Lade Inhalt...

Vom Fremdbild zum Selbstbild

Die fotografische Repräsentation der Indigenen Mexikos

©2003 Magisterarbeit 109 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Das Bild der Indigenen, wie es die westliche Welt kennt, ist geformt durch die Sichtweise von Außenstehenden, die von ihrem kulturellen Hintergrund aus, sei es in Reiseberichten oder wissenschaftlichen Büchern, in Filmen oder Fotografien, die jeweils fremden Kulturen beschrieben und beurteilten. Dies gilt auch für die Fotografie: während des ersten Jahrhunderts der Fotografiegeschichte sind die Indigenen immer die passiven Modelle der Fotokamera gewesen. Ab der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts - parallel zur ‘Krise der Repräsentation’ in der Anthropologie – begann auch in der Fotografie ein Wandel vom Fremdbild zum Selbstbild in der Repräsentation der Indigenen, wobei es sich hier nicht um einen Ablösungsprozess handelt, sondern vielmehr um neu hinzukommende Perspektiven, während die alten parallel fortbestehen.
Der Begriff ‘Indigene’ bezeichnet die Eingeborenen, im Fall der vorliegenden Arbeit die eingeborene Bevölkerung Mexikos, die etwa 20% der mexikanischen Bevölkerung, demnach rund 20 Millionen Menschen ausmacht. (70% sind Mestizen und 10% Weiße, meist spanischer Abstammung). Es werden 139 indigene Sprachgruppen gezählt, von denen heute noch etwa 50 bestehen. Sie sind über das ganze Land verteilt und leben mehr oder weniger marginalisiert in der mexikanischen Gesellschaft. Auch wenn eine steigende Zahl auf der Suche nach Arbeit in die großen Städte abwandert, ist die Mehrheit Bauern, die in dörflichen Gemeinden leben und ihre eigene Kultur, eigene Sprache und teilweise eigene Religion fortführen. Die indigene Landbevölkerung ist im Vergleich mit den anderen Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet durch überdurchschnittliche Armut, und sie sind die Benachteiligten, was Bildung und medizinische Versorgung betrifft.
Außer der Bezeichnung Indigene (spanisch: Indígenas), der in den lateinamerikanischen Ländern übliche Ausdruck für die eingeborene Bevölkerung, werden in der Literatur auch die Termini ‚Indios’, ‚Indianer’ und ‚Ureinwohner’ gebraucht. Sie bezeichnen alle dieselbe Gruppe. Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass diese Begriffe problematisch sind: ‚Indio’ wird in Lateinamerika oft in abschätzigem Sinne gebraucht, ‚Indianer’ ist in unserer Vorstellung vorab mit den nordamerikanischen Indianern verknüpft und der Begriff ‚Ureinwohner’ weist in die Vorzeit zurück.
Diese Arbeit will Beispiele fotografischer Repräsentationen der mexikanischen Indigenen vorstellen und miteinander vergleichen. Sie […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Madlen Schering
Vom Fremdbild zum Selbstbild
Die fotografische Repräsentation der Indigenen Mexikos
ISBN: 978-3-8366-2404-6
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2009
Zugl. Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland, Magisterarbeit, 2003
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,
insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von
Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der
Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen,
bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung
dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen
der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich
vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des
Urheberrechtes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in
diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,
dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei
zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können
Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden und der Verlag, die Autoren oder
Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für evtl.
verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2009

Inhaltsverzeichnis
Band 1
1. Einleitung
S. 5
1.1. Gliederung
S. 6
1.2. Fragestellung
S. 8
1.3. Zur verwendeten Literatur
S. 10
2. Diskurs der Macht: Darstellungen des Anderen und die Rolle der
Fotografie
S. 11
2.1. Bildliche Darstellungen der Indigenen bis zur Erfindung der Fotografie
S. 14
3. Anthropologische Bestandsaufnahmen der indigenen Bevölkerung zu
Forschungszwecken
S.
16
3.1. Fotoanalyse: anthropologische Fotografien der Huicholes von Carl Lumholtz S. 16
3.2. Carl Lumholtz
S. 19
3.3. Grundzüge der Anthropologie und der anthropologischen Fotografie
um 1900
S. 23
3.3.1. vor 1900: Vermessung/Typologisierung/ Objektivierung
S. 23
3.3.2. nach 1900: Perspektive der teilnehmenden Beobachtung
S. 26
3.4. Motivwahl und Gestaltungsprinzipien in den Fotografien von Lumholtz
S. 27
3.5. Fotografie als Dokumentationsmedium: Instrument zur Messung und
Datenerfassung
S. 30
2

4. Der Indigene als Projektionsfläche europäischer und nordamerikanischer
Sehnsüchte und Ängste
S. 32
4.1. Fotoanalyse: Fotografien aus dem Lakandonischen Regenwald
von Gertrude Duby
S. 32
4.2. Gertrude Duby-Blom
S. 34
4.3. Kontext: Internationale Fotografen entdecken Mexiko
S. 36
4.3.1. Romantisierung/ Heroisierung/ Psychologisierung
S. 36
4.3.2. Archaismus und Modernität/ Vergangenheit und Gegenwart
S. 39
4.3.3. Mexikanische Fotografie nach europäischem Modell: Anpassung statt
Abgrenzung
S. 41
4.4. Motivwahl und Gestaltungsprinzipien in den Fotografien Dubys
S. 42
4.5. Fotografie als Medium sozialkritischer Anklage und Ausdruck von Gefühlen S. 48
5. Postkoloniale Blicke - Selbstrepräsentation der Indigenen
S. 51
5.1. Maruch Sántiz Gómez: creencias de nuestros antepasados S.
51
5.1.1. Fotoanalyse
S. 51
5.1.2. Zur Person Maruch Sántiz Gómez und ihrem Fotoprojekt
S. 52
5.1.3. Motivwahl und Gestaltungsprinzipien
S. 55
5.1.4. Die magische Realität
S. 58
5.1.5. Die archäologische Reliquie
S. 61
5.2. Xunka` López Díaz: Mi hermanita Cristina- una nina de Chamula
S. 62
5.2.1. Fotoanalyse
S. 62
5.2.2. Zur Person Xunka` López Díaz und ihrem Fotoprojekt
S. 64
5.2.3. Die Thematisierung der indigenen Identität
S. 65
5.2.4. Motivwahl und Gestaltungsprinzipien
S. 67
5.3. Das indigene Foto-Archiv (Archivo Fotógrafico Indígena ­ AFI) in San
Cristóbal de las Casas, Chiapas
S. 70
5.4. Motivwahl und Gestaltungsprinzipien des AFI S.
73
3

5.5. Postkoloniale Blicke
S. 80
5.5.1. Die Idee der indigenen Selbstrepräsentation, Vorläuferprojekte
S. 83
5.5.2. Traditionelle Repräsentationsmedien der Indigenen
S. 85
5.5.3. Die Aneignung der Fotografie, deren Möglichkeiten und Grenzen zur
Artikulation des ,,Eigenen
S. 88
5.6. Fotografie als Medium der Geschichtsschreibung und Identitätskonstruktion S. 91
5.6.1. Fotografie als Strategie des Widerstands: Vergleich zum aktuellen Bild der
Presse
S. 93
6. Zusammenfassung
S.
96
7. Bibliographie
S.
101
Band 2
1. Abbildungen
2. Abbildungsnachweise
4

1. Einleitung
Das Bild der Indigenen, wie es die westliche Welt kennt, ist geformt durch die
Sichtweise von Außenstehenden, die von ihrem kulturellen Hintergrund aus, sei es in
Reiseberichten oder wissenschaftlichen Büchern, in Filmen oder Fotografien, die
jeweils fremden Kulturen beschrieben und beurteilten. Dies gilt auch für die Fotografie:
während des ersten Jahrhunderts der Fotografiegeschichte sind die Indigenen immer die
passiven Modelle der Fotokamera gewesen. Ab der sechziger Jahre des zwanzigsten
Jahrhunderts - parallel zur ,,Krise der Repräsentation" in der Anthropologie ­ begann
auch in der Fotografie ein Wandel vom Fremdbild zum Selbstbild in der Repräsentation
der Indigenen, wobei es sich hier nicht um einen Ablösungsprozess handelt, sondern
vielmehr um neu hinzukommende Perspektiven, während die alten parallel fortbestehen.
Der Begriff ,,Indigene" bezeichnet die Eingeborenen, im Fall der vorliegenden Arbeit
die eingeborene Bevölkerung Mexikos, die etwa 20% der mexikanischen Bevölkerung,
demnach rund 20 Millionen Menschen ausmacht. (70% sind Mestizen und 10% Weiße,
meist spanischer Abstammung). Es werden 139 indigene Sprachgruppen gezählt, von
denen heute noch etwa 50 bestehen. Sie sind über das ganze Land verteilt und leben
mehr oder weniger marginalisiert in der mexikanischen Gesellschaft. Auch wenn eine
steigende Zahl auf der Suche nach Arbeit in die großen Städte abwandert, ist die
Mehrheit Bauern, die in dörflichen Gemeinden leben und ihre eigene Kultur, eigene
Sprache und teilweise eigene Religion fortführen. Die indigene Landbevölkerung ist im
Vergleich mit den anderen Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet durch
überdurchschnittliche Armut, und sie sind die Benachteiligten, was Bildung und
medizinische Versorgung betrifft.
Außer der Bezeichnung Indigene (spanisch: Indígenas), der in den lateinamerikanischen
Ländern übliche Ausdruck für die eingeborene Bevölkerung, werden in der Literatur
auch die Termini ,Indios', ,Indianer' und ,Ureinwohner' gebraucht. Sie bezeichnen alle
dieselbe Gruppe. Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass diese Begriffe
problematisch sind: ,Indio' wird in Lateinamerika oft in abschätzigem Sinne gebraucht,
,Indianer' ist in unserer Vorstellung vorab mit den nordamerikanischen Indianern
verknüpft und der Begriff ,Ureinwohner' weist in die Vorzeit zurück.
Diese Arbeit will Beispiele fotografischer Repräsentationen der mexikanischen
Indigenen vorstellen und miteinander vergleichen. Sie beschäftigt sich mit den
fotografischen Bildern der Indigenen, also mit der Konstruktion des populären
5

Indianerbildes durch die Fotografie, nicht mit den realen Indigenen. Während das Bild
des ,Indianers' weitgehend homogen ist, kannten die Indigenen selber bis vor wenigen
Jahrzehnten keine kollektive Eigenbezeichnung. Gesellschaftlich, sprachlich,
wirtschaftlich und kulturell gibt es zwischen den einzelnen indigenen Ethnien
wesentliche Unterschiede. Diese Unterschiede werden jedoch von Fotografen und
Rezipienten oft nicht wahrgenommen. Für uns gibt es gemeinhin den ,,typischen
Eingeborenen", der Rousseau
1
folgend dem Bild des einfachen, unzivilisierten
Menschen im Naturzustand entspricht. Für die vorliegende Arbeit ist es demnach
möglich, Bildthemen und ­kategorien ,,des Indianers" festzustellen und Bildmaterial
unterschiedlicher Ethnien zu betrachten und zu vergleichen, womit ihnen keinesfalls
ihre reale Verschiedenheit abgesprochen werden soll.
Wenn im Folgenden von "unserer Kultur" die Rede ist, so meint dies die Kultur der
sogenannten ersten Welt, der Industrieländer Europas und Nordamerikas.
1.1. Gliederung
Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile, die sich zum einen historisch ableiten, und
zum anderen drei verschiedene fotografische Sichtweisen auf die Indigenen darstellen.
Diese Themengebiete werden jeweils von der Analyse beispielhafter Fotos eingeleitet.
Während sich die ersten beiden Teile mit Fremdrepräsentationen beschäftigen, widmet
sich der dritte Teil der fotografischen Selbstdarstellung der Indigenen.
Im ersten Teil geht es um die anthropologische Fotografie, in der ab 1850 die
eingeborene Bevölkerung Mexikos als fotografisches Motiv erscheint. Mittels der
Fotografie als Medium der Datenerfassung wurden die menschlichen Rassen unter dem
Gesichtspunkt ihrer physiognomischen Eigenschaften vermessen und ihre Trachten und
traditionellen Gebrauchs- und Kultgegenstände registriert. Ab der Jahrhundertwende
kommen neue Bildthemen, zum Beispiel Momentaufnahmen alltäglicher und ritueller
Vorgänge, hinzu.
An ausgewählten Beispielen sollen die fotografischen Aufnahmen des Anthropologen
Carl Lumholtz aus der Zeit seiner Forschungsreisen in Mexiko zwischen 1890-1898 im
Kontext der ethnologischen Fotopraxis seiner Zeit vorgestellt und analysiert werden.
1
Rousseau, Jean Jacques (1712-1778): frz. Schriftsteller und Philosoph, der den ,,primitiven" Menschen
als Gegenbild zum modernen, von sich selbst abgeschnittenen sah. Den ,,edlen Wilden" charakterisiert er
als von Dingen wie Wissenschaft, Erziehung und Gesellschaft unverdorbenen Menschen, der mit sich
selbst und der Natur in organischer Einheit und Harmonie lebt.
6

Als Gegensatz zur distanzierten, als wissenschaftlich deklarierten Aneignung des
neunzehnten Jahrhunderts können die Fotografien jener internationaler Fotografen
angesehen werden, die bereits ab 1860, jedoch verstärkt nach der mexikanischen
Revolution, also ab den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, nach Mexiko
kamen und eine explizit subjektive, oft sozialkritische Sicht auf die Dinge und
Ereignisse hatten. In den Aufnahmen einiger dieser Fotografen, zu denen unter anderen
Paul Strand oder Edward Weston gehören, wird die archaische indianische Lebenswelt
zur Projektionsstätte ihrer Authentizitätssehnsüchte, die ihre eigene, von der
Industrialisierung ergriffene Kultur in ihnen geweckt hat. Andere entdecken, wie zum
Beispiel Tina Modotti, in der Revolution das Potential für ein politisches Programm,
das sie in ihren Fotografien formulieren. Man schaute auf die indigene Welt mit der
Nostalgie des Wissens um ihr Aussterben. Es entstanden anklagende Plädoyers zum
Zweck ihrer Rettung.
Das fotografische Werk der Schweizer Journalistin und Fotografin Gertrude Duby-
Blom soll exemplarisch dafür vorgestellt werden. Sie fotografierte ab den vierziger
Jahren unter anderem die Lakandonen, einen in der Selva Lacandona, im
südmexikanischen Regenwald lebenden Indianerstamm, und dokumentierte deren
Transformation von einer traditionellen, die alten Maya-Götter verehrenden
Gesellschaft zu einer, die sich der westlichen Zivilisation und ihren Werten und Gütern
öffnete.
Gertrude Duby wurde hier ausgewählt, weil ihr Werk einen direkten Einfluss auf die
Arbeit der indigenen Fotografen des Archivo Fotográfico Indígena (AFI) hat, mit denen
sich der dritte und umfangreichste Teil der Arbeit beschäftigt. Sowohl das Gertrude-
Duby-Museum und ­Archiv Na Bolom wie auch das Archivo Fotográfico Indígena
befinden sich in der Stadt San Cristóbal de las Casas. Die beiden Archive stehen in
regem Austausch miteinander und konzipieren gelegentlich gemeinsame Ausstellungen
und Publikationen. Man kann sagen, dass die Arbeit der indigenen Fotografen eine
Erwiderung, eine Bezugnahme ist auf das Bild, das Gertrude Duby-Blom von der
Region und seinen Einwohnern geschaffen hat.
In dem im Jahre 1994 gegründeten Archivo Fotográfico Indígena (AFI) arbeiten
Indigene zehn verschiedener Ethnien an fotografischen Projekten, die ihre Kultur,
Identität und Tradition zum Thema haben. Aus diesem Archiv, das die Arbeiten von
über zweihundert Fotografen versammelt, sollen zwei Künstlerinnen und deren Projekt
herausgegriffen und vorgestellt werden, die Creencias von Maruch Sántiz Gómez und
7

Mi hermanita Cristina von Xunka' López Díaz. Diese Frauen sind die Autorinnen der
beiden bisher realisierten Einzelpublikationen des Archivs und repräsentieren zwei
unterschiedliche Tendenzen innerhalb des AFI. Maruch Sántiz sucht die Traditionen zu
bewahren und den zukünftigen Generationen ein Wissen von ihrer Vergangenheit zu
vermitteln, während Xunka' López sich den Veränderungen, die die Gegenwart zeitigt,
zuwendet. Sántiz ist unter den Fotografen des AFI diejenige, die zu internationalem
Ruhm gekommen ist und deren Motive und Kompositionsformen innerhalb des Archivs
aufgenommen wurden. In dem sich anschließenden Teil sollen durch vergleichende
Bildanalysen gemeinsame Gestaltungsprinzipien der Fotografen des Archivs
herausgearbeitet werden.
1.2. Fragestellung
Hundert Jahre liegen zwischen diesen beiden Aufnahmen (Abb.1 und Abb.2), die
jeweils eine weibliche mexikanische Indigene abbilden. Die erste Aufnahme entstand
um 1892 und stammt von dem Norweger Anthropologen und Forschungsreisenden Carl
Lumholtz. Auf seinen Expeditionen durch zahlreiche Bundesstaaten Mexikos traf er auf
die verschiedensten indianischen Kulturen, die er beschrieb und fotografierte. Die
Abgebildeten, für den Wissenschaftler Lumholtz von Interesse als Vertreter ihrer Rasse
und als Merkmalsträger ihrer Kultur, wurden von ihm nach ihren physischen
Merkmalen, ihren Trachten und kulturellen Eigenarten unterschieden. Seine
wissenschaftlichen Intentionen spiegeln sich auch in der Form der fotografischen
Darstellung: Distanz und Objektivitätsbestreben kennzeichnen die Aufnahmen. Das
vordergründige Interesse an der Physiognomie wird deutlich in der hier ausgewählten
Aufnahme, die eine entkleidete Frau neben einer Messlatte zeigt. Der neutrale, helle
Hintergrund soll eine bessere Sichtbarkeit der Körperformen gewährleisten. Die
Komposition ­ die Ganzkörperansicht von vorn - ist an wissenschaftlichen Vorgaben
ausgerichtet.
Die zweite Aufnahme zeigt ein kleines Mädchen in ihrer Tracht in ganz ähnlich gestellt
wirkender Ganzkörperpose. Xunka' López Díaz, eine indigene Fotografin, hat hier im
Jahre 2000 das Porträt ihrer kleinen Schwester geschaffen. In diesen beiden Fotografien
stehen sich also zwei grundsätzlich verschiedene Perspektiven gegenüber: die des
objektiven Wissenschaftlers, der von außen auf eine ihm fremde Kultur schaut und
diese vor dem Hintergrund seiner eigenkulturellen Prägung fotografisch interpretiert
8

sowie die der Indigenen selbst, die aus der Innenperspektive, also aus dem
Erfahrungshorizont ihrer eigenen Kultur heraus, diese beschreibt.
Trotz dieses fundamentalen sowie zahlreicher anderer Unterschiede (das Mädchen auf
Abb.2 ist weder nackt, noch neben einer Messlatte abgebildet) springen dem Betrachter
frappierende Übereinstimmungen in der Komposition ins Auge. Ist eine derartige
Kontinuität in der fotografischen Darstellung der Indigenen gegeben oder ist das über
hundert Jahre später entstandene Foto ein kritisch gemeintes Zitat auf die frühe
anthropologische Fotografie?
Inhalt dieser Arbeit soll sein, - neben einer vertiefenden Analyse und Interpretation
dieser beiden Fotografien - Formen der fotografischen Repräsentation, die zwischen
diesen beiden zeitlichen Polen liegen, vorzustellen und in ihren jeweiligen historischen
Kontexten zu beleuchten.
Wenn in den visuellen Produktionen bestimmte Themen ausgewählt werden und andere
nicht, muss man sich fragen, nach welchen Kriterien und Interessen die Auswahl
getroffen wird. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist, dass die visuelle Repräsentation
immer selektiv, niemals objektiv, und auch keine Abspiegelung der Realität ist, sondern
immer schon eine interpretierte. ,,Fotos stellen transcodierte Begriffe dar, die vorgeben,
sich automatisch aus der Welt her auf der Fläche abgebildet zu haben. Eben diese
Täuschung muss entziffert werden ­ um die wahre Bedeutung der Fotografie, nämlich
programmierte Begriffe, aufzuzeigen."
2
In jedem Fall muss man sich die Inszenierung
und Interpretation der zum Motiv gewählten Wirklichkeit bewusst machen und die
Tatsache, dass jedes Bild in seiner Ausschnitthaftigkeit Fragment ist.
In alle drei Teile sollen folgende Aspekte in die Analyse und Interpretation der
fotografischen Arbeiten einfließen: Da die Fotografien mehr über den Fotografen und
die Vorstellungen seiner Epoche aussagen als über die fotografierte Realität, ist es zum
besseren Verständnis der Fotografien unablässig, jene Geistesströmungen kurz zu
umreißen, die das Denken der jeweiligen Bildautoren und somit ihren Blick auf die von
ihnen beschriebene Kultur prägten.
Es soll untersucht werden, wie sich der jeweilige Blickwinkel des Fotografen in Inhalt
und Gestaltung der Fotografien manifestiert. Welche Bildmotive formt der Blick von
außen, von Ethnologen und ausländischen Fotografen auf die indigene Welt, und was
macht die Aufnahmen aus, die aus der Innenperspektive der Indigenen selbst stammen?
2
Flusser, Vilém: Die Fotografie, in: Für eine Philosophie der Fotografie, Bd. 3 der Edition Flusser, Hrsg.
Müller-Pohle:, Andreas, Göttingen 1997, S. 41.
9

Welche Beziehungen zwischen Fotografen und Fotografierten vermögen die Bilder zu
veranschaulichen?
Der Abriss der historischen Darstellungsformen des Indigenen soll es ermöglichen,
kritisch zu untersuchen, ob die von der Presse und Wissenschaftswelt gefeierte geistige
Unabhängigkeit der indigenen Fotografen vom bereits vorhandenen Bilderfundus
überhaupt existiert. Suchen die aus einer Innenperspektive gemachten Aufnahmen der
Indigenen einfach nach ,,typischen" oder pittoresken Motiven oder sprechen sie neue
Aspekte an, nehmen neue Bildthemen und Darstellungsformen auf? Ist es in den
Grenzen eines Mediums wie der Fotografie, das aus der westlichen Kultur übernommen
wurde, überhaupt möglich, eine eigene ,indigene' Bildsprache zu entwickeln? Welche
Formen der Selbstrepräsentation haben die Indigenen vorher benutzt oder benutzen sie
auch heute noch? Inwiefern wird der westliche Import - die Fotografie - im indigenen
Kontext modifiziert? Neben diesen Fragestellungen zu den Grenzen des fotografischen
Mediums soll fortlaufend die jeweilige Funktion der Fotografie in den verschiedenen
Anwendungskontexten analysiert werden.
Nicht zuletzt ist auch der Blick der Rezipienten auf diese Fotografien denselben oder
eben durch die zeitliche Distanz bereits veränderten kulturellen Prägungen unterworfen.
Die Wirkung, die beispielsweise die anthropologischen Fotografien der
Jahrhundertwende heute auf uns haben, ist eine ganz andere als die der damaligen
Zeitgenossen. Deshalb ­ führt man diesen Gedanken konsequent zuende ­ kann auch
diese Arbeit keinen Anspruch auf Objektivität erheben, die hier formulierte Sichtweise
und Interpretation der Fotografien ist zwangsläufig von einer eigenkulturellen Prägung
und ideologisch oder ethisch fundierten Vorannahme bestimmt.
1.3. Zur verwendeten Literatur
Der erste Teil wurde aus einer Fülle von anthropologischer Fachliteratur
zusammengetragen, die umfangreiche Informationen zu ethnologischen Theorien und
deren Niederschlag in der Fotografie gab, wovon besonders die Publikation
Ikonographie des Wilden. Menschen-Bilder in Ethnografie und Fotografie zwischen
1850-1918 von Michael Wiener zu erwähnen ist.
Diese allgemeinen Erörterungen wurden in dieser Arbeit dann auf das Beispiel
Lumholtz übertragen. Über Lumholtz speziell gibt es abgesehen von der 1996
erschienenen Monographie Carl Lumholtz ­ Montañas, duendes, adivinos... lediglich
10

einen umfangreicheren Artikel, der wertvolle Informationen enthielt: Carl Lumholtz y el
México descononcido von Luis Romo Cedano, publiziert 2001. Die gesamte
Forschungsliteratur zu Lumholtz widmet sich jedoch eher den Inhalten seiner
ethnologischen Arbeit oder erzählt von seinen abenteuerlichen Reisen als dass sie sich
auf eine kritische Analyse seiner Fotografien bezöge.
Für die Ausarbeitung des zweiten Teils wurden zwei Biografien über Gertrude Duby-
Blom herangezogen sowie verschiedene Bildbände. Texte, die ihre fotografischen
Werke analysieren, sind gar nicht darunter, an ihrer Stelle Kommentare zu den Themen
der Fotografien, hauptsächlich zur Kultur der Lakandonen. In kunstwissenschaftlichen
Texten findet Gertrude Duby kaum Erwähnung.
Der dritte Teil stützt sich auf das Bildmaterial und die Texte aus den vom Archivo
Fotográfico Indígena veröffentlichten Büchern: Creencias von Maruch Sántiz Gómez,
Mi hermanita Cristina von Xunka' López Díaz und die Gemeinschaftspublikation des
Archivo: Camaristas. Die Sekundärliteratur beschränkte sich auf zahlreiche
oberflächlich bleibende Zeitungsartikel und eine Magisterarbeit in sozialer
Anthropologie von Eugenia Bayona Escat über das Archivo Fotográfico Indígena. Sie
war allerdings für die konkreten Fragestellungen dieser Arbeit wenig hilfreich, da sie
auf soziologische Aspekte ausgerichtet ist. Es wird zwar ein kritischer Standpunkt zum
AFI eingenommen, doch die Thesen werden so gut wie nie von einer Analyse der
Fotografien abgeleitet. Ich habe mich daher auf meine eigenen Augen und meine
während meiner sechsmonatigen Mitarbeit im jenem Fotoarchiv gesammelten
Beobachtungen verlassen. Letztendlich befindet sich in der Bibliographie auch eine
Übersicht von hinzugezogener Basisliteratur zur Fotografietheorie und ­geschichte
sowie von Literatur zur allgemeinen Fotografiegeschichte Mexikos. Die gesamte
Literatur zu den einzelnen Themenpunkten ist auf Spanisch oder Englisch abgefasst.
2. Diskurs der Macht: Darstellungen des Anderen und die Rolle der
Fotografie
Bevor das konkrete Thema behandelt wird, sollen einleitend die Begriffe der
Repräsentation, des Fremd- und Selbstbildes definiert sowie Theorien zur Darstellung
des Anderen und dem darin enthaltenen Machtdiskurs vorgestellt werden. Dieses
theoretische Gerüst wird den folgenden Fotoanalysen und -interpretationen
zugrundegelegt.
11

Die Beschreibung fremder Völker, egal ob sie sich in wissenschaftlicher oder
künstlerischer Form vollzieht, ist "in keinem Fall das Finden einer (wahren, weil
wirklichkeitsgetreuen) Repräsentation (...), sondern sie ist Erfindung dieser
Repräsentation."
3
Es ist der Entwurf einer Weltsicht, eine Weise, sich die Welt
verstehend zu erschließen, um sich in ihr zurechtzufinden und sie zu beherrschen. Dass
es sich dabei auch um einen Machtdiskurs handelt, bestätigt folgendes Zitat von Stuart
Hall aus seinem Buch Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht: ,,Der Diskurs ist
eines der Systeme, durch die Macht zirkuliert. Das, was ein Diskurs produziert,
konstituiert eine Art von Macht, die über jene ausgeübt wird, über die ,etwas gewusst
wird'. Wenn dieses Wissen in der Praxis genutzt wird, werden diejenigen, über die
,etwas gewusst wird', auf eine besondere Weise zum Gegenstand der Unterwerfung.
Das ist immer eine Machtbeziehung."
4
Die Indigenen sind im vorliegenden Fall jene,
über die ,etwas gewusst wird', die okkzidental Geprägten diejenigen, die ,wissen',
damit Macht ausüben und die Indigenen unterwerfen. Zugespitzt formuliert diesen
Aspekt der Anthropologe Stephen Tyler: ,,Jeder Akt der Repräsentation ist ein Akt
politischer Unterdrückung." und ,,Repräsentation heißt Repression."
5
Auch der Fotoapparat ist nach Susan Sontag ein Instrument der Macht und dient dazu,
sich in eine bestimmte Beziehung zur Welt zu setzen, sie sich anzueignen.
6
Außerdem
,,haftet dem Akt des Fotografierens etwas Räuberisches an. Menschen fotografieren
heißt ihnen Gewalt antun (...) es verwandelt Menschen in Objekte, die man symbolisch
besitzen kann. Wie die Kamera eine Sublimierung des Gewehrs ist, so ist das
Abfotografieren eines anderen ein sublimierter Mord."
7
Die Fotografie ist die
,,Symbolisierung der neuen Mikrophysik der Macht."
8
Sie ist von scheinbarer Unschuld,
denn vorgeblich bildet sie nur das ab, was dem Apparat vor-gestellt wird; zudem ist sie
von so großer Detailfülle und Detailtreue, wie es zuvor von keinem Medium erreicht
wurde. Die Fotografie macht scheinbar mehr sichtbar vom Menschen, beleuchtet alle
feinen und noch so kleinen Bestandteile. Sie ist jedoch vielmehr daran beteiligt, das
Sehen des Eigenen und des Fremden zu schulen, da mit ihr Standards der Abbildung
hervorgebracht und gleichzeitig massenhaft Bilder erzeugt werden.
3
Gethmann-Sievert, Annemarie: Einführung in die Ästhetik, S. 119.
4
Hall, Stuart: Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht, in: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität.
Ausgewählte Schriften 2. Hamburg 1994, S. 154.
5
Tyler, Stephen: Zum ,,Be-/Abschreiben" als ,,Sprechen für", in: Berg, Eberhard u. Fuchs, Martin
(Hrsg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. S. 288.
6
Susan Sontag: Über Fotografie, S. 10.
7
Ebd., S. 20.
8
Regener, Susanne: Darstellungen des Anderen. Zur fotografischen Dokumentation von Frauen in
Polizeiwesen und Psychiatrie, S. 251.
12

Fremdbilder (ein Volk beurteilt ein anderes) und Selbstbilder (ein Volk beurteilt sich
selbst) dienen der Konstruktion von Identität und haben Selbstbestätigungsfunktionen.
Sie beziehen ihre Kraft aus der Unterscheidung vom jeweils Anderen. Selbst- und
Fremdbilder sind Orientierungshilfen für das Verständnis anderer Völker, ,,da sie z.T. in
kontrastiver Analogie zur eigenen Kultur deren scheinbar typische Eigenschaften
bestimmen und somit ein geordnetes Weltbild der anderen Kultur aufbauen mit der
Funktion der Vereinfachung und der Systematisierung der Fülle und Komplexität der
Informationen über ein Land."
9
Da dies oft zu einem verzerrten Bild der fremden
Realität führt, geben Fremdbilder ,,mehr Hinweise auf die Menschen, welche sie
formulieren, als auf die Völker, für die sie gelten."
10
Durch die jeweiligen Bilder wird also keineswegs die objektive Welt wiedergegeben,
sondern eine konstruierte Welt gezeichnet. Sie generalisieren, überzeichnen oder
verzerren bestimmte Phänomene und verleihen ihnen Plastizität. Durch diese Plastizität
und die durch die naturgetreue Wiedergabe erzielte Glaubwürdigkeit der Darstellung
stabilisiert die Fotografie eher verinnerlichte Stereotypen als dass sie einen Zugang zur
Wirklichkeit eröffnet. Die Fotografie transformiert Fiktion in Realität und Phantasie in
Wahrheit. Festgehalten in fotografischen Bildern nimmt die Vorstellungswelt eine
konkrete Form an.
Die fotografische Vorführung des Fremden unterstützt das die Unterschiede betonende
phänotypische Bild menschlicher Rassen. Daher kann man sagen, die Fotografie hatte
und hat die Einstellungen der westlichen Welt zu fremden Kulturen tiefgreifend geprägt
und vorgefasste Meinungen bestätigt. Wenn hinsichtlich des Bildes, das man sich von
den Bewohnern ferner Länder machte, durch den Einfluss der Fotografie eine
Veränderung eintrat, dann nur insofern, dass man sich mittels jener althergebrachten
Ansichten versichern konnte: Was zuvor noch geglaubt werden musste, darüber durfte
nun absolute Gewissheit herrschen.
Im Kontext des soeben besprochenen Machtdiskurses ist auch die Aneignung der
Fotografie durch die Indigenen als Versuch einer Machtaneignung zu verstehen. Das
Mitwirken an ihrer Repräsentation, die Formulierung ihrer eigenen Weltsicht wird heute
unter dem Schlagwort postkolonialer Diskurs debattiert.
,,Der postkoloniale Diskurs begann, als die politische, künstlerische und theoretische
Beschreibung des Verhältnisses zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen
der dominanten Kultur des Westens und den dominierten Kulturen der ehemaligen
9
Husemann, Harald (Hrsg): As others see us, S. 89.
10
Bausinger, Hermann: Stereotyp und Wirklichkeit, S.160.
13

Kolonien nicht mehr ausschließlich der Seite der Macht vorbehalten blieb, (...) seit sich
die Unterworfenen Zugang zu den Mitteln der Repräsentation verschafft haben und als
Subjekte angesehen werden, die der Perspektive der Herrschaft andere Perspektiven
entgegenhalten können."
11
Doch ist hier Vorsicht vor vorschnellem Optimismus geboten: Inwiefern wurde mit der
Medienaneignung eine Verschiebung der realen Machtverhältnisse herbeiführt oder
auch nicht? Ist eine grundsätzlich veränderte Form der Repräsentation überhaupt
vorstellbar? Wäre die Alternative, die man dem kritisierten Bild entgegenhielte, nicht
ebenso eine Konstruktion oder Projektion?
2.1. Bildliche Darstellungen der Indigenen bis zur Erfindung der Fotografie
Bevor die fotografischen Repräsentationen der Indigenen vorgestellt werden, soll ein
kleiner Exkurs einen Einblick in die Geschichte der bildlichen Indianerdarstellungen
bis zur Erfindung der Fotografie geben.
Völkerbeschreibungen kann man seit den frühesten Zeiten annehmen, da Menschen in
sozialen Verbänden zusammenleben und Kontakte mit benachbarten Gruppen
unterhalten. Das umfassendste Wissen über die Nachbarvölker, über ihr äußeres
Erscheinungsbild und ihre Lebensführung, schien der eigenen Gruppe bei
Begegnungen die größtmögliche Sicherheit und bestmögliche Bewältigung der
Situation zu garantieren. Zum Zwecke der Abgrenzung, der Wahrung von Identität und
Territorialität sowie nicht zuletzt zur Legitimation eigener Superioritätsansprüche
gerieten in der Vergangenheit nicht selten ethnographische Beschreibungen der
Fremden zu Bildern von Monstern, Barbaren oder Wilden.
Während des gesamten Altertums und des Mittelalters bis zur Zeit der Eroberung
Amerikas und darüber hinaus standen die Berichte über die ,,Barbarenvölker"
12
im
Zeichen der Sensation. Je unwahrscheinlicher die über sie erzählten Dinge klangen,
desto lieber wurden sie geglaubt. So sind jene ältesten Reiseberichte und
Beschreibungen teilweise mit Zeichnungen versehen, die uns die Eingeborenen als
einäugige Zyklopen oder als Hundeköpfige vor Augen führen, als Doppelköpfige oder
Kopflose, die das Gesicht auf der Brust tragen, oder als Schattenfüßler, deren einziger
11
Kravagna, Christian: Postkoloniale Blicke, in: Butin, Hubertus (Hrsg.): DuMonts Begriffslexikon zur
zeitgenössischen Kunst, S. 250.
12
Lips, Julius: Wie wir sie sahen ­ wie sie uns sehen, in: Prussat, Margrit und Till, Wolfgang: Neger im
Louvre ­ Texte zur Kunstethnographie und moderner Kunst, S. 130.
14

Fuß so groß war, das sie ihn als Sonnenschirm benutzen konnten (Abb.3). Diese
Gräuelgeschichten über die fremden Völker zu verbreiten, lag ,,im Staatsinteresse", um
die Konkurrenz abzuschrecken. Es sollte verhindert werden, dass andere europäische
Völker die einträglichen Entdeckungsfahrten durchführten.
13
Der europäische Künstler,
der die Bilder meist nach Beschreibungen ausführte, hatte also keine Möglichkeit einer
naturwahren und auf Anschauung beruhenden Darstellung des indigenen Menschen.
Während des Zeitabschnittes von der zweiten Hälfte des sechzehnten bis zum Beginn
des neunzehnten Jahrhunderts stellen die Abbildungen der Reisebeschreibungen die
Naturvölker in der Regel in menschlicher Gestalt dar, aber mit europäischen
Gesichtszügen, oftmals sogar in europäischer Tracht oder in Phantasiekostümen. Es
finden sich hier durchaus keine physiognomischen Merkmale des indianischen
Menschen (Abb.4).
Die eigentliche Institutionalisierung der Völkerbeschreibung und der Wissenschaft
vom Menschen als akademische Disziplin (Ethnologie oder Anthropologie) erfolgte in
der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, in etwa zeitgleich mit der Erfindung der
Fotografie, die zum Instrument der anthropologisch-wissenschaftlichen Untersuchung
wurde. Erst in diesen Jahren, seit der wissenschaftlichen Durchdringung der
außereuropäischen Kulturen, ist auch in den bildlichen Darstellungen der Naturvölker
zunehmend das Bemühen um Objektivität und naturgetreue Wiedergabe erkennbar.
Doch auch die objektivierende Forschung beruhte auf Konzepten, die nicht frei von
idealisierenden oder negativierenden Tendenzen waren.
Zunächst stand noch nicht der indigene Mensch im Zentrum der Darstellungen,
sondern die wiederentdeckten Baudenkmäler der alten mesoamerikanischen
Hochkulturen. Ein Beispiel sind die Lithographien von Frederick Catherwood, der die
archäologischen Relikte der Maya-Kultur zeichnend festhielt, die vom Urwald
überwucherten Pyramiden und Tempel, Ruinenlandschaften, die er mit kleinen Figuren
bevölkerte. Die Zeichnungen illustrierten John L. Stephens' 1841 erschienenen
Reiseerlebnisse in Zentralamerika, Chiapas und Yucatán. Trotz des wissenschaftlichen
Anspruchs ­ Catherwoods detailgenaue Lithographien entstanden nach fotografischen
Vorlagen, die er mittels der camera lucida anfertigte - stehen die Zeichnungen in der
romantischen Tradition des späten achtzehnten Jahrhunderts.
Die ersten Fotografien, die die indigene Bevölkerung Mexikos zum Motiv haben,
wurden ab 1850 von Reisenden, Missionaren, Kolonialbeamten und Anthropologen
13
Lips, Julius: Wie wir sie sahen ­ wie sie uns sehen, in: Prussat, Margrit und Till, Wolfgang: Neger im
Louvre ­ Texte zur Kunstethnographie und moderner Kunst, S. 132.
15

gemacht. Aus ihren Berufen erklären sich unterschiedliche Vorstellungen und
Interessen, die schließlich auch aus den von ihnen aufgenommenen Bildern sprechen.
In den Zeitschriften, in denen die ersten Fotografien erschienen, illustrieren sie
Reiseberichte und vereinen in einem Block Ruinen, Urwald und Eingeborene. Die
Indigenen fungieren darin ­ wie bereits bei Catherwood - als Begleiterscheinungen der
Landschaft, nicht als Subjekte der Geschichte. Auf den ersten Entdeckerfotos sind die
Indigenen Elemente der Glaubhaftigkeit und Bezugspersonen der Monumentalität der
Ruinen. Als Gehilfen, Träger und Abholzer sind sie gleichzeitig Symbole des
ausbeuterischen Verhaltens der Entdecker. Désiré Charnay, Augustus Le Plongeon,
Teobert Maler und Léon Diguet gehören zu den ersten ausländischen
Forschungsreisenden, die auch fotografierten. Ihre Fotografien sollten Zertifikat ihrer
Heldentaten sein.
Dies soll jedoch an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Im folgenden Kapitel soll
der Fokus auf die von reisenden Anthropologen zu wissenschaftlichen Studien
gemachten Fotografien gelegt werden, zu denen auch die Aufnahmen von Carl
Lumholtz zählen.
3. Anthropologische Bestandsaufnahmen der indigenen Bevölkerung
zu Forschungszwecken
3.1. Carl Lumholtz: Anthropologische Fotografien der Huicholes - eine Fotoanalyse
Die Fotografie Mujer huichola (Huichol-Frau) von 1892 oder 1893 (Abb.1), eine
Aufnahme aus der frühen Phase der Forschungsreisen des Anthropologen Carl
Lumholtz in Mexiko, zeigt eine unbekleidete Huichol-Indianerin, die frontal vor der
Kamera neben einer Messlatte vor einem Zelt steht. Ihre Haltung ist sehr aufrecht, die
Beine sind gerade ausgestreckt, die Füße nebeneinander, die Arme eng an den Körper
gepresst. Den Kopf hält sie gerade in die Kamera gerichtet, wobei ihre linke
Gesichtshälfte so verschattet ist, dass man die Gesichtszüge nicht erkennt. Ihr Körper
sowie die Messlatte zu ihrer Linken werfen Schatten auf die weiße Zeltwand. Das Zelt
ist geschlossen, der Stoff ist so drapiert, dass sich der dunkle Körper deutlich wie auf
einer hellen Projektionsfläche abhebt. Durch die Messlatte auf der rechten Seite, die
Abschlusskante des Stoffes auf der linken Seite und die obere Falte entsteht eine Art
16

Rahmen, in dem der Körper zur Schau gestellt wird. Eine individuelle Bestimmung der
Frau ist nicht möglich.
Die Fotografie ist Teil einer Dreierserie (Abb.1a/b/c). Die Frontalansicht ist durch eine
Profilansicht der Frau ergänzt. Beide Aufnahmen sind ansonsten in der Komposition,
der Wahl des Bildausschnitts etc. identisch. Die dritte Fotografie zeigt die Frau liegend
mit gespreizten Beinen, ihre Genitalien dem Kamera- und Fotografenauge darbietend.
Man muss bedenken, dass diese für den heutigen Betrachter skandalöse Fotografie in
der damaligen Zeit noch wesentlich skandalöser war. Gisele Freund schreibt, dass der
Verkauf von Fotografien unbekleideter Menschen, die ,,mit den Augen der Gegenwart
betrachtet, von äußerster Harmlosigkeit" waren, strafbar war. ,,Gerichtliche
Auseinandersetzungen (waren) die sichere Folge, die des öfteren auch eine längere
Freiheitsstrafe nach sich zog."
14
Das galt aber nicht für die Angehörigen fremder
Kulturen, die sowieso als Wilde betrachtet und gemäß der Annahme ihrer
vermeintlichen Freizügigkeit und triebhaften Sexualität nackt dargestellt wurden. Unter
dem Deckmantel wissenschaftlicher Erforschung wurden so die Tabus der damaligen
Gesellschaft gebrochen und die Eingeborenen für die Befriedigung unterdrückter
europäischer Gelüste missbraucht.
Der Blick der Indianerin wirkt gedemütigt und finster und lässt vermuten, dass sie sich
nicht freiwillig vor die Fotokamera begeben hat. Man sieht hier eine von
Machtpositionen gelenkte Beziehung zwischen dem kolonialisierten, schwarzen,
nackten Modell, das offensichtlich gerade ausgemessen wird, und dem weißen,
bekleideten Fotografen, der als Vertreter der Kolonialmacht auftritt. Das tief
verwurzelte Überlegenheitsgefühl des Fotografen spiegelt sich deutlich in seiner
respektlosen Annäherung an diese Frau wider. In seiner Dominanzstellung bestimmt
Lumholtz die gestalterischen Maßnahmen und die Aussage: Das Modell ist seinen
Anweisungen ausgeliefert und nimmt eine fremdbestimmte unnatürliche Aufstellung
und Haltung ein. Herausgelöst aus soziokulturellen Kontexten (wie Kleidung,
alltägliche oder rituelle Handlungen), wird sie auf ein bloßes physiognomisch
relevantes Objekt reduziert.
Diese Fotografie steht exemplarisch für eine ganze Serie von Aufnahmen nach den
gleichen Prinzipien und ist ein Zeugnis des Indigenen, wie Lumholtz ihn sah, aber vor
allem ein Zeugnis der ethnologischen Konzeption seiner Epoche. Es ist eine im Sinne
der herrschenden ethnologischen Theorien strikt anthropometrische Aufnahme: eine
14
Freund, Gisele: Photographie und Gesellschaft, S. 97.
17

Vermessung des Gegenstandes Mensch zur ,,Katalogisierung der Weltbevölkerung
sowie eine Rassendiagnose"
15
.
Auf den drei Fotografien Hombre haciendo flechas (Mann beim Herstellen von
Pfeilen), entstanden um 1895 oder 1896, (Abb.5a/b/c) sehen wir einen Mann vor einer
Hütte, einem strohgedecktem Steinhaus, auf einem Basthocker sitzen und Pfeile
anfertigen. Neben ihm befindet sich eine Feuerstelle. Der Basthocker sowie die
Kleidung mit ihren Stickmustern sind charakteristische Requisiten der Huichol-
Indianer. Hier wird das alltägliche Leben zum eigenständigen Bildthema, das auch eine
eigene Bildsprache entwickelt hat. Die Aufnahmen unterscheiden sich voneinander
lediglich in der jeweils leicht abgewandelten Haltung, die den Indianer in einem
jeweils anderen Stadium des Herstellungsprozesses zeigt. (Abb. a oder b und c sind
spiegelverkehrt abgedruckt, die korrekte Version ließ sich nicht erschließen.) Solche
Fotoserien waren ein verbreitetes Gestaltungsmittel der ethnologischen Fotografie, um
Handlungsabläufe darzustellen. Außerdem fällt auf, dass der Mann nicht direkt in die
Kamera schaut. Hierdurch wird das Augenmerk des Betrachters auf die zentrale
Bildaussage, die Herstellung der Pfeile, gelenkt.
Die Fotografie Paisaje con hombre sentado (Landschaft mit sitzendem Mann), um
1895 oder 1896 (Abb.6) entstanden, zeigt eine kleine Rückenfigur vor einer weit sich
erstreckenden Gebirgslandschaft sitzen. Einsame, zumeist als abgewandte
Rückenfiguren dargestellte Gestalten, die den Mächten der Natur ausgeliefert,
sehnsuchtsvoll in die Ferne schauen, gehören zum ikonographischen Repertoire der
romantischen Malerei. Das wohl bekannteste Beispiel ist Caspar David Friedrichs
Mönch am Meer von 1809 (Abb.7). In diesem wie in jener Fotografie von Lumholtz ist
der Horizont niedrig, und der Himmel nimmt den größten Teil der Bildkomposition
ein. Der Mensch erscheint klein und ohnmächtig, aber im Einklang mit der unendlichen
Weite der Schöpfung. In dieser Fotografie drückt sich nicht nur die Natursehnsucht des
Fotografen, sondern auch sein Gefühl der Entgrenzung und Freiheit, das er während
seines Aufenthalts in jenen Regionen erlebt haben mag, aus. Es kann als ein privates
Foto angesehen werden, da es in seiner bildnerischen Gestaltung jenseits jeglicher
wissenschaftlich-anthropologischer Verwertbarkeit steht.
15
Wiener, Michael: Ikonographie des Wilden. Menschen-Bilder in Ethnographie und Fotografie zwischen
1850-1918. S.116.
18

3.2. Carl Lumholtz
Alle im vorigen Kapitel beschriebenen Fotografien stammen von dem norwegischen
Anthropologen und Naturforscher Carl Lumholtz (1851-1922).
Während seines Aufenthaltes unter den Aborigenes Australiens von 1880 bis 1884
entdeckte er seine Berufung für die Erforschung der ,,primitiven" Völker. Von dieser
Expedition zurück, begann sich Lumholtz für die Indianer des Südwestens der
Vereinigten Staaten zu interessieren und machte Studien mit den Navajos, den Zunis
und den Moquis in Arizona. In seinen Forschungen voranschreitend überquerte er die
Grenze zwischen Arizona und Sonora im September 1890 und fand seinen Weg zu den
indigenen Völkern der Tarahumaras, Series, Huicholes, Coras, Tepehuanes, Pimas,
Tarascos und Otomis. Lumholtz war nicht nur Anthropologe, sondern gleichzeitig
Zoologe, Botaniker und Archäologe. Er sammelte und studierte nicht nur die Kulturen
der indigenen Völker, sondern auch Exemplare der Tier- und Pflanzenwelt sowie
Mineralien. Er führte Ausgrabungen durch und nahm archäologische Funde mit nach
Europa. Er trug Objekte der materiellen Kultur der Indigenen zusammen wie
Korbflechtarbeiten, Musikinstrumente, Webwaren, Keramik, Jagdutensilien und
Trachten sowie Knochen und Haarproben der von ihm untersuchten Indigenen. Er
sammelte das Vokabular der indigenen Sprachen und nahm die eingeborenen Gesänge
verschiedener Stämme auf Tonband auf. In diesen Kontext kann man auch die auf
Glasplatten entstandenen Fotografien einreihen: Als Sammelobjekte, die wie die
vorhergenannten Objekte vorrangig zur archivarischen Aufbewahrung bestimmt waren.
Carl Lumholtz unternahm insgesamt sechs Forschungsreisen zwischen 1890 und 1910,
auf denen zahlreiche Fotografien als ergänzendes visuelles Material zu seinen
ethnologischen Aufzeichnungen entstanden. Die Ergebnisse seiner Forschungsreisen
veröffentlichte er zusammen mit einer Auswahl von Fotografien in dem zweibändigen
El México Desconocido (Das unbekannte Mexiko), das eine Mischung aus Reisebericht
und ethnografischer, auf teilnehmender Beobachtung basierender Beschreibung ist.
Das Werk ist ein ethnologisches Standardwerk und wird noch in aktuellen
wissenschaftlichen Aufsätzen regelmäßig zitiert. El México Desconocido erlebte vier
Auflagen, bis in die Gegenwart hinein (1945, 1960, 1981 und 1994), was für seine bis
heute geltende Bedeutung für die Ethnologie spricht. Die ethnologischen Daten, die
Lumholtz lieferte, werden bis in die Gegenwart hinein meist als wertvoll und nicht nur
auf dem höchsten Niveau seiner Epoche, sondern auch noch als für zeitgenössische
Ethnologen relevant bezeichnet. Seine anthropologischen Studien sind, schreibt Mario
19

Vásquez in dem 1996 erschienenen Buch Carl Lumholtz ­ Montañas, duendes,
adivinos..., der wohl tiefgründigsten Auseinandersetzung über Lumholtz'
ethnologische Studien und Fotografien, ,,ein fundamentaler Beitrag für die
Entwicklung der mexikanischen Ethnologie."
16
Jedoch mehren sich auch Stimmen der Kritik. So werden dem Norweger ,,Notizen und
Kommentare, die an Unverständnis, wenn nicht gar an Verachtung für die von ihm
studierten Gruppen grenzen" vorgeworfen.
17
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass
Lumholtz die Isolierung der indigenen Gruppen überbetont habe, dass er willkürlich
angeblich ursprüngliche Merkmale getrennt habe von solchen, die bereits auf
europäische Einflüsse zurückgingen, wobei er letztere minimiert habe. Das führte zu
der irrtümlichen Annahme des Fortbestehens eingeborener Lebensweisen und
Schlussfolgerungen wie folgender, dass zum Beispiel die Huicholes ,,praktisch in
demselben kulturellen Stadium lebten wie als Cortés mexikanischen Boden betrat"
18
,
also wie zu Zeiten der Eroberung vor fünfhundert Jahren.
Auch über die Qualität von Lumholtz´ Fotografien gehen die Meinungen in der
Forschungsliteratur weit auseinander. Immer wieder wird mit Bewunderung von der
Ausdrucksstärke und Lebendigkeit der Lumholtz´schen Porträts gesprochen.
,,Zahlreiche unvergleichlich lebendige Momentaufnahmen zeugen von seinen
Bemühungen zu verstehen und gleichzeitig vor den Augen der Welt seine
außergewöhnliche Erfahrung zu offenbaren. Er schuf, fast ohne Vorläufer, eine
großartige graphische Synthese der Lebensumstände der Indios Mexikos."
19
Als einen
,,Fotografen von bemerkenswerter Sensibilität"
20
bezeichnet Olivier Debroise
Lumholtz. Ganz anders lautet hingegen das Urteil von Fernando Benítez, der in Los
indios de México schreibt: ,,Die Kamera des norwegischen Forschers hatte die
Eigenheit, den Indios ihre Schönheit zu rauben, sie zu bloßen Gespenstern ihrer selbst
16
Vázquez, Mario: ,,una aportación fundamental para el desarrollo de la etnología mexicana", in:
Ramírez Morales, César (Hrsg): Carl Lumholtz ­ Montañas, duendes, adivinos..., S. 18.
17
Vázquez, Mario: ,,anotaciones y comentarios que por lo menos rayan en la incomprensión si no es que
en el desprecio por los grupos que está estudiando... », in: Ramírez Morales, César (Hrsg): Carl
Lumholtz ­ Montañas, duendes, adivinos..., S. 13.
18
Lumholtz, Carl: ,,viviendo prácticamente en el mismo estadio cultural que cuando Cortés pisó tierras
americanas.", zitiert in: Ramírez Morales, César (Hrsg): Carl Lumholtz ­ Montañas, duendes, adivinos...,
S. 13.
19
Vázquez, Mario: ,,numerosas instantáneas incomparablemente vivas alimentan su esfuerzo por
comprender y, al mismo tiempo, revelar ante los ojos del mundo su extraordinaria experiencia, logrando
al paso una magnífica síntesis gráfica, acaso sin precedentes, de la circunstancia vital de los indios de
México.", in: Ramírez Morales, César (Hrsg): Carl Lumholtz ­ Montañas, duendes, adivinos..., S. 19.
20
Debroise, Olivier "photographer of considerable sensitivity", in: Debroise, Olivier: Mexican Suite. A
history of Photography in Mexico, S.129.
20

zu reduzieren, zu mumifizierten Dokumenten, sehr ähnlich denen, die man in den
Registern der Gefängnisse oder der Leichenschauhäuser findet."
21
Das Fotografieren als Akt der Aneignung im Sinne Susan Sontags und speziell auch als
Form der kolonialen Weltaneignung stieß auf den Widerstand der Eingeborenen, die
Lumholtz fotografieren wollte: ,,Die Eingeborenen bieten mir permanent Widerstand;
sie sind sehr misstrauisch gegenüber den Weißen."
22
Er berichtet von Weigerungen,
sich fotografieren zu lassen, bis hin zu bewaffneten Zusammenstößen.
Der große Widerstand entsprang einerseits religiösen Vorstellungen der Indigenen. ,,In
primitiven Gesellschaften waren das Ding und sein Bild nichts anderes als zwei
verschiedene, das heißt physisch unterschiedliche Manifestationen ein und derselben
Energie oder ein und desselben Geistes."
23
Die Indigenen glauben daher, dass ihr
Auftauchen auf einer Fotografie sie in Gefahr bringt, einen Teil ihrer Seele zu
verlieren, indem dieser in die Fotografie übergeht. Als Lumholtz die Indigenen
fotografierte, ,,wirkten sie wie Angeklagte kurz vor der Hinrichtung. Sie glaubten,
indem ich sie fotografierte, könnte ich ihre Seelen mit mir nehmen, um sie später zu
essen, ganz nach meinem Geschmack, wenn ich wollte; sie glaubten, sterben zu
müssen in dem Moment, in dem ihre Porträts in meinem Land ankämen oder dass
ihnen zumindest etwas Schlimmes zustoßen würde."
24
Die Angst vor der Kamera war jedoch auch an die Angst vor territorialer
Inbesitznahme gekoppelt. Bei einem Konflikt, in dem Lumholtz von mit Flinten,
Macheten und Steinen bewaffneten Tarasken das Fotografieren untersagt wurde, sagten
diese: ,,...und wer weiß, ob Sie nicht zurückkehren, um sich unsere Territorien
anzueignen!"
25
Lumholtz war tief in den Vorstellungen von Rasse, Evolution und Fortschritt seiner
Zeit verwurzelt. Seine Ausbildung stand im Zeichen herrschender Theorien seiner
21
Benítez, Fernando: ,,La cámara del explorador noruego tenía la pecularidad de arrebatarles a los indios
su belleza, reducíendolos a meros fantasmas de sí mismos, a momificados documentos muy semejantes a
los que pueden verse en los registros de las cárceles o de las morgues."
, in: Benítez, Fernando: Los indios
de México, Vol.2, S. 66.
22
Lumholtz, Carl:
"los nativos me hacían persistente oposición ; son muy desconfiados de los blancos",
in : Carl Lumholtz: Los Indios del Noroeste, S. 21.
23
Sontag, Susan: Über Fotografie, S. 148.
24
Lumholtz, Carl: ,,parecían reos próximos á ser ejecutados. Creían que fotografíandolos, podría llevarme
sus almas para comérmelas despúes, á mi sabor, si lo quería; que morirían al punto como sus retratos
llegasen á mi país, ó que les sobrevendría, cuando menos, algún mal.", zitiert in: Ramírez Morales, César
(Hrsg): Carl Lumholtz ­ Montañas, duendes, adivinos..., S. 96.
25
Lumholtz, Carl: ,,y quien sabe si volverá usted á aduenarse de nuestras tierras!", in: Lumholtz, Carl: El
México desconocido, Bd. 2, S. 425.
21

Epoche: dem Positivismus und dem Evolutionismus, worauf im sich anschließenden
Kapitel näher eingegangen werden wird.
In seinen Texten taucht häufig der Terminus ,,primitiv" und ,,minderwertig" als
Attribut der Indigenen auf, in Verbindung mit abwertenden Beobachtungen, wie zum
Beispiel in folgender Notiz: ,,Die Gleichgültigkeit, mit der sie sich die Haare ausreißen,
überzeugte mich davon, dass die minderwertigen Rassen unempfindlicher auf Schmerz
reagieren als der zivilisierte Mensch."
26
Obwohl tief verwurzelt in seiner Überlegenheit gegenüber den Indigenen, zeigt sich bei
Lumholtz auch eine Wertschätzung und Bewunderung für die Indigenen, die neu ist
und mit dem Einfluss der deutschen Romantik in seiner akademischen Bildung
zusammenhängt. Diese Strömung manifestiert sich unter anderem in der Sehnsucht
nach einem ungebrochenen Verhältnis zwischen Mensch und Natur und nach
Lebensweisen, die von der modernen Zivilisation und der mit ihr einhergehenden
Industrialisierung noch nicht berührt sind. Diese Sehnsucht weckte ein Interesse an den
Lebenszusammenhängen jener ,,Naturvölker", und öffnete den Weg zu neuen
Darstellungsformen des Indigenen in der Fotografie.
Carl Lumholtz kann als der Erste betrachtet werden, der ­ ab circa 1895 - nicht nur den
Menschen neben einen Messstock gestellt abbildete (die bis dahin gängige
Darstellungsweise, in der auch seine Zeitgenossen Désiré Charnay, Teobert Maler,
Léon Diguet und Frederick Starr verschiedene indigene Stämme Mexikos
fotografierten), sondern im Detail Aspekte des täglichen Lebens der Eingeborenen,
ihrer religiösen Riten und Tänze aufnahm und damit die Indigenen in würdevolle und
bewunderungswürdige Subjekte verwandelte. Es findet ein Übergang statt von der
Beschreibung fremder Kulturen nach bloßen physiognomischen Gesichtspunkten hin
zur Aufzeichnung ihrer kulturellen Äußerungen (Kult- und Alltagsgegenstände sowie
deren Herstellung, Lieder, Tänze etc). Dieser Wandel wird in dem Werk von Carl
Lumholtz augenfällig: Frühe anthropometrische Vermessungsaufnahmen wie Mujer
huichola (Abb.1) von 1892/93 stehen neben solchen wie zum Beispiel die Fotoserie
hombre haciendo flechas (Abb.5) von 1895/96, die eine kulturelle Handlung
thematisiert. Im Mittelpunkt steht die Herstellung von Pfeilen, eine als
traditionsträchtig beschriebene handwerkliche Arbeit. Die Hinwendung zu diesem
26
Lumholtz, Carl: "la indiferencia con la que se arrancaban los cabellos(...) me convencio que las razas
inferiores son más insensibles al dolor que el hombre civilizado.", zitiert in: Cedano Romo, Luis: Carl
Lumholtz y el México desconocido. In: Ferrer Munoz, Manuel (Hrsg): La imagen del México decimónico
de los visitantes extranjeros: Un Estado-Nación o un mosaico plurinacional?, S. 362.
22

Motiv, der Darstellung von in der eigenen Umgebung spürbar ins Abseits gedrängten
manuellen Produktionsweisen, erklärt sich auch aus dem Wunsch nach
Ursprünglichkeit der Lebensumstände und nicht entfremdeter Arbeit, die im
industriellen Europa und Nordamerika zu großen Teilen verlorengegangen war, eine
Sehnsucht, die im Gegensatz zu dem im frühen neunzehnten Jahrhundert
dominierenden Fortschrittsglauben und der Technikbegeisterung steht.
Die Lumholtzschen Fotografien, die romantische Anklänge zeigen, wie zum Beispiel
Paisaje con hombre sentado (Abb.6), beschwören das ungebrochene Verhältnis von
Mensch und Natur, wobei sie jedoch die sichtbaren Zeichen kulturellen Wandels dieser
Völker ausklammern. So schreibt auch Cedano in seinem Artikel über Lumholtz, dass
die bereits eingesetzten kulturellen Veränderungs- und Assimilationsprozesse der
indianischen Völker sein Thema nicht waren: ,,Auf jeden Fall ließ Lumholtz das
hochaktuelle Thema der Anpassung beiseite und unterließ es damit, von Tausenden
von Indios zu sprechen."
27
3.3. Grundzüge der Anthropologie und der anthropologischen Fotografie um 1900
3.3.1. vor 1900: Vermessung/Typologisierung/ Objektivierung
Die ethnologischen Fotografien entstanden als begleitendes Bildmaterial zu
ethnologischen Studien beziehungsweise für die Sammlungen und Archive von
Universitäten und Forschungseinrichtungen. Sie dienten zunächst dem Ziel, die
physische Beschaffenheit der Weltbevölkerung zu dokumentieren und das Bestimmen
der Rassenzugehörigkeit auf ein gesichertes Faktenfundament zu stellen. Im ganzen
charakterisiert diese Fotografien ein inventarisierender und vergleichender
Blickwinkel. Dabei sagt die Art der Beobachtung und Bestandsaufnahme im Bild mehr
über den damaligen Standort der Ethnologie aus und reflektiert den kolonialen
Herrschaftsanspruch und das darauf gegründete Machtgefühl der Fotografen, als dass
sie Informationen über die fremde Kultur zu liefern vermag.
Bevor auf die Grundzüge der Fotografien genauer eingegangen wird, soll deshalb kurz
etwas zu den damaligen Grundsätzen der Ethnologie vorausgeschickt werden.
27
Cedano Romo, Luis: "En todo caso, Lumholtz dejó fuera de El México Desconocido el tema candente
de la asimilación y con ello dejó de hablar de miles de indios.", in: Cedano Romo, Luis: Carl Lumholtz y
el México desconocido. In: Ferrer Munoz, Manuel (Hrsg): La imagen del México decimónico de los
visitantes extranjeros: Un Estado-Nación o un mosaico plurinacional?, S. 364.
23

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783836624046
Dateigröße
865 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin – Philosophische Fakultät I, Studiengang Kunstgeschichte
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,7
Schlagworte
mexiko fotografie indigene ethnologie anthropologie
Zurück

Titel: Vom Fremdbild zum Selbstbild
Cookie-Einstellungen