage ­ oder in späteren Jahren ­
selbst Hand an die in seinem Besitz befindlichen Unterlagen angelegt haben könnte. Motiv zu
7
Koblenzer Findbuch, S. iv.
8
NDB, Bd. 21, S. 487.
9
Die Ermordung von Herbert von Bose und Erich Klausener während der ,,Nacht der langen Messer" 1934
bewies für jedermann sichtbar, dass selbst hohe Ministerialbeamte von den Exekutoren des NS-Terrors nicht als
unantastbar angesehen wurden, und dass man ihnen daher besser keinen Anlass zum ,,Zuschlagen-Müssen"
geben sollte. Dass sich diese Bereitschaft zum politischen Mord auch auf Diplomaten erstreckte, zeigt der
Umstand, dass der Außenstaatssekretär von Bülow während der 1934er Ereignisse nur durch die Intervention
Görings ­ nachträglich ­ von den Proskriptionslisten gestrichen wurde, an denen sich die SS-Rollkommandos
bei ihrer Liquidierungstätigkeit orientierten. Die Ermordung von Wilhelm Freiherr von Ketteler, eines
jungkonservativen Mitarbeiters des damaligen deutschen Sondergesandten in Österreich, Franz von Papen, den
Agenten von Heydrichs SD in seiner Badewanne ertränkten, 1938 (siehe Fabian von Schlabrendorff: Offiziere
gegen Hitler, 1946, S. 25) mag in höheren Diplomatenkreisen weiteren Anlass zur ­ begründeten ­ Angst um
das eigene Leben gegeben haben. (Zum aktuellen Forschungsstand in der Frage des Mordfall Ketteler siehe Lutz
Hachmeister: Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998, S. 10-20.)
10
Vorstellbar sind etwa Zerstörungen infolge von Luftbombardements und Plünderungen und/oder Zerstörungen
durch Rotarmisten oder andere Personen, die im Gefolge der Not und der Wirrnisse der ersten Wochen nach der
deutschen Kapitulation, auf der Suche nach Nahrung, Wertgegenständen u.ä. mehr nicht zuletzt auch die
Berliner Villenviertel heimsuchten.
8

diesem Schritt könnte der Wunsch gewesen sein, Dokumente, die ihn in den Augen der
Kriegssieger belastet, oder gemäß den grundlegend gewandelten Wertmaßstäben der
öffentlichen Meinung und politischen Führung im Nachkriegsdeutschland, kompromittiert
hätten, zu entsorgen.
11
Rheinbabens für die Öffentlichkeit bestimmten Schriften lassen sich in drei, jeweils deutlich
voneinander geschiedene, Einheiten unterteilen. Einmal die Schriften aus den Jahren 1927 bis
1933, dann die Werke aus den Jahren 1939 bis 1942 und schließlich die Werke aus der Zeit
nach 1945. In den Werken von vor 1933 begegnet Rheinbaben dem Leser als ein gemäßigter
Rechtskonservativer, der seine monarchistischen Vorlieben nicht verhüllt, sich jedoch aus
Pragmatismus und Realitätssinn mit der Republik arrangiert hat, und als ,,Stresemannianer"
12
versucht zu ihrem Wohle und Fortschritt beizutragen. Die Werke der Zeit des Zweiten
Weltkrieges atmen dann einen deutlich anderen Geist. Nur wenig an ihnen lässt noch den
maßvollen Mann der 20er Jahre erkennen: Im Ganzen bewertet tut man diesen Werken kein
Unrecht, wenn man sie als Propagandawerke der fragwürdigeren Art abqualifiziert.
13
Dass
Rheinbabens schriftstellerische Betätigung, die 1933 abrupt geendet hatte, fünf Jahre später
11
Denkbar wären hier zunächst die Beseitigung von Belegen für eine ­ möglicherweise weiter als allgemein
bekannt reichende ­ Verstrickung in das NS-Regime. Des weiteren wären Aufzeichnungen Rheinbabens oder
Mitteilungen an ihn aus der Weimarer Zeit, die sich mit pikanten Fragen, wie der heimlichen Wiederaufrüstung
der Reichswehr in den 1920ern (oder sonstigen begangenen Brüchen deutscher Vertragsverpflichtungen) oder
mit anderen delikaten politischen Angelegenheiten befasst haben könnten, nicht außerhalb des Bereiches des
Vorstellbaren. Wenn sie Beweise dafür geliefert hätten, dass solche Vertragsbrüche oder ,,Machenschaften" der
Weimarer Politikmacher mit seinem Wissen, oder gar seiner Unterstützung, betrieben wurden, wäre dies, aus
seiner Warte, ein äußerst triftiger Grund gewesen, sie aus der Welt zu schaffen. Denkschriften oder Briefwechsel
über eine für die Zukunft ­ nach einer, auf dem Weg der friedlichen Revision erreichten, Wiedererstarkung ­ ins
Auge gefasste kriegerische Revision der deutschen Grenzen, oder gar einer Rückkehr zum imperialistischen
Kurs und der Gewaltpolitik der Kaiserzeit, wären in der Zeit nach 1945 das wohl schlimmst mögliche Stigma
gewesen, hätten sie doch die, politisch zwar gescheiterten aber ethisch weithin geachteten Politiker der
Weimarer Zeit in ein übles Licht gerückt. Anstatt als leuchtender Kontrast zu den Vertretern der kaiserlichen,
und vor allem der nationalsozialistischen, Gewaltpolitik, zu gelten ­ die sich nicht wie jene fragwürdiger
Erpresser- und Bajonettmethoden bedienten, sondern mit friedlichen, also achtenswerten, Mittel ihre Ziele zu
erreichen suchten ­ wäre die nachträgliche Bewertung dann eventuell ins Negative umgeschlagen und hätte aus
den ,,guten Männern von Weimar" verhinderte Friedensstörer gemacht. Siehe hierzu vor allem die im weiteren
vertiefte Frage, ob die Stresemann'sche Politik den ehrlichen Wünschen und Zielen des Außenministers
entsprach, oder ob sie ,,nur" eine taktische Verstellung, ein großes Täuschungsmanöver zur Irreführung der
vorerst stärkeren europäischen Nachbarn gewesen ist, dem insgeheim immer der Plan einer späteren Wendung
gegen die vermeintlichen Partner zugrunde lag.
12
Diese Selbst-Bezeichnung gebraucht Rheinbaben von den 1920er Jahren an bis zu seinem Tod sehr häufig. In
der Nachkriegszeit benutzt er die Wendung etwa in einer Mitteilung an Adenauer vom 21. Februar 1964 (BAK/
NL 01).
13
Mit Blick auf die verbal stramm nationalsozialistische Tendenz in Rheinbabens Büchern aus den Jahren des
Zweiten Weltkrieges erscheint ein Urteil aus Rauschnings ­ sonst in vielerlei Hinsicht äußerst problematischen
(siehe dazu Fußnote 38) ­ Buch Makers of Destruction von 1942 höchst treffend: "At a time when the more
responsible elements among the new men in power were beginning to get abreast of their duties and to adjust
their political ideas to realities, it was precisely the men of the old governing party, the democrats and other firm
supporters of the Weimar system, who, in their panic fear of being shut out under the new regime, threw
themselves into the arms of the Nazi extremists, showing readiness to go even further than the `wild men' in
order to give clear evidence of their national spirit. It was these elements that interfered with the hoped-for
maturing of Nazism and actually promoted its radicalization." In anderem Zusammenhang könnte man
Rauschnings Äußerung übrigens geradezu als eine verblüffend frühe (1942) Vorwegnahme der
,,extensionalistischen These" der Holocaust-Forschung sehen.
9

wieder einsetzt, just ein Jahr, nachdem er 1937 der NSDAP beigetreten ist, mag ein Zufall
sein, gibt jedoch zu denken. Dass fast alle Veröffentlichungen Rheinbabens aus den Jahren
1939 bis 1942 beim berüchtigten Junker-Verlag erschienen, bekräftigt diesen Eindruck noch
weiter. Die inhaltliche Lektüre lässt schließlich an der propagandistischen Tendenz der
besagten Bücher keinen Zweifel mehr.
14
So stellt sich die Frage inwieweit die in den Werken der Jahre 1939 bis 1942 enthaltenen
Stellungnahmen zu den Ereignissen der Jahre 1925/26 bis 1933 verwertbar sind: Hat
Rheinbaben diese Bücher aus wirklicher innerer Überzeugung geschrieben? Entsprechen die
dort gemachten Aussagen also authentisch seiner Gedankenwelt? Und wenn ja, entsprechen
sie nur der Gedankenwelt der Nazijahre oder enthüllt er hier seine Gedanken der Weimarer
Zeit, die er damals jedoch (noch) nicht öffentlich auszusprechen wagte? Oder handelt es sich
bei diesen Werken lediglich um Auftragsarbeiten, die der Notwendigkeit entstammten,
irgendwie seinen Lebensunterhalt zu verdienen? Hat er dann nur seinen Lohnzahlern nach
dem Munde geschrieben, ohne sich ihre Auffassungen innerlich zu eigen zu machen? Oder
stellen diese Bücher den Versuch eines politischen Opportunisten dar, bei den neuen
Machthabern zu antichambrieren, in der Hoffnung, so politisch wieder aufzusteigen?
Zu den Werken vor 1933 und nach 1945 lassen sich ebenfalls einige Fragen aufwerfen: Sie
entstammen zwar Zeiten nahezu uneingeschränkter Presse- und Meinungsfreiheit, so dass
einer ungefilterten Äußerung der inneren Anschauungen nichts Zwingendes im Wege stand.
Es ist aber natürlich möglich, dass der Weimarer Politiker, mit Blick auf seine langfristigen
Pläne und Strategien, aus taktischer Erwägung vieles, was er dachte, verschwieg, anderes
verkleidete, oder auch einfach etwas anderes schrieb als er dachte. Für Politiker und
Diplomaten wäre dies zumindest nichts völlig untypisches. Nicht umsonst definiert Ambrose
Bierce Diplomatie als ,,die patriotische Kunst für sein Vaterland zu lügen."
15
Dass der
14
So wird der ,,großdeutsche Befreiungskrieg" beschworen, werden angeblich ,,objektive Beweise" für die
britische Schuld am Kriegsausbruch 1939 ,,erbracht", wird die Zeit von 1919 bis 1939 als ,,verwirrtes
Zwischenspiel" geschmäht (Befreiungskrieg, S. 9), vom ,,Zeitalter demokratisch-plutokratischer Vorherrschaft",
das ,,vorüber sei", räsoniert (Befreiungskrieg, S. 122), und werden massenhaft Anleihen im völkischen Jargon
gemacht (,,art- und rasseverwandt", ,,zersetzende Elemente").
In ,,Die Entstehung des Krieges 1939" von 1940 behauptet Rheinbaben sogar, dass nach einem Vortrag in
Uppsala Ende 1939, in dem er vor einem schwedischen Publikum über die Ursachen des Kriegsausbruchs
sprach, einige vor dem Krieg im Osten geflohene Polinnen, die seinem Vortrag beigewohnt hätten, zu ihm
gekommen seien, und dem in seinem Vortrag gefällten Urteil der ,,englischen Schuld am Krieg" mit den Worten
,,Der Redner hat recht ­ England ist an allem schuld." zugestimmt hätten (Entstehung des Krieges, S. 5). Henry
S. Block/ William Orville Douglas (Block/ Orville: Symposium on World Organisation, 1946, S. 936), bewerten
das Buch folgerichtig als "a general Nazi interpretation".
15
So finden sich in Akte 7 seines Nachlasses mehr als 200 Rezensionen zu seinem Buch ,,Von Versailles zur
Freiheit" von 1927, unter anderem aus englischen, französischen, polnischen und skandinavischen Zeitungen.
Insbesondere bei den fremdsprachigen Übersetzungen des Buches liegt es daher nahe, dass sie nicht nur die
,,Essenz" der eigenen Gedanken wiedergaben, sondern auch darauf abgerichtet waren, einen bestimmten Effekt
beim Leser zu erzielen, sprich sie im Sinne des Verfassers zu beeinflussen. Zu Bierce Aphorismus siehe sein
Wörterbuch des Teufels.
10

Memoirenschreiber zum Zwecke der Rechtfertigung der eigenen Person häufig dazu neigt,
manchen Gedankeninhalt, den er zu einer bestimmten Zeit hatte, zu verheimlichen oder auch,
sich selbst für eine bestimmte frühere Zeit manchen Gedanken zuschreibt, den er realiter
damals gar nicht hatte, ist auch nichts ungewöhnliches. Insbesondere muss der Drang zur
,,nachträglichen Prophetie" beachtet werden: Sind bestimmte Erkenntnisse und Einsichten, die
Rheinbaben nach 1945 sich für die Jahre 1925 bis 1933 zuschreibt, damals tatsächlich schon
vorhanden gewesen oder handelt es sich bei ihnen um nachträgliche Hinzufügungen?
Erörterungen rückschauender Politiker, ,,was in der damaligen Situation der einzig richtige
Weg gewesen wäre", der ,,natürlich" eingeschlagen worden wäre, ,,wenn es nach mir
gegangen wäre" müssen im Allgemeinen mit großer Skepsis betrachtet werden. So auch hier.
Zumal, wenn sie sich nur in Schriften finden, die in der Retrospektive geschrieben wurden,
ohne dass ein komplementärer Beleg aus der fraglichen Zeit selbst vorhanden wäre, aus dem
hervorgeht, dass die Ideen und Erkenntnisse, die der Betreffende ex post für sich beansprucht,
ihm tatsächlich bereits damals durch den Kopf gingen.
Um die, in Rheinbabens schriftlichen Veröffentlichungen enthaltenen Äußerungen daraufhin
überprüfen zu können, ob sie wirklich seiner inneren Auffassung zu der hier interessierenden
Zeit entsprachen, wird versucht, sie, wo dies nur irgend möglich ist, durch Nachlassunterlagen
oder andere Quellen zu verifizieren oder zu widerlegen.
11

I.2. Biografischer Abriss
Werner von Rheinbaben wurde 1878 als Spross eines schlesischen Uradelsgeschlechtes in
Schmiedeberg im Riesengebirge geboren. Sein Vater Hans von Rheinbaben erreichte als
Jurist das Amt eines Landgerichtspräsidenten. Die weitere Verwandtschaft umfasste unter
anderem den Politiker Georg Freiherr von Rheinbaben ­ der zwischen 1899 und 1911 als
preußischer Finanz- bzw. Innenminister amtierte, und 1909 in den engeren Kreis der
Kandidaten für die Nachfolge Bernhard von Bülows als Reichskanzler zählte, die dann
Theobald von Bethmann Hollweg zufiel
16
­ und dessen Sohn Rochus Freiherr von
Rheinbaben, der erstmals als Jurist durch ein Werk über die chinesische Verfassung auffiel
17
und in den zwanziger Jahren mit einer Reihe politischer Schriften, darunter 1926 der ,,Aufruf
an den Adel" und 1928 die erste Biografie Gustav Stresemanns, sowie als Führer der pro-
republikanischen Berliner Intellektuellengruppe ,,Front 1929" zu einer Person des öffentlichen
Lebens wurde.
18
Ferner sind zu nennen: der Großgrundbesitzer und SS-Offizier Anton von
Hohberg und Buchwald, der Ehemann von Rheinbabens Cousine Gretel von Rheinbaben, der
im Zuge eines Machtkampfes mit dem SS-Führer von Ostpreußen Erich von dem Bach-
Zelewski der Mordwelle des 30. Juni 1934 zum Opfer fiel
19
, und der pazifistische
Schriftsteller und SPD-Politiker Helmuth von Gerlach.
20
Von besonderer Bedeutung für die
Nazizeit wurde Rheinbabens Schwiegermutter, Viktoria von Dirksen, die in der Hitler-Partei
als ,,Mutter der Revolution" galt.
21
16
Rheinbaben: Kaiser, S. 76f.. Der junge Stresemann scheint übrigens schon mit dem Finanzminister von
Rheinbaben politisch sympathisiert zu haben (Vgl. seine positive Notierung über Georgs von Rheinbabens
Haltung zu einer Steuerfrage in: Stresemann: Zeitfragen, S. 204).
17
Rochus Freiherr von Rheinbaben: Chinesische Verfassung 1900-1917. Eine Studie, Berlin 1917.
18
Zu Rochus Rheinbabens Stresemann-Biografie, siehe: R. von Rheinbaben: Stresemann. Der Mensch und der
Staatsmann. Die Biographie, an der er selbst noch mitgewirkt hat, Dresden 1930. Zur Front 1929 vgl. Turner Jr.:
Vernunft, S. 241.
19
Siehe Fußnote 8.
20
Ebd.
21
Werner Maser: Hitler. Mythos, Legende, Wirklichkeit, München 1971, S. 311. Dirksen, geborene von Laffert,
war in ihrer ersten Ehe, aus der Rheinbabens Gattin Lisa stammte, mit dem Gutsbesitzer von Paleske verheiratet
gewesen. 1918 heiratete sie in zweiter Ehe den Diplomaten Willibald von Dirksen, ihr Stiefsohn wurde so der
Rheinbaben nahestehende Botschafter in Moskau und London Herbert von Dirksen. Ihre Bedeutung im NS-Staat
wird ersichtlich, wenn man den von Carl Jacob Burckhardt überlieferten Umstand beachtet, dass Dirksen, neben
Forster, die einzige Person war, die das Privileg genoss, ,,bis in die Privatgemächer des Führers
vorzudringen" (Carl Jacob Burckhardt: Gesammelte Werke, 1971, S. 395). Dirksen privilegierte Stellung im
Umfeld des ,,Führers" beruhte vor allem darauf, dass sie Hitler in der ,,Kampfzeit" zahlreiche wichtige Kontakte
(so etwa zum ehemaligen Kronprinzen) vermittelt und ihn mit großzügige finanziellen Zuwendungen unterstützt
hatte. 1922 hatte sie dem bayerischen Provinzpolitiker die Gelegenheit verschafft, vor dem illustren Nationalen
Club einen Vortrag zu halten und ihm so die ,,ersten entscheidenden Kontakte" zu den nationalen Kreisen
Norddeutschlands vermittelt (Anna Maria Sigmund: Frauen der Nazis, S. 19). Besonders eng war daneben vor
allem Dirksens Beziehung zu Goebbels, der zeitweise in ihrem Haus wohnte und dessen Ehe mit Magda Quandt
sie mitvermittelte. In seinem Tagebuch notiert er über sie: ,,Sie ist mir wie eine Mutter"
(Elke Fröhlich [Hrsg.]:
Die Tagebücher von Josef Goebbels, Teil 1, Bd. 2/I., 2005, S. 82).
12

Nach dem Besuch mehrerer Gymnasien in Breslau, Berlin und Lübeck legte Rheinbaben 1895
das Abitur ab und trat als Kadett in die kaiserliche Marine ein: Dort wurde er nacheinander
zum Leutnant (1898), Oberleutnant zur See (1901), Kapitänleutnant (1905) und
Korvettenkapitän (1912) befördert. Als Seemann bereiste der junge Rheinbaben unter
anderem den ozeanischen Raum, den indischen Subkontinent, die Küsten Afrikas und
Amerikas und nicht zuletzt auch China, wohin er 1900 anlässlich des Ausbruchs des so
genannten Boxeraufstandes entsandt wurde.
22
Außerdem erlangte Rheinbaben die
Aufmerksamkeit des Staatssekretärs im Reichsmarineamt, Alfred von Tirpitzs, dessen
Mitarbeiter und Protegé er wurde. Als Spross der herrschenden Schicht des Kaiserreiches kam
er bereits früh in persönlichen Kontakt mit führenden Figuren des öffentlichen Lebens, wie
dem Reichskanzler von Bülow und verschiedenen Ministern und nicht zuletzt mit der
Kaiserfamilie selbst: Nachdem Rheinbaben bereits 1904 von Wilhelm II. zum ,,Begleiter"
seines dritten Sohnes, Prinz Adalbert von Preußen, bestimmt worden war, lebte er zeitweise
im Berliner Stadtschloss und war Mitglied der Hofgesellschaft. Erste Erfahrungen auf dem
Feld der Diplomatie sammelte er in den Jahren der Belle Époque als Begleiter des Prinzen bei
Auslandsreisen.
23
Nach einer dreijährigen Tätigkeit im Reichsmarineamt in den Jahren 1908 bis 1911, wurde
von Rheinbaben als Marineattaché an die deutsche Botschaft für Italien in Rom entsandt. Die
ursprünglich von Tirpitz und dem Chef des kaiserlichen Marinekabinetts Müller ins Auge
gefasste Entsendung an den ungleich wichtigeren Posten in London kam aufgrund der
Intervention des ausscheidenden Londoner Attachés, Wilhelm Widenmann, nicht zustande.
24
In Rom fasste Rheinbaben ­ wahrscheinlich beeinflusst von seinem Vorgesetzten, Gottfried
von Jagow, dem damaligen Botschafter und späteren Staatssekretär im Auswärtigen Amt (i.e.
22
Rheinbaben: Viermal, S. 87. Da der Aufstand zum Zeitpunkt von Rheinbabens Eintreffen in China bereits
niedergeschlagen war kam er nicht mehr zum aktiven Einsatz im Kampf gegen die Aufständischen. Stattdessen
verbrachte er einige Wochen als persönlicher Gast des ,,Weltmarschalls" von Waldersee in dessen Palast in
Peking.
23
So besuchten die beiden beispielsweise ­ gemeinsam mit Rheinbabens damaligem Leutnant, dem späteren
Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst Freiherr von Weizsäcker ­ während einer Asienreise im Jahr 1904 die
,,Verbotene Stadt" in Beijing, um der Kaiserin Witwe Cixi eine Grußbotschaft Wilhelms II. zu überbringen
sowie den britischen Vizekönig von Indien, Curzon, und Lord Kitchener (Viermal, S. 88ff.). Den Kaiser, dessen
Wohlwollen er genoss, traf Rheinbaben letztmalig während der Kieler Woche von 1914, kurz vor Ausbruch des
Weltkrieges.
24
Widenmann: Attaché, S. 219. Hier führt Widenmann aus, er habe den Kabinettchef ,,gewarnt da er
[Rheinbaben] den Engländern nachlief statt sie auf sich zukommen zu lassen." Er, Widenmann, habe daher
empfohlen von Rheinbabens Ernennung Abstand zu nehmen und stattdessen den gleichaltrigen Erich von Müller
nach London zu entsenden. Zur Bewertung Widenmanns in der historischen Forschung siehe stellvertretend
Gerhard Ritter: Staatskunst und Kriegshandwerk, 1965, S. 213, 223, 233 und passim. Symptomatisch für den
fatalen Einfluss des Attachés auf die deutsch-britischen Beziehungen ist der während des Ersten Weltkrieges
erschienene Sherlock-Holmes-Roman The Last Bow von A. C. Doyle, in dem Widenmann kaum verkleidet in
der Figur des deutschen Spions von Bork auftritt (vgl. Nick Rennison: Sherlock Holmes. The Unauthorized
Biography, 2006, S. 234.).
13

Außenminister)
25
­ den Entschluss, die Marine zu verlassen und stattdessen als Zivildiplomat
in den diplomatischen Dienst zu wechseln. In den Jahren 1913 bis 1919 nahm er Aufgaben im
Auswärtigen Amt in Berlin sowie an verschiedenen deutschen Auslandsvertretungen wahr, so
unter anderem an der deutschen Vertretung in Brüssel, wo er als Legationssekretär am Abend
des 2. August 1914, zusammen mit dem Gesandten, das Ultimatum der Berliner Regierung an
das belgische Außenministerium übergab das den Beginn des Ersten Weltkrieges im Westen
markierte.
26
Den weiteren Kriegsverlauf erlebte Rheinbaben an den deutschen Gesandtschaften in Bern,
Zürich, Bukarest (wo er Zeuge des rumänischen Kriegseintritt auf Seiten der Entente wurde)
und Kristiania sowie ­ als Legationssekretär im ,,Charakter als Legationsrat" (1916) ­ als
Mitarbeiter im Auswärtigen Amt in Berlin, wo er unter anderem 1917/1918 die Aufgaben
eines Pressesprechers übernahm.
Im September 1919 schied Rheinbaben aus dem Reichsdienst aus, um sich fortan als
Berufspolitiker zu betätigen. Dem Eintritt in die Deutsche Volkspartei im Oktober 1919 folgte
1920 die Wahl in den Reichstag, dem er über vier Wahlperioden hinweg, bis 1930, als
Abgeordneter des Wahlkreises Breslau angehörte. Neben seinen parlamentsinternen
Funktionen als außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion sowie als ihr Vertreter im
Auswärtigen Ausschuss amtierte er von August bis Oktober 1923 in der Regierung
Stresemann als ,,Chef der Reichskanzlei" sowie von 1926 bis 1933 als Mitglied der deutschen
Delegation beim Völkerbund in Genf und bei der Genfer Abrüstungskonferenz 1932/1933.
Zusätzliches politisches Profil konnte Rheinbaben in diesen Jahren durch diplomatische
Emissärsmissionen gewinnen, bei denen er mit Politikern von Weltrang wie dem US-
Präsidenten Calvin Coolidge, den er im Oval Office des Weißen Hauses besuchte, oder dem
britischen Schatzkanzler Winston Churchill, den er im Londoner Finanzministerium
aufsuchte, zusammentraf.
27
Nach dem Tod Stresemanns im September 1929 wurde Rheinbaben von den deutschen
Zeitungen ­ meist mit einem Anflug verhaltener Skepsis ­ als potentieller Anwärter für die
Nachfolge Stresemanns im Amt des Außenministers gehandelt, das schließlich Curtius
übertragen wurde.
28
In der Ära der Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher in der Zeit vom März 1930
bis zum Januar 1933 konnte Rheinbaben durch seine Freundschaft mit Kurt von Schleicher,
25
Giessler: Institution, S. 109.
26
Rheinbaben: Viermal, S. 118.
27
Rheinbaben: Kaiser, S. 241.
28
Hamburger 8. Uhr Abendblatt vom 3. Oktober 1929, Frankfurter Zeitung vom 4. Oktober 1929, Leipziger
Volkszeitung vom 5. Oktober 192.
14

der in dieser Phase als Vertrauensmann und engster Berater Hindenburgs, und zuletzt auch als
Reichskanzler, der mächtigste Politiker Deutschlands war, erneut auf das Handeln der
Regierung nehmen.
29
Seine Beziehung zu Schleicher ermöglichte es ihm mit Denkschriften
und in persönlichen Gesprächen direkt auf die Reichsleitung einzuzwirken. Auch wenn
Rheinbaben damit zu den Personen zählte, die sich in der kritischen Umbruchsperiode
1932/1933 im innersten Arkanbereich der deutschen Politik aufhielten, darf sein Einfluss auf
die dort getroffenen Entscheidungen nicht überschätzt werden. Man hörte sich seine Ideen
bereitwillig an, setzte sie aber deswegen nicht auch zwangsläufig um: Schleicher lehnte
beispielsweise den ihm von Rheinbaben um die Jahreswende 1932/1933 mehrfach
unterbreitete Plan, der NSDAP durch eine rasche Folge von immer neuen
Reichstagsauflösungen und Neuwahlen ­ die immer neue kostenintensive Wahlkämpfe
erforderlich machen würden ­ den finanziellen Garaus zu bereiten, ab.
30
Nach der nationalsozialistischen ,,Machtergreifung" wurde Rheinbaben am 14. Juli 1933 (mit
Wirkung für September) gemäß Artikel 6 des ,,Gesetzes zur Wiedereinführung des
Berufsbeamtentums" in den Ruhestand versetzt.
31
Zwischen 1933 und 1944 folgte, neben der Tätigkeit in diversen Aufsichtsräten von
Versicherungsunternehmen, eine ausgedehnte Tätigkeit als ,,Privatdiplomat" und
Schriftsteller. In diese Zeit fallen zahlreiche Vortragsreisen im In- und Ausland, Zeitungs-
und Zeitschriftenbeiträge sowie zahlreiche Besprechungen mit führenden Vertretern aus
Politik, Diplomatie, Wirtschaft und den höheren gesellschaftlichen Kreise in verschiedenen
europäischen Staaten.
32
29
Die Freundschaft zu Schleicher hatte ihre Wurzeln in der engen Zusammenarbeit beider Männer bei der
Bewältigung der Staatskrise vom Herbst 1923 ­ in der beide Männer (Rheinbaben als Chef der Reichskanzlei,
Schleicher als der rechten Hand des Reichswehrministers) als Scharniere zwischen der Reichskanzlei und dem
Reichswehrministerium fungierten mit der Koordination der Maßnahmen beider Stellen betraut waren. Der
Kontakt zwischen Rheinbaben und Schleicher blieb bis zu Schleichers Tod bestehen. Intensiviert wurde die
Bande durch gemeinsame Freizeitgestaltung und vor allem durch die Freundschaft ihrer Ehefrauen. Die intime
Nähe beider Männer geht beispielsweise aus einer Episode vom 13. August 1932 hervor: am Abend dieses Tages
erlebte Rheinbaben mit, wie Schleicher ­ nervlich sichtlich mitgenommen ­ mit der Entscheidung rang, ob man
Hitlers Forderung, ihn, Hitler, zum Kanzler eines Präsidialkabinetts zu ernennen nachgeben oder sich ihr
widersetzen sollte, und sich schließlich gegen eine Berufung Hitlers entschied. (vgl. Udo Kissenkoetter: Gregor
Strasser und die NSDAP, 1974, S. 145.)
30
Rheinbaben: Kaiser,1968, S. 281. Die Idee die hinter diesem Plan stand war die, die Hitler-Partei im Zuge
dieser nicht abreißenden Serie von dich aufeinander folgenden teuren Wahlkämpfen allmählich finanziell
,,ausbluten" zu lassen, so dass sie irgendwann ökonomisch nicht mehr imstande wäre, effektiven Wahlkampf zu
betreiben. Dies würde, so das Kalkül, bei irgendeiner dieser Wahlen zu einem Einbrechen ihrer Wahlergebnisse
und damit auch zu einem Einbrechen ihrer Macht im Parlament führen. So würde man einerseits am Ende eines
erschöpfenden ,,Wahlinfernos" zu einer arbeitsfähigen Mehrheit aus pro-republikanischen Kräften im Reichstag
gelangen, in dem die NSDAP zu einer blockadeunfähigen Minderheit hinabsinken würde; andrerseits würde die
Anhängerschaft der Partei sich, enttäuscht über ihre andauernde Unfähigkeit zur Macht zu gelangen (und in
diesem Eindruck bestärkt durch ihre schwachen Wahlergebnisse) zerstreuen, so dass auch ihre Bedeutung
außerhalb des Parlamentes schließlich schwinden würde.
31
BHdAD, Bd. 3.
32
So hielt er Vorträge in Frankreich, Belgien, Großbritannien, Norwegen, Schweden und den Niederlanden
(Rheinbaben saß im Vorstand der Deutsch-Niederländischen Gesellschaft). Die in Basel erschienene
15

Mit dem Regime wusste Rheinbaben im mindesten, sich zu arrangieren. In seinen Memoiren
vermerkt er zwar, der SD habe ihm die Geheimnote ,,politisch unzuverlässig" gegeben, und
man habe ihn wiederholt am Telefon bedroht.
33
Dem steht andererseits gegenüber, dass er sich
in den 1930er und 1940er Jahren nicht nur ,,nicht negativ" in Wort und Schrift über den NS-
Staat äußerte (was nur zu verständlich ist), sondern so weit ging, sich auch prononciert positiv
über ihn zu äußern.
34
Am 1. Mai 1937 trat Rheinbaben der NSDAP bei
35
und 1938 war er gar
ein Beiträger des von Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop herausgegebenen, in
England veröffentlichten, Buches Germany speaks, in dem ,,21 führende Vertreter aus Partei
und Staat" (darunter Wilhelm Frick, Robert Ley, Richard Darré, Otto Dietrich und Fritz Todt)
versuchten, ,,den Engländern das 3. Reich so darzustellen wie seine Führer selbst es sehen"
36
Diese aktive Mitarbeit Rheinbabens verwundert, bedenkt man, dass er seinen Memoiren
zufolge früh gewusst habe, dass ,,Hitlers Aufstieg [...] von vornherein auf Gewalt und
Eroberung abgestellt" gewesen sei.
37
Andrerseits beobachtete das Berliner Tageblatt schon
1931, dass Rheinbaben ,,sich mit dem NS, mit Stahlhelmern und allen Kriegstrommlern
Nationalzeitung sprach am 2. August 1939 in diesem Zusammenhang von ihm als einem ,,gleichgeschalteten
ehemaligen Diplomaten".
33
Rheinbaben: Viermal, S. 321.
34
Der Journalist ,,Atticus" berichtet beispielsweise am 9. Juli 1939 in der Sunday Times "[Rheinbaben] is an
admirer of Herr Hitler. He told me so." In den 1930er Jahren finden sich zahllose tendenziell pro-
nationalsozialistische Leserbriefe und Artikel Rheinbabens in ausländischen Zeitungen.
An den Herausgeber der Times schrieb er etwa am 9. August 1937 einen Brief in dem er beklagte: "We Germans
and you Englishmen will, notwithstanding many good intentions, never come closer together and never become
really good friends, if we continue to criticize the internal conditions and the methods of government in a way
that must hurt the feelings of the country concerned." In einem offenen Brief an Churchill, der im April 1936 in
Warden Chilcotts Monatsschrift The National erschien, weist er Churchills alarmierende Unterhausreden aus
dem selben Jahr über die deutsche Aufrüstung und die von Deutschland ausgehende Gefahr zurück. Weiter
findet sich in einem, in Ordner 3 seines Nachlasses erhaltenen, Manuskript aus dem Jahr 1938, das den Titel
Deutschland und England trägt, auf S. 19 die Äußerung, ,,dass einflussreiche Kreise in England weitab vom
wirklichen Verständnis für die Notwendigkeit der deutschen Lage" seien. Und an gleiche Stelle auf S. 21 ,,Wir
können und wollen die Redensart nicht mehr hören: ,Ich liebe Deutschland aber ich mag die Nazis nicht'.
Deutschland und Nazis sind identisch ­ man sollte das überall begreifen."
35
BHdAD, Bd. 3. In seinen Memoiren Viermal Deutschland verschweigt Rheinbaben seine Mitgliedschaft in der
NSDAP. Stattdessen äußert er sich allgemein zum Phänomen der Mitgliedschaft von ,,Nicht-Nazis" in der Hitler-
Partei und deren Beitrittsmotiven. Man wird wohl nicht fehlgehen in der Annahme, dass er diese umständliche
Rochade vollzieht, um einerseits sein persönliches Handeln (seinen Parteieintritt) indirekt (indem er nicht in der
Ich-Form, sondern von einer abstrakt-allgemeinen ,,Masse von Leuten die eine bestimmte Verhaltensweise
praktizieren" spricht) rechtfertigen zu können, ohne sich andrerseits die Blöße geben zu müssen, seine
persönliche Parteimitgliedschaft dem Leser gegenüber direkt eingestehen zu müssen. Er schreibt dazu: ,,Unter
dem Druck der Verhältnisse entschieden sich daher Millionen dafür, die Parteimitgliedschaft zu erwerben.
Behörden, [...], Berufsstände legten alle Wert darauf, dass ihre leitenden Beamten, Direktoren, Betriebsführer
oder Angestellten der NSDAP beitraten. Die Parteimitgliedschaft wurde bei vielen von diesen, ja man kann
sagen bei den meisten, zu einer bloßen Formsache; man trat nicht bei, um mitzumachen [...], sondern um ,in
Ruhe gelassen zu werden' und vor der Verdächtigung nichtnationaler, das hieß in jenen Zeiten
regimefeindlicher, Gesinnung sicher zu sein." Und weiter: ,,Parteizugehörigkeit konnte überhaupt nicht mehr als
Maßstab für die Beurteilung der politischen Überzeugung des Betreffenden genommen werden." (Viermal
Deutschland, S. 340)
36
Joachim von Ribbentrop (Hrsg.): Germany Speaks. By 21 Leading Members of Party and State, London 1938.
37
Rheinbaben: Viermal, S. 318. An gleicher Stelle nennt er ihn einen ,,Dämon der Macht". In Veritá, S. 10
spricht er in ähnlicher Weise von einem ,,undeutschen Abenteurer, der unter Außenpolitik die Vergewaltigung
anderer Länder verstand."
16

verbrüdert, während er in Genf, als Delegierter bei internationalen Zusammenkünften, in
Völkerversöhnung macht."
38
Haar stellt Rheinbaben für die NS-Zeit, etwas differenzierter, neben Schacht, in die Reihe der
,,prominentesten deutschen Liberalen", die die ,,Nazipolitik" in den frühen 1930ern aus
Verblendung unterstützt hätten, bevor ihnen gegen Ende des Jahrzehnts ,,ernste Selbstzweifel"
gekommen seien.
39
Rheinbaben selbst gab hierzu an, ,,das dritte [Deutschland (nach
Kaiserreich und Republik)] lehnte ich ab, aber lief mit".
40
Und sogar Rauschning konzediert,
mit Blick auf Rheinbaben und Männer ,,von seiner Art", dass diese zwar mit den
Nationalsozialisten zusammenarbeiteten, aber: ,,They had [in the days of Weimar] certainly
not been militarists and revanche enthusiasts in disguise."
41
Ab 1942 war er in Lissabon als Delegierter des Deutschen Roten Kreuzes sowie, versehen mit
einem Spezialauftrag des Auswärtigen Amtes, im Zusammenhang mit
Kriegsgefangenenfragen tätig. Zu der, während des Zweiten Weltkrieges, von verschiedenen
britischen Tageszeitungen
42
lancierten Behauptung, dass seine ,,wahre" Tätigkeit in Portugal
in der Wahrnehmung der Aufgabe des ,,Leiters der Gestapo-Spionage in Lissabon" bestanden
habe, lässt sich, nach sorgfältiger Abwägung aller greifbaren Quellen und Hinweise,
feststellen: dass es wahrscheinlicher ist, dass diese Behauptung unzutreffend ist, als dass sie
zutrifft.
43
38
Berliner Tageblatt vom 9. August 1931. Das Tageblatt nennt ihn deshalb auch einen ,,auf günstige
Geschäftskonjunkturen lauernden Parteitaktiker, der jedes Mal die passende Maske sucht."
39
Haar: Ethnic Cleansing, S. 207. "[They] supported Nazi policies in the early 1930s [...] [later they]
encountered serious self-doubt."
40
Rheinbaben: Viermal, S. 6.
41
Rauschning: Destruction, S. 251.
42
So in der Times vom 15. April 1942 ("chief of the Gestapo espionage service in Lisbon") oder in der Daily
Mail vom 5. November 1942 ("Gestapo chief von Rheinbaben").
43
Dafür, dass diese Behauptung nicht zutrifft, spricht zunächst die Tatsache, dass Rheinbaben, der 1878
geborene Angehörige eines schlesischen Uradelsgeschlechtes, durchaus nicht in das gängige Personalschema der
Gestapo passte, die bekanntlich von nach 1900 geborenen Männern kleinbürgerlicher Herkunft geprägt war. Des
weiteren ist seine bereits erwähnte Entlassung aus dem diplomatischen Dienst gemäß dem ,,Gesetz zur
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" noch im Jahr 1933 ein deutlicher Hinweis darauf, dass die
Nationalsozialisten ihn als politisch eher unzuverlässig ansahen. Seine, in Teilen im weiteren Verlauf dieser
Arbeit darzulegenden politischen Handlungen und Anschauungen in der Weimarer Zeit, hätten ihn in den Reihen
der Gestapo zum mindesten zu einem Fremdkörper gemacht ­ eine Anstellung wahrscheinlich sogar
ausgeschlossen. Dass Rheinbaben selbst den Gestapo-Vorwurf in seinen Memoiren zurückweist (Viermal, S.323:
,,Ich bin niemals Agent gewesen und muss dieses Bezeichnung für mein Auftreten im Ausland in den Jahren
zwischen 1933 und 1943 nachdrücklich ablehnen.") muss nicht viel heißen ­ es wird wohl nur wenige Menschen
gegeben die diese Anschuldigung, selbst wenn zutreffend, nicht abgestritten hätten. Dass sich keine
inkriminierenden Materialien in seinen ­ als ,,R e s t nachlasse" ausgewiesenen ­ Unterlagen im BAK und im
Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes finden, besagt ebenfalls nicht viel: Dass es plausibel ist, dass er
solche, wenn sie je existiert haben, beizeiten vernichtet haben würde, bedarf keiner Erklärung. Als entlastend
können hingegen zwei andere Umstände gewertet werden: Zum einen wären hier die (Enttäuschung und Zweifel
über ihn zum Ausdruck bringenden) Äußerungen von einflussreichen Nazigrößen zu nennen. Goebbels (Elke
Fröhlich [Hrsg.]: Tagebücher, Bd. 2/II, S. 171, Eintrag vom 14. Dezember 1931) billigte ihm etwa einen ,,guten
Charakter" zu, vermerkt zugleich jedoch kopfschüttelnd, Rheinbaben sei ,,immer noch von Stresemann infiziert."
ähnlich Göring und Hitler. Letztere nannte ihn enttäuscht einen ,,international verseuchten ehemaligen
kaiserlichen Seeoffizier." (Zeitgeschichte, S. 42).
17

Nach 1945 lebte von Rheinbaben in München und auf dem Besitz seines Freundes, des
Bankiers Eduard von der Heydt, auf dem Monte Veritá bei Ascona am Lago Maggiore in der
Schweiz. In die knapp dreißig Jahre zwischen 1945 und seinem Tod 1975 fällt die
Veröffentlichung mehrerer Erinnerungsbücher sowie die Beteiligung an aktuell-politischen
und zeitgeschichtlichen Debatten. Diese fand statt in Form von Zeitungs- und
Zeitschriftenartikeln, Leserbriefen und Auftritten bei Historikertagungen. Hinzu kam eine
umfangreiche private Korrespondenz mit anderen ,,Überlebenden der Geschichte" wie den
Reichskanzlern a.D. Hans Luther und Franz von Papen oder den Politikern Hermann Pünder
und Gottfried Treviranus, mit Historikern wie Walter Hubatsch sowie mit führenden
Vertretern des neuen Staates wie dem CSU-Politiker Franz Josef Strauss.
44
Der zweite Umstand ist ein komplexer chronologischer Sachzusammenhang: Die Beschuldigung, Rheinbaben
habe im Dienst der Gestapo gestanden, findet sich erstmals im Jahr 1942, und in diesem Jahr gehäuft, vorher
jedoch nirgendwo. Im selben Jahr erschien das Buch Makers of Destruction von Hermann Rauschning, dem
geflohenen ehemaligen Senatspräsidenten von Danzig: In diesem findet sich an zwei Stellen (S. 100 und S. 251)
die Unterstellung, Rheinbaben sei Leiter der Lissabonner Gestapo. Es scheint daher so, als ob Rauschning der
erste gewesen ist, der die Anschuldigung in die Welt gesetzt hat (für die er keinen Beweis liefert): Es ist daher
wahrscheinlich, dass die britischen Zeitungen die Gestapo-Anschuldigung bei Rauschning abgeschrieben haben.
Wenn man Rauschning als Urheber der Anschuldigung annimmt, was nach den vorliegenden Fakten getan
werden muss, so kann die vorherrschende Meinung über seine Verlässlichkeit als historischem Gewährsmann
nicht unbeachtet bleiben: So misst Ian Kershaw Rauschnings Büchern beispielsweise eine derart geringe
Glaubwürdigkeit bei, dass er in seiner Hitlerbiografie urteilte: ,,[They are] regarded to have so little authenticity
that it is best to disregard [them] altogether." (Kershaw: Hitler, Bd.1, London 1998, S. xiv). ähnlich vernichtende
Verdikte finden sich bei Hänel (zitiert in: The Encyclopedia of the Third Reich, Bd. 2, 1991, S. 757). Sachliche
Fehlangaben Rauschnings mit Blick auf Fakten zu Rheinbaben (er behauptet auf S. 100, Rheinbaben wäre zur
Weimarer Zeit ein ,,undersecretary" im Außenministerium gewesen, was unzutreffend ist) und zu
Verhaltensweisen Rheinbabens (auf S. 100 schreibt er: ,,[Rheinbaben] was anxiously concerned under the new
regime to maintain his standing and to keep in good odour"; tatsächlich brachte er Hitler bereits am 14. März
1933 beim persönlichen Vortrag in der Reichskanzlei gegen sich auf, als er ihn, anstatt ihm nach dem Munde zu
reden, von der Wichtigkeit eines Verbleibens im Völkerbund zu überzeugen versuchte) bekräftigen diese Urteile.
Fasst man die extreme Fragwürdigkeit der wahrscheinlichen Quelle der Gestapo-Anschuldigung und das völlige
Fehlen irgendwelcher Beweise für ihr Zutreffen zusammen, so ist es geboten, Rheinbaben den benefit of the
doubt zu gewähren, und vorläufig davon auszugehen, dass der Vorwurf unzutreffend ist.
44
Strauß lernte Rheinbaben im Januar 1954 in der Akademie für politische Wissenschaften kennen. Anschließend
blieben beide in Kontakt miteinander. Rheinbaben beriet Strauß, wofür dieser sich unter anderem revanchierte,
indem er das Vorwort für Rheinbabens Buch von 1968 Kaiser, Kanzler, Präsidenten beisteuerte..
18

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783836624497
DOI
10.3239/9783836624497
Dateigröße
640 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Konstanz – Geschichte, Neueste Geschichte
Erscheinungsdatum
2009 (Januar)
Note
1,0
Schlagworte
deutsche außenpolitik weimarer republik nationalsozialismus gustav stresemann völkerbund
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Titel: Werner von Rheinbaben und die deutsche Außenpolitik zwischen 1925/1926 und 1933
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