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Krisenintervention und Existenzsicherung im Rahmen rechtlicher Betreuung

©2006 Diplomarbeit 155 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Eine Besprechung von Uta Herzogs Publikation findet sich hier: http://www.utaherzog.de/html/publikationen.html
Einleitung:
Sozialarbeit ist Arbeit mit Menschen, deren Lebenslagen gekennzeichnet sind durch Armut, Krankheit, stigmatisierte Verhaltensweisen sowie geringe soziale Teilhabe und geringe gesellschaftliche Einflussnahme. Sie richtet sich an Menschen, die ohne fremde Hilfe ihre Lebensprobleme nicht bewältigen können. Funktionen der Sozialarbeit sind die Erschließung von Ressourcen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse, die zur Erhaltung und zur Entfaltung des Menschen erfüllt sein müssen, der Schutz der Menschen vor sie verletzenden Aktionen und die Förderung von Lernprozessen im Hinblick auf individuelle und kulturelle Orientierungs- und Handlungsmuster, die Menschen zu problemlösenden Verhalten bewegen.
In dieser Arbeit geht es um psychisch kranke Menschen, deren Krankheitsausprägung schwer und bereits manifestiert ist. Verbunden ist dies häufig mit fehlender Compliance und Behandlungsmotivation, vielfach mit Realitätsverlust. Durch die seelische Not und deren Folgen reichen die Kompetenzen der Betroffenen nicht mehr aus, ihren Alltag zu bewältigen; folglich ist die selbstbestimmte Lebenspraxis dieser Menschen zusammengebrochen. Auf der Strecke bleiben die Gesundheit, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, existentielle Bedürfnisse wie Nahrung, Wasser, Wärme, ein Dach über dem Kopf.
Soziale Beziehungen bestehen kaum noch. Arbeitsfähig sind die meisten schon lange nicht mehr, waren meist auch „working poor“, also Bezieher von Niedrigeinkommen. Ansprüche auf Sozialleistungen werden nicht oder nur unzureichend wahrgenommen. Somit sind die Betroffenen in besonderem Maße sozial und materiell benachteiligt und belastet. Häufig kumulieren sich die Armuts-Risikofaktoren: Neben der Krankheit bestehen weitere negative Einflüsse, wie etwa Trennung, Alter, Sucht. Menschen am Rande des Existenzminimums sind zudem häufig überschuldet. Viele allein deshalb, um zu überleben. Oder um die Folgen ihrer Erkrankung, etwa bei Sucht, zu finanzieren.
Zur psychosozialen Krise kommt nun ein weiterer, erheblicher Belastungsfaktor hinzu. Neben Krankheitserleben, Stigmatisierung und Isolation sind die Betroffenen nun auch dem oft erbarmungslosen Druck der Gläubiger ausgeliefert. Die Grenze des Erträglichen ist dann erreicht, ein „abdriften“ in komorbide Krankheitsformen ist keine Seltenheit, möglich sind auch Delinquenz, oder Suizidalität.
Es […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Uta Herzog
Krisenintervention und Existenzsicherung im Rahmen rechtlicher Betreuung
ISBN: 978-3-8366-2275-2
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2009
Zugl. Evangelische Fachhochschule Ludwigshafen Hochschule für Sozial- und
Gesundheitswesen, Ludwigshafen, Deutschland, Diplomarbeit, 2006
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2009

Seite 4
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
9
1.
Materielle Grundsicherung als Voraussetzung für ein eigenständiges
Leben 12
1.1. Rechtsgrundlage
12
1.2. Gesellschaftliche
Entwicklungen im Sozialstaat
12
1.3.
Schwachstellen im System
14
1.4.
Der Betreuer als Garant von Sozialleistungsansprüchen 16
1.5.
Einspareffekte im Sozialleistungssystem durch professionelle Betreuung
19
2.
Rechtliche Betreuung als Handlungsfeld sozialer Arbeit und Instrument der
Existenzsicherung
20
2.1. Definition
20
2.2.
Das Grundgesetz als wichtigste Handlungsnorm des Betreuungsrechts
21
2.3.
Ausgewählte, themenrelevante Aspekte zur rechtlichen Betreuung
22
2.3.1.
Das Wesen rechtlicher Betreuung
22
2.3.2.
Voraussetzungen rechtlicher Betreuung
23
2.3.3.
Orientierung an Wohl und Wille des Betroffenen als ethische Leitlinie
25
2.3.3.1. Allgemeines Lebensrisiko des Betreuten- Risiko für den Betreuer?
29
2.3.4.
Vom Umgang mit der Macht
31
2.3.5. Grundsatz
persönlicher
Betreuung i.V. mit dem 2. BtÄndG
34
2. 3.6.
Zwangsmaßnahmen
36
2.3.6.1. Einwilligungsvorbehalt
37
2.3.6.2. Zur
Zwangsbetreuung
39
2.3.6.3. Zum Unterbringungsrecht
40
2.3.7. Rechtliche
Aspekte
43
2.3.7.1. Zivilrechtliche
Konsequenzen psychischer Erkrankung
43
2.3.7.2. Strafrechtliche Konsequenzen psychischer Erkrankung
44
2.3.7.3. Recht der Heilbehandlung
44
2.4.
Betreuung als Beruf
45
2.4.1. Voraussetzungen
45
2.4.2.
Anforderungsprofil an den Berufsbetreuer
46
2.4.2.1. Persönliche
Kompetenzen
47

Seite 5
2.4.2.2. Inhaltliche
Qualitätsanforderungen
47
2.4.2.3. Strukturelle
Qualitätsanforderungen
47
2.4.3. Professionsbegriff
48
2.4.3.1. Methode des ,,Case-Managements"
49
2.4.3.2. Theorie:
Lebensweltorientierung
52
2.4.3.3. Professionsethik
56
3.
Risikofaktor Armut
58
3.1.
Die Frage nach den Zusammenhängen
58
3.2.
Definition der Armut
59
3.3.
Ursachen und Auswirkungen
59
3.4.
(Fehl-)entwicklung des Selbstwertgefühls und Kompensationsmöglichkeiten durch
Konsum- ausgewählte psychologische und soziologische Ansätze
61
3.4.1.
Psychologische Theorie nach ERIKSON
61
3.4.1.1. Themenrelevanz und praktische Ableitung
63
3.4.2. Soziologische
Theorie:
Prestigeerhöhung durch Konsum
63
4.
Psychische Erkrankung als Ursache von Armut
66
4.1. Krankheit
als
Krise
66
4.2.
Psychische Krankheit: Definition und Entwicklung
68
4.3.
Stigmatisierung- die ,,Zweite Krankheit"
70
4.4.
Grundsätzliche Aufgaben des Betreuers
71
4.4.1.
Situation des Betroffenen
71
4.4.2. Aufgaben
71
4.4.2.1. Kurzfristige
Kriseninterventionen
73
4.4.2.2. Mittelfristige
Kriseninterventionen
74
4.4.2.3. Langfristige
Kriseninterventionen
75
4.4.3.
Auswahl besonders relevanter Rechtsnormen zur Krisenintervention und
Existenzsicherung 77
4.5. Typische
Betreuungsrelevante
Krankheitsbilder, die ein Armutsrisiko
beinhalten
78
4.5.1. Verarmungsrisiken
bei
Schizophrenie (paranoid-halluzinatorische) 80
4.5.1.1. Interventionsmöglichkeiten des Betreuers
81
4.5.2. Verarmungsrisiken
bei
Depressionen 82

Seite 6
4.5.2.1. Interventionsmöglichkeiten des Betreuers
82
4.5.3.
Verarmungsrisiken bei Manie 83
4.5.3.1. Interventionsmöglichkeiten des Betreuers
84
4.5.4.
Verarmungsrisiken bei Alkoholerkrankung 84
4.5.4.1. Interventionsmöglichkeiten des Betreuers
85
4.5.5. Verarmungsrisiken
bei
Borderline-Persönlichkeitsstörung 87
4.5.5.1. Interventionsmöglichkeiten des Betreuers
88
4.5.6. Verarmungsrisiken
bei
Demenz 89
4.5.6.1. Interventionsmöglichkeiten des Betreuers
89
4.6.
Auswirkungen von Überschuldung auf die Erkrankung
91
5.
Überschuldung als akute materielle Krise
92
5.1. Schuldenregulierung
als
Aufgabe rechtlicher Betreuung?
92
5.2. Sozialprofil
überschuldeter
Haushalte
93
5.2.1. Definition
93
5.2.2.
Einkommensquelle überschuldeter Haushalte
94
5.2.3. Gläubigerstruktur
94
5.2.4. Überschuldungsauslöser
95
5.3.
Leben am Limit- Typische Arten von Schulden und Problemstellungen
96
5.3.1.
Überlegungen im Vorfeld
96
5.3.2.
Vorbereitung der Interventionen
97
5.3.3.
Interventionen zum Schutze des Existenzminimums
97
5.3.3.1. Bankschulden 97
5.3.3.1.1. Kontopfändung
99
5.3.3.1.2. Kontosperre
99
5.3.3.1.3. Kontokündigung
99
5.3.3.2. Primärschulden 100
5.3.3.2.1. Energieschulden
100
5.3.3.2.2. Mietschulden
101
5.3.3.2.3. Räumungsklage
102
5.3.3.2.4. Grundschulden
103

Seite 7
5.3.3.3. Schulden beim Staat 104
5.3.3.3.1. Schulden bei Behörden
104
5.3.3.3.2. GEZ
105
5.3.3.4. Schulden aus Prozesskosten 106
5.3.3.4.1. Anwaltskosten
106
5.3.3.4.2. Gerichtskosten
107
5.3.3.5. Schulden aus Ordnungswidrigkeiten/Strafsachen 107
5.3.3.5.1. Geldbuße
107
5.3.3.5.2. Geldstrafe
107
5.3.3.5.3. Geldauflage
108
5.3.3.6. Privatrechtliche
Schulden 108
5.3.3.6.1. Kreditschulden
108
5.3.3.6.2. Versicherungen
109
5.3.3.6.3. Telefongesellschaften
110
5.3.3.7. Auswahl spezieller Interventionen 111
5.3.3.7.1. Erbenhaftung
111
5.3.3.7.2. Erzwingungshaft
111
5.3.3.7.3. Abgabe der Eidesstattlichen Versicherung
112
6. Falldarstellung:
Herr
W.
113
6.1. Biografie
113
6.2.
Situation bei Übernahme der Betreuung
114
6.3. Vorläufige
Betreuungsplanung
120
6.3.1. Kurzfristige
Interventionen
120
6.3.1.1. Umsetzung der Interventionen
121
6.3.2. Mittelfristige
Interventionen
126
6.3.2.1. Umsetzung der Interventionen
126
6.3.3. Langfristige
Interventionen
132

Seite 8
6.4. Herausarbeitung
zweier
Interventionen
133
6.4.1.
Intervention I: ,,Durchführung einer Entmüllung"
133
6.4.1.1. Rechtliche
Dimensionen
133
6.4.1.2. Zustand
der
Wohnung
134
6.4.1.3. Geplante
Interventionen
134
6.4.1.4. Überlegungen zur Rechtmäßigkeit der geplanten Interventionen
134
6.4.1.5. Reflexion
135
6.4.2.
Intervention II: "Rechtsstreit gegen Telefongesellschaft T."
135
6.4.2.1. Überlegungen zur Rechtmäßigkeit der geplanten Interventionen
136
6.4.2.2. Weiterer
Verlauf
138
6.4.2.3. Reflexion
138
6.5.
Reflexion der Betreuungsangelegenheit ,,Herr W."
139
7. Zusammenfassung
und
Ausblick
143
8. Literaturverzeichnis
149

Seite 9
Vorwort
,,Sozialarbeit ist Arbeit mit Menschen, deren Lebenslagen gekennzeichnet sind durch Armut,
Krankheit, stigmatisierte Verhaltensweisen sowie geringe soziale Teilhabe und geringe
gesellschaftliche Einflussnahme. Sie richtet sich an Menschen, die ohne fremde Hilfe ihre
Lebensprobleme nicht bewältigen können. Funktionen der Sozialarbeit sind die Erschließung von
Ressourcen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse, die zur Erhaltung und zur Entfaltung des
Menschen erfüllt sein müssen, der Schutz der Menschen vor sie verletzenden Aktionen und die
Förderung von Lernprozessen im Hinblick auf individuelle und kulturelle Orientierungs- und
Handlungsmuster, die Menschen zu problemlösenden Verhalten bewegen.
1
In dieser Arbeit geht es um psychisch kranke Menschen, deren Krankheitsausprägung schwer
und bereits manifestiert ist. Verbunden ist dies häufig mit fehlender Compliance und
Behandlungsmotivation, vielfach mit Realitätsverlust. Durch die seelische Not und deren
Folgen reichen die Kompetenzen der Betroffenen nicht mehr aus, ihren Alltag zu bewältigen;
folglich ist die selbstbestimmte Lebenspraxis dieser Menschen zusammengebrochen. Auf der
Strecke bleiben die Gesundheit, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, existentielle
Bedürfnisse wie Nahrung, Wasser, Wärme, ein Dach über dem Kopf.
Soziale Beziehungen bestehen kaum noch. Arbeitsfähig sind die meisten schon lange nicht
mehr, waren meist auch ,,working poor", also Bezieher von Niedrigeinkommen. Ansprüche
auf Sozialleistungen werden nicht oder nur unzureichend wahrgenommen. Somit sind die
Betroffenen in besonderem Maße sozial und materiell benachteiligt und belastet. Häufig
kumulieren sich die Armuts-Risikofaktoren: Neben der Krankheit bestehen weitere negative
Einflüsse, wie etwa Trennung, Alter, Sucht.
Menschen am Rande des Existenzminimums sind zudem häufig überschuldet. Viele allein
deshalb, um zu überleben. Oder um die Folgen ihrer Erkrankung, etwa bei Sucht, zu
finanzieren.
Zur psychosozialen Krise kommt nun ein weiterer, erheblicher Belastungsfaktor hinzu. Neben
Krankheitserleben, Stigmatisierung und Isolation sind die Betroffenen nun auch dem oft
erbarmungslosen Druck der Gläubiger ausgeliefert. Die Grenze des Erträglichen ist dann
erreicht, ein ,,abdriften" in komorbide Krankheitsformen ist keine Seltenheit, möglich sind
auch Delinquenz, oder Suizidalität.
Es entsteht eine schwere, existentielle psychosoziale Krise. Ein menschenwürdiges Leben in
sozialer Gemeinschaft ist nun nicht mehr möglich. Die Abwärtsspirale ist nicht mehr
aufzuhalten.
1
Lexikon der sozialen Arbeit, Ev. FH Rheinland-Westfalen-Lippe, S. 236

Seite 10
Für den professionellen Helfer steht hier die Existenzsicherung des sich in einer Krise
befindlichen Betroffenen im Vordergrund. Diese Kriseninterventionen sind Strategien
psychosozialer Hilfen, sind Soforthilfe in menschlichen Ausnahmesituationen, die der
Betroffene alleine zu beheben nicht in der Lage ist".
2
Nach BIENWALD sind Interventionen in der sozialen Arbeit ,,ein bewusstes, zielgerichtetes
Eingreifen in aktuelles Geschehen. Die Einmischung soll Kräfte und Fähigkeiten der
Beteiligten für ein alternatives Verhalten mobilisieren und neue Erfahrungen als
Voraussetzung als Voraussetzung für eine Problemlösung ermöglichen".
Sie richten sich nach dem konkreten Einzelfall, sind zunächst meist kurzfristige
Interventionen mit der Folge der sofortigen Entlastung und Schadensminimierung für den
Betroffenen. Ziel ist die Stabilisierung der Interventionserfolge: Integration in soziale und
berufliche Zusammenhänge, wirtschaftliche Entlastung, autonome Lebensgestaltung, kurz:
Verbesserung der Lebenslage!
Interventionsziele sind grundsätzlich Klienten- und problembezogen zu bestimmen, sind
methodisch differenziert und unter Berücksichtigung der Wünsche und Bedürfnisse des
Klienten zu bearbeiten.
Optimal gelingt die Arbeit in Kooperation mit dem Klienten.
Leider lässt die Schwere der Störung dies oft nicht zu. Dann muss der professionelle Helfer
die Verantwortung für den Betroffenen übernehmen, stellvertretend für ihn entscheiden und
ggf. auch fremdbestimmend agieren, bis der Betroffenen wieder entscheidungsfähig ist.
Dies kann er rechtswirksam nur als gesetzlicher Vertreter des Betroffenen. Deshalb kann hier
die umfassende Unterstützung durch das Rechtsinstitut der gesetzlichen Betreuung eine reele
Chance sein, die Lebenslage des Betroffenen deutlich zu verbessern. Und ihn als ,,großes
Ziel" letztlich wieder zu befähigen, in zunehmendem Maße als ,,Experte seines Lebens"
wieder die Verantwortung für seine Entscheidungen zu treffen- mittels Interventionen, die
möglicherweise keine Kriseninterventionen mehr sind!
Neben der rechtlichen ist hier eine erhebliche psychosoziale Dimension der Arbeit
hervorzuheben, und so ist dieses Arbeitsfeld für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen geradezu
prädestiniert.
2
BIENWALD, BtPrax 2/02, S.68

Seite 11
Zum Text:
Mit der Tätigkeit des rechtlichen Betreuers ist hier immer der Berufsbetreuer gemeint.
Der besseren Lesbarkeit wegen wird im gesamten Text auf die weibliche Schreibweise
verzichtet. Wenn möglich, werden neutrale Formulierungen verwendet, ansonsten schließt die
Benutzung der männlichen Form selbstverständlich die weibliche Form mit ein.
Bei den im Text verwendeten Fallbeispielen werden die Aufgabenkreise Gesundheitsfürsorge,
Vermögenssorge und Aufenthaltsbestimmungsrecht als angeordnet vorausgesetzt, ggf. ergänzt
um weitere erforderliche Aufgabenkreise.

Seite 12
1.
Materielle Grundsicherung als Voraussetzung für
ein eigenständiges Leben
1.1. Rechtsgrundlage
§1 SGB 1:
" (1) Das Recht des Sozialgesetzbuches soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer
Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu
beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie
Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu
schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu
ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden
und auszugleichen.
,,(2) Das Recht des Sozialgesetzbuches soll dazu beitragen, das die zur Erfüllung der in Absatz 1
genannten aufgaben erforderlichen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur
Verfügung stehen."
1.2. Gesellschaftliche
Entwicklungen
,,Der gesellschaftliche Reichtum war bei uns noch nie so hoch wie heute."
BUTTERWEGGE 2006
3
In Deutschland leben knapp 5 Mio. Empfänger von Al II, rd. 1,8 Mill. beziehen Sozialgeld,
400 000 Rentner bestreiten ihren Lebensunterhalt mittels Leistungen der Grundsicherung;
hinzu müssen die Fälle verdeckter Armut gezählt werden.
4
Die Zahl der in Armut lebenden Kinder hat sich nach Schätzungen in den vergangenen zwei
Jahren hier zu Lande mehr als verdoppelt.
Das Profil des Sozialstaates verändert sich. Zwar ist Deutschland noch immer eines der
reichsten Länder der Welt, jedoch wird im Kontext der Globalisierung das Geld nicht so
verteilt, dass die benachteiligten Bürgerinnen und Bürger dieses Landes im Sinne eines
solidarischen ,,Nachteilsausgleiches" davon profitieren. Ganz im Gegenteil wurden ihnen
mittels destruktiver Elemente rigide Sparmaßnahmen verordnet.
3
BUTTERWEGGE, CH., Universität Köln, Fachbereich Politikwissenschaft: Frankfurter Rundschau Nr.5, S.25
.v.10.03.2006, in: ,,Renten müssen steigen"
4
Südwest-Rundfunk 1, 23.04.2006

Seite 13
Aus der Praxis: Durch die Gewährung einmaliger Hilfen war es vor den Neureglungen zum
01.01.2005 möglich, für Betreute beispielsweise einen neuen Herd, neue Öfen etc. zu beantragen, um
existentielle Hilfen zu installieren und einen Verbleib im häuslichen Bereich weiterhin zu
ermöglichen. Solche ,,Sonderanschaffungen" sind jetzt mittels einer Pauschale im erhöhten Regelsatz
enthalten. Seit den Neuregelungen durch Hartz IV sind diese Hilfen gem. §28 Abs.1 S.2 als
,,Sonderbedarf in Härtefällen" zusätzlich zum pauschalierten Regelsatz durchzusetzen. Das Verfahren
ist mühsam. Erst der Verweis auf Heimvermeidung bzw. bei Ablehnung der beantragten Leistung:
umgehende Beantragung der Kostenübernahme stationärer Heimkosten, erweitert den
Ermessensspielraum des Sachbearbeiters. Bei hoher Renitenz erweist sich eine Vorsprache beim
Vorgesetzten sinnvoll.
Weitere praktische Auswirkungen der gesetzlichen Neureglungen: Zerbricht einer
sozialhilfebedürftigen Heimbewohnerin beispielsweise ihre Brille, so wird zur Reparatur kein
Zuschuss mehr gewährt. Aufgewendet werden muss hierfür der bescheidene monatliche Barbetrag.
Die öffentlichen Kassen sind leer.
Gleichzeitig wächst der Sozialneid in der Gesellschaft. ,,Das süße Leben der
Sozialschmarotzer?"
5
, ist nur eine von vielen Schlagzeilen in den Medien, welche auf die
Umetikettierung der Opfer der sozialen Verhältnisse zu Verursachern verweist
Das Wissen um die Hintergründe- nämlich dass für die ,,Sozialschmarotzer" Begriffe wie
Chancengleichheit der blanke Hohn sind, ihr Lebensweg meist von Armut und deren
umfassenden Auswirkungen geprägt ist, eine schwere psychische Erkrankung sie dauerhaft
,,lahm gelegt hat- dieses Wissen um Ursachen ist Grundstein für Solidarität mit den
Betroffenen, ist der Versuch, mehr Gerechtigkeit herzustellen in einer Gesellschaft, die sich
zunehmend am ,,Nutzwert" eines Menschen orientiert.
Auf Leistungen unseres Sozialstaates ist angewiesen, wer seinen Lebensunterhalt nicht aus
eigener Arbeit oder Vermögen sicherstellen kann. Diese Leistungen werden auch als ,,soziales
Netz" bezeichnet, welches eine ,,Verelendung der Massen" verhindern soll. Derzeit gelten
13,5 Mio. Einwohner in Deutschland als arm.
6
5
FOCUS v. 23.10.1995, Titel, in: KIEHL, S.14 2001, in: Betreuungsbehörden a.d. Weg ins 21 JH
6
vgl. Frankfurter Rundschau, 19.01.2006

Seite 14
Die wichtigsten Sozialleistungen zur Existenzsicherung sind:
Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung, (Erwerbsunfähigkeits-) Rente, Rente wegen
Erwerbsminderung,
7
Unterhaltsleistungen, Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung,
Leistungen der Eingliederungshilfe sowie ggf. Jugendhilfeleistungen, die unter bestimmten
Voraussetzungen auch für junge Volljährige gewährt werden können
.
8
Ferner Leistungen des
Persönlichen Budgets zur Vermeidung stationärer Behandlung.
Bei den Menschen, die Thema dieser Diplomarbeit sind, ist das soziale Netz zum zerreißen
gespannt, und wegen des aktuellen Abbaus von Sozialleistungen wird dieses Netz immer
weitmaschiger umgeknüpft.
9
Die jetzige pauschalierte Regelleistung ALG ,,bewegt sich etwa
55% unter der von der Europäischen Union definierten Einkommensarmutsgrenze. Diese
Grenze beginnt bei einem Einkommen, das ,,60% des Medians des von der
Gesamtbevölkerung erzielten Einkommens nicht überschreitet
."
10
Somit liegt bereits der Regelsatz (max. 345 ) weit unterhalb der EU-Armutsgrenze (780 ).
Neu geregelt wurde auch die Abschaffung der einmaligen Hilfen. Verlangt wird, dass die
Betroffenen wirtschaftlich mit ihrem Geld umgehen und unvorhergesehene Kosten aus einem
Pauschalbetrag, der angespart werden soll, finanzieren.
Dazu Christoph BUTTERWEGGE, Hochschulprofessor der Uni Köln:
,,Ein moderner Sozialstaat hat zwei Aufgaben: Armutsbekämpfung und
Lebensstandardsicherung. Von beiden Zielen verabschiedet sich die Politik immer mehr."
11
1.3.
Schwachstellen im System
Die Betroffenen sind aufgrund ihrer krankheitsbedingten Defizite meist außerstande, die
ihnen zustehenden Ansprüche wahrzunehmen. Häufig sind zudem die entsprechenden
Leistungen und Verfahrensvorschriften unbekannt, oder die Betroffenen haben nicht die
Energie oder den Mut, bei einer Behörde vorstellig zu werden. Viele empfinden dies auch als
7
Neuregelung (Rentenreform 1. Januar 2001): Rente wegen Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI an die Stelle
der Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 43 SGB VI a.F.) und der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (§ 44
SGB VI a.F.) getreten. S. 100, RN 33)Anknüpfend an das frühere Recht wird Versicherten, die vor dem 2.
Januar 1961 geboren sind, im Falle von Berufsunfähigkeit ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung eingeräumt (S.101, RN 34(Handbuch Sozialrechtsberatung, 1. Auflage 2005, Nomos-
Verlag, Baden-Baden) Ab Jahrgang 61: Zusätzliche Private Berufsunfähigkeitsversicherung (Focus Nr.
33/06, S.30)
8
Etwa nach § 35a i.V. mit § 41 SGB VIII
9
vgl. Schuldenreport 2006, S.49
10
Deutscher Bundestag 15.Wahlperiode. Drucksache 15/5015 vom 03.03.2005: Lebenslagen in Deutschland-
Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht S.11
11
Frankfurter Rundschau, S.25, 10.03.2006: ,,Renten müssten steigen"

Seite 15
stigmatisierend. Initiieren sie dennoch ein Leistungsverfahren, so belassen sie es in der Regel
bei einem Ablehnungsbescheid und beschreiten, häufig aus Unkenntnis, nicht den Rechtsweg.
Wer dann außerstande ist, seine existenzsichernden Rechte wahr zu nehmen, fällt durchs
Netz. Stürzt ab in ein Leben, dass kein menschenwürdiges mehr ist, die Verarmungsprozesse
sind allumfassend und berühren alle Lebensbereiche. Wirtschaftliche Notstände, die vom
Betroffenen nicht selbst kompensiert werden können, gefährden die Existenz konkret und auf
Dauer das gesamte persönliche Sozialgefüge. Hierdurch werden Konflikte, Lebenskrisen und
Familiedramen ausgelöst. Dann ist der ,,point of no return"
12
erreicht. Die Abwärtsspirale
nimmt ihren Lauf.
Als letztes Auffangnetz, gar als ,,Bodenmatte für das immer dünnmaschiger werdende soziale
Netz" wird das Betreuungswesen von Brunhilde Ackermann bezeichnet.
13
Hierzu ein Fallbeispiel aus der Praxis. Es handelt sich hier um verdeckte Armut
14
, d.h. auf
einen Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt fallen rd. 1,5 bis 2 weitere Berechtigte, die
ihre Ansprüche nicht geltend machen und deshalb oft weit unterhalb des Existenzminimums
versuchen, zu überleben.
Dieser Fall einer ,,Armutsschuldnerin" wurde exemplarisch ausgewählt, um den gesamten
Verlauf einer rechtlichen Betreuung in seinen unterschiedlichen Facetten darzustellen, und
begleitet deshalb diese Arbeit als ,, roter Faden" bis zum Ende.
12
BOCK/WEIGAND (Hrsg.) S. 36, unter Verweis auf (Bleuler 1987)
13
vgl. KIEHL: S.11 2001 ,in:,,Betreuungsbehörden auf dem Weg ins 21.JH, Uwe Bruckner-Hrsg.-, 2001
14
1,8 Mio. Betroffene in Deutschland. Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt wird nicht wahrgenommen.
Gründe: Unwissenheit. 51,7% gehen davon aus, Sozialhilfe zurückzahlen zu müssen/ wissen nicht, das HzL
auch ergänzend zum Arbeitseinkommen (44,0%) bzw. zum Arbeitslosengeld (40,7%) gezahlt werden kann/
kennen nicht die Höhe des Freibetrags und schätzen diesen viel zu niedrig ein (27,5%) Weiter sind
Stigmatisierungsängste ausschlaggebend für den Verzicht (Frankfurter Rundschau, 19.01.2006)

Seite 16
,,Kein Märchen Vom süßen Brei"
Eine alte Witwe, Frau K., lebte allein in ihrem alten Häuschen auf dem Lande. Eines Tages, es war ein
eiskalter Wintertag, öffnete sie ihrem Hausarzt nicht. Da Frau K. sehr krank war, rief dieser die Polizei
und verschaffte sich mit deren Unterstützung Zutritt zum Haus. Frau K. lag seltsam aufgedunsen und
blau gefroren in ihrem Bett und hustete. Auf dem Kissen, neben ihrem Kopf, lag eine abgemagerte
Katze. Eisblumen waren am Fenster. Wasser gab es keines, überall standen Eimer mit Fäkalien herum.
Die Wohnung war völlig verwahrlost, auf dem uralten Herd standen Töpfe verschimmelt herum.
Verweste Ratten steckten in Fallen.
Frau K. geriet beim Eintreffen der Polizei und des Arztes in Panik und verweigerte eine Untersuchung.
Auch verhielt sie sich psychotisch und schrie, die Eier im Keller seien vergiftet und alle Nachbarn
wollen sie töten, besonders Herr B. habe es auf sie abgesehen.
Der Hausarzt stellte erhebliche Eigengefährdung fest. Wenig später wurde die Unterbringung in ein
psychiatrisches Fachkrankenhaus veranlasst.
Nachdem Betreuung angeordnet worden war, ergab sich folgender Sachverhalt: Die karge
Witwenrente hatte bisher gerade ausgereicht um tagein, tagaus die tägliche Milchsuppe zu kochen
oder Brei, und die laufenden Kosten des bescheidenen Lebens zu bezahlen. Nachdem Frau K. Jahre
zuvor einen Kredit für eine Dacherneuerung aufgenommen hatte, reichte das knappe Budget nicht
mehr aus. Der Strom wurde vom Energielieferanten abgestellt, das Wasser ebenfalls, es konnte nicht
mehr gekocht werden. Für Brennholz war kein Geld mehr da. Einmal in der Woche ging Frau K. zum
Dorfbäcker und kaufte sieben Brötchen, für jeden Tag eins. Dazu aß sie Eingemachtes aus ,,besseren
Zeiten", welches in riesigen Mengen im Schlafzimmer lagerte. Ihren Hausarzt hatte Frau K. trotz ihres
schweren Herzleidens kaum noch aufgesucht wegen der neu eingeführten Quartalsgebühr.
Der soziale Rückzug von Frau K. sowie ihre Notlage waren kaum jemandem aufgefallen, da Frau K.
stets isoliert gelebt hatte und wegen ihres aggressiven Sozialverhaltens im Dorf als ,,Hexe" verrufen
war. Keiner hatte sie vermisst.
Durch die Anordnung der Betreuung und die veranlassten Interventionen hat sich die
Lebenssituation der Betroffenen, die acht Monate stationär behandelt werden musste,
erheblich verbessert. Darüber nachfolgend mehr.
1.4.
Der Betreuer als Garant von Sozialleistungsansprüchen
Verwaltungsentscheidungen müssen jederzeit konform mit dem Grundgesetz sein.
So ist ein Elementarprinzip des Rechtsstaates der Vorbehalt des Gesetzes, d.h., der Staat darf
in die Rechte von Bürgern nur eingreifen, wenn ein Gesetz das erlaubt.
WESEL
15
schreibt hierzu, das dieser begünstigende oder belastende Verwaltungsakt sich als
Parallele zum privaten Zivilprozess versteht, da die Behörde mit einem unrechtmäßigen VA
15
vgl. WESEL 2002, S.254

Seite 17
genauso in Rechte von Bürgern eingreift wie ein Privatmann, der widerrechtlich das
Eigentum eines anderen verletzt. Es gibt wie im Zivilrecht ein geregeltes Verfahren, der
Betroffene wird gehört, Entscheidung sind an eine bestimmte Form gebunden, begründet und
müssen überprüfbar sein.
16
.Gegen Verwaltungsentscheidungen können Rechtsmittel eingelegt
werden, denn: ,,Verwaltungsrecht ist das Recht des Bürgers gegen die Verwaltung."
17
.
Voraussetzung für eine erfolgreiche Intervention des Betreuers sind umfassende Kenntnisse
im Sozial- und Verwaltungsrecht. Denn: Leistungsbewilligungen sind
Verwaltungsentscheidungen. Der Betreuer muss Kenntnis haben über
Anspruchsvoraussetzungen, Verfahrensvorschriften, Rechtsmittel, Beratungs- und
Prozesskostenhilfe; bei komplizierten Sachverhalten oder Klageerhebung wendet er sich an
einen Experten, beispielsweise an eine Fachanwalt für Sozialrecht. (Vorsicht ,,Haftungsfalle":
Schuldhafte Versäumnisse des Betreuers schaden tatsächlich zwar dem Betroffenen, jedoch
ist nach §1833 BGB der Betreuer ggü. dem Betreuten schadensersatzpflichtig!)
Es gilt, die Kenntnisse jeweils am vorliegenden Einzelfall anzuwenden. Stets muss genau
ermittelt werden, welcher Hilfen der Betroffene bedarf, im Rahmen von Krisenintervention
gerade auch, um eine erneute Dekompensation zu verhindern.
18
Aus der Praxis: Immer wieder wird von Studenten des Fachbereichs Sozialpädagogik/ Sozialarbeit
kritisch diskutiert, ob die Vielzahl der Rechtsvorlesungen während des Studiums in diesem Umfange
tatsächlich notwendig sind. Erfahrungsgemäß sind die hierbei erworbenen Kenntnisse jedoch das
,,Handwerkszeug", um sich auf ,,gleicher Augenhöhe" mit den Behörden fachlich auseinander zu
setzen und Ansprüche des Klienten erfolgreich durchzusetzen. Zwar sind beide- Bürger und Staat-
prinzipiell gleichberechtigte Rechtssubjekte. Jedoch ist diese ,,Subjektivierung im Verhältnis von Staat
und Bürger"
19
, erfahrungsgemäß oft eher eine Farce als tatsächliche Realität. Grundlegende
Kenntnisse, sowie ein gewisser ,,Kampfgeist" seitens des Betreuers sind notwendig im alltäglichen
Umgang mit den zuständigen Behörden.
Existenzsicherung bedeutet hier, dass alle Möglichkeiten staatlicher Transferleistungen- im
Bezug auf Lebensunterhalt, Wohnraum, ggf. Arbeit bzw. Eingliederungshilfe, soziale
Beziehungen- durchgesetzt werden, die individuell realisierbar sind.
16
vgl. Wesel 2002, S.261
17
Wesel 2002, S.253: Uwe Wesel, Fast alles, was Recht ist, Eichborn, 2002 S.253 (Wesel 2002 ,S.253)
18
vgl.
ROSENOW/ BUHLMANN. BtPrax 2/ 2004, S.58
19
WESEL 2002, S.264

Seite 18
Zum Zeitpunkt der Betreuungsübernahme befindet sich der Betroffene meist bereits in einer
schweren psychosozialen und materiellen Krise. Oft hat die Krankheit bereits zu einem
beträchtlichen Verlust der Handlungskompetenzen geführt.
Der Betreuer tritt dann als Vertreter des Betroffenen ,,nach außen" auf.
Somit ist rechtliche Betreuung aus dem sozialen Sicherungs- und Versorgungssystem nicht
mehr wegzudenken. Als ,,hoheitlich bestellter Treuhänder"
20
und ,,Vertrauensperson des
fürsorgenden Staates"
21
bewegt sich der Betreuer auf alles Ebenen dieser ,,Maschinerie" und
ist dabei in hohem Maße auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen.
Nach ROSENOW führt Betreuung ,,zu einer deutlichen Verbesserung der Lebenssituation der
Betroffenen!"
22
Schon während des langen Klinikaufenthalts von Frau K. hatte die Betreuerin ergänzend zur Rente
Grundsicherung beantragt sowie wegen Altersdiabetes Mehrbedarf sowie medizinische Fußpflege.
Da Frau K. nach langen Klinikaufenthalt den dringenden Wunsch hatte, wieder in ihrem Haus zu
leben, wurde die Kostenübernahme der erforderlichen Hilfen zur Vermeidung einer
Heimunterbringung- Renovierung, Teilmöblierung- beantragt. Antrag auf Einstufung in eine
Pflegestufe war schon zuvor gestellt worden.
Die Entrümplung hatte sich erübrigt, da der Stiefsohn der Betroffenen an einem Wochenende
rechtswidrig in das Haus eingedrungen war und es innerhalb von drei Tagen komplett ausgeräumt
hatte. Gleichzeitig bot er das Haus zum Verkauf an. Hier war ein Anwalt mit der Vertretung der
Betroffenen zu beauftragen aus Mitteln der Prozesskostenhilfe. Auch wurde Strafanzeige gegen den
Stiefsohn gestellt.
Als Frau K. nach einem Sturz wegen einer Oberschenkelhals-Fraktur operiert werden musste, wurden
nachfolgend Leistungen der stationären Rehabilitation beantragt. Nach erfolgreicher Beendigung der
Reha wurde Kostenübernahme für einen Rollator beantragt sowie Krankengymnastik, um die
Gehfähigkeit zu erhalten. Der Umfang der häuslichen Hilfen- Pflegeleistungen, hauswirtschaftliche
Versorgung und Behandlungspflege- musste erweitert werden; entsprechende Antragstellung auch
hier. Als Frau K. infolge ihres Alters immer hinfälliger wurde und die psychotischen Symptome
wieder ausbrachen, schien eine Heimunterbringung unvermeidbar. Noch immer wehrte sich Frau K.
dagegen und kündigte an, sich dann umzubringen. In Absprache mit Hausarzt und psychiatrischer
Institutsambulanz entschied die Betreuerin, die Hilfen weiter zu intensivieren, um die
Heimunterbringung noch hinauszuzögern.
Nach einem leichten Schlaganfall, der die Mobilität und Orientierungsfähigkeit der Betroffenen weiter
einschränkte, konnte deren Verbleib im Haus nicht mehr verantwortet werden. Es fand sich auch kein
Pflegedienst, der diesen Bedarf hätte abdecken können, zumal Frau K. nur zwei Krankenschwestern
20
JÜRGENS/KRÖGER/MARSCHNER/WINTERSTEIN, S.58, Rz 155
21
JÜRGENS/KRÖGER/MARSCHNER/WINTERSTEIN, S.57, Rz 154
22
ROSENOW. BtPrax 2/ 04, S. 57

Seite 19
akzeptierte. Gemeinsam mit Frau K. wurden drei Pflegeheime besichtigt. Frau K. entschied sich,
unwillig, für eines und wurde aufgenommen. Die Betreuerin beantragt Kostenübernahme der
Heimkosten sowie Erstausstattung. Beim Vormundschaftsgericht wurde die Genehmigung zur
Wohnungsauflösung beantragt; diese wurde nachfolgend durchgeführt. Ein Teilerlös der
Haushaltsauflösung konnte der Betroffenen gutgeschrieben werden.
1.5.
Einspareffekte im Sozialleistungssystem durch
professionelle Betreuung
Rund 1 Mio Betroffene werden in Deutschland von ca. 10.000 Berufsbetreuern gesetzlich
vertreten.
23
,
24
Einspareffekte im Sozialleistungssystem durch professionelle Betreuung können anhand
qualifizierter Schätzungen
25
ermittelt werden. Hier einige Ergebnisse:
·
Die Zahl der Aufenthaltstage in einer psychiatrischen Klinik gehen nach Einrichtung einer
Betreuung signifikant zurück
·
Zahl der Krankenhausaufenthaltstage reduzierte sich ein halbes Jahr nach
Betreuungsübernahme drastisch
·
Durchschnittliche Zahl der Aufenthaltstage in einer psychiatrischen Klinik reduziert sich auf
etwa ein Sechstel.
·
Oft weitere stationäre Behandlungen gar nicht mehr erforderlich
·
Heimeinweisung wird verhindert bzw. verzögert durch ambulante Hilfen und Stabilisierung in
der eigenen Wohnung zu 20-40%
Fazit: Die Kostenersparnis infolge Verzicht auf stationäre Versorgung wird auf bis zu
1.200 pro Monat und Fall geschätzt. Somit ergeben sich Einspareffekte zwischen 400 Mio
Euro bei zurückhaltender und 1,25 Mill. Euro bei optimistischer Schätzung.
26
23
vgl. bdb S.3, Infoflyer ,,Betreuung als Beruf, 2005 )
24
bdb: Bundesverband der Berufsbetreuer/-innen e.V.
Bundesgeschäftsstelle
Esplanade 2
20354 Hamburg
Tel. (040) 38 62 90 30
Fax (040) 38 62 90 32
25
vgl.
BUHLMANN/ ROSENOW.BtPrax 2/ 2004, S.56
26
vgl. BUHLMANN/ ROSENOW. BtPrax 2/2004, S.59

Seite 20
2.
Rechtliche Betreuung als Handlungsfeld sozialer
Arbeit und Instrument der Existenzsicherung
2.1. Definition
Nach JÜRGENS/KRÖGER/MARSCHNER/WINTERSTEIN (1999) wird die Betreuung ,,als
sozialstaatliches Instrument, das der rechtlichen Wahrnehmung der Interessen Volljähriger
dient, die dies aufgrund einer Krankheit oder Behinderung selbst nicht können",
beschrieben.
27
Gemeint sind alle Tätigkeiten des Betreuers, die zur Rechtsfürsorge für den
Betreuten erforderlich sind. Der Betreuer regelt als gesetzlicher Vertreter die Angelegenheiten
des meist von einer schweren psychischen Krankheit Betroffenen im Rahmen eines
,,Defizitausgleichs", quasi als ,,Ausfallbürge".
28
Nach HARM ist, im Bezug auf die Personensorge, der wesentliche Auftrag die Vertretung im
Außenverhältnis. Gemeint ist damit die Kooperation mit allen Beteiligten: Mit dem
Betroffenen und seinem sozialen Umfeld, mit Ärzten, Einrichtungen, Behörden,
Vormundschaftsgericht. Ziel der rechtlichen Vertretung ist die optimalen Unterstützung des
Betroffenen.
Eingriffe im Innenverhältnis, also die tatsächliche Personensorge, sind Akte der
Fremdbestimmung und nur bedingt zulässig. Sie unterliegen deshalb fast ausnahmslos
gerichtlichen Genehmigungsvorbehalten. Der Betreuer hat eindeutig keinen Erziehungs-, und
Besserungsauftrag.
29
Dazu die Vormundschaftsrichterin VON LOOZ: ,,Betreuung ist kein Instrument der
Erwachsenenbildung."
30
Betreuung ist vielmehr eine Arbeitsform von Beratung, Unterstützung und Vertretung
behinderter Menschen auf der Basis psychosozialer und rechtlicher Kompetenzen. Sie ist ein
geplanter und interaktiver Prozess.
31
Gem. § 1897 Abs.6 BGB existiert eine Rangfolge, demnach eine Betreuerbestellung durch
einen Berufsbetreuer grundsätzlich nachrangig ist. Für den in dieser Arbeit beschriebenen
Personenkreis (Betroffene) wird jedoch gewöhnlich ein Berufsbetreuer bestellt. Für einen
27
JÜRGENS/...S.54,Rz 157
28
BtPrax 4/99, S.123, Leitlinien, Vormundschaftsgerichtstag, kein Autor benannt
29
vgl.
HARM, BtPrax 3/ 2005 S.98
30
V. LOOZ, BtPrax 3/97 S.89
31
vgl. bdb 2005 S.6, Betreuung als Beruf

Seite 21
ehrenamtlicher Betreuer wäre eine Betreuungsübernahme aufgrund der schweren
Krankheitsausprägung der Betroffenen mit komplexem Regelungsbedarf nicht zumutbar;
voraussichtlich wäre dieser auch überfordert.
Die Betreuung endet grundsätzlich mit Tod des Betroffenen.
2.2.
Das Grundgesetz als wichtigste Handlungsnorm des
Betreuungsrechts
Über allen Normen steht das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
Es ist für die Thematik dieser Arbeit von wesentlicher Relevanz.
Das in unserer Verfassung verankerte Gebot der Achtung der Menschenwürde und der
Respektierung der Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und
Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht (Art.1 GG) und bilden damit zugleich auch
einen rechtlichen Rahmen für das Handeln psychiatrischer und psychosozialer Fachkräfte.
32
Der unter Betreuung stehende psychisch Kranke kann sich insbesondere auf seine
Menschenwürde, sein allgemeines Persönlichkeitsrecht, seine körperliche Unversehrtheit und
ggf. auf das Grundrecht der Freiheit der Person berufen, ohne das sich aus seiner Krankheit
oder seiner Betreuung Einschränkungen herleiten lassen.
33
In Bezug auf rechtliche Betreuung sind hier besonders hervorzuheben:
Art. 1 (Schutz der Menschenwürde), Art. 2 ( ,,Persönliche Freiheitsrechte schützten
insbesondere auch die Freiheit der nicht-angepassten, der seelisch Kranken und Behinderten
in ihrer spezifischen Lebensform".
34
, Art.3 (Gleichheit vor dem Gesetz) sowie Art. 13
(Unverletzlichkeit der Wohnung), Art.20 (Rechtsstaatsprinzip), Art.33 (Staatsbürgerliche
Rechte) sowie Art.34 (Haftung bei Amtspflichtverletzung), Art.19 Abs.4
(Rechtsschutzgarantie), Art.20 Abs.3 (Rechtsstaatsprinzip).
POPP fasst zusammen: ,,Der Betreute kann sich gegenüber dem die Betreuung anordnenden
Staat direkt auf seine Grundrechte berufen".
35
32
vgl. BOCK/WEIGAND 2002, S. 106
33
vgl.
POPP 2003, S.258, Rn II.
34
JÜRGENS/KRÖGER/MARSCHNER/WINTERSTEIN 2002, S. 63 Rz 164
35
POPP 2003, S.259, Rz.III

Seite 22
Der Sozialabeiter/ -pädagoge benötigt, wenn er rechtliche Betreuungen führt, fundierte
Rechtskenntnisse. Er muss sich auskennen im bürgerlichen Recht, insbes. Schuldrecht,
Familienrecht, selbstverständlich Betreuungsrecht. Hohe Kompetenzen werden im
Sozialleistungsrecht erwartet; der sichere Umgang mit diesen Normen ermöglicht erst
kompetentes Auftreten gegenüber der jeweils zuständigen Behörde.
Detaillierte Kenntnisse zum Verwaltungsverfahren- Zuständigkeiten, Antragstellung,
Mitwirkungspflichten, Fristen, Rechtsmittel- sowie Vorschriften des Sozialdatenschutzes sind
die Voraussetzung erfolgreicher Interventionen zum Wohle der Klienten.
2.3. Ausgewählte,
themenrelevante Aspekte zur rechtlichen
Betreuung
Rechtliche Betreuung ist eine hochkomplexe Materie. Unzählige Fachbücher sind auf dem
Markt, viele setzen sich detailliert mit Teilbereichen auseinander, etwa Haftung des Betreuers
oder Zwangsunterbringung.
Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, wurden nur einige, für die Verfasserin
jedoch besonders relevante, Themen ausgewählt. Im Wesentlichen geht es um die Klärung
des ,,Innenverhältnisses" zum Betreuten. Hier bestehen noch immens viele Missverständnisse:
Häufig vermuten die beteiligten Institutionen- Behörden, Kliniken, Banken etc.- irrtümlich
noch eine Rechtsposition des Betreuten im Sinne der früheren Entmündigung. Oder es
bestehen im sozialen Umfeld der Betroffenen Erwartungen an den Betreuer, die mit dessen
Handlungsauftrag- nämlich ausschließlich zum Wohle des Betroffenen zu agieren-
nicht in Übereinstimmung zu bringen sind.
Wichtig ist deshalb, die entsprechenden Normen und ihre Auslegungen sowie die aktuelle
Rechtssprechung zu kennen. Dies ermöglicht eine selbstbewusste Position und sichere
Argumentation, gerade auch im Konfliktfall.
2.3.1. Das Wesen rechtlicher Betreuung
Der Betreuer ist gesetzlicher Vertreter des Betroffenen und hat dessen Angelegenheiten nach
§ 1901 (1) BGB rechtlich zu besorgen. Die gesetzliche Vertretung ist nur statthaft im Rahmen
der von Gericht angeordneten Aufgabenkreise. Diese sind keineswegs ,,pauschal"

Seite 23
anzuordnen, sondern- nach dem Individualisierungsprinzip- streng nach der jeweiligen
Erforderlichkeit.
36
Somit ist die Tätigkeit des Betreuers von faktischen Tun abzugrenzen.
Tatsächlich notwendige Aufgaben wie Einkäufe für den Betreuten, Pflegeverrichtungen etc.
sind nicht selbst durchzuführen, sondern ggf. zu organisieren.
Die Aufgaben des Betreuers liegen somit im wesentlichen in der Vertretungs- und
Organisationsleistung.
Die bloße Bestellung eines Betreuers hat keine Auswirkungen auf die Geschäfts- und
Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen.
37
Seine Aufgabe, so THAR, ,,erstreckt sich auf die Wiederherstellung der rechtlichen
Handlungsfähigkeit".
38
2.3.2. Voraussetzungen rechtlicher Betreuung
Mehrere Voraussetzungen müssen gleichzeitig erfüllt sein:
Der Betroffenen muss volljährig sein, unter einer psychischen Krankheit oder einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung leiden, und infolgedessen beeinträchtigt
oder unfähig sein, seine Angelegenheiten ganz oder teilweise besorgen zu können.
39
Es gibt
keinen Bevollmächtigten, und die Angelegenheiten können nicht durch andere Hilfen ebenso
gut erledigt werden.
Zu klären ist hier der Begriff ,,Angelegenheiten"
40
:
Hier kommen- immer bezogen auf den konkreten Einzelfall- Angelegenheiten in Betracht, die
Gegenstand der Personensorge sowie der Vermögenssorge sein können, wobei
Angelegenheiten tatsächlicher oder rechtlicher Art betroffen sein können. Welche
Angelegenheiten regelungsbedürftig sind, entscheidet sich nach der konkreten
Lebenssituation des Betroffenen. Entscheidend ist, ob er seine Angelegenheiten regeln kann
oder nicht. Dazu gehören nur diejenigen Angelegenheiten, die- vor dem Hintergrund der
bisherigen Biographie und Lebensgestaltung- erledigt werden müssen, um den Alltag zu
beherrschen und zu gestalten.
36
HASSEMER, Vorlesung Studienschwerpunkt Psychisch Kranke und Behinderte, 11.04.2006, Evangelische
Fachhochschule Ludwigshafen
37
vgl.
POPP 2003,S.64
38
THAR, BtPrax 2/ 05, S.M5
39
§1896 BGB
40
vgl. BAUER/KLIE/RINK (2004) S.40

Seite 24
Demnach handelt es sich bei der Besorgung von Angelegenheiten für den Betroffenen im
Rahmen einer Betreuung darum, für den Betroffenen etwas zu tun, wozu er selbst nicht mehr
in der Lage ist i.S. eines ,,Defizitausgleichs".
41
Er fungiert quasi als ,,Ausfallbürge"
42
Erforderlich ist, üblicherweise, ein fachärztliches Gutachten.
43
Dieses hat in erster Linie Art
und Ausprägungsgrad der Erkrankung u n d deren Auswirkungen auf die Fähigkeit des
Betroffenen, seine Angelegenheiten zu besorgen, zum Inhalt. Es muss also eine Kausalität
zwischen Krankheit/ Behinderung und dem tatsächlichen Unvermögen zur Erledigung eigener
Angelegenheiten vorliegen, es bedarf einer ,,fachpsychiatrische Konkretisierung und der
Darlegung ihrer Auswirkungen auf die kognitiven und voluntativen Fähigkeiten des
Betroffenen."
44
. Kommt nach Auffassung des Sachverständigen eine Betreuerbestellung in
Betracht, so hat er sich auch zum Umfang des Aufgabenkreises und zur voraussichtlichen
Dauer der Betreuungsbedürftigkeit zu äußern. Abschließend hört der Vormundschaftsrichter
den Betroffenen ,,in seiner gewöhnlichen Umgebung" an. Nachfolgend ergeht ggf. der
Beschluss über die Anordnung einer Betreuung.
Bei Frau K. wurde fachpsychiatrisch ein hirnorganisches Psychosyndrom mit wahnhafter Ausprägung
diagnostiziert, infolgedessen sie, zusätzlich beeinträchtigt durch ihre internistische Erkrankungen und
Altershinfälligkeit, außerstande war, ihre Angelegenheiten persönlich zu regeln. Eindeutig war hier
Gefahr im Verzuge. Die Betreuerbestellung war erforderlich.
Als Psychische Krankheiten i.S. einer Voraussetzung für die Betreuerbestellung sind
anzusehen
45
:
·
Körperlich nicht begründbare (endogene) Psychosen- Schizophrenien, Affektive Störungen
·
Körperlich begründbare (exogene) Psychosen ­ pathologische Prozesse im Gehirn Ursache für
Wesensveränderungen, Demenzerkrankungen
·
Abhängigkeitskrankheiten- und infolgedessen massive Abbauerscheinungen
·
Konfliktreaktionen, Neurosen und Persönlichkeitsstörungen (Psychopathien)
-nur bei schwersten Ausprägungen Krankheitswert-
und als ursächliche Verknüpfung mit der Krankheit eine soziale Folge.
41
BIENWALD, in: BAUER/KLIE/RINK (2004),S.41
42
BtPrax 4/99, S.123
43
vgl. auch OBERLOSKAMP. BtPrax 4/ 2004 S. 123
44
BtPrax 1/ 02, S.37, Bay ObLG 3Z BR 246/01, Beschluss v. 24 August 2001 FN45
45
vgl. JÜRGENS/KRÖGER/MARSCHNER/WINTERSTEIN 2002, S.12-13, Rz 43-46

Seite 25
2.3.3. Orientierung an Wohl und Wille des Betroffenen als ethische
Leitlinie
Ausgegangen wird in der Fachliteratur von einem erheblichen Spannungsverhältnis zwischen
Wunsch und Wille des Betroffenen einerseits und dessen Wohl andererseits.
Zu klären ist hier zunächst der Begriff des Wohls:
Nach § 1901(2) sind die Angelegenheiten des Betreuten so zu besorgen, wie es dessen Wohl
entspricht. Zum Wohle des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner
Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten,
denn: Grundsätzlich endet die Selbstbestimmung nicht mit der Betreuerbestellung!
Hier wird der Schwerpunkt deutlich in Richtung auf das subjektive Wohl geschoben- der
Betreuer hat sich unbedingt um eine Beurteilung aus Sicht des Betreuten zu bemühen: Unter
Berücksichtigung seiner konkreten Lebenssituation, seiner Fähigkeiten und Einschränkungen
und seiner finanziellen Lage.
46
Beim nicht-äußerungsfähigen Betroffenen ist der mutmaßliche Wille zu ermitteln.
Einerseits ist hier eine ,,Wunschermittlungspflicht"
47
bzw. gem. § 1901 Abs.3 S. BGB eine
,,Wunschbefolgungspflicht"
48
abzuleiten. Jedoch müssen die Wünsche des Betroffenen gem.
§ 1901 (3) mit dessen Wohl zu vereinbaren sein. Auch muss die Umsetzung der Wünsche des
Betreuten für den Betreuer zumutbar sein.
Gem. § 1901 Abs. 3 BGB hat der Betreuer auch den Wünschen des Betreuten zu entsprechen,
die vor der Betreuerbestellung geäußert wurden, es sei denn, dass er an diesen Wünschen
erkennbar nicht festhalten will.
Das Wohl des Betreuten ist oberste Leitlinie des Betreuungsrechts und Maßstab für jedes
Handeln. Hier ist zunächst der Begriff ,,Wohl" zu definieren. Unterschieden wird nach dem
objektiven Wohl- welches allgemein gültigen Standards oder Normen entspricht, sowie dem
subjektiven Wohl.
46
vgl. DEINERT/LÜTGENS/MEIER 2004, S. 129
47
POPP 2003,S.107
48
DEINERT/LÜTGENS/MEIER 2004, S.129

Seite 26
Das subjektive Wohl ergibt sich aus der Lebensweise und den Einstellungen des Betreuten.
Die Wünsche und Vorstellungen des Betreuers spielen hier keine Rolle.
49
Steht beispielsweise
eine Heimunterbringung zur Diskussion, da der Betreuer das objektive Wohl des Betreuten
mit ,, Warm-satt-sauber, also Altenheim!" definiert, so wird durch die Orientierung am
subjektiven Wohl die Rechtsposition des Betroffenen gestärkt, der ,,vermüllt, mit 15 Katzen",
darauf besteht, zu Hause zu bleiben.
So betont THIERSCH in seiner Abhandlung ,,Gerechtigkeit und soziale Arbeit" den
,,Anspruch auf unbedingte Anerkennung des Anderen in seinem So-Sein, auch jenseits von
möglichen Verbesserungen und von Chancen zum produktiven Handeln." Der Betreuer hat
,,grundsätzlich den Lebensentwurf des Betroffenen zu beachten"
50
und darf daher erst
eingreifen, wenn höherrangige Rechte (Leben oder Gesundheit) konkret bedroht sind.
51
,,Eine ,,Besserung" oder wie auch immer geartete Änderung der Lebensweise des Betreuten
ist nicht Aufgabe des Betreuers."
52
Die Orientierung am subjektiven Wohl des Betroffenen ist rechtswissenschaftlich und in der
Rechtssprechung eindeutig.
53
Dazu BIENWALD: ,,Soziale Auffälligkeiten, die nicht mit den Lebensvorstellungen des
Betreuers übereinstimmen, den Betreuten aber charakterlich prägen und seine Form der
Lebensgestaltung ausmachen, sind hinzunehmen und berechtigen nicht zu einem
korrigierenden Eingreifen"
54
Daraus folgt, so THIERSCH, dass ,,der Respekt vor dem Anderssein, die Akzeptanz und
Förderung des Eigensinns der Adressaten Grundlage des sozialarbeiterischen Handelns"
sind.
55
49
vgl. SEITZ. BtPrax 5/05, S.170
50
JÜRGENS/KRÖGER/MARSCHNER/WINTERSTEIN 2002, S. 63, Rz 164
51
§ 1901 Abs.3 BGB
52
DEINERT/LÜTGENS/MEIER 2004, S. 129, Fussnote 5: BayObLG, FamRZ 1993,600
53
siehe hierzu auch SEITZ, ,,Wohl und Wille als Handlungsnormen im Betreuungsrecht. Dargestellt vor allem
an Hand der Rechtssprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts." Betrifft: Betreuung Nr.8,
VormundschaftsGerichtsTag e.V., Eigenverlag sowie BtPrax 5/05. S.170
54
DEINERT7LÜTGENS/MEIER 2004, S. 129, Fussnote 7: BIENWALD, Betreuungsrecht; HK-Bur-Bauer,
§1901 Rz 27
55
THIERSCH, H., Tübinger Institut für Erziehungswissenschaften: THIERSCH 1993, Strukturierte Offenheit
zur Methodenfrage einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit, S.13, in: Rauschenbach u.a.

Seite 27
Auch der Wille ist hier zu definieren:
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der Mensch einen freien Willen hat. Damit kann
jeder Mensch selbst über sein Wohl entscheiden. Dies, so SEITZ, gilt (selbstverständlich)
auch für Menschen, für die ein Betreuer bestellt ist. Denn ,,wird schon durch eine solche
Bestellung die Geschäftsfähigkeit nicht eingeschränkt, so gilt dies erst recht für die
Grundrechtsfähigkeit".
56
Folglich ist die Betreuung der selbst verantworteten Entscheidung und Handlung des
betroffenen Menschen immer nachrangig.
57
Das Wohl des Betreuten wird somit gewürdigt indem man ihm hilft, seine Wünsche und
Vorstellungen, und damit seinen Willen, zu verwirklichen.
58
Die Beachtung des Willens wird, so SEITZ weiter, durch das grundrechtliche allgemeine
Persönlichkeitsrecht geschützt und seine Bedeutung dadurch verstärkt.
59
Dies würdigt die
Rechtssprechung, insbesondere des BayOLG, in etlichen Urteilen; hinreichend belegt wird
dies von SEITZ in seinen Ausführungen.
Die freie Willensbestimmung ist im Gesetz definiert nach §§ 104 Nr.2 BGB sowie i. S. von
§ 1896 Abs.1 Satz 1 BGB. Laut Rechtsprechung gilt das ,,Recht und Freiheit zur Krankheit,
zur Verwirrtheit"
60
, "zur Verwahrlosung, Recht und Freiheit zur Vermüllung , zum Leben
unter der Brücke, trotz psychischer Erkrankung."
61
. Voraussetzung zur freien Willensbildung
ist die Einsichtsfähigkeit des Betroffenen, also die Fähigkeit, ein Für und Wider
gegeneinander abwägen zu können und nach dieser Einsicht zu handeln
(Steuerungsfähigkeit). Betreuungsrechtlich relevant ist hier die Frage, ob fremde Einflüsse,
etwa Sinneswahrnehmungen, den Willen übermäßig beeinflussen- somit wäre der freie Wille
durch die Erkrankung beeinträchtigt oder gar ausgeschlossen.
Gerät der Betroffene in diesem Geisteszustand in konkrete Gefahr, so kann zu seinem Wohle
eine Unterbringung mit Freiheitsentziehung notwendig sein. Hierzu GELÜBCKE/
OSTERFELD: ,,In der Unterbringungssituation steht der Wille des Betreuten am krassesten
gegen das Wohl des Betreuten".
62
56
SEITZ 2006, Wohl und Wille als Handlungsnormen im Betreuungsrecht, in: Betrifft: Betreuung, Band 8,
2006, S.65
57
vgl. THAR BtPrax 2/05, S.M5
58
vgl: SEITZ BtPrax 5/05 S.173
59
vgl.
SEITZ, BtPrax 5/ 05, S. 173
60
JÜRGENS/KRÖGER/MARSCHNER/WINTERSTEIN 2002, S.63, RN164
61
SEITZ, BtPrax 5/05, S.174
62
Betrifft: Betreuung 8, 2006, S. 84

Seite 28
Verbleibt der natürliche Wille. Im Betreuungsrecht ist der natürliche Wille von
herausgehobener Bedeutung. ,,Beispielsweise ist dem ernsthaften und durch einen natürlichen
Willen getragene Wunsch auch eines willensschwachen Betroffenen, etwa nach einem
bestimmten Betreuer, grundsätzlich zu entsprechen".
63
Folglich hat sich der Betreuer, so
VON. LOOZ, ,,Wünschen und Vorstellungen bis an die Zumutbarkeitsgrenze
unterzuordnen"
64
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass zwischen der subjektiven und objektiven
Komponente, gerade der täglichen Betreuungsarbeit, ein erhebliches Spannungsverhältnis
bestehen kann. Denn die persönlichen normativen Einstellungen des Betreuers, seine
Bedenken vor Schadensersatzforderungen, gar strafrechtlicher Verfolgung verstärken
möglicherweise die Tendenz, sich - pflichtwidrig- am objektiven Wohl zu orientieren.
Denn häufig liegt das Problem doch gerade darin, dass mit der vom Betreuten gewünschten
Lebensweise durchaus eine gewisse Selbstschädigung verbunden ist; dies ist nicht nur bei
Betreuten so. Womöglich fühlt er sich gerade deshalb wohl!
Um zivil- oder strafrechtlich belangt zu werden, muss dem Betreuer jedoch
pflichtwidriges Verhalten nachgewiesen werden. Jedoch stärkt geltende Rechtsprechung
65
eindeutig die Orientierung am subjektiven Wohl, die i.S. des § 1901 Abs.3 BGB quasi einer
,,Anweisung" an den Betreuer entspricht.
66
Auch ERMANN/ HOLZHAUER stellen fest:
,,Der Wille des Betreuers ist bei der Entscheidung kaum von Bedeutung".
67
STOLZ und MEES-JACOBI
68
wagen eine Analogie zu Goethes Erlkönig: (... und bist du
nicht willig, so brauch` ich Gewalt) sowie Schillers Wallenstein (Des Menschen Wille, das ist
sein Glück), wobei letzteres Zitat als Handlungsnorm die Orientierung klar vorgibt.
Somit ist der Betreute eindeutig aus der Objektposition des Mündels herausgetreten.
In der Betonung des subjektiven Wohls, so GROHALL, ,, kommt das Menschenbild von der
Integrität der Einzelperson zum Ausdruck".
69
63
SEITZ .BtPrax 05/05, S.173
64
V: LOOZ. BtPrax 3/97 S.86
65
insbes. BayOLG
66
vgl. SEITZ (2006)S.64, Betrifft: Betreuung 8 2006
67
Ermann/ Holzhauer, §1901, Rn 19 S.70, in: Betrifft: Betreuung 8, S.70, Fußnote 30
68
BtPrax 3/94, S.83
69
GROHALL. BtPrax 1/ 02, S.14

Seite 29
Unter Würdigung sämtlicher Aspekte reduziert sich somit das Spannungsverhältnis zwischen
Wohl und Wille erheblich. Jedoch verbleibt dem Betreuer bei der Risikoabwägung im
Berufsalltag dennoch ein gewisses Spannungsfeld zwischen Wunsch und vermeintlichem
Wohl des Betreuten. Hier würdigte die Rechtsprechung bereits in einem Haftungsprozess die
Orientierung des Betreuers am subjektiven Wohl des Betroffenen und wies die Klage ab.
70
2.3.3.1. Allgemeines Lebensrisiko des Betreuten- Risiko für den Betreuer?
Aus der Praxis: Herr J., 42, ,,trocken" alkoholkrank, und leicht minderbegabt. Herr J. ist homosexuell
und von seiner Persönlichkeitsstruktur ein gutgläubiger, ,,naiver" Mensch. Von seinem
Weihnachtsgeld möchte er einige Tage alleine nach Amsterdam fahren. Aufgrund seiner intensiven
Internetrecherche vermutet seine Betreuerin Kontakte zum dortigen ,,Rotlichtmilieu" .
Herr D., 28 Jahre alt. Leidet unter einer chronifizierten Schizophrenie mit häufigen
selbstgefährdenden, mitunter auch fremdgefährdenden Durchbrüchen. Immer wieder muss er deshalb
auf der Akutstation behandelt werden. Dort hat er infolge psychotischen Wahnerlebens bereits
zweimal Feuer gelegt. Der Betroffene lebt in einer geschlossenen Einrichtung und hat stundenweise
Ausgang. Sein sehnlichster Wunsch ist es, mit dem Vater vier Wochen lang in sein Heimatland Türkei
zu fliegen, um dort nach 15 Jahren die Mutter wieder zu sehen. Auch hat er angekündigt, dort
,,unterzutauchen", um dort zu heiraten.
Der Vater verleugnet die Erkrankung des Sohnes; es ist unmöglich, ihm die Problematik transparent
zu machen und ihm die Fürsorge für den Betroffenen zu überlassen.
Wünsche des Betreuten sind mitunter mit Risiken verbunden. Dabei handelt es sich häufig um
,,normale Lebensrisiken", die für jedermann gelten. Hier neigen Betreuer dazu,
,,übervorsichtig" mit den Betreuten umgehen, möglicherweise auch aus den Bedenken heraus,
im Falle eines Schadens zivilrechtlich haftbar gemacht zu werden. Grundlage der Haftung ist
jedoch nicht der Eintritt eines Schadens, sondern das Vorliegen einer Pflichtverletzung,
etwa im Falle schuldhaften Unterlassens. Er kann und soll auch nicht jedes Lebensrisiko
abdecken.
Grundsätzlich bestehen stets zwei Alternativen mit ihrem je eigenen Risiko. Die denkbaren
Risiken und Sicherheitsüberlegungen sind in Beziehung zu setzen und abzuwägen i.S. einer
Nutzen-Risiko-Entscheidung.
71
Im Falle Herrn J. stand nach sorgfältiger Abwägung dessen
70
v
gl. DEINERT/LÜTGENS/MEIER 2004, S. 131
71
vgl. CREFELD/ LANDZERATH/ WESSELS. BtPrax 6/95, S.205

Seite 30
Wunsch, nach Amsterdam zu fahren, kein hinreichender Verhinderungsgrund im Wege. Die
Flugreise des Herrn D. wurde jedoch nicht realisiert.
Eine Rechtfertigung, dem Wunsch des Betreuten nicht zu entsprechen, könnte-
sein: Das Wohl des Betreuten ist konkret und voraussehbar gefährdet i.S. einer
Selbstschädigung bei Wünschen, deren Erfüllung- so STOLZ und MEES- JACOBI ,,die
gesamte Lebens- und Versorgungssituation des Betreuten merklich verschlechtern würden".
72
Wunscherfüllung wäre hier mit schwerem Schaden gleichzusetzen und ist deshalb nicht
geboten.
Themenrelevant ist die Auseinandersetzung mit möglichen Risiken auch deshalb, weil
Kriseninterventionen des Betreuers üblicherweise in eine Zeit der Dekompensation des
Betroffenen fallen. Die Abwägung für oder gegen eine Wunscherfüllung muss hier besonders
sorgfältig durchgeführt werden, um konkrete Risiken erkennen zu können und entsprechend
zu handeln.
Grundsätzlich sollte auch das eigene Absicherungsbedürfnis reflektiert werden.
Das Recht auf Eingehen eines Risikos gehört zum Leben, ist auch ,,Freiheitsrecht";
Selbstschädigung kann nicht pauschal verhindert werden. Wünschenswert wäre mehr
Gelassenheit im Umgang mit den Betroffenen, was eine sorgfältige Betreuungsführung nicht
ausschließt! Empfehlenswert ist eine sorgfältige Dokumentation über die Erfüllung bzw.
Nichterfüllung riskanter Wünsche des Betroffenen, was auch haftungsrechtlich relevant sein
kann. Ggf. kann auch Rücksprache mit dem Vormundschaftsgericht notwendig sein.
Abschließend noch eine ,,Arbeitshilfe" von HOFFMANN, die m.E. den Blick aufs
Wesentliche lenkt:
,,Die erste Frage, die sich jeder Betreuer zu stellen hat, ist nicht: ,,Entspricht der Wunsch des
Betreuten dessen Wohl?" ,(...) sondern: ,,Kann der Betreute diese Angelegenheit selbst
entscheiden?"
73
72
STOLZ/JACOBI. BtPrax 3/94, S.85
73
HOFFMANN. BtPrax 2/01, S.62

Seite 31
Im Falle der Frau K. konkretisierte sich die Abwägung der Wünsche und Risiken wie folgt:
Frau K. wurde acht Monate lang auf der geschlossenen Akutstation eines fachpsychiatrischen
Krankenhauses behandelt. In den ersten Wochen hatten die Ärzte um das Leben der Betroffenen
gebangt, da diese alles verweigerte und zeitweise künstlich ernährt werden musste. Für alle Beteiligten
war klar, dass Frau K. in ein Heim umziehen würde. Frau K. äußerte der Betreuerin gegenüber
vehement, dass sie wieder in ihr Haus einziehen wolle, vor allem wolle sie sich wieder selbst um ihre
Katze kümmern. Dies war der Arbeitsauftrag: Somit wurden, zunächst probeweise, alle erforderlichen
Hilfen incl. diverser ( in Nachbarschaftshilfe durchgeführter, kostenloser) Umbaumaßnahmen
installiert, um der Betroffenen ihren Lebensmittelpunkt zu erhalten. Das Risiko körperlicher
Unversehrtheit- im häuslichen Bereich war u.a. die Sturzgefahr größer- musste abgewogen werden
gegen das seelische Gleichgewicht und den klar geäußerten Wunsch von Frau K. Die Entscheidung
der Betreuerin stieß bei den Beteiligten auf krasses Unverständnis bis hin zu Feindseligkeit.
2.3.4. Vom Umgang mit der Macht
Eine gute Basis zur Zusammenarbeit ergibt sich, wenn - trotz des erheblichen Machtpotentials
des Betreuers- eine vertrauensvolle Beziehungsebene hergestellt werden kann. Dabei ist es
wichtig, sich die (beidseitige?) Abhängigkeitsproblematik der Beziehung bewusst zu machen.
Gleichberechtigt ist diese nie, kann sie nicht sein. Auch diese Asymmetrie muss verstanden
und ausgehalten werden. Da mir die Auseinandersetzung mit diesem Thema außerordentlich
relevant erscheint, wird der Themenkomplex Macht hier aus unterschiedlichen Perspektiven
beleuchtet.
Die Situation chronisch kranker Betreuter geht in der Regel einher mit
Persönlichkeitsveränderungen, kognitiver Beeinträchtigung und sozialer Not. Allein deshalb
ist der Betreuer von Beginn an in einer machtvolleren Position. Seine reifere Persönlichkeit,
seine akademische Ausbildung, seine wirtschaftliche Situation, sein Expertenstatus sowie sein
hoheitlicher Auftrag legen die Asymmetrie im Augenblick der ersten Begegnung fest. Zudem
verfügt der Betreuer über die Kompetenzen, an denen es dem Betroffenen typischerweise
mangelt: Aktivität, Kontaktfreudigkeit, Organisationstalent, Belastbarkeit, u.s.w.
Dem Betroffenen kann somit in der Interaktion seine eigene Unzulänglichkeit ,,gespiegelt"
werden- hier von einem symmetrischen Verhältnis auszugehen, wäre realitätsfern und naiv.
Eine bekannte Definition von Macht stammt von dem Soziologen MAX WEBER:

Seite 32
,,Macht bedeutet jede Chance innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch
gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht".
74
.
Hervorzuheben ist hier, dass WEBER Macht offensichtlich zunächst als Option versteht,
Macht handelnd durchzusetzen.
Dieses Entscheidungsrecht charakterisiert auf das typischste die Beziehungsebene zwischen
Betreuer und Betreutem. (,,Doppeltes Mandat") Selbst wenn die Beziehungsgestaltung
grundsätzlich in Form eines gleichberechtigten Aushandlungsprozesses geführt wird, so hat-
explizit im Rahmen von Krisenintervention- der Betreuer in der Regel ,,das letzte Wort",
übernimmt die Verantwortung, wenn der Betroffene hierzu nicht mehr in der Lage ist. Trifft
ggf. Entscheidungen auch gegen den ausdrücklichen (natürlichen) Willen des Betroffenen,
wenn es an Alternativen fehlt.
Um so zu handeln, bedarf es legitimierter Macht. Die hat der Betreuer, ,,kraft seines Amtes".
Dieses Entscheidungsrecht muss bereits im Vorfeld kritischer Situationen transparent
gemacht werden; zum einen deshalb, weil der Betreute grundsätzlich ein Recht darauf hat,
über
betreuungsrechtliche Handlungen umfassend aufgeklärt zu werden. Andererseits auch
darum, weil ein unerwarteter rigider Eingriff, womöglich in Grundrechte, das
Vertrauensverhältnis zum Betreuer irreparabel belasten kann.
Die Entscheidungsübernahme durch den Betreuer in kritischen Situationen kann für den
Betroffenen jedoch auch Entlastung bringen und ihm Sicherheit und Vertrauen geben.
Eine Analogie zur rechtlichen Struktur einer Eltern-Kind-Beziehung erscheint mir hier
angebracht.
Jedoch können, wo immer Menschen miteinander in Beziehung treten, schädigende
Abhängigkeits- und Missbrauchbeziehungen entstehen.
Die Soziale Arbeit ist hiervon nicht frei. Der Psychotherapeut SCHMIDTBAUER beschreibt
in seinem Standardwerk Die hilflosen Helfer den Machtmissbrauch als Fehlform des Helfens.
Die Bedürftigkeit des Klienten wird- häufig unbewusst- ausgenutzt zur Befriedigung eigener
narzisstischer Bedürfnisse. Die eigenen Machtposition wird kultiviert und der Klient in einer
abhängigen Position gehalten. Dies dient der Regulation des eigenen Selbstwertgefühls. Die
Helferpersönlichkeit benötigt permanente Zuwendung und Anerkennung, macht sich
emotional vom Klienten abhängig und beutet diesen somit für seine eigene Bedürftigkeit aus.
74
WEBER 1976, S.89

Seite 33
Der Schweizer Psychiater GUGGENBÜHL-CRAIG
75
spricht gar von einem Machtschatten,
den der professionelle Helfer möglicherweise in die Beziehung mit einbringt.
Er beschreibt Helfer, die ihre Klienten bekämpfen, sich gegen deren Vorstellungen und
Bedürfnisse durchsetzen- auch wenn die Klienten die Hilfe ablehnen. Weiter unterstellt
GUGGENBÜHL-CRAIG Machtgelüste: Nicht der Wunsch zu helfen, sondern den Klienten
zu beherrschen und zu entmachten kann hier Motivation des sozialarbeiterischen Handelns
sein.
Er fragt: Was treibt einen Menschen dazu, sich mit der dunklen Seite des Lebens zu befassen?
Was fasziniert ihn daran?
Es müssen Menschen von einer sehr speziellen psychologischen Struktur sein, so
GUGGENBÜHL- CRAIG, welche es sich zur Lebensaufgabe setzen, einer der großen
Polaritäten der Menschheit, nämlich sozial angepasst- sozial versagend, sozial erfolgreich-
sozial außenstehend, sozial gesund- sozial krank, sich tagtäglich auszusetzen."
Und er stellt fest: ,,Polaritäten faszinieren Angehörige helfender Berufe mehr als andere."
GUGGENBÜHL-CRAIG hebt die Bedeutung der eigenen Lebensgeschichte hervor sowie
deren Einfluss auf das ,,Helferverhalten", und leitet die Notwendigkeit ständiger Reflexion ab.
Dem schließe ich mich an. Unbedingt ist die persönliche Hilfsmotivation abzuklären, um ggf.
selbst therapeutische Begleitung wahrzunehmen und Fehlentwicklungen vorzubeugen.
Dennoch ist Macht nicht grundsätzlich negativ zu verstehen. Abgeleitet von dem griechischen
Wort ,,telos", also: Grenzen setzen, bedeutet es doch auch:
Kraft, Vermögen
76
, im Sinne des englischen ,,power": Kraft, Energie und, angelehnt an das
lateinische ,,potentia", auch Möglichkeit.
STAUB- BERNASCONI unterscheidet zwischen Begrenzungsmacht und
Behinderungsmacht.
77
75
GUGGENBÜHL-CRAIG, 1978, S.34
76
Brockhaus Enzyklopädie, 1990, S.672
77
vgl. STAUB- BERNASCONI, Arbeitsblatt zur Behinderungs- und Begrenzungemacht

Seite 34
Zusammenfassend ist eine Begrenzungsmacht durchaus als positive Machtausübung zu
werten, da handelnd etwas bewirkt werden kann- themenbezogen also zum Wohle des
Betroffenen. Abzulehnen ist hingegen die ,,Behinderungsmacht", die sich, um die
Ausführungen von STAUB-BERNASCONI auf die Betreuungstätigkeit zu übertragen,
schädigend auf den Klienten auswirkt und dem Selbstbestimmungsrecht des Betreuten
entgegensteht.
Fazit ist letztlich, die Asymmetrie einer Beziehung des Betreuers zum Betreuten,
insbesondere im Rahmen von akuten Kriseninterventionen, anzuerkennen.
Von wesentlicher Bedeutung ist es, gegebene Machtstrukturen sowie die eigene Macht
bewusst wahr zu nehmen und verantwortungsvoll zu reflektieren. Hierzu bieten sich
Supervisionen u.ä. Gremien zum reflektiven therapeutischen oder kollegialen Austausch an.
Nicht unerwähnt bleiben soll hier die Machtposition des Klienten.
Durch dessen oft fehlangepassten Verhaltensmechanismen und Widerstände erfährt auch der
Betreuer immer wieder die Grenzen seiner Möglichkeiten und fühlt sich ohnmächtig.
PLOG schildert den langen psychotherapeutischen Hilfeprozess eines Klienten, der kurz vor
seiner Entlassung einen schweren Rückfall erleidet; infolgedessen werden sämtliche
geleisteten Maßnahmen und Vorbereitungen für einen Neueinstieg ins Berufsleben hinfällig.
In der Konsequenz fühlen sich sämtliche am Hilfeprozess Beteiligten enttäuscht, frustriert-
und ohnmächtig.
78
Zusammenfassend bietet sich hier ein Zitat von POLKE an:
,,Die Zuweisung der alleinigen Verantwortung für das ,,Wohl und Weh" des Betreuten
verschafft dem/r BetreuerIn ein enorm hohes Machtpotential und gleichzeitig analog hierzu
eine große psychische Belastung."
79
2.3.5. Grundsatz
persönlicher
Betreuung i.V. mit 2. BtÄndG
Nach § 1897 (1) soll der Betreuer die Angelegenheiten des Betreuten nicht nur rechtlich
besorgen, sondern ihn in dem hierfür erforderlichen Umfang persönlich betreuen.
Wie bereits erörtert, ist es die unbedingte Pflicht des Betreuers, den Willen des Betroffenen zu
ermitteln, um die Umsetzung des subjektiven Wohls des Betreuten zu gewährleisten.
78
vgl. PLOG 2002, S.39
79
POLKE. BtPrax 3/ 04, M9

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783836622752
DOI
10.3239/9783836622752
Dateigröße
712 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Ludwigshafen am Rhein – Soziale Arbeit
Erscheinungsdatum
2008 (November)
Note
1,0
Schlagworte
rechtliche betreuung krisenintervention psychische erkrankung überschuldung existenzsicherung
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Titel: Krisenintervention und Existenzsicherung im Rahmen rechtlicher Betreuung
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