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Gesundheitsbezogene Selbsthilfe

Nutzen für die Gesundheitsentstehung

©2008 Diplomarbeit 78 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
‘Wer stark, gesund und jung bleiben will, sei mäßig, übe den Körper, atme reine Luft und heile sein Weh eher durch Fasten als durch Medikamente’, Hippokrates.
Diese Erkenntnis aus der Antike macht deutlich, dass Krankheiten nicht nur durch Medikamente behandelt und geheilt werden können, sondern dass alternative Methoden auch damals schon bekannt waren und praktiziert wurden. Die Zahl von alternativen Methoden zum Erreichen von Gesundheit ist unüberschaubar, genauso unübersichtlich wie die gesundheitliche Versorgungsstruktur in Deutschland. Auf Grund dieser sehr differenzierten Angebote und Möglichkeiten zur Behandlung von Krankheiten finden sich immer mehr Menschen in Deutschland in sogenannten Selbsthilfegruppen zusammen, um Kompetenzen im Umgang mit einer Krankheit zu erlangen und um in Austausch mit anderen an gleicher Krankheit Erkrankter zu treten.
In dieser Arbeit werden Selbsthilfe und Selbsthilfestrukturen in Deutschland beschrieben. Danach wird explizit auf die gesundheitsbezogene Selbsthilfe eingegangen und anschließend in drei Interviews dargestellt, welche Wirkung Selbsthilfe auf die Gesundheitsentstehung tatsächlich hat. Besonderes Augenmerk wird auf die Beschreibung der Stärkung von Resilienzfaktoren gelegt. Verdeutlicht wird aber auch, welche Faktoren die Entwicklung von Resilienz hemmen. Das Konzept der Resilienz ist ein Folgekonzept des Salutogenesekonzeptes von Aaron Antonovsky und beschreibt umfassender und differenzierter Prozesse der Gesundheitsentstehung. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit liegt darin, durch die Erbringung des Beweises der Effekte für die Gesundheitsentstehung der Selbsthilfegruppenarbeit bei den Teilnehmern deutlich zu machen, dass ein hohes ungenutztes Potenzial in der Bevölkerung vorhanden ist, das geweckt und unterstützt werden sollte. Eine informierte Bevölkerung ist eine kompetentere und gesündere Bevölkerung und würde dem Gesundheitswesen weniger Geld kosten. Therapien können zielgenauer eingesetzt werden und haben eine größere Wirkung bei aufgeklärten Patienten.
In Deutschland existieren ca. 70.000 Selbsthilfegruppen. Sie bringen dem Staat durch ihre kostenlose Arbeit einen hohen wirtschaftlichen Nutzen. In einer Umfrage von Janßen wird festgestellt, dass sich ein Nutzen nur schwer quantifizieren lässt, weil oft subjektive Einschätzungen zugrunde liegen. Janßen bezieht sich auf das Bundesmodellprojekt ‘Informations- und Unterstützungsstellen für Selbsthilfegruppen’. Ein […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Begründung der Themenauswahl
1.2 Wissenschaftliche Fragestellung
1.3 Hypothese
1.4. Forschungsmethodisches Vorgehen

2. Die Selbsthilfebewegung in Deutschland
2.1. Historische Entwicklung in Ost- und Westdeutschland
2.2. Allgemeine Ziele der Selbsthilfe
2.3. Selbsthilfebereiche
2.3.1. Gesundheitsbezogene Selbsthilfe
2.3.2. Soziale Selbsthilfe
2.4. Handlungsformen von Selbsthilfegruppen
2.5. Selbsthilfeunterstützung

3. Gesundheitsbezogene Selbsthilfegruppen
3.1. Vermittlung in Selbsthilfegruppen und Gruppenbildung
3.1.1. Das Klärungsgespräch
3.1.2. Gruppenregeln
3.1.3. Arbeitsweise von Selbsthilfegruppen
3.2. Gesundheitserziehung und therapeutisches Verhalten in Selbsthilfegruppen
3.2.1. Therapeutisches Verhalten
3.2.2 Gesundheitserziehung in Selbsthilfegruppen
3.3 Bedeutung von Selbsthilfegruppenarbeit für Gesundheitsentstehung

4. Resilienz und Selbsthilfe
4.1. Resilienz und grundlegende Begriffe
4.2. Das Konzept der Resilienz
4.3. Resilienzentwicklung im Rahmen der Selbsthilfe

5. Interviews mit Selbsthilfegruppenmitgliedern
5.1. Methodisches Vorgehen
5.2. Durchführung der Interviews
5.3. Transkription der Interviews
5.4. Datenauswertung
5.5. Interview Constantin W
5.6. Interview Angeliki O
5.7. Interview Brigitte B

6. Zusammenfassung

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Wer stark, gesund und jung bleiben will, sei mäßig, übe den Körper, atme reine Luft und heile sein Weh eher durch Fasten als durch Medikamente.“

Hippokrates

Diese Erkenntnis aus der Antike macht deutlich, dass Krankheiten nicht nur durch Medikamente behandelt und geheilt werden können, sondern dass alternative Methoden auch damals schon bekannt waren und praktiziert wurden. Die Zahl von alternativen Methoden zum Erreichen von Gesundheit ist unüberschaubar, genauso unübersichtlich wie die gesundheitliche Versorgungsstruktur in Deutschland. Auf Grund dieser sehr differenzierten Angebote und Möglichkeiten zur Behandlung von Krankheiten finden sich immer mehr Menschen in Deutschland in sogenannten Selbsthilfegruppen zusammen, um Kompetenzen im Umgang mit einer Krankheit zu erlangen und um in Austausch mit anderen an gleicher Krankheit Erkrankter zu treten.

In dieser Arbeit werden Selbsthilfe und Selbsthilfestrukturen in Deutschland beschrieben. Danach wird explizit auf die gesundheitsbezogene Selbsthilfe eingegangen und anschließend in drei Interviews dargestellt, welche Wirkung Selbsthilfe auf die Gesundheitsentstehung tatsächlich hat. Besonderes Augenmerk wird auf die Beschreibung der Stärkung von Resilienzfaktoren gelegt. Verdeutlicht wird aber auch, welche Faktoren die Entwicklung von Resilienz hemmen. Das Konzept der Resilienz ist ein Folgekonzept des Salutogenesekonzeptes von Aaron Antonovsky (1997) und beschreibt umfassender und differenzierter Prozesse der Gesundheitsentstehung. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit liegt darin, durch die Erbringung des Beweises der Effekte für die Gesundheitsentstehung der Selbsthilfegruppenarbeit bei den Teilnehmern deutlich zu machen, dass ein hohes ungenutztes Potenzial in der Bevölkerung vorhanden ist, das geweckt und unterstützt werden sollte. Eine informierte Bevölkerung ist eine kompetentere und gesündere Bevölkerung und würde dem Gesundheitswesen weniger Geld kosten. Therapien können zielgenauer eingesetzt werden und haben eine größere Wirkung bei aufgeklärten Patienten.

1.1 Begründung der Themenauswahl

In Deutschland existieren ca. 70.000 Selbsthilfegruppen (vgl. Bobzien/Hundertmark-Mayser/Thiel 2006, S. 15). Sie bringen dem Staat durch ihre kostenlose Arbeit einen hohen wirtschaftlichen Nutzen. In einer Umfrage von Janßen (1991) wird festgestellt, dass sich ein Nutzen nur schwer quantifizieren lässt, weil oft subjektive Einschätzungen zugrunde liegen. Janßen (1991) bezieht sich auf das Bundesmodellprojekt „Informations- und Unterstützungsstellen für Selbsthilfegruppen“. Ein Zwischenbericht von Braun/Greiwe (1989) stellt fest, dass die Arbeit der Selbsthilfegruppen langfristig zu kostenreduzierenden Wirkungen in Sektoren des Sozial- und Gesundheitssystems führt (vgl. Janßen 1991, S 6f).

In dieser Arbeit soll darauf eingegangen werden, dass die Arbeit von Selbsthilfegruppen positive Effekte für Gesundheitsentstehung erbringt, und daraus ein großer wirtschaftlicher Nutzen entspringt. Der Zusammenhang von Selbsthilfe, Salutogenese und Resilienz wird verdeutlicht.

1.2 Wissenschaftliche Fragestellung

Wie in der einschlägigen Literatur immer wieder beschrieben, sagt man der Selbsthilfe therapeutische und heilende Effekte nach. Der Nutzen von Selbsthilfegruppen wurde bisher hauptsächlich auf finanzielle Mittel beschränkt. Die Arbeit will explizit auf die Wirkung von gesundheitsbezogenen Selbsthilfegruppen und auf die Entstehung von Gesundheit eingehen. Im Zentrum steht die resilienzstärkende Bedeutung der Selbsthilfe. Die Voraussetzungen, die jeder Mensch in sich trägt, und die positiven Voraussetzungen, die durch Selbsthilfearbeit gestärkt werden, sind der besondere Forschungsansatz dieser Arbeit. Aus diesem Zusammenhang ergeben sich folgende Fragen:

- Wie wird ein Mensch mehr gesund und weniger krank?
- Welche Faktoren spielen dabei eine Rolle?
- Welchen Anteil haben Selbsthilfeaktivitäten dabei?
- Was hält Menschen gesund und was macht sie stark gegenüber den Widrigkeiten und Schicksalsschlägen des Lebens?
- Erreichen Menschen mehr Gesundheit durch Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe?
- Fördert die Unterstützung von Selbsthilfeaktivitäten so, dass mehr Gesundheit entsteht bzw. entstehen kann?

1.3 Hypothese

Es ist anzunehmen, dass die Mitarbeit in Selbsthilfegruppen resilienzstärkende Funktion hat, die sich positiv auf das Befinden auswirkt. Weiterhin ist anzunehmen, dass Menschen in Selbsthilfegruppen Strategien entwickeln können, um schwierige Lebenssituationen zu bewältigen. Wenn einschneidende Erlebnisse im Leben stattgefunden haben und Selbsthilfegruppenmitarbeit resilienzstärkende Funktion hat, die sich positiv auf das Befinden auswirkt, und Menschen Strategien zur Bewältigung des Lebensereignisses entwickeln können, ist anzunehmen, dass dadurch Gesundheit entsteht. Menschen werden dann eher gesund und weniger krank. Wenn Menschen durch Mitarbeit in Selbsthilfegruppen mehr gesund bleiben, ist daraus auch ein hoher wirtschaftlicher Nutzen ableitbar.

1.4 Forschungsmethodisches Vorgehen

Die vorliegende Arbeit ist eine theoriegeleitete Untersuchung zur Gesundheitsentstehung und zum Gesundheitsverhalten von Menschen, die in Selbsthilfegruppen versuchen, ihre Resilienz zu stärken. Der Fokus liegt auf dem Zusammenhang von Selbsthilfe, Salutogenese und Resilienz. In drei Interviews mit Selbsthilfegruppenmitgliedern wird erfragt, wie es den Probanden möglich war, trotz widriger Lebensumstände ihre Gesundheit zu erhalten, sowie ihr Leben selbstständig und aktiv zu gestalten. Insbesondere die resilienzfördernden Faktoren sollen empirisch ermittelt und mit der Theorie vergleichend diskutiert werden. Dazu wurde das Interviewverfahren mit offener Frageform genutzt.

Nach Mayring spielt das Gespräch eine wichtige Rolle: „Subjektive Bedeutungen lassen sich nur schwer aus Beobachtungen ableiten. Man muss hier die Subjekte selbst zur Sprache kommen lassen. Sie selbst sind zunächst die Experten für ihre eigenen Bedeutungsgehalte“ (Mayring 2002, S. 45). Den entscheidenden Vorteil eines offenen Interviews gegenüber einem standardisierten Interview sieht Flick (2003) darin, dass keine festgelegten Antwortvorgaben zu den Fragen existieren und die Befragten ihre subjektiven Erfahrungen und Sichtweisen frei äußern können. Das Vorgehen eines leitfadengestützten Interviews bietet sich an, weil durch den Leitfaden eine teilweise Standardisierung erscheint, die die Vergleichbarkeit mehrerer Interviews ermöglicht. Charakteristisch dieser Interviews ist nach Flick (2003), dass mehr oder minder offen formulierte Fragen in Form eines Leitfadens in die Interviewsituation „mitgebracht“ werden. Die Interviewpersonen sollen auf diese Fragen frei antworten. Im Verlauf des Interviews soll und kann der/die Forscher/in entscheiden, wann und in welcher Reihenfolge er/sie welche Fragen stellt, ob eine oder mehrere Fragen schon beantwortet wurden und weggelassen werden können. Es muss entschieden werden, ob und wann er detaillierter nachfragen und ausholende Ausführungen des Interviewten unterstützen sollte (vgl. Mayring 2002, S. 49ff).

Bereits im Jahr 1982 hat Witzel die Bezeichnung ‚problemzentriertes Interview’ eingeführt. Er verweist damit auf den Umstand, dass es sich um ein offenes Interviewverfahren handelt, als der Befragte frei formulieren und seine Wirklichkeitsdeutungen darstellen kann, es jedoch zentriert ist „auf eine bestimmte Problemstellung, die der Interviewer einführt, auf die er immer wieder zurückkommt" (Mayring 2002, S. 67). Die Offenheit dieses Verfahrens, das er als „dezidiert qualitatives“ bezeichnet (Mayring 2002, S. 68) soll gewährleisten, dass die Befragten ihre Deutungsmuster und Relevanzsetzungen zur Geltung bringen können. Bei der Problemstellung, auf die das Interview bezogen ist, soll es sich um ein gesellschaftliches Phänomen handeln, mit dem sich der Forschende bereits vor der Interviewführung theoretisch auseinander gesetzt hat (vgl. Witzel 1982, S. 72). Auf der Grundlage der theoretischen Beschäftigung mit dem Problem wird ein Interviewleitfaden erarbeitet, der die einzelnen Themenschwerpunkte des Interviews enthält. Im hier vorliegenden Fall handelt es sich um die resilienzstärkende Wirkung von Selbsthilfe.

Die Instrumente des problemzentrierten Interviews sind: 1. ein Kurzfragebogen, der die biographischen Daten der Interviewperson aufweist. Er ermöglicht einen günstigen Einstieg in das Thema und ein Heraushalten der Fragen aus dem Interview, damit nicht ein Frage-Antwort-Schema aufgebaut wird. 2. eine Tonbandaufzeichnung soll dazu dienen, den gesamten Gesprächskontext und die Rolle des Interviewers zu erfassen. 3. ein Leitfaden organisiert das Hintergrundwissen des Forschers thematisch. 4. ein Postskriptum wird im Anschluss an jedes Interview angefertigt. Es enthält Eindrücke, die durch eine Tonbandaufzeichnung nicht erfasst werden können, wie die Situation der Kontaktaufnahme, eigene Zweifel beim Nachfragen, eigene Vermutungen, formulierte Erwartungen, ein Gespräch nach oder vor dem Interview, nonverbale Reaktionen und Einschätzung des Interviewablaufs.

Den Verlauf des Interviews unterteilt Witzel in vier erzähl- und verständnisgenerierende Kommunikationsstrategien. Das sind Gesprächseinstieg, allgemeine Sondierung, spezifische Sondierung und Ad-hoc-Fragen. Der Gesprächseinstieg soll eine vorformulierte Einleitungsfrage sein. Diese Frage ist sehr offen formuliert, damit sie auf die Interviewperson „wie eine leere Seite“ wirkt (Witzel 2000, S. 5). Es soll eine erzählende (narrative) Gesprächsstruktur aufgebaut werden, wobei aber ein problemzentrierter Rahmen abgesteckt werden soll. Bei der allgemeinen Sondierung handelt es sich um die Spezifizierung einzelner Umstände und Zusammenhänge, welche die Interviewperson angesprochen hat. Die spezifische Sondierung hat eine verständnisgenerierende Funktion. Sie dient dazu, dass der Interviewte dazu veranlasst wird, interpretationsfähige Präzisierungen zu machen. Zu der spezifischen Sondierung gehören Zurückspiegelung, Verständnisfragen und Konfrontation. Ad-hoc-Fragen werden notwendig, wenn keine ausreichenden Informationen über alle relevanten Problembereiche des Leitfadens vorliegen (vgl. Witzel 2000, S. 5f).

Die Bearbeitung der Interviews erfolgte in Form des „Zirkulären Dekonstruierens“ nach Jaeggi/Faas/Mruck (1998). Der Ausgangspunkt dieses Vorgehens ist ein Text, um den herum man „sich in kreativen Gedankenschleifen intuitions- und theoriegeleitet“ bewegt und ihn damit zirkulär und rekursiv ’dekonstruiert’. Anschließend wird der Text so zusammengesetzt, dass implizite Sinngehalte sichtbar werden können (vgl. Jaeggi/Faas/Mruck 1998, S. 4f). Wegen der Komplexität des Datenmaterials ist es schwer, ein vorher entwickeltes Kategoriensystem anzulegen oder sich durch eine Wort-für-Wort-, Satz-für-Satz-, Sinnheit-für-Sinnheit-Analyse durchzuarbeiten. Daher schlagen die Autoren vor, das Material in einem „Sechserschritt“ zu strukturieren (Jaeggi/Faas/Mruck 1998, S. 7). Der erste Schritt ist die Formulierung eines Mottos für den Text. Ein Motto kann entweder ein treffender Satz aus dem Text oder ein subjektiv prägnanter Satz sein, der einen Eindruck aus dem Text zusammenfasst. Der zweite Schritt ist die zusammenfassende Nacherzählung. Sie soll nicht mehr als zwei Seiten lang sein und das Wesentlichste des Gesprächs enthalten (vgl. Jaeggi/Faas/Mruck 1998, S. 8). Der dritte Schritt ist die Erstellung einer Stichwortliste. Diese Stichwortliste soll aus allen auffälligen, gehaltvollen Worten oder Begriffen des Textes bestehen, die chronologisch hintereinander aufgeleistet werden. Der vierte Schritt ist die Findung eines Themenkatalogs. Hier werden aus der Stichwortliste angesprochene Themenbereiche extrahiert. Oberbegriffe werden für gleichartige Sinnzusammenhänge oder Aussprüche gesucht (vgl. Jaeggi/Faas/Mruck 1998, S. 9f). Der fünfte Schritt beinhaltet die Paraphrasierung. Sie unterscheidet sich von der Nacherzählung darin, dass hier die Subjektivität und die Intuition durch die gedankliche Vorstrukturierung ergänzt werden, die im Themenkatalog manifestiert ist. Die Themen werden entweder aus dem Katalog zu Metathemen zusammengefasst oder es wird eines der Themen in den Mittelpunkt gestellt (vgl. Jaeggi/Faas/Mruck 1998, S. 12). Im sechsten Schritt werden die zentralen interviewspezifischen Kategorien erstellt. Hier wird versucht, „kleine Theoriebestandteile“ auszuarbeiten. Die kleinen Theoriebestandteile werden so bezeichnet, „wenn auch andere theoretische Entscheidungen zu diesem Punkt denkbar und plausibel sind“. In einem weiteren Schritt werden sie dann mit den anderen Interviews verglichen. Die zentralen Kategorien dienen also dem Vergleichbarmachen verschiedener Interviews (vgl. Jaeggi/Faas/Mruck 1998, S. 13f).

2. Die Selbsthilfebewegung in Deutschland

2.1 Historische Entwicklung in Ost- und Westdeutschland

Selbsthilfe gab es bereits Mitte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Industrialisierung und dem Massenelend der Arbeiterschaft. Sie hatte das Anliegen, unter anderem zur Sicherung von gesundheitlicher Versorgung entstandenen Selbsthilfeassoziationen der Arbeiter beizutragen. Dies waren z. B. Arbeitervereine, Krankenhilfskassen, Arbeiter-, Selbsthilfekassen und Gewerkschaften (vgl. Borgetto 2004, S. 27). Beachtliche Selbsthilfeaktivitäten waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verzeichnen. Es waren Produktions- und Konsumgenossenschaften, Hilfs-, Kranken- und Sterbekassen, Kreditgemeinschaften, Betreuungs- und Pflegevereinigungen sowie Lesegesellschaften und Bildungsvereine sind Selbsthilfeaktivitäten, die die Folgen der Industrialisierung solidarisch abwehren und bessere gesellschaftliche Bedingungen herbeiführen sollten. In der Folgezeit entwickelten sich viele dieser Initiativen zu festen, teilweise staatlichen Institutionen und Programmen, die nach Aufgabe, Struktur und Träger wesentlicher Bestandteil sozialpolitischer Klassenauseinandersetzungen waren. Dabei ist als Tendenz zu beobachten, dass mit steigender Verrechtlichung, Bürokratisierung und Professionalisierung die Verfügungsgewalt der Arbeitskräfte über die Reproduktionsrisiken abgenommen hat. Soziale Sicherheit gab es um den Preis der gesellschaftlichen Entmündigung (vgl. Müller 1993, S. 20).

Die neue Selbsthilfebewegung bahnte sich in den 1960er Jahren an. Politisch gesehen waren die 1960er Jahre eine „Zwischenzeit“. Man nannte sie die „Ruhe vor dem Sturm“ (Hering/Münchmeier 2000, S. 223), die gekennzeichnet war von zahlreichen Vorgängen, die die Bevölkerung Deutschlands gegen Ende der 1960er Jahre in Bewegung brachte. Die Verabschiedung der Notstandsgesetze 1960, der Beschluss des Anwerbabkommens für Gastarbeiter, 1961 die Verabschiedung des Bundessozialhilfegesetzes, der Bau der Berliner Mauer am 13.08.19961 sind gravierende Belege, die diese unruhigen Zeiten charakterisieren. Im Jahr 1964 löst die Parole vom Bildungsnotstand u.a. Bildungsreformen im Gymnasial- und Hochschulbereich aus. Die Zahl der Studenten wuchs. Aber auch Krisen kündigen sich an. Spätestens als 1967 zum ersten Mal in der Geschichte der BRD das Wirtschaftswachstum rückläufig ist und Proteste an den Hochschulen gegen unzureichende Studienbedingungen stattfinden ist klar, dass umfassende Veränderungen in Gang gesetzt werden müssen (vgl. Hering/Münchmeier 2000, S. 223f).

Der Modernisierungsdruck in der Gesellschaft stellte sich in zahlreichen Demokratiebewegungen dar. Dazu gehören die Studentenbewegung, die Rüstungsgegner, die Ostermarschierer, die Frauenbewegung, die Friedens- und Ökologiebewegung und auch die Selbsthilfe- und Alternativbewegung. Diese Bewegungen gestalten die Geschichte Deutschlands nachhaltig (vgl. Hering/Münchmeier 2000, S 227). Dieses verstärkte Partizipationsbegehren ist von folgenden Merkmalen gekennzeichnet:

- bewusste Orientierung am Arbeitsprinzip der Kleingruppe,
- Betonung der Autonomie der Gruppe in der Festlegung von Zielen und Arbeitsweisen,
- Betonung des Laienelements bzw. Ablehnung der Expertendominanz (Ferber von 1995, S. XV).

Bereits in den 1950er Jahren gab es Selbsthilfegruppen der „Anonymen Alkoholiker“ und die „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“. In den 1960er und 1970er Jahren kamen Elterninitiativen zur Frühförderung sowie lokale Aktionen für psychisch Kranke, psychosoziale Selbsthilfegruppen und eine Vielzahl von Bürgerinitiativen im alternativen und kommunalpolitischen Bereich hinzu. Selbsthilfegruppen und Initiativen entstanden als Kritik am Gesellschaftssystem, das unangemessen, administrativ soziale Probleme bearbeitet. Die gesundheitsbezogene Selbsthilfebewegung entstand vor dem Hintergrund der Unübersichtlichkeit des Versorgungssystems und als Ausdruck dessen, dass Patienten ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen möchten und autonom und unabhängig selbst entscheiden wollen, zu welchem Arzt sie gehen oder welche Therapie die Beste ist bzw. sie wollen einen kompetenten Umgang mit Verordnungen und Therapieabläufen erreichen. Die Selbsthilfegruppen und Initiativen wurden anfangs häufig nur als Zweitorganisation anerkannt. Später wurden sie in ihrer eigenständigen Bedeutung gewürdigt.

Westdeutschland

Die Ende der 1960er Jahre aufbrechende Selbsthilfebewegung entwickelte sich im Westen Deutschlands (BRD) zügig. Es entstanden Elterninitiativen, Selbsthilfegruppen für psychisch Kranke, psychosoziale Selbsthilfegruppen. Später auch Selbsthilfegruppen zu vielen Krankheitsbildern und auch zur Bearbeitung von sozialen Problemlagen (z. B. Arbeitslosigkeit). Die Selbsthilfebewegung gewann in den 1970er und 1980er Jahren an sozialpolitischer Bedeutung. Merkmale dafür sind die zunehmende Kritik am Gesundheitssystem und die Entstehung des sogenannten Laiensystems im Gesundheitswesen. Hinzu kam die Bildung einer Vielzahl von Organisationen Behinderter und chronisch kranker Menschen. Auch die Internationalisierung des Themas vor dem Hintergrund von Erfahrungen aus den USA sowie Großbritannien und den Niederlanden forcierte den Aufschwung der Selbsthilfebewegung in Westdeutschland. Die Infrastruktur der Selbsthilfebewegung besteht Anfang der 1990er Jahre aus Verbänden, Organisationen, Gruppen und Selbsthilfekontaktstellen. Die Selbsthilfebewegung ist auf politischer Ebene präsent und vertritt Konsumenteninteressen und leistet zugleich praktische Selbsthilfe. Zukunftsperspektiven der Selbsthilfe stehen mit der Weiterentwicklung der Gesundheits- und Sozialpolitik in Verbindung. Selbsthilfe stellt einen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Machtfaktor dar.

Ostdeutschland

In Ostdeutschland entwickelte sich die Selbsthilfe unter anderen Bedingungen. In der einschlägigen Literatur (vgl. Thiel 2000, S. 1; Stein 1993, S. 150) liest man oft, dass Selbsthilfe zu DDR-Zeiten nicht erlaubt war und in gesellschaftlichen Nischen unter anderem Namen stattfand. Andere Autoren (vgl. Schulz 1990, S. 8ff; Brune 1992, S. 7ff) berichten von mehr oder weniger funktionierenden Strukturen. Diese können keinesfalls mit denen in Westdeutschland verglichen werden. Die Voraussetzungen dazu waren sehr unterschiedlich. Gleichzeitig hatte die Bevölkerung einen anderen Blickwinkel auf solche Aktivitäten. Zumeist trafen sich Gruppen unter dem Dach der Kirche, meistens mit sozialen Anliegen als Ausgangspunkt. In der DDR wurde Selbsthilfe als nachbarschaftliche gegenseitige Hilfe verstanden. Es gab einige, dem Konzept der Selbsthilfe ähnliche Organisationsformen. Dazu gehörten z. B. der Deutsche Verband für Versehrtensport der DDR, der Gehörlosen und Schwerhörigenverband, der Blinden- und Sehbehindertenverband.

Im Bereich der Behandlung von psychischen Erkrankungen gab es die sogenannten Patientenclubs bzw. Therapiegruppen (vgl. Brune 1992, S. 9ff). Die Art von Selbsthilfegruppen, wie man sie im Westen kannte, gab es in der DDR nicht. Brune (1992) schreibt sogar von einem Verbot von Selbsthilfegruppen. Die Arbeit der freien Gruppen, die sich im Rahmen der Kirche trafen, war jedoch sehr eingeschränkt und gestaltete sich unter der Angst und Befürchtungen vor Repressionen. In den freien Gruppen und noch mehr in den Therapiegruppen herrschte die Angst vor der Stasi - Bespitzelung. Somit konnte man Anfang der 1990er Jahre davon ausgehen, dass ostdeutsche Menschen Schwierigkeiten hatten, sich Selbsthilfegruppen der westlichen Art anzuschließen und über ihre persönlichen Angelegenheiten zu reden. Das zwangsweise erlernte Misstrauen behinderte sie.

Dass die Selbsthilfebewegung der westlichen Bundesländer Anfang der 1990er Jahre mit ihren Strukturen aus Verbänden, Organisationen, Gruppen und Selbsthilfekontaktstellen, auf politischer Ebene präsent ist und selbstbewusst ihre Interessen vertritt, mussten den Menschen im Osten nach der Wende erst bewusst werden. Gleichsam gab es keine Unterstützungsstrukturen. Im vereinten Deutschland stand das Motto „Weiterentwicklung der Gesundheits- und Sozialpolitik“ auf der politischen Tagesordnung. Der Selbsthilfegedanke wurde verbreitet, damit sich Selbsthilfegruppen auch in den neuen Bundesländern gründen und kontinuierliche Arbeit leisten konnten. Der wirtschaftliche, politische und kulturelle Machtfaktor der Selbsthilfe kam erst nach und nach zum Wirken (vgl. Brune 1992, S. 9ff). In diesem Sinne war die Entwicklung im Vergleich zum Westen umgekehrt. Während im Westen die Selbsthilfekontaktstellen auf Grund der wachsenden Zahl an Selbsthilfegruppen entstanden, wurden im Osten nach der Wende Selbsthilfekontaktstellen eingerichtet, und die Selbsthilfebewegung entstand aus der Selbsthilfeunterstützung heraus.

2.2 Allgemeine Ziele der Selbsthilfe

Die sogenannte neue Selbsthilfebewegung, die es seit Ende der 1960er Jahre gibt, wird in der Literatur (vgl. Braun 1995. S. 5ff; Matzat 2003, S. 290; Chasseé 2004, S. 433ff) als eine spezielle Form von bürgerschaftlichem Engagement beschrieben. Sie findet außerhalb des familiären Kontextes statt. Die Selbsthilfegruppen arbeiten selbstorganisiert. Es treffen sich Menschen mit gleicher Problemlage aus Selbstbetroffenheit, um sich gegenseitig zu stützen, sich selbst und auch anderen zu helfen. In diesem Sinne ist die Teilhabe an einer Selbsthilfegruppe nicht nur auf die Selbstbetroffenheit bezogen, sondern beinhaltet auch Fremdhilfe. Selbsthilfegruppen sind traditionelle Bewältigungsformen von Krankheit, Behinderung in psychosozialen Situationen und sozialen Problemlagen. Entscheidendes Merkmal von Selbsthilfegruppen ist, dass sie in eigener Sache handeln. Sie handeln selbständig und selbstverantwortlich in eigener Bedrängnis – mit dem Ziel, die eigene Not zu beheben (vgl. Moeller 1996, S. 96). Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V. (DAG – SHG e. V.) definiert Selbsthilfe so:

„Selbsthilfegruppen sind freiwillige, meist lose Zusammenschlüsse von Menschen, deren Aktivitäten sich auf die gemeinsame Bewältigung von Krankheiten, psychischen oder sozialen Problemen richten, von denen sie – entweder selber oder als Angehörige – betroffen sind.

Sie wollen mit ihrer Arbeit keinen Gewinn erwirtschaften. Ihr Ziel ist eine Veränderung ihrer persönlichen Lebensumstände und häufig auch ein Hineinwirken in ihr soziales und politisches Umfeld.

In der regelmäßigen, oft wöchentlichen Gruppenarbeit betonen sie Authentizität, Gleichberechtigung, gemeinsames Gespräch und gegenseitige Hilfe. Die Gruppe ist dabei ein Mittel, die äußere (soziale, gesellschaftliche) und die innere (persönliche, seelische) Isolation aufzuheben.

Die Ziele der Selbsthilfegruppen richten sich vor allem auf ihre Mitglieder und nicht auf Außenstehende; darin unterscheiden sie sich von anderen Formen des Bürgerengagements. Selbsthilfegruppen werden nicht von professionellen Helfern (z. B. Ärtzt/innen, Therapeut/innen, anderen Medizin- oder Sozialberufen) geleitet; manche ziehen jedoch gelegentlich Sachverständige zu bestimmten Fragestellungen hinzu“ (DAG-SHG e.V. 1987, S. 5; zit. nach Bobzien/Hundertmark-Mayser/Thiel 2006, S. 21).

In dieser Definition wird deutlich, dass Betroffene aus eigenem Entschluss in eine Selbsthilfegruppe gehen. Sie haben das Ziel, für sich eine Verbesserung der Lebenssituation zu erreichen und je nach Charakter der Selbsthilfegruppen auch nach außen zu wirken und die Politik zu beeinflussen, die ihrerseits gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung verbessern soll. Sie arbeiten in erster Linie auf sich selbst bezogen und entwickeln auch Handlungsstrategien nach außen, um Veränderungen herbei zu führen. Offenheit und Engagement sowie der eigene Wille und Kreativität sind wesentliche Faktoren für das positive Wirken für die Selbsthilfegruppenteilnehmer. Es gibt verschiedene Formen von Selbsthilfegruppen. Meistens jedoch sind es informelle Zusammenschlüsse ohne spezielle Rechtsform. Die Teilnahme an einer SHG ist kostenlos (vgl. Bobzien/Hundertmark-Mayser/Thiel 2006, S. 21).

Das Ziel aller Selbsthilfegruppen ist, sich in der Gemeinschaft und im Austausch mit Gleichbetroffenen zu helfen. Die Arbeitsziele und Aufgaben werden von den Gruppenmitgliedern gemeinsam festgelegt. Wenn neue Selbsthilfegruppenmitglieder hinzukommen oder aus anderen Gründen Änderungen notwendig sind, ist eine Zieländerung notwendig. Dies wird dann in der Gruppe gemeinsam neu bestimmt. Durch die Möglichkeit der Bewältigung von sozialen, seelischen und körperlichen bzw. gesundheitlichen Problemen werden die Mitglieder oft selbstbewusster und selbständiger. Sie werden in die Lage versetzt, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Durch die Teilnahme an Selbsthilfegruppen gelangen Betroffene zu einer besseren Lebensqualität. Durch die Erschließung von Kompetenzen in Bezug auf die Problemlagen können die Betroffenen mit den Ärzten/innen und dem gesamten gesundheitlichen Versorgungssystem besser kooperieren. In diesem Sinne ist Selbsthilfe eine wertvolle Ergänzung des professionellen Versorgungssystems. Die Betroffenen stärken sich selbst durch Teilnahme an eine Selbsthilfegruppe für einen zu gelingenden Therapieprozess.

2.3 Selbsthilfebereiche

Selbsthilfegruppen organisieren sich in zwei zentralen Bereichen der Selbsthilfe. Im gesundheitlichen und sozialen Bereich der Selbsthilfe finden sich jeweils 5 Teilbereiche wieder.

Gesundheitlicher Bereich: „psychosoziale Probleme“, „Suchtabhängigkeit“, “chronische Erkrankungen“ und „Behinderungen“.

Sozialer Bereich: „Eltern-Kind-Selbsthilfe“ bzw. familienbezogene Selbsthilfe, „Frauenselbsthilfe“, „Selbsthilfe in besonderen sozialen Situationen“, „Alter und Nachbarschaft“ sowie „Kultur und Ökologie“.

Insgesamt wird davon ausgegangen, dass es ca. 70.000 bis 100.000 Selbsthilfegruppen in Deutschland gibt. Das sind etwa 3 Millionen Menschen, die ca. 5% der 18-80-jährigen Bevölkerung entsprechen (vgl. Bobzien/Hundertmark-Mayser/Thiel 2006, S. 15). Diese hohe Zahl kann vor allem mit der Zunahme von chronischen und psychischen Erkrankungen, Veränderungen der familiären Bindungen und Strukturen sowie auf den deutlichen Anstieg von Angehörigengruppen zurückgeführt werden. Zirka zwei Drittel bis drei Viertel der Selbsthilfegruppen sind dem Themenschwerpunkt „Erkrankung und Behinderung“ zuzuordnen.

Der analytische Charakter derartiger Aufteilungen in Selbsthilfebereiche, statistische Hochrechnungen und Bewertungen geben jedoch wenig Rückschluss auf die eigentlichen Lebenssituationen der Menschen, die sich vor allem durch Leidensdruck auf Grund einer Erkrankung zu Selbsthilfegruppen hingezogen fühlen. Es kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu, der sich auf das erweiterte Verständnis von Lebensqualität und Gesundheit begründet. Es ist nicht nur die Krankheit, die Betroffene in der Selbsthilfegruppe bewältigen wollen, sondern auf Grund der psychischen, psycho-sozialen Probleme oder der Umweltaspekte entsteht auch das Bedürfnis, etwas an der insgesamt bestehenden Situation der Gesundheitsversorgung im Land zu beeinflussen und zu verändern (vgl. Bobzien/Hundertmark-Mayser/Thiel 2006, S. 16).

2.3.1 Gesundheitsbezogene Selbsthilfe

Der gesundheitsbezogene Selbsthilfebereich gliedert sich nach Braun (1995) in:

-psychosoziale Probleme: Diesem Bereich lassen sich Problemsituationen und Erkrankungen in den Bereichen seelische Gesundheit, psychische Probleme, Tod, Trennung, Trauer und Phobien zuordnen.
-Suchtabhängigkeit: Hier finden sich die Alkoholsucht, Essstörungen, Ess- und Brechsucht, Magersucht, Drogen- und Spielsucht und andere Suchterkrankungen wie Liebessucht, Ordnungssucht etc.
-chronische Erkrankungen: Chronische Erkrankungen finden sich in den Bereichen Orthopädie, Neurologie, chronische innere Erkrankungen, Krebs, Unverträglichkeiten, Hauterkrankungen, allgemeine Gesundheitsförderung, Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises sowie Herz – Kreislauf und Atemwegserkrankungen.
-Behinderungen: Zu dieser Kategorie zählen Sinnesschädigungen, Körperbehinderungen, geistige Behinderung und weitere Behinderungen, wie seltene Erkrankungen. (vgl. Braun 1995, S. 18).

2.3.2 Soziale Selbsthilfe

Die soziale Selbsthilfe unterteilt sich nach Braun (1995) in die Unterkategorien:

-Frauenselbsthilfe: In diesem Bereich findet man Aktivitäten wie Frauengesprächselbsthilfegruppen, Norwood-Gruppen, Frauenverbände, Fraueninitiativen, Frauen und Gesundheit, Stillgruppen sowie Selbsthilfe im Bereich der Bearbeitung von Gewalterfahrung und Misshandlung.
-Eltern–Kind Selbsthilfe: Hier sind Eltern–Kind–Gruppen, Alleinerziehende, Alleinlebende, Singles, Müttergruppen etc. versammelt.
-Alter, Nachbarschaft: Dieser Bereich ist spezifiziert auf die Alten, Hochaltrigen, Senioren sowie Nachbarschaft.
-Besondere soziale Situationen: Hierunter werden Arbeitslose, Ausländer, Asylanten, Aussiedler, deutsch – ausländische Freundeskreise, Sexualität und sonstige Bereiche gezählt.
-Kultur, Ökologie: Hierzu zählen soziokulturelle Gruppen und Aktivitäten im Bereich Ökologie (vgl. Braun 1995, S. 18).

2.4 Handlungsformen von Selbsthilfegruppen

Die Organisationsformen der Selbsthilfe sind sehr vielfältig. Durch die Erfahrungen im Bundesmodellprojekt „Förderung der sozialen Selbsthilfe in den neuen Bundesländern“ des Bundesministeriums für Familie und Senioren (1993) wurden drei wesentliche Typen von Organisationsformen im sozialen und gesundheitlichen Bereich durch das Institut für sozialwissenschaftliche Analysen und Beratung ermittelt:

Typ 1: In diesen Gruppen helfen sich Betroffene weitgehend gegenseitig, indem über Gespräche eine Veränderung von Problemdeutungen erreicht werden soll. Die Gruppen sind eher innenorientiert. Der überwiegende Teil dieser Gruppen hat bis zu 15 Mitglieder, z. B. Angehörigengruppen von Strafgefangenen.

Typ 2: Diese Gruppen sind stärker außenorientiert und formalisiert, z. B. als Verein. Sie erbringen Leistungen für ihre Mitglieder und andere Betroffene. Ihre Außenorientierung ist v.a. auf die Unterstützung bei individuellen Problemen gerichtet. Die Gruppen haben 15 Mitglieder. Bei mehr Mitgliedern bilden sie meist Untergruppen. Aufgrund ihrer hohen Inanspruchnahme auch durch Nichtmitglieder sowie für Routinearbeiten und Präsenzfunktionen beschäftigen 20% dieser Gruppen 1-2 Mitarbeiter in einer eigenen Geschäfts- bzw. Beratungsstelle. Die Hauptleistung der Gruppen wird von ihren Mitgliedern unentgeltlich erbracht, z. B. Rheumaliga.

Typ 3: In ihnen engagieren sich Menschen aus solidarischer Betroffenheit und aus dem Interesse, sich für eine Verbesserung sozialer und gesundheitlicher Situationen einzusetzen und um anderen Menschen zu helfen. Die Außenorientierung dieser Gruppen ist auf die Gesellschaft und das sozialpolitische Umfeld gerichtet. Knapp die Hälfte hat bis zu 15 Mitglieder. Einige dieser Gruppen beschäftigen 1-2 Mitarbeiter für Routinearbeiten und Präsenzfunktionen (vgl. Braun 1995, S. 14f).

Feststellbare Unterschiede zwischen den drei Selbsthilfegruppentypen ergeben sich aus mehreren Dimensionen. Diese sind zu erkennen an den Zielen, dem Aktivitätsspektrum und den Leistungsformen der Gruppen. Auch die Motive der Gruppenmitglieder sowie die Gruppengröße, Organisationsgrad bzw. der Grad der Etabliertheit spielen eine Rolle. Der Gesellschaftsbezug und Grad der Außenorientierung sowie die erforderlichen Ressourcen im Hinblick auf den Beratungsbedarf, Sachmittel- und Raumbedarf, Bedarf an professioneller Unterstützung sind Unterscheidungsmerkmale. Der Psychoanalytiker Michael Lukas Moeller, der in den 1970er Jahren an den Psychosomatischen Universitätskliniken in Gießen und Heidelberg arbeitete, differenziert in 7 Kategorien und Arten von Selbsthilfegruppen. Das sind:

-Psychologisch - therapeutische Selbsthilfegruppen: In diesen Gruppen wird ohne Therapeut oder Fachkraft gearbeitet, um persönliche Konflikte und seelische Störungen zu lösen (vgl. Moeller 1996, S. 99f). Moeller schreibt, dass zahlreiche Selbsthilfegruppen mit psychologisch - therapeutischer Wirkung auch mit Professionellen zusammen arbeiten. Sie werden von ihnen angeregt, begleitet und erforscht. Es wird von professioneller Seite Mut zugesprochen und auch die Balance zwischen Fremdhilfe und Selbsthilfe und das Verhältnis von Psychotherapie zur Subkultur erörtert. Solche Selbsthilfegruppen haben ihre Bedeutung als Basistherapie und „als Lückenbüßer zur Ent-Sorgung der Experten, als Dienstleistungsanbieter und Familiensystem hervorgehoben“ (Moeller 1996, S. 100). Beispiele: Bulimie – Selbsthilfegruppen, Angehörige von Personen mit schizophrenen Psychosen, Adoptierte, Selbsthilfegruppen für Phobiker und auch für Armutsgruppen und Neurodermitis – Selbsthilfegruppen.

-Medizinische Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisationen: Diese Gruppen entschließen sich nur gelegentlich zur Bearbeitung ihrer psychosozialen Probleme. Es sind Selbsthilfevereinigungen von Kranken und Behinderten, die medizinische, technische, rechtliche und andere Hilfen suchen. Moeller (1996) schreibt: „Die Reaktionen auf schwere und chronische Leiden – andauernde Kränkung und Selbstwertbeschädigung, Depressivität, meist uneingestandene und unterdrückte Aggressivität usw. – sind zwar seelische Verfassungen, die auf dem Hintergrund zahlreicher krankheitsbedingter Nachteile entstehen. Einschränkungen, ständig drohende und oft schmerzende Rezidive, Zurücksteckenmüssen und Zurückgesetztsein untergraben aber auch die seelische Stabilität“ (Moeller 1996, S. 100). Es wird bewusst, dass diese seelischen Probleme auf die körperliche Seite im Krankheitsverlauf zurückwirken und damit zur Ursache einer Zustandsverschlimmerung des Kranken werden. Eine Hinentwicklung zur psychologisch – therapeutischen Kleingruppenarbeit wäre hilfreich (vgl. Moeller 1996, S. 100). Beispiele: Rheuma-Liga, Interessenverband Dialysepatienten, Blinden- und Sehbehindertenverband, Verband der Kehlkopflosen.

-Bewusstseinsverändernde Selbsthilfegruppen: Moeller (1996) sagt, dass zu dieser Art Selbsthilfegruppen vor allem die Frauen- und Männergruppen der Emanzipationsbewegung und die Homosexuellen-Gruppen gehören. Die zunächst angenommene Tatsache, dass diese Gruppen nur sozialpolitische Ziele verfolgen, wurde durch eine Studie von Morton A. Liebermann und Gary R. Bond (vgl. Moeller 1996, S. 102) über Frauengruppen widerlegt. Diese Studie zeigt eindeutig die außerordentliche therapeutische Wirkung. Weiterhin schreibt Moeller (1996), dass Frauengruppen in der Regel Gesprächsgruppen sind und daher oft Diskussionsthemen bearbeiten und insofern theoretische Arbeit leisten, gleichzeitig aber auch bewusste Arbeit an emotionalen Problemen leisten. Dabei leisten intellektuelle und kognitive Gesprächsführung, wie Erklärungen und Ratschläge sowie Anteilnahme, Einfühlung und emotionales Eingehen auf den anderen, enorme therapeutische Wirkungen. „Die Grenzen zwischen der sozialreformerischen, das psychosoziale und psychosexuelle (Selbst-) Bewusstsein verändernden und der leidensdruckmindernden, therapeutischen Komponente sind fließend“ (Moeller 1996, S. 103). Beispiele sind Frauenhäuser, die misshandelten Frauen Schutz bieten. Sie zählen zu den stark therapeutischen Selbsthilfeeinrichtungen von Frauen, die zu Bewusstseinsveränderungen beitragen.

-Lebensgestaltende Selbsthilfegruppen: Diese Gruppen bilden neue Lebensgemeinschaften, um anders zu leben. Es sind alternative Lebensgemeinschaften, in denen Menschen wie Landwirte oder Handwerker in Selbstbegrenzung auf dem Lande leben. Sie versorgen sich selbst und wollen von keiner äußeren Hilfe abhängig sein. Moeller (1996) schreibt, dass in einer Analyse von Janice E. Perlman (1976) drei Formen unterschieden werden. Das sind Selbsthilfeorganisationen, die eine direkte Aktion bevorzugen; eine zweite Form versucht, ihre Ziele über Beeinflussung von Wahlen zu erreichen und eine dritte Form wird von alternativen Institutionen angeboten. Hier handelt es sich um basisdemokratische Bürgerverbände, die eine vielfältige Landschaft von Selbsthilfeorganisationen hervorruft. Beispiele: Häuserblockorganisationen, Frauenselbsthilfekliniken, Synanon und Daytop für Rauchgiftabhängige und Kriminelle, Altenselbsthilfekneipe die das natürliche Selbsthilfenetzwerk im Sinne einer Kneipenkultur gezielt nutzen und viele andere mehr (vgl. Moeller 1996, S. 105).

-Arbeitsorientierte Selbsthilfegruppen: Das sind Selbsthilfegruppen von Arbeitslosen, die versuchen, sich Erwerbsmöglichkeiten zu verschaffen. Diese Gruppen wirken therapeutisch, indem sie gegen drohenden Selbstwertverlust schützen. „Denn das Gefühl, nicht gebraucht zu werden und also nichts wert zu sein, entspringt den Depressionen und/oder Aggressionen produzierenden Verzweiflung des isolierten einzelnen im Aktivismus einer Industriegesellschaft“ (Moeller 1996, S. 106). Das man solche Selbsthilfegruppen nicht nur auf die Beschaffung von Arbeitsmöglichkeiten eingrenzen kann, zeigt, dass die Arbeits-, Selbsthilfeorganisation zur einzigen Überlebenschance wird, in dem sich die Allerärmsten, die Ausgestoßenen, die rassisch Diskriminierten, die mehrfach Bestraften usw. zusammentun. Es gibt keine Therapie ohne soziale Zusammenhänge, so dass Therapien ohne Einbeziehung der sozialen Verhältnisse eine Art emotionales Morphium darstellen. Therapie ist praktisch Arbeitsbeschaffung und umgekehrt (vgl. Moeller 1996, S. 107). Beispiel: Tauschbörsen.

-Lern– bzw. ausbildungsorientierte Selbsthilfegruppen: In diesem Bereich gibt es Selbsthilfegruppen mit dem Ziel, neue Ausbildungsformen zu erproben und Lernstörungen zu überwinden. Das recht starre und eingleisige Schulmodell wird durch andere alternativen Schulformen ergänzt oder gar ersetzt. So ist das Gruppenstudium im Gymnasial- und Universitätsbereich eine Form von wechselseitiger Hilfe. Moeller schreibt, dass Gerald Newmark eine Art Selbsthilfe – Lerngemeinschaft in den Schulen für realisierbar hält. Das heißt, wechselseitige Anleitung der Gleichaltrigen, volle Teilnahme aller an allen Entscheidungen, Einbeziehen der Eltern, Aufbau von Gruppen, die sich selbst im offenen Dialog korrigieren und beurteilen können (vgl. Moeller 1996, S. 109). Moeller berichtet auch, dass lernorientierte Selbsthilfegruppen neben der Selbstunterrichtung noch ein weiteres Ziel haben. Lernen, Erfahren und Aufarbeiten der eigenen Konflikte ist in diesen Gruppen ein integrierter Prozess. So kann der Umgang mit Arbeitsstörungen, die aus seelischen Konflikten verschiedenster Ursachen hervorgehen, oder aus einem problematischen Verhältnis zur Thematik, bzw. Störungen die mit der Art des Unterrichts zu tun haben, erlernt bzw. erkannt und aufgearbeitet werden. „Lernselbsthilfegruppen gründen sich auf diese ganzheitliche Erfahrung und integrieren die Störungsmomente“ (Moeller 1996, S. 109). Beispiel: Studiengruppen an Hochschulen; größte lernorientierte Selbsthilfeorganisation in den USA ist „The learning Exchange“. Diese arbeiten nach der lateinischen Erkenntnis docendo discimus, was soviel wie „durch Lehren lernen wir“ bedeutet (vgl. Moeller 1996, S. 109).

-Bürgerinitiativen: Bürgerinitiativen setzen sich zusammen, um zugunsten eines eingegrenzten Zieles direkt zu handeln. Oft trifft man sie an, wenn es um Problemlagen in der Stadtplanung oder beim Umweltschutz geht. Ziel ist es, zur Durchsetzung von Interessen Bürger zu aktivieren, die den Mund aufmachen und mündig sind. So werden politische Bedarfslücken zwischen den Plattformen der Parlamentsparteien aufgedeckt. „Da unsere Verfassung eine unmittelbare Beteiligung des Volkes an der allgemeinen Gesetzgebung durch Volksbegehren oder Volksentscheid aber nicht kennt, sondern nur die mittelbare Demokratie durch die gewählten Volksvertreter zulässt, muss es zwischen staatlichen Organen und stets auf Unmittelbarkeit drängenden Bürgerinitiativen immer wieder zu Konflikten, ja zu Provokationen von beiden Seiten kommen.“ (Moeller 1996, S. 111). Bürgerinitiativen sind außenorientierte Selbsthilfegruppen und zwingen die Organe der drei Staatsgewalten zur ernsthaften Auseinandersetzung mit vernachlässigten Bedürfnissen im Wahlvolk. Die Wirkung für die in diesen Gruppen solidarisch vereinten Mitglieder ist eine sich unauffällig vollziehende psychische Selbstklärung. „Bürgerinitiativen wirken als echte Selbsthilfegruppe immer auch identitätsbildend. Identität, das ist die Einheit und Unverwechselbarkeit eines Menschen, der als – er selbst – handelt und sich in seiner Eigenart von anderen Menschen unterscheidet“ (Moeller 1996, S. 111). Das Handeln der in diese Bürgerinitiative Integrierten wird als sinnvoll und gestaltend empfunden.

Abschließend kann davon ausgegangen werden, dass alle Selbsthilfegruppen, gleich welcher Handlungsform oder Arbeitsweise, psychologisch – therapeutische Wirkungen haben. Die oben angeführte Aufteilung ist statt einer Kategorisierung eher als eine Strukturierung nach Hauptzielen der Selbsthilfegruppen anzusehen.

2.5 Selbsthilfeunterstützung

Parallel zur Verbreitung von Selbsthilfegruppen entwickelte sich auch die Unterstützung dieser Gruppen durch berufliche Helfer. Eine Krise im Selbstverständnis professioneller Helfer korrespondierte mit dem Auftreten von Selbsthilfegruppen. Es kam zu einer veränderten Rollenauffassung in Richtung auf mehr Gegenseitigkeit und Gleichgestelltheit in den ‚Helfer-Klient-Beziehungen’. Die professionellen Helfer wandten sich erfolgreich und unter Akzeptanz der Fachwelt den Selbsthilfegruppen zu (vgl. Bobzien/Hundertmark-Mayser/Thiel 2006, S. 27).

Das Anliegen und Engagement von Menschen in der Selbsthilfe erfordert entsprechende Organisationsformen und Rahmenbedingungen. Wie bereits erwähnt, sammelte man innerhalb der Laufzeit des Bundesmodellprojektes „Förderung der sozialen Selbsthilfe in den neuen Bundesländern“ des Bundesministeriums für Familie und Senioren (1993) vielfältige Erfahrungen auf den unterschiedlichsten Gebieten. Auch in Bezug auf Formen der Selbsthilfeunterstützung wurden zentrale Ergebnisse ermittelt. Von Braun (1995) wurden dabei drei Förderinstrumente unterschieden:

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2008
ISBN (eBook)
9783836620628
DOI
10.3239/9783836620628
Dateigröße
403 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Neubrandenburg – Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung
Erscheinungsdatum
2008 (Oktober)
Note
2,0
Schlagworte
selbsthilfe resilienz salutogenese gesundheit wirtschaftlichkeit
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Titel: Gesundheitsbezogene Selbsthilfe
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