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Altern in Gesellschaft

Untersuchung der Differenzen innerhalb der Quantität und Struktur der sozialen Netzwerke sowie des Freizeitverhaltens von Menschen im hohen und höheren Lebensalter - unterschieden nach sportlicher Aktivität

©2004 Magisterarbeit 180 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Gang der Untersuchung:
Die vorliegende Arbeit thematisiert die sozialen Beziehungen, das Freizeitverhalten sowie die persönlichen Lebenseinstellungen von Menschen im hohen und höheren Lebensalter. Das Ziel ist die Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede des sozialen Netzwerkes, des Freizeitverhaltens sowie der persönlichen Einstellungen zwischen älteren Menschen, die keinen Sport treiben, die selbstorganisiert sportlich aktiv sind und jenen, die sich in einem Verein, einer Institution oder kommerziellen Einrichtung sportlich betätigen. Dazu wurden vorrangig Ruheständler mit Hilfe eines Fragebogens über ihre Einstellungen, ihre Freizeit, ihre sportlichen Aktivitäten, ihre Lebenseinstellungen und ihre sozialen Kontakte befragt und deren Aussagen mit-einander verglichen. Teilnehmer der Befragung waren Bürger der Städte Oldenburg und Bonn. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich von Juni 2004 bis August 2004. Die Altersspanne lag zwischen 59 und 82 Jahren, so dass vorrangig Menschen im Altersruhestand befragt worden sind.
Diese Arbeit soll beleuchten, inwieweit der Sport - abgesehen von der positiven gesundheitlichen Wirkung - den Menschen dazu dient, sich soziale informelle Kontakte außerhalb der Familie aufzubauen und zu erhalten. Des Weiteren wird untersucht, welche anderen freizeitlichen Aktivitäten in dieser Hinsicht als soziale Kontaktplattform dienen können und wie sich die persönlichen Selbstcharakterisie-rungen von Sportlern und Nichtsportlern unterscheiden.
Diese Untersuchungsabsicht wird anhand folgender Schritte realisiert:
Nach der bereits einführend erläuternden Darstellung der Problemlage im ersten Kapitel sind die theoretischen Grundlagen Gegenstand des zweiten Kapitels. Hier werden verschiedene Alternstheorien und Freizeitdefinitionen diskutiert. Einer allgemeinen Darstellung grundlegender Theoriebegriffe folgt eine Diskussion über den Stellenwert der sozialen Beziehungen, der Beziehungen zwischen den Gene-rationen, dem Sozialkapital und der Freizeit sowie den sportlichen Aktivitäten und den verschiedenen Wirkungen sportlicher Aktivitäten im Ruhestand. Hierin ist der aktuelle Stand der Forschung zu den Themen Freizeitverhalten im Alter, Sport und Alter und Generationenbeziehungen/soziale Beziehungen enthalten. Die Ergeb-nisse der verschiedenen Studien werden im fünften Kapitel als Vergleichswerte für die hier durchgeführte Untersuchung herangezogen.
Der erste Teil des dritten Kapitels beinhaltet die […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Irina Weinke
Altern in Gesellschaft
Untersuchung der Differenzen innerhalb der Quantität und Struktur der sozialen
Netzwerke sowie des Freizeitverhaltens von Menschen im hohen und höheren
Lebensalter-unterschieden nach sportlicher Aktivität
ISBN: 978-3-8366-2009-3
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2008
Zugl. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland,
Magisterarbeit, 2004
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2008
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
3
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis...6
1
Einführung...7
1.1
,,The Silent Revolution"...8
1.2
Begründung der Themenwahl... 11
1.3
Vorgehensweise im Überblick... 11
1.4
Allgemeine Formulierung der Fragestellung... 13
2
Theoretische Grundlagen... 14
2.1
Alter(n)... 14
2.2
Alter als soziales Problem - Ein kurzer historischer Überblick... 17
2.3
Theorien des Alterns... 18
2.3.1
Disengagement-Theorie... 19
2.3.2
Aktivitätstheorie... 20
2.3.3
Weitere Alternstheorien... 20
2.4
Subjektsein in der Zivilgesellschaft... 22
2.5
Bedingungen von Vergesellschaftung im Alter... 23
2.6
Sozialkapital... 25
2.7
Soziale Beziehungen... 26
2.7.1
Isolation und Einsamkeit... 29
2.7.2
Soziale Netzwerkanalyse... 30
2.7.3
Freundeskreis... 33
2.7.4
Nachbarschaftskontakte... 36
2.7.5
Mitgliedschaft in einem Verein... 36
2.8
Generationenbeziehungen - ,,Innere Nähe bei äußerer Distanz"... 39
2.8.1
Transfer zwischen Generationen... 41
2.8.2
Veränderungen in der Familienstruktur... 41
2.9
Lebensqualität... 43

Inhaltsverzeichnis
4
2.10
Zeit... 44
2.10.1
Freizeit... 44
2.10.2
Freizeitverhalten im Alter...46
2.11
Selbstbild und Einschätzung der Lebenssituation... 52
2.12
Sportliche Aktivität im Alter... 53
2.13
Wirkungen sportlicher Aktivität... 62
2.13.1
Physische Wirkungen von sportlicher Aktivität... 62
2.13.2
Psychische Wirkungen von sportlicher Aktivität... 63
2.13.3
Soziale Wirkungen von sportlicher Aktivität... 64
2.13.4
Sinngehalte von sportlicher Aktivität... 64
2.14
Synthese und Konsequenzen für die eigene Arbeit... 65
2.15
Explizite Formulierung der Untersuchungsziele... 66
3
Methodologie der Untersuchung ,,Altern in Gesellschaft"... 68
3.1
Forschungsmethode... 68
3.2
Untersuchungsplan... 70
3.3
Datenerhebung... 71
3.3.1
Rekrutierung der Stichprobe... 75
3.3.2
Rücklauf... 75
3.3.3
Stichprobenbeschreibung... 76
3.4
Datenauswertung... 80
4
Untersuchungsergebnisse... 81
4.1
Zufriedenheit und Wohlbefinden... 81
4.2
Freizeitaktivitäten... 84
4.3
Sportliche Aktivitäten... 86
4.4
Selbstbild... 92
4.5
Soziale Kontakte... 95

Inhaltsverzeichnis
5
5
Diskussion...115
5.1
Kritische Wertung der Ergebnisse unter Berücksichtigung
von Störeinflüssen... 115
5.2
Bewertung der Ergebnisse in Bezug zu den Untersuchungszielen
und Hypothesen... 116
5.3
Bewertung der Ergebnisse in Bezug auf die theoretischen
Grundlagen...
118
5.4
Konsequenzen aus den Resultaten für die Sportpraxis bzw. für
die Gesellschaft... 123
6
Zusammenfassung und Ausblick... 127
6.1
Vorgehensweise im Überblick... 127
6.2
Zusammenfassung... 127
6.3
Wertung der Arbeit im Hinblick auf künftige
Forschungsansätze... 131
7
Literatur... 133
Abbildungsverzeichnis... 143
Tabellenverzeichnis... 145
Anhang... 146

Abkürzungsverzeichnis 6
Abkürzungsverzeichnis
AGE
Altern
und
gesellschaftliche Entwicklung
BASE
Berliner
Altersstudie
B
AT
British
American
Tobacco
BMFSFJ
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
BOLSA Bonner
Längsschnittstudie
CHD
Committee
of
Human
Development
DJI
Deutsches
Jugendinstitut
DSB
Deutscher
Sportbund
ILSE
Interdisziplinäre
Längsschnittstudie des Erwachsenenalters
LSB-NRW
Landessportbund
Nordrhein-Westfalen
MW
Mittelwert
OECD
Organization for Economic Cooperation and Development
OS
Organisiert
Sporttreibende(r)
SI
Sportlich
Inaktive(r)
SIMA
Längsschnittstudie:
,,Bedingungen der Erhaltung und
Förderung von Selbständigkeit im höheren Lebensalter"
SOKO
Institut für Sozialforschung und Kommunikation
SoS
Selbstorganisiert
Sporttreibende(r)
SWR
Südwestrundfunk
VHS
Volkshochschule
WHO
World-Health-Organization

Einführung
7
,,Das Alter ist für mich kein Kerker,
sondern ein Balkon,
von dem man zugleich weiter und genauer sieht."
M
ARIE
L
UISE
K
ASCHNITZ
1
Einführung
Mit dem Austritt aus dem Erwerbsleben verfügen die Ruheständler
1
über ein
erhöhtes Kontingent an Zeit. Die Arbeitszeit, die den Alltag der Erwerbstätigen
bestimmt, steht den Rentnern nun frei zur Verfügung. Doch mit dem Schritt in den
Ruhestand verändern sich auch die sozialen Kontakte. Im Berufsleben haben die
Arbeitsschaffenden schon allein während ihrer Arbeitszeit mit ihren Kollegen und
anderen Personen (Patienten, Kunden, Studenten usw.) berufsbedingt Kontakt. Diese
sozialen Kontakte fallen - wenn auch nicht gänzlich und abrupt - mit dem Eintritt in
den Ruhestand weg. Doch gute soziale Beziehungen sind unbestreitbar in jeder
Lebensphase ein zentrales Element sozialer Integration und des Wohlbefindens (vgl.
B
ROESE VAN
G
ROENOU
&
VAN
T
ILBURG
, 2003; P
ERRIG
-C
HIELLO
, 1997). Die
Ruheständler haben demnach mehr Zeit, aber weniger soziale Kontakte als die
Erwerbstätigen.
Wie verhalten sie sich in ihrer neu gewonnenen Zeit? Suchen sie sozialen Kontakt zu
anderen Personen? Hat Sport, besonders die Sportausübung in Sportvereinen und
anderen Einrichtungen, in diesem Zusammenhang eine intervenierende Wirkung? In
der Untersuchung ,,Altern in Gesellschaft" wird unter anderem zu eruieren sein, ob
organisiert sportlich aktive Menschen
2
im hohen und höheren Lebensalter über ein
quantitativ höheres und anders strukturiertes soziales Netzwerk verfügen, als
Senioren, die selbstorganisiert sportlich aktiv sind sowie als ältere Menschen, die
sportlich inaktiv sind. Es soll analysiert werden, ob es sich bei den Menschen, die
sich um eine aktive Freizeitgestaltung (unabhängig von der sportlichen Aktivität)
bemühen, um Menschen im hohen und höheren Lebensalter handelt, die auch im
sportlichen Bereich aktiv sind, oder ob hier eher die sportlich Inaktiven betriebsam
1
Der Lesbarkeit halber wird im Folgenden auf die explizite Unterscheidung zwischen Frauen und
Männern (Ruheständler und Ruheständlerinnen) sowie auf die Verbindung beider Geschlechter in
einem Wort (RuheständlerInnen) verzichtet. Es sind aber grundsätzlich bei allgemeinen Personen-
bezügen beide Geschlechter damit gemeint. Ist dieses nicht der Fall, wird im Text ausdrücklich
daraufhin gewiesen.
2
In der vorliegenden Untersuchung wird zwischen ,,organisiert Sporttreibenden" (kurz: OS; sportliche
Aktivität in einem Sportverein, in einer Einrichtung, in einem Wohlfahrtsverband und ähnliches),
,,selbstorganisiert Sporttreibenden" (kurz: SoS; Personen, die unabhängig von Verein oder anderen
Einrichtungen/Institutionen sportlich aktiv sind) und ,,sportlich Inaktiven" (kurz: SI) unterschieden.

Einführung
8
sind. Einen weiteren Punkt, den es zu klären gilt ist, ob die Sport treibenden Senioren
über ein anderes subjektives Selbstbild verfügen als die Menschen gleicher Alters-
gruppe, die keinerlei sportlichen Aktivitäten nachgehen.
Auch wenn in der Sozialforschung von einer ,,Verjüngung des Alters" (H
ÖPFLINGER
,
2001, S. 16) gesprochen wird, sich ältere Menschen heute nicht nur jünger fühlen,
sondern auch ein jüngeres Verhalten aufweisen als frühere Generationen - Reisen,
Mode, Sport und Sexualität zählen genauso dazu wie Lernen und Weiterbildung bis
ins hohe Alter (vgl. O
PASCHOWSKI
, 2004) - ist immer noch das Bild des eindimensio-
nalen Lebensstiltypen in den Köpfen mancher Menschen (T
OKARSKI
, 1998, S. 113)
vorherrschend. Hierbei existiert die Vorstellung vom zurückgezogenen, kranken,
armen, alten Menschen (T
OKARSKI
, 1998). Doch besteht mittlerweile in der Alters-
forschung Einigkeit darüber, dass das Altern heute und in Zukunft mehrere Gesichter
hat (vgl. B
ALTES
&
B
ALTES
, 1993).
1.1
,,The Silent Revolution"
Die Welt polarisiert sich immer mehr in eine kleine Gruppe wohlhabender Länder
mit demographischer Schrumpfung und in eine große Gruppe ärmerer und armer
Länder mit Bevölkerungswachstum. Insbesondere der deutsche Lebensbaum, die
Altersschichtung der Bevölkerung in Deutschland, ist krank: ,,Die Jungfichte vor
hundert Jahren gleicht mehr einer sturmzerzausten Bergkiefer." (O
PASCHOWSKI
,
2002, S. 74). Das bedeutet, dass Gegenwart und vor allem Zukunft unserer
Gesellschaft durch einen hohen und wachsenden Anteil alter und hochaltriger
Menschen geprägt werden. Der Anteil der über 60-Jährigen an der Gesamt-
bevölkerung (= Altenquote), der Ende des 19. Jahrhunderts noch bei fünf Prozent
lag, beträgt gegenwärtig rund 22 Prozent (vgl. Abbildung 1) und lässt sich für das
Jahr 2030 auf 38 Prozent hochrechnen. Zur Jahrhundertmitte wird jeder Neunte älter
als 80 Jahre sein (vgl. B
UNDESINSTITUT FÜR
B
EVÖLKERUNGSFORSCHUNG
, 2004;
H
ACKER
, 2003; M
AYER
, 2004; M
ENG
, 2003; O
PASCHOWSKI
, 2004; S
TATISTISCHES
B
UNDESAMT
D
EUTSCHLAND
, 2004). Die Jugendquote geht nach vorliegenden
prognostischen Modellrechnungen zwischen 1960 und 2030 von 29 auf 15 Prozent
um fast die Hälfte zurück (vgl. F
ÜRSTENBERG
, 2002, S. 79; G
EISSLER
, 2001, S. 117;

Einführung
9
K
IRCHNER
et al.,
1998, S. 14f.; O
PASCHOWSKI
,
2001,
2002). Nach vorliegenden
Erfahrungswerten der vergangenen 160 Jahre nimmt die Lebenserwartung jedes Jahr
um drei Monate zu
3
(O
PASCHOWSKI
, 2004). Die Bundesstatistiker gehen davon aus,
dass die Lebenserwartung bis 2050 gegenüber heute um weitere sechs Jahre steigt,
nämlich für Männer auf 81,1 Jahre und für Frauen auf 86,6 Jahre.
Abbildung 1: Bevölkerung Deutschlands in den Jahren 1950, 2001 und 2020 nach Alters-
gruppen und Geschlecht
4
(Quelle: GEO,
2004)
3
In zehn Jahren nimmt sie um etwa 30 Monate und in fünfzig Jahren um etwa 150 Monate zu, was
einer zusätzlichen Lebenserwartung von über zwölf Jahren entspricht (vgl. O
PASCHOWSKI
, 2004).
4
Die Beulen und Fransen des Bevölkerungspilzes erzählen eigene Geschichten, die von der Spitze des
Bevölkerungsbaumes nach unten im Folgenden kurz erläutert werden: Noch 1980 bzw. 2001 gab es
einen großen Überhang an älteren Frauen, aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung und der vielen
männlichen Opfer des Ersten Weltkrieges. Weniger Geburten gab es als Folge des Ersten Weltkrieges,
in der Weltwirtschaftskrise und im Zweiten Weltkrieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen
Babyboom. Die Delle darunter markiert den so genannten Pillenknick. Geburtenstarke Jahrgänge sind
in der Zwischenkriegszeit, während der NS-Zeit und in den Wirtschaftswunderjahren zu beobachten.

Einführung
10
Die spätere Lebenserwartung beträgt 2050 für 60-jährige Frauen 28 weitere
Lebensjahre und für gleichaltrige Männer etwa 24 Lebensjahre. Im Gegenzug sinkt
die Bevölkerungszahl bis zum Jahr 2050 von heute 82,5 Millionen auf 75 Millionen.
Die Überalterung ist ein Prozess, der sich langsam in der ganzen Welt ausbreitet.
,,Die Revolution auf leisen Sohlen" (O
PASCHOWSKI
, 2001, S. 31; 2004, S. 35)
bewirkt, dass sich beispielsweise der Anteil der über 60-Jährigen in Bangladesh in
den folgenden fünfzig Jahren fast versechsfacht. Die tendenzielle Geriatrisierung der
Welt kann in Zukunft zu globalen Verteilungskämpfen zwischen Jung und Alt
führen.
Mit der positiven und berechtigten Erwartung einer längeren Lebensspanne
verbinden die meisten Menschen aber überwiegend negative Vorstellungen von der
Lebensphase des Alters: den Abbau geistiger Fähigkeiten und der körperlichen
Gesundheit, soziale Vereinsamung und Inaktivität, ökonomische Unsicherheit und
soziale Abhängigkeit (vgl. M
AYER
&
B
ALTES
, 1999, S. 7). Von diesem längst
überholten gerontologischen Defizitmodell (M
ILES
, 1934, Y
ERKES
,
1921;
vgl.
Anhang 1), das einen Rückgang der körperlichen und geistigen Funktionen
konstatiert und diesen Zustand als konstitutiv für das Alter ansieht (P
RAHL
&
S
CHROETER
, 1996), muss Abschied genommen werden. Denn nach Befunden der
Alternsforschung sind allenfalls zehn Prozent der älteren Generation wirklich einsam
und isoliert (O
PASCHOWSKI
, 1998, S. 16). Als gesellschaftlicher Fortschritt lässt sich
der Prozess der Lebensverlängerung insbesondere dann auffassen, wenn die
hinzugewonnen Jahre in guter Gesundheit verbracht und aktiv gestaltet werden
können. ,,Anstelle der mittleren Lebenserwartung wird daher immer häufiger die
mittlere ,aktive' oder behinderungsfreie Lebenserwartung herangezogen, um den
Lebensstandard und die Lebensqualität in einer Gesellschaft zu bestimmen"
(L
AMPERT
&
M
AAS
, 2002, S. 219).
Neuere Tendenzen sind die noch weiter gestiegene Lebenserwartung, eine sinkende Kinderzahl durch
den ostdeutschen Geburtenrückgang nach der deutschen Einheit und der Bevölkerungsverlust durch
das Fehlen potenzieller Eltern. Die Folgen der Weltkriege sind lange sichtbar: Der Geburteneinbruch
des Ersten Weltkrieges noch bis 2001, der des Zweiten bis 2020 (vgl. N
IEJAHR
, 2004, S. 24).

Einführung
11
1.2
Begründung der Themenwahl
Wie oben dargestellt wird es in Zukunft immer mehr alte und im Vergleich dazu
immer weniger junge Menschen in Deutschland geben. Aus sportwissenschaftlicher
Sicht wird vielfach betont, dass Personen, die regelmäßig Sport treiben, im
Allgemeinen leistungsfähiger und fitter sind als inaktive Gleichaltrige. Damit sind
die sportlich Aktiven in einem geringeren Maße von körperlichen Abbauprozessen
infolge des Alters
5
betroffen. Subjektiv erlaubt die Aktivität den Älteren selbst
wirksam auf das eigene Leben Einfluss nehmen zu können (P
ACHE
, 2003, S. 84).
Geht die Einflussnahme soweit, dass die sportlich aktive ältere Bevölkerung sich
auch aktiv um ihre sozialen Beziehungen kümmert? Tut sie etwas gegen eine
mögliche Vereinsamung? In dieser Arbeit wird in diesem Zusammenhang der Frage
nachgegangen, ob Sport auch in anderen Bereichen des Lebens wirkt. Insbesondere
ob die sozialen Netzwerke durch den Sport soweit beeinflusst werden, dass sie sich
maßgeblich von den Netzwerken von sportlich Inaktiven unterscheiden.
1.3
Vorgehensweise im Überblick
Die vorliegende Arbeit thematisiert die sozialen Beziehungen, das Freizeitverhalten
sowie die persönlichen Lebenseinstellungen von Menschen im hohen und höheren
Lebensalter. Das Ziel ist die Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede des
sozialen Netzwerkes, des Freizeitverhaltens sowie der persönlichen Einstellungen
zwischen älteren Menschen, die keinen Sport treiben, die selbstorganisiert sportlich
aktiv sind und jenen, die sich in einem Verein, einer Institution oder kommerziellen
Einrichtung sportlich betätigen. Dazu wurden vorrangig Ruheständler mit Hilfe eines
Fragebogens über ihre Einstellungen, ihre Freizeit, ihre sportlichen Aktivitäten, ihre
Lebenseinstellungen und ihre sozialen Kontakte befragt und deren Aussagen mit-
einander verglichen. Teilnehmer der Befragung waren Bürger der Städte Oldenburg
und Bonn. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich von Juni 2004 bis August 2004.
Die Altersspanne lag zwischen 59 und 82 Jahren, so dass vorrangig Menschen im
Altersruhestand befragt worden sind.
5
Einen differenzierten Überblick über die Wirkungen eines sportlich aktiven Lebens im Alter geben
unter anderem A
LLMER
et al. (1996) sowie K
RUSE
(2001).

Einführung
12
Diese Arbeit soll beleuchten, inwieweit der Sport - abgesehen von der positiven
gesundheitlichen Wirkung - den Menschen dazu dient, sich soziale informelle
Kontakte außerhalb der Familie aufzubauen und zu erhalten. Des Weiteren wird
untersucht, welche anderen freizeitlichen Aktivitäten in dieser Hinsicht als soziale
Kontaktplattform dienen können und wie sich die persönlichen Selbstcharakterisie-
rungen von Sportlern und Nichtsportlern unterscheiden.
Diese Untersuchungsabsicht wird anhand folgender Schritte realisiert:
·
Nach der bereits einführend erläuternden Darstellung der Problemlage im ersten
Kapitel sind die theoretischen Grundlagen Gegenstand des zweiten Kapitels. Hier
werden verschiedene Alternstheorien und Freizeitdefinitionen diskutiert. Einer
allgemeinen Darstellung grundlegender Theoriebegriffe folgt eine Diskussion über
den Stellenwert der sozialen Beziehungen, der Beziehungen zwischen den Gene-
rationen, dem Sozialkapital und der Freizeit sowie den sportlichen Aktivitäten und
den verschiedenen Wirkungen sportlicher Aktivitäten im Ruhestand. Hierin ist der
aktuelle Stand der Forschung zu den Themen Freizeitverhalten im Alter, Sport und
Alter und Generationenbeziehungen/soziale Beziehungen enthalten. Die Ergeb-
nisse der verschiedenen Studien werden im fünften Kapitel als Vergleichswerte für
die hier durchgeführte Untersuchung herangezogen.
·
Der erste Teil des dritten Kapitels beinhaltet die zusammengefassten Frage-
stellungen und die Forschungshypothesen im Zusammenhang von sportlicher
Aktivität, Freizeitgestaltung und den damit in Konnex stehenden jeweiligen
sozialen Kontakten.
·
Die Planung und Durchführung der Untersuchung werden im dritten Kapitel
beschrieben. Es werden Überlegungen zur Entwicklung und Konstruktion des
Fragebogens und der damit gewählten quantitativen Untersuchungsmethode
angestellt. Es folgt ein Überblick über sämtliche Variablen und deren Operationa-
lisierungen sowie über die Rekrutierung der Stichprobe und eine Stichproben-
beschreibung.
·
Eine deskriptive Darstellung der Untersuchungsergebnisse, die Diskussion der
Hypothesen und der entstandenen Fragen aus dem zweiten Kapitel sind
Gegenstand des vierten Kapitels.

Einführung
13
·
Das fünfte Kapitel beinhaltet eine kritische Wertung der Ergebnisse unter
Bezugnahme der Untersuchungsziele, Hypothesen und der hier aufgeführten
theoretischen Grundlagen sowie die Bewertung der Ergebnisse in Bezug auf die
sportwissenschaftliche Theoriebildung. Diskutiert werden entsprechende Konse-
quenzen für die Sportpraxis und für die Gesellschaft.
·
In Kapitel Sechs gibt es eine Zusammenfassung der Arbeit. Außerdem wird die
Arbeit im Hinblick auf künftige Forschungsansätze bewertet.
1.4
Allgemeine Formulierung der Fragestellung
Ausgehend von den oben gemachten Aussagen wird anhand einer empirischen
Untersuchung eruiert, ob organisierte sportliche Aktivität bzw. selbstorganisierte
sportliche Aktivität im Alter die Größe und Struktur von sozialen Netzwerken
beeinflussen kann. Gibt es Unterschiede hinsichtlich der Größe und Zusammen-
setzung, wenn man zwischen organisiert Sport treibenden, selbstorganisiert Sport
treibenden und sportlich inaktiven Senioren trennt? Wie sehen die sozialen
Beziehungen der einzelnen Gruppen aus?
Es wird außerdem der Frage nachgegangen, ob sich die sportlich aktiven Menschen
im hohen und höheren Lebensalter (organisiert und selbstorganisiert) im Hinblick auf
das eigene Selbstbild von sportlich inaktiven Senioren abheben. Schätzen sich Sport
treibende Senioren hinsichtlich des persönlichen Selbstbildes anders ein als
Menschen im hohen und höheren Lebensalter, die keine sportlichen Aktivitäten be-
treiben?
Des Weiteren soll geklärt werden, ob es zwischen den organisiert und den
selbstorganisiert Sportausübenden sowie den Nicht-Sporttreibenden Abweichungen
im Freizeitverhalten (exklusive Sportaktivitäten) gibt. Es wird untersucht, ob die
sportlich inaktiven älteren Menschen im Bereich der Freizeitgestaltung mehr
häuslichen Freizeitaktivitäten nachgehen als Menschen in demselben Alter, die sich
aktiv im Sport engagieren.

Theoretische Grundlagen
14
,,Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft ist nur eine Täuschung,
wenn auch eine hartnäckige."
A
LBERT
E
INSTEIN
2
Theoretische Grundlagen
In diesem Abschnitt werden Begriffe, die im Hinblick auf die durchgeführte Unter-
suchung für das Verständnis von Bedeutung sind, geklärt. Die theoretische
Perspektive beinhaltet neben den Begrifflichkeiten aber auch in Anlehnung an
R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
(2002) eine gewisse utopische Betrachtungsweise der
Gesellschaft. Es sind Gedanken über eine mögliche Gesellschaft, die unter dem
Aspekt der Beeinflussbarkeit und Gestaltbarkeit des späten Lebens betrachtet werden
(vgl. Kap. 2.4).
Es gibt einen Überblick über den Stand der Forschung, die sich mit dem allgemeinen
Thema Sport bzw. Freizeit und Alter und im Speziellen mit sozialen Netzwerken,
dem Freizeitverhalten und der Lebenswelt im Alter beschäftigt. Aus den Ergebnissen
der dargestellten Studien werden Konsequenzen für die im späteren Verlauf der
Arbeit vorgestellten Untersuchung gezogen und aufgeführt. Zum Abschluss dieses
Kapitels werden die Untersuchungsziele für diese Querschnittsuntersuchung aufge-
zeigt.
2.1
Alter(n)
,,Als ich fünf Jahre alt war, war meine Mutter 25 und ich fand sie sehr alt.
Als ich 25 Jahre alt war und sie 45, fand ich sie alt.
Als ich 45 Jahre alt war, war sie 65, und ich fand sie sehr jugendlich.
Als ich 48 Jahre alt war, starb meine Mutter, und ich fand sie sei sehr jung gestorben."
M
AX VON DER
G
RÜN
(zitiert nach T
OFAHRN
, 1998, S. 62; O
PASCHOWSKI
, 2004, S. 91)
Die Definitionen über das Alter sind zumeist umfangreich gestaltet. Bereits seit der
antiken Zeit gibt es Überlegungen über das Alter, wie den Ausführungen von Platon
und Aristoteles zu entnehmen ist (G
ÖCKENJAN
, 2002). Alter ist - neben Geschlecht,
Verwandtschaft, Ethnizität, Religion, Bildung und Beruf, um nur die wichtigsten zu
nennen - eine der Formen gesellschaftlicher Differenzierung (K
OHLI
, 1992). Alter
und Altern sind mehrdimensionale Phänomene, welche körperliche, psychische und
sozioökonomische Aspekte betreffen (M
ITTELSTRASS
et al., 1992). Altern ist eine

Theoretische Grundlagen
15
Entwicklung, die durch endogene, aber auch in erheblichem Maße durch exogene
Faktoren beeinflusst wird (L
EHR
, 2000a, S. 47). Während Alter (,,old age") einen
festen Lebensabschnitt umschreibt, meint Altern (,,aging") mehr einen Prozess des
Älterwerdens (vgl.
B
ALTES
&
B
ALTES
, 1993). Das Alter lässt sich unter ver-
schiedenen Gesichtspunkten (aus der Sicht unterschiedlicher Lebens- und Kultur-
bereiche sowie verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen) sehr differenziert
definieren. Seit den 1950er Jahren wird Alter in der soziologischen Generalisierungs-
arbeit als Kollektivfiguration verstanden, die durch gesellschaftliche Institutionen, im
Kernpunkt den Rentenversicherungssystemen, konstruiert und gewertet wird. Seither
ist Alter für die Soziologie eine abgegrenzte Lebensphase in einem Drei-Phasen-
Modell des Lebenslaufs und auch eine soziale Schicht, jenseits der sinnstiftenden
Arbeitswelt, ,,eine auf den Schrott geworfene Generation, [...] eine Freizeitschicht,
die gewillt sein wird, ihren Sinnbedarf in dem Feld kompensatorisch auszuleben"
(T
ARTLER
, 1961, S. 143ff; zitiert nach G
ÖCKENJAN
, 2002).
Der Verlust der haltgebenden Berufsrolle kann viele Menschen zu Beginn des
Eintritts in das Rentenalter verunsichern. Doch dadurch, dass die Menschen heute
durchschnittlich früher in den Ruhestand treten (das Durchschnittsalter liegt bei den
Frauen bei 56 Jahren und bei den Männern bei 58 Jahren), die Lebenserwartung
gestiegen und die körperliche Verfassung der Menschen im Vergleich zu früher in
diesem Alter noch gut ist, können eigenständige Lebensentwürfe im Alter entwickelt
werden (vgl. K
IRCHNER
et al., 1998). Die ältere Generation stellt einen Rahmen-
begriff dar, der drei verschiedene Gruppen umfasst (vgl. O
PASCHOWSKI
, 1998, 2004):
·
Die 50plus Generation (50- bis 64-Jährige): gebraucht werden.
·
Die 65plus Generation (65- bis 79-Jährige): die neue Freiheit.
·
Die 80plus Generation (80-Jährige und älter): das geschenkte Leben
6
.
Diese Einteilung entspricht auch der der Alternsforschung. So empfiehlt der
österreichische Soziologe L
EOPOLD
R
OSENMAYR
(1992, S. 464) aufgrund unter-
schiedlicher Lebensstile die ,,jüngeren Alten" von den ,,älteren Alten" und davon
6
Aus der Perspektive von 2004 haben sich inzwischen drei ältere Generationen mit unterschiedlichen
historischen Erfahrungen entwickelt:
·
zu der 80plus-Generation gehören die Vor-1924-Geborenen mit der Erfahrung von Nachkriegszeit,
Inflation, hoher Arbeitslosigkeit und Nationalsozialismus.
·
zur 65plus-Generation zählen die Vor-1939-Geborenen mit der Erfahrung von Nationalsozialismus,
Kriegszeit und Nachkriegszeit.
·
und die 50plus-Generation besteht aus den Vor-1954-Geborenen mit der Erfahrung der
Nachkriegszeit zwischen Aufbau, Hunger und Entbehrung (vgl. O
PASCHOWSKI
, 1998).

Theoretische Grundlagen
16
wiederum die ,,Hochbetagten" zu unterscheiden. K
OHLI
(2000) und O
PASCHOWSKI
(2002, 2004) unterscheiden zwischen Alten (60- bis 79-Jährige), Hochaltrigen
7
(80-
bis 99-Jährige) und Langlebigen (über 100-Jährige). Damit wird das Alter zeitlich so
ausgeweitet, dass die Altersphase eine Spanne von vierzig bis fünfzig Jahren
umfasst. Aus dem ehemals dritten hat sich ein viertes Lebensalter entwickelt, das die
Merkmale des früheren dritten angenommen hat.
Ein entscheidendes Ergebnis der Erforschung des Alterns ist die Einsicht, dass das
Alter keine einheitliche Kategorie von Menschen bildet. Das chronologische
Lebensalter und das funktionale Alter können weit auseinander fallen. Außerdem
gibt es sehr große Unterschiede in Bezug auf körperliche und geistige Gesundheit,
materielle Absicherung und gesellschaftliche Teilhabe in der älteren Bevölkerung.
Der Aspekt des differentiellen Alterns bezieht sich ebenso auf soziale und
ökonomische Ungleichheiten innerhalb der Gruppe älterer Menschen (vgl. M
AYER
et
al., 1992). R
OSENMAYR
(1996) spricht in diesem Zusammenhang von einer alters-
bunten Gesellschaft (vgl.
VON
K
UENHEIM
, 2004).
Die Alten gibt es ebenso wenig wie die Jungen oder die Menschen. Die Alten sind keine
homogene Masse. Sie unterscheiden sich in ihren Kompetenzen, Bedürfnissen,
Zwängen, sozialen Lagen, Lebensstilen und Lebenszielen und erweisen sich als überaus
heterogen. Einige stehen auf der Sonnen-, andere auf der Schattenseite der ,,vita tertia",
andere irgendwo dazwischen. (S
CHROETER
, 2002, S. 95)
Als Indikatoren erfolgreichen Alterns
8
gelten unter anderem die Lebensdauer,
körperliche und geistige Gesundheit, psychosozialer Entwicklungsstand, soziale
Kompetenz und persönliche Handlungskontrolle, Lebenszufriedenheit und Lebens-
sinn sowie soziale und gesellschaftliche Produktivität
9
(S
CHROETER
, 2002, S. 91).
7
Als Hochaltrige (auch Hochbetagte oder Langlebige) gelten die Personen, deren Lebensalter über der
durchschnittlichen Lebenserwartung liegt. Da die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland
bei Männern 74 und bei Frauen 80 Jahre beträgt, gelten derzeit die über 80-Jährigen als Hochaltrige
(vgl. O
PASCHOWSKI
, 1998).
8
Die Amerikaner nennen die gesunden Alten selpies, second life people, auch woopies, well off elder
people oder wollies, well income old leisure people, oder sie entlarven die unter Hundertjährigen als
grampies, als grown active moneyed people in excellent state. Mit diesen Titeln werden die
menschlichen ,,Amphibien" sehr von oben herab behandelt, denn sie spielen auf eine unfeine Art nur
allzu oft auf die Gunst ihrer ökonomischen Lage an. Die Menschen im hohen Lebensalter sind die
master consumers, die auch in Deutschland fast über die Hälfte des frei verfügbaren Pro-Kopf-
Einkommens verfügen (vgl. S
CHLAFFER
, 2003).
9
Bei den verschiedenen Kriterien des erfolgreichen Alterns wird zwischen subjektiven und objektiven
Indikatoren unterschieden (vgl.
B
ALTES
&
B
ALTES
, 1989, S. 86ff.). So mag der einzelne Mensch zwar
subjektiv das Gefühl haben, erfolgreich gealtert zu sein, wenn er mit seinem Selbstkonzept,
Selbstwertgefühl und mit seiner Kontrollwahrnehmung zufrieden ist. Ob ihm jedoch Ärzte,
Psychiater, Gerontologen oder andere Experten ebenfalls ein erfolgreiches Altern attestieren, hängt
vom Grad der Plastizität ab (vgl. S
CHROETER
, 2002, S. 91).

Theoretische Grundlagen
17
Das Altern bezieht sich immer auf die Verkürzung der Lebensperiode. Diese
existenzielle Knappheit ruft sowohl individuelle als auch kollektive Bewältigungs-
strategien hervor. Nur diese können von Erfolg gekrönt bzw. von Misserfolg
gezeichnet sein
10
.
Trotz der Erkenntnis, dass die Lebenslagen alter Menschen auch so janusköpfig wie
die anderer Menschen sein können, ist das Alter dennoch stereotypbehaftet und wird
im Allgemeinen mit negativen Attributen besetzt (vgl. T
OFAHRN
, 1998).
2.2
Alter als soziales Problem - Ein kurzer historischer Überblick
Das historische Interesse an Alter lässt sich aus den USA herleiten, wo das Alter in
den 1930er Jahren zu einem sozialen Problem eskaliert ist
11
. Diese Formierung der
Altersfrage geht einher mit der Entstehung einer Vielzahl von Organisationen und
Lobbies, die Alteninteressen überhaupt erst modellierten und politisierten (vgl.
G
ÖCKENJAN
, 2002). In einer der zeittypischen Stellungnahme heißt es
zusammenfassend:
In earlier times only a few older persons survived the hazards and strains of life, and
accordingly they enjoyed prestige and widespread respect and exercised the authority
which their age and supposed wisdom deserved. Today and in the immediate future we
face a situation in which there will be an increasing number of older men and women
who, largely because of rapid social changes, are confused and bewildered and only too
often resistant to the enforced readjustments, so that they enjoy little prestige and can
exercise little or no authority, except in so far as they may through the organizations of
older persons through the country. (F
RANK
, 1943, S. 38f; vgl. P
ARSONS
, 1942, S. 230f;
zitiert nach G
ÖCKENJAN
, 2002, S. 55f)
Zentraler Ausgangspunkt der frühen sozialen Gerontologie in den USA war die
Herausstellung der Bedeutung materieller Bedingungen für das Alter. Danach sind
Aspekte wie Wohnen, soziale Einbindung und Bedürfnisse nach gesellschaftlicher
Anerkennung und Integration alter Menschen zu Fragestellungen der sozialen
Gerontologie geworden (H
AVIGHURST
, 1958; zitiert nach W
AHL
, 2003, S. 105). In
empirischer Hinsicht ist in diesem Zusammenhang die ,,Kansas City Study of Adult
10
Aus diesem Blickwinkel betrachtet erscheint der Terminus ,,erfolgreiches Altern" irreführend, denn
erfolgreich kann nur die Umsetzung der Interventionsstrategien sein. Hieraus begründet ist
,,erfolgreiches Altern" eine semantische Falle. In der Terminologie B
OURDIEUS
(1987) gesprochen ist
es eine Allodoxie (fehlerhafte Repräsentation) des Alterns (vgl. S
CHROETER
, 2002, S. 92).
11
Der forcierte Industrialisierungsschub in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts führte dann in
den 1930er Jahren zu einem starken Verdrängungswettbewerb zu Lasten älterer Arbeitnehmer in den
Großindustrien, was wiederum mit scharfen Konflikten um die Einrichtung von Wohlfahrts- und
Alterssicherungssystemen einherging (G
ÖCKENJAN
, 2002, S. 55).

Theoretische Grundlagen
18
Development", die als Längsschnittstudie bis Ende der 1950er Jahre durchgeführt
wurde, zu nennen. C
UMMING
&
H
ENRY
(1961) postulieren aus der Kansas-Studie
heraus die Disengagement-Theorie (s. Kapitel 2.3). Verstanden wird sie als ein
adaptiver Prozess für gutes Altern. Dieser Prozess wurde von anderen Autoren aus
dem Chicago-Kreis
12
in Frage gestellt. Stattdessen plädierten sie für eine aktivitäts-
orientierte Theorie guten Alterns (z.B. H
AVIGHURST
,
M
UNNICHS
,
N
EUGARTEN
&
T
HOMAE
,
1969;
N
EUGARTEN
,
1968; vgl. L
EHR
, 2000b).
Mit der ,,Bonner Längsschnittstudie über das Altern" (BOLSA, s. Anhang 2) geht die
psychologische Gerontologie im deutschsprachigen Raum 1965, also etwa zehn
Jahre später als in den USA, einen entscheidenden inhaltlichen und methodischen
Schritt in Richtung Profilierung (vgl. W
AHL
, 2003) und verstärkte die Forderung
nach Entwicklung einer Differentiellen Gerontologie (D
ENK
&
P
ACHE
, 2003, S. 61).
Die BOLSA ist, ursprünglich eingebettet in den Kontext der 1961 begonnenen
Debatte um die Aktivitäts- versus Disengagement-Theorie des Alterns, selber zu
einem Meilenstein geworden (F
OOKEN
, 2003).
2.3
Theorien des Alterns
Jeder muss seine individuelle Lebenssituation bewältigen, die von Diskontinuitäten
gekennzeichnet sein dürfte. Der Grad der Reaktion auf diese Veränderungen kann
Auskunft darüber geben, ob aktive Bewältigung im Sinne des Aktivitätstheorems
(Theorie des erfolgreichen Alterns) oder gar Rückzugsneigungen (Disengagement)
den theoretischen Modellansatz abbilden. Die Tabelle Zusammenstellung wichtiger
psychologischer und soziologischer Theorien und Modelle des Alterns (s. Anhang 1)
zeigt einen Überblick soziologischer und psychologischer Theorien und Modelle
über das Altern, wovon im Folgenden einige näher dargestellt werden.
12
Hinsichtlich der Entwicklung der sozialwissenschaftlichen und psychosozialen Gerontologie in den
USA nach dem Zweiten Weltkrieg kommt vor allem dem an der Universität von Chicago etablierten
,,Committee of Human Development" (CHD) und den darin engagierten Personen eine besondere
Bedeutung zu. Insbesondere die Zusammenarbeit von R
OBERT
H
AVIGHURST
mit dem Soziologen
E
RNEST
B
URGESS
, B
ERNICE
N
EUGARTEN
und später mit E
THEL
S
HANAS
führte ab Ende der vierziger
Jahre zu den ersten größeren Studien mit stark sozialgerontologischer und gemeindenaher Thematik
wie auch zu den ersten sozialgerontologisch orientierten Curricula (vgl. W
AHL
, 2003).

Theoretische Grundlagen
19
2.3.1
Disengagement-Theorie
Die stark soziologisch orientierte Disengagement-Theorie ist aus empirischen
Untersuchungen entstanden. Sie setzt Altern mit physischem und psychischem
Abbau gleich. Der Theorie zufolge ziehen sich Menschen mit dem Älterwerden
allmählich von gesellschaftlichen Aufgaben und Verpflichtungen zurück und büßen
mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und dem Übergang in den Ruhestand
eine Vielzahl von sozialen Rollen und Handlungschancen ein (vgl. K
OLB
, 1999,
L
AMPERT
&
W
AGNER
, 1998). Diese Vorgänge führen unweigerlich zu sozialen Ab-
und Ausgrenzungsprozessen. Die im Alter sichtbar werdenden Reduzierungen der
Aktions- und Interaktionsraten werden laut der Theorie durch den Alterungsprozess
selbst und nicht durch die Bedingungen der sozialen Umwelt verursacht (T
OFAHRN
,
1998, S. 85).
Die Disengagement-Theorie ist eng an P
ARSONS
strukturfunktionaler Soziologie
(Funktionalismus) angelehnt (D
ALLINGER
&
S
CHROETER
, 2002, S. 12; T
OFAHRN
,
1998, S. 86). Die Individuen passen sich den Grundprinzipien der Existenz an und
haben sich damit bewusst oder unbewusst die Frage zu stellen, welchen Beitrag sie
(noch) zur Systemerhaltung der Gesellschaft leisten (können). Der oft formulierte
Wunsch vieler älterer Menschen nach Gebrauchtwerden und Anerkennung resultiert
demnach im Zusammenhang mit der Angst, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu
werden. Bieten die Familie und die Gesellschaft genügend Sicherheit, ist eine
Verminderung von sozialen Kontakten zwangsläufig (vgl. K
IRCHNER
et al., 1998, S.
31; T
OFAHRN
,
1998, S. 86ff).
Es wird die Prämisse unterstellt, dass mit dem Alter wohl eher Verschlechterungen
als Verbesserungen der jeweiligen Lebenssituation einhergehen. Während die
Aktivitätstheorie (s. Kapitel 2.3.2) das Alter als den Normalfall ansieht, stellt die
Disengagement-Theorie zusätzlich ein im Vergleich zu jüngeren Menschen
deutliches Nachlassen der Teilnahme am sozialen Leben, eine Einengung des
Lebensraumes, einen erlebnismäßigen Rückzug sowie eine zunehmende Innen-
orientierung in den Vordergrund und bezeichnet diesen Vorgang als notwendig (vgl.
K
OLB
, 1999, S. 88, T
OFAHRN
, 1998, S. 85f). Dieser Vorgang wird von den älteren
Menschen aber durchaus mit subjektiver Zufriedenheit verbunden (K
OLB
, 1999).

Theoretische Grundlagen
20
Die Disengagement-Theorie besitzt mit ihrer verallgemeinernden Vorstellung vom
Alter für moderne und immer komplexer werdende Gesellschaften jedoch kaum noch
Erklärungskraft (vgl. D
ALLINGER
&
S
CHROETER
, 2002, S. 12).
2.3.2
Aktivitätstheorie
Dieser theoretische Ansatz bewertet Abbauprozesse und Persönlichkeitsveränderung-
en unabhängig vom Alter. Im Alter kommt es lediglich zu einem Rückgang der
biologisch-physischen Leistungsfähigkeit, die aber durch geeignete Anpassungs-
mechanismen tendenziell abgefedert wird (vgl. T
OFAHRN
, 1998). Gemäß dieser
Theorie sind die Anpassungsprozesse vor allem durch die gesellschaftlichen
Verhältnisse vorgegeben. Aktives Altern ist dabei sowohl Wunschvorstellung als
auch Selbstverständnis eines großen Teils der älteren Bevölkerung (vgl. T
OFAHRN
,
1998). Unter diesem Aspekt geht die Theorie des erfolgreichen Alterns davon aus,
dass nur diejenigen Menschen zufrieden sind, die etwas leisten und deshalb von
anderen Menschen gebraucht werden. Vermehrte soziale Interaktion ist hiernach
Voraussetzung für Zufriedenheit im Alter (B
ECKER
, 1998). Demnach ist ein
optimales Altern nur mit einem aktiven Lebensstil erreichbar. Unterschieden wird
hierbei zwischen drei Arten von Aktivität:
1. informelle Aktivität (z.B. Kontakte mit Bekannten und Verwandten),
2. formale Aktivität (z.B. Teilnahme an einer Aufgabe für die Gemeinschaft) und
3. einsame Aktivität (z.B. ein Hobby).
Laut der Aktivitätstheorie ist die informelle Aktivität die erfolgreichste
Aktivitätsform für die Lebenszufriedenheit im Alter (vgl.
D
ENK
&
P
ACHE
,
2003;
K
IRCHNER
et al.,
1998) und findet allgemeine Anwendung in der Alternsforschung.
2.3.3
Weitere Alternstheorien
Neben der Aktivitäts- und der Disengagement-Theorie gibt es noch viele Ansätze
(vgl. Anhang 1), die sich mit dem Lebensabschnitt ,,Alter" beschäftigen. Einige von
denen werden nachfolgend kurz angerissen:

Theoretische Grundlagen
21
·
Ein Verbindungsglied zwischen Aktivitäts- und Disengagement-Theorie ist die
Segregationstheorie
13
, da sie einerseits die Bildung von Subkulturen beschreibt
und andererseits vermehrte altersspezifische Aktivitäten erwartet (T
OFAHRN
,
1998).
·
Laut der Kontinuitätstheorie, basierend auf der materiellen Lage, wird die
Kontinuität der Lebensverhältnisse auch im Alter beibehalten. Das Verhalten im
Erwachsenenalter wird in den Lebensabschnitt des Alters transformiert, was
beispielsweise dazu führt, dass einmal begonnene Aktivitäten (z.B. Sport,
Engagement in ehrenamtlichen Tätigkeiten oder soziale Kontakte) tendenziell
beibehalten werden (vgl. K
OHLI
,
1990;
T
OFAHRN
, 1998). Das heißt, dass die
Menschen in der Übergangsphase die Kontinuität durch Anwendung vertrauter
Strategien an vertrauten Schauplätzen des Lebens anwenden (L
EHR
, 2000b).
·
Die life-span-psychology entwickelte einen Modellansatz, der die Optimierung
durch Selektion und Kompensation beschreibt. Das erfolgreiche Altern lässt sich
unter anderem an der körperlichen und geistigen Gesundheit, der sozialen
Kompetenz, der persönlichen Handlungskontrolle und der Lebenszufriedenheit
ablesen. Obwohl ihre physischen und mentalen Kräfte zurückgehen, bestimmen
bei diesem Ansatz ältere Menschen auch weiterhin darüber, welche für sie
wichtigen Lebensaufgaben sie erfüllen können bzw. zu erfüllen haben (P
RAHL
&
S
CHROETER
,
1996;
T
OFAHRN
, 1998).
·
Die WHO
14
(2002, S. 12) versteht unter aktivem Altern das Optimieren der
Möglichkeiten für Gesundheit, soziale Teilnahme und ökonomische Sicherheit mit
dem Ziel der Verbesserung der Lebensqualität alternder Menschen. Denn
Alterungsprozesse können durch Größen wie soziale und sozialpsychologische
(Bildung, Beruf, Einstellungen und Kontakte), ökonomische (Einkommen und
Vermögen), ökologische (Wohnung und Wohnumfeld), gesundheitliche sowie
persönliche Faktoren (Intelligenz und Lebenslauf) beeinflusst werden (vgl.
B
ECKER
, 1998).
Die hier dargestellten Theorieansätze verfügen nur über einen begrenzten
Blickwinkel, in dem einzelne Facetten und Phänomene beschrieben werden. Sie
13
In Zusammenhang mit dem Alter bedeutet Segregation, dass altersgemäße Randgruppen aus der
aktiven Gesellschaft ausgegliedert und institutionalisiert werden (z.B. Kinder: Kindergarten und Alter:
Altenheim).
14
World-Health-Organization

Theoretische Grundlagen
22
stellen keinen umfassenden Erklärungsversuch dar, sondern sind reduktionistisch, da
sie sich in der Regel auf ein Problem konzentrieren. Dennoch haben sie die
empirisch orientierte Altersforschung nachhaltig beeinflusst, und einige der Theorien
beginnen zu verschmelzen.
2.4
Subjektsein in der Zivilgesellschaft
Gemäß der theoretischen Vorstellung von R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
(2002) lässt sich
das Leben durch eine entscheidungsbezogene Handlungskonzeption abbilden.
Hierfür werden die verschiedenen Stadien des späten Lebens als Umstellungskrisen
gesehen, in denen Entscheidungen notwendig sind. Die Menschen im hohen und
höheren Lebensalter können die späte Lebensphase als Chance begreifen, die eigene
Lebensführung unter der Perspektive eines längeren Lebens zu sehen. Darin inbe-
griffen ist zum einen die Ausweitung und Vertiefung von Interessen. Zum anderen
stellt sich die zum Teil mühevolle Aufgabe vermehrter Selbststeuerung. Man sollte
wissen, was man möchte oder zumindest das ,,zu wissen" suchen. Diejenigen, die
sich selbst die Formen und sozialen Aktivitäten für die Gestaltung des eigenen
Lebens suchen, sind offen und gestaltungsfähig.
In Anlehnung an R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
(2002, S. 252ff) wird für diese Arbeit
angenommen, dass Handeln grundsätzlich Aktivität bzw. Aktivierung voraussetzt
und sich von Tätigkeit bzw. Tätigsein unterscheidet. Das Handeln steht im Kontext
von Lebenszielen und von gesellschaftlichen Herausforderungen bzw. Angeboten im
Sinne von Chancen.
Im Kontext sozialer Chancen und kultureller bzw. freizeitlicher/sportlicher Angebote
wird Handeln als zielbezogene, entscheidungsbedingte und emotionale Adaptions-
und Assimilationsleistung gesehen.
Das Vorstellungspaar Adaption und Assimilation geht auf individuelle Entwick-
lungsvorstellungen von J
EAN
P
IAGET
zurück. Die Adaptions- und Assimilations-
konzepte heben sich von der auf Selektion, Optimierung und Kompensation beruhen-
den Alternsbewältigung von B
ALTES
&
B
ALTES
(1989) ab. R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
(2002) schlagen eine vor allem für die jüngeren Alten geeignete Vorstellung einer
Verhaltensstärkung durch Herausforderung mit Hilfe von Zielen vor, die assimiliert

Theoretische Grundlagen
23
und dann verfolgt werden. Darüber hinaus werden individuelle Ressourcen darin
gesehen, dass ,,schlummerndes Potential zu Handlungen erweckt wird" (R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
,
2002, S. 253). Begreifen die Menschen die Ruhestandsphase als ihre
,,späte Freiheit" und wollen um der in dieser Freiheit enthaltenen intrinsischen
Belohnung willen ihre eigene Lebensführung unter der Perspektive eines - wenn
auch - risikoreicheren längeren Lebens begreifen, bedeutet dieses unter anderem eine
Ausweitung und Vertiefung von Interessen. Damit geht eine vermehrte Selbst-
steuerung einher. Offen und vielleicht gestaltungsfähig wird dann, mit welchen
Formen und sozialen Aktivitäten man das eigene Leben zu führen gedenkt.
Der Lebensstil ist Gestaltungsausdruck der Lebenswelt. Er umfasst die Sozial-
beziehungen, die persönliche Kultur, die Einstellung zur Arbeit und bestimmt den
Umgang mit Zeit und Umwelt. Durch den Lebensstil sollen die menschlichen
Bestrebungen
-
nach Überleben und Befriedigung des Lebensnotwendigen (Befriedigung der
Grundbedürfnisse, Leistung und Arbeit),
-
nach Sicherung eines angemessenen Lebensstandards (Existenzsicherung,
soziale Beziehungen und alle Formen von Solidarleistungen) und
-
nach Lebensqualität (unter anderem Wohlbefinden, Freiheit und Freizeit)
in eine alltagskulturelle Gestalt gebracht werden (A
GRICOLA
, 1998, S. 39).
Laut A
GRICOLA
(1998, S. 52) bevorzugt die Mehrheit der Älteren statt ,,Alters-
freizeitstress" eher eine aktive Lebensführung, die durch Selbstbestimmung, Offen-
heit und Beweglichkeit gekennzeichnet ist. Sie bejahen aber auch die Möglichkeit zu
Muße, Ruhe und Nichtstun.
2.5
Bedingungen von Vergesellschaftung im Alter
Mit dem Austritt aus dem Erwerbsleben kann es zur Vergesellschaftungslücke bzw.
zur Entgesellschaftung (K
OHLI
et al., 1993) kommen, da die soziale Integration nicht
mehr über die Erwerbsarbeit erfolgt und sich eine Vergesellschaftung auf Familie,
soziale Netze, Freizeit und Konsum beschränkt. Vergesellschaftung ist hierbei als
Prozess zu verstehen, in dem Menschen durch gesellschaftliche Strukturen und Pro-

Theoretische Grundlagen
24
gramme zum Handeln angeregt, herausgefordert und damit engagiert werden (vgl.
B
ACKES
, 2000, S. 145
C
LEMENS
, 2002, S. 170, K
OHLI
et al., 1993). Der Soziologe
W
EBER
(1976) sieht Vergesellschaftung schlicht als soziale Beziehung.
Zur Schließung der Vergesellschaftslücke im Ruhestand gewinnen zunehmend nach-
berufliche Tätigkeitsformen an Bedeutung (vgl.
C
LEMENS
, 2002; G
IDDENS
, 1999,
H
OLLSTEIN
, 2002a, K
ÜNEMUND
, 2001). Eine Vergesellschaftung als soziale Inte-
gration wird jedoch nicht nur über Erwerbsarbeit, sondern auch über Familie, kleine
Netze, Nichterwerbsarbeit, Freizeit und Konsum hergestellt. Diese Formen sozialer
Integration existieren im mittleren wie im höheren Erwachsenenalter. Deren
jeweiliges Gewicht verändert sich allerdings im Lebenslauf Einzelner wie auch im
Laufe der sozio-historischen gesellschaftlichen Entwicklung (C
LEMENS
, 2002, S.
174).
C
LEMENS
(2002) unterscheidet im Ruhestand drei Formen der Vergesellschaftung
mit eigener Prägungskraft: Familie und Verwandtschaft, soziale Netzwerke
außerhalb von Familie in Nachbarschaft und Freundeskreis sowie soziale
Beziehungen, die über Freizeit und Konsum vermittelt sind.
Der Soziologe
S
IMMEL
bezeichnet die strukturelle Bestimmtheit sozialer Bezie-
hungen als die Trag- und Leistungsfähigkeit von sozialen Beziehungen (zitiert nach
H
OLLSTEIN
, 2002a, S. 240.).
In einer von H
OLLSTEIN
(2002a) durchgeführten Re-Analyse der Simmel'schen
Arbeiten
15
wurden sieben verschiedene Aspekte herausgearbeitet, die als basale
Strukturmerkmale bezeichnet werden: Zahl und Raum, Zeit, Grad des Wissens über
den anderen, Wahlfreiheit der Beziehung, Gleichheit und Institutionalisierungsgrad
einer Beziehung bzw. Standard der Reziprozität (vgl. Anhang 3).
Ein Überblick der empirischen Forschungsbefunde zu Strukturen und Leistungen der
einzelnen Beziehungstypen (H
OLLSTEIN
, 2001) legt im Ergebnis nahe, dass die
einzelnen informellen Beziehungstypen durch jeweils spezifische Kombinationen
von Ausprägungen dieser Strukturmerkmale
16
gekennzeichnet sind und damit auch
spezifische Leistungsspektren darstellen. Der Verein unterscheidet sich beispiels-
15
Zur Vertiefung der Theorien von S
IMMEL
vgl. H
OLLSTEIN
, 2002a.
16
Für diese Prüfung wurden unterschieden: Zahl (Dyade, kleine oder große Gruppen), Wahlfreiheit,
Gleichheit bezüglich Alter, Geschlecht und sozialem Status, Wissensgrad: Grad der Intimität und
Umfang biografischen Wissens, Insititutionalisierungsgrad: rechtliche Regulierung und Art der
Reziprozität (direkt, verzögert, generalisiert), Zeit: Länge der erlebten Dauer, Länge der antizipierten
Dauer, Kontakthäufigkeit und Art des Kontakts (face-to-face), Raum: räumliche Nähe und eigener
Ort.

Theoretische Grundlagen
25
weise von den anderen frei gewählten Beziehungen durch seinen eigenen Ort, die
Ehe von allen anderen durch ihre hohe rechtliche Institutionalisierung und die
Nachbarschaft von allen anderen Beziehungen durch die räumliche Nähe bei
geringer rechtlicher Institutionalisierung.
In späteren Lebensphasen sind informelle Beziehungen einerseits besonders wichtig
(in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeiten) und andererseits sind sie besonders sensibel
und bedürfen der Anpassung an veränderte Lebensumstände (Gestaltbarkeit infor-
meller Beziehungen).
Ein wesentliches Ergebnis der Studie von H
OLLSTEIN
(2002b) ,,Verwitwung im
Alter. Die Bedeutung informeller sozialer Beziehungen"
17
ist, dass hinsichtlich der
sozialen Integration die Substitution oder Kompensation einer Partnerschaft in sehr
vielen und sehr unterschiedlichen anderen Beziehungsformen möglich ist. Darunter
fallen nicht nur Familie und Freundschaften. Basis eines zufrieden stellenden neuen
Lebens nach der Verwitwung können auch soziale Orte wie das Engagement im
Verein, regelmäßige und ausgedehnte Reisen oder Musikkreise sein.
2.6
Sozialkapital
Vor fast neunzig Jahren prägte der amerikanische Pädagoge H
ANIFAN
den Begriff
Sozialkapital und umschrieb damit menschliche Eigenschaften wie Gemeinschafts-
geist und Mitgefühl (H
ANIFAN
, 1916, S. 130 zitiert nach O
PASCHOWSKI
,
2002, S. 14).
Seither ist der Begriff insbesondere von P
IERRE
B
OURDIEU
(1983), J
AMES
S.
C
OLEMAN
(1988) und R
OBERT
D.
P
UTNAM
(2000, 2001) verwendet und in der sozial-
wissenschaftlichen Diskussion verbreitet worden.
Das soziale Kapital einer Gesellschaft ist gekennzeichnet durch die sozialen
Netzwerke und durch die Beziehungen, die zwischen unterschiedlichen Menschen
(z.B. im Hinblick auf Alter, Geschlecht, soziales Milieu) bestehen (vgl. D
IGEL
, 2000,
O
PASCHOWSKI
, 2002). Es ist der individuelle und kollektive Nutzen, den ein
Einzelner oder die Gemeinschaft aus der Eingebundenheit in Netzwerke ziehen kann
(P
UTNAM
, 2000, S. 18). Dieses Kapital ist für jedes Individuum eine wichtige
17
In der Studie wurden 18 verwitwete und bereits verrentete Frauen und Männer zwischen 63 und 73
Jahren befragt. Es handelte sich um Personen, die gesundheitlich nicht eingeschränkt waren und die
langjährige Ehen geführt hatten. Die Verwitwung der einzelnen Probanden lag mindestens drei Jahre
zurück.

Theoretische Grundlagen
26
Ressource und garantiert gesellschaftlichen Zusammenhalt. Verschiedene Netzwerke
sind dabei zu beachten. Familien-, Freundes- oder andere Netzwerke gehören dabei
ebenso dazu wie die individuelle Einbindung der Individuen in Verbände (D
IGEL
,
2000).
Schon vor 90 Jahren äußerte H
ANIFAN
die Befürchtung, die Menschen wären
weniger nachbarschaftlich eingestellt und das soziale Leben in der Gemeinschaft
wiche der Isolation. So gibt es auch für die Zukunft die Befürchtung, dass es eher
eine Ansammlung von Individuen geben wird, deren Kontakte von kurzfristigen
Kosten-Nutzen-Rechnungen bestimmt sind. Die Gesellschaft verliert den Sinn für die
Gemeinschaft. O
PASCHOWSKI
(2002, S.15) formuliert dies treffend: ,,Der flexible
Nomade droht zu vereinsamen in einer Gesellschaft der Ichlinge." Damit würde das
Gegenseitigkeitsprinzip zur neuen Norm für soziale Netzwerke. ,,Was die Menschen
dann noch miteinander verbindet, ist die Unverbindlichkeit" (O
PASCHOWSKI
, 2002,
S. 15).
2.7
Soziale Beziehungen
Der Begriff der sozialen Beziehung bezeichnet die wechselseitige Beeinflussung des
Fühlens, Denkens und Verhaltens von Individuen. Soziale Beziehungen lassen sich
unter verschiedenen Gesichtspunkten klassifizieren. Innerhalb der Verwandtschaft
gibt es die Elternschaft, Geschwister, Kinder, Enkelkinder und andere Verwandte.
Außerhalb der Verwandtschaft spricht man von informellen Beziehungen
18
sowie
von formellen Beziehungen
19
(vgl. W
AGNER
et al.,
1999, S. 304). Zu nennen ist
außerdem die Partnerschaft, die in der Regel zu den familiären Beziehungen hinzu-
gezählt wird.
Insgesamt wird die soziale Lebenswelt jedes Individuums durch Kontakte,
Beziehungen und Bindungen zu einzelnen Personen, Gruppierungen, Organisationen
und Institutionen bestimmt (vgl. A
GRICOLA
, 1998).
Die Erwerbsarbeit bietet den meisten Menschen im erwerbsfähigen Alter neben den
materiellen Existenzgrundlagen den institutionellen, räumlichen und zeitlichen
18
Zu den informellen Beziehungen zählen unter anderem nicht-eheliche Partner, Freunde,
Vereinskollegen, Bekannte und Nachbarn.
19
Unter formellen Beziehungen werden unter anderem allgemeine Dienstleistungen von
Pflegepersonen und Ärzten verstanden.

Theoretische Grundlagen
27
Rahmen für soziale Beziehungen, die außerhalb privater oder sonstiger öffentlicher
Bezüge entstehen. Mit dem Übergang von der Erwerbsarbeit in den Ruhestand
entfällt für die meisten älteren Menschen die zentrale Vermittlungsform der gesell-
schaftlichen Integration (C
LEMENS
, 2002), so dass es mit zunehmendem Alter zu
Rollen- und Gruppenzugehörigkeitsverlusten kommen kann (vgl. B
ECKER
, 1998).
Die noch vor wenigen Jahrzehnten verhaltensstabilisierenden Sozialformen und
Sozialgebilde - wie die Familie auf der Grundlage der Ehe, die Erwerbstätigkeit auf
der Grundlage eines langfristig richtungweisenden Berufs, die sozialen Beziehungs-
netze durch Ansässigkeit in der Wohngemeinde, die Wertbindung im kirchlichen
Raum sowie die Mitwirkungspotenziale durch aktive Mitgliedschaft in Vereinen und
Verbänden - sind für viele Zeitgenossen zumindest fragwürdig geworden. So treten
immer mehr Menschen in die Altersphase ihres Lebenslaufs ein ohne eine hin-
reichende stabilisierende Herausbildung ihrer soziokulturellen Identität als
Äquivalent der Statussicherung. Für immer mehr Personen enden die Versuche
relativ erfolglos, Diskontinuitäten im Lebenslauf im Rahmen einer umfassenderen, in
persönlichen Beziehungen erlebten Solidarität mit Menschen gleicher Herkunft und
Lebenslage auszugleichen (vgl. F
ÜRSTENBERG
, 2002, S. 80).
Soziale Netzwerke sind für das psychosoziale Wohlbefinden von Menschen von
zentraler Bedeutung. Ein Sportverein kann als ein derartiges Netzwerk gedeutet
werden. In ihm kann emotionale Unterstützung geleistet und Selbstwertgefühl
gewonnen werden (vgl. D
IGEL
, 2000).
Sowohl die gerontologische als auch die sozialpsychologische Forschung gehen
davon aus, dass die Anzahl der von einem Individuum getätigten sozialen Kontakte
dessen Lebensqualität positiv beeinflussen. Insbesondere ältere Menschen fühlen
sich dadurch emotional bestätigt. Sie sind zufriedener und offensichtlich aufge-
schlossener, wenn sie vielfältige sozialgeprägte Kontakte unterhalten können
(T
ISMER
et al., 1975, S. 47ff). So konstatieren auch R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
(2002,
S. 254), dass das Wohlbefinden im Alter deutlich von der Qualität der
Sozialbeziehungen abhängig ist.
Soziale Beziehungen bilden das Rückgrat für gesellschaftliche Integration, für die
Lösung von Aufgaben sowie für kulturelle und Freizeitaktivitäten (P
ALMORE
, 1979).
Das Selbstwertgefühl kann insbesondere dann gehoben werden, wenn die Kontakte
oder Beziehungen zu anderen Menschen geeignet sind, die Selbstständigkeit und
Wirksamkeit der älteren Menschen zu fördern (vgl. L
ANG
, 2000). Auch für das

Theoretische Grundlagen
28
Wohlbefinden im Alter ist das Engagement in nicht-familiären sozialen Rollen eine
wichtige Voraussetzung (L
EHR
,
2000b;
L
EHR
&
M
INNEMANN
, 1987). Von anderen
gebraucht bzw. geachtet und anerkannt zu werden, wobei sich das auch in einer
gewissen Geselligkeit ausdrückt, ist ein ganz entscheidender Antrieb im späten
Leben und eine günstige Voraussetzung dafür, dass es erfüllt gelebt werden kann
(vgl.
R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
, 2002).
Informelle soziale Beziehungen erfüllen vielfältige, kognitive, emotionale und
praktische Leistungen und sind in späteren Phasen des Lebenslaufs besonders
wichtig, denn ,,sie informieren und orientieren, sie motivieren und vermitteln
Zugehörigkeit, bieten Geselligkeit und Entspannung" (H
OLLSTEIN
, 2002a, S. 235).
Sie sind die wichtigsten Unterstützungspotenziale im Falle körperlicher Beein-
trächtigung und, neben der körperlichen Gesundheit, der Lebensbereich, der im
höheren und hohen Lebensalter am wichtigsten für die individuelle Lebens-
zufriedenheit ist (S
MITH
et al., 1999).
Ziel der Netzwerkanalyse ist die Untersuchung von Einflüssen struktureller
Merkmale der sozialen Umwelt auf das Verhalten einerseits sowie der Auswirkungen
individuellen Verhaltens auf die Gestaltung der Struktur von sozialer Umwelt
andererseits (S
TOSBERG
, 1998, S. 172). Studien, die mit dem Ansatz sozialer Netz-
werke arbeiten, beschreiben Netzwerke Älterer, zu denen auch Personen anderer
Generationen gehören, als Austauschbeziehungen. Die Austauschperspektive ist eng
mit der sozialen Norm der Reziprozität als dem eigentlich erklärenden Prinzip des
Austausches verbunden (vgl. B
IEN
et al., 1994; D
ALLINGER
, 2002).
Aus theoretischer Sicht steht die Analyse privater Lebensformen und sozialen
Beziehungen älterer Menschen im Spannungsfeld unterschiedlicher Annahmen
(A
TCHLEY
,
1999;
R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
,
2002). Das soziale Netzwerk verknüpft
jeden einzelnen mit mikrosozialen Strukturen wie der Familie, der Verwandtschaft,
der lokalen Nachbarschaft und weiteren ähnlichen Strukturen, die ihrerseits
wiederum mit gesellschaftlichen Makrostrukturen verbunden sind (S
TOSBERG
, 1998).
Einschränkungen in der Kompetenz - beispielsweise durch gesundheitliche Be-
lastungen oder nachlassende geistige Fähigkeiten - gehen mit einer zunehmend
positiv erlebten Rollenaktivität im innerfamiliären Bereich im Sinne der
Aktivitätstheorie (T
ARTLER
, 1961) einher. Kompetente Betagte sind dagegen mit
abnehmenden Rollenkontakten im Sinne der Disengagement-Theorie (C
UMMING
&
H
ENRY
, 1961) zufrieden (B
ECKER
, 1998, S. 22). Eine genau gegenläufige Tendenz

Theoretische Grundlagen
29
findet sich im außerfamiliären Bereich in der Freundesrolle (L
EHR
, 1987, S. 91). Bei
älteren Menschen, die regen Sozialkontakt mit Freunden und Bekannten pflegen, ist
der Wunsch nach Intensivierung der Familienkontakte weniger ausgeprägt (L
EHR
,
2000b).
2.7.1
Isolation und Einsamkeit
Verbreiten sich Isolation und Einsamkeit im Lebensabschnitt der älteren Menschen,
ist damit eine erhebliche Reduzierung der Lebensfreude und -qualität verbunden. Nur
wenn es gelingt, Kontakte und Freundschaften zu erhalten bzw. verloren gegangene
auszugleichen, wird das ehemalige Kontaktniveau gehalten (T
OFAHRN
, 1998, S.
169). Isolation und Einsamkeit sind allerdings nicht gleichbedeutend mit Alleinsein.
In der Literatur wird zwischen der sozialen Einsamkeit
20
und der emotionalen
Einsamkeit
21
unterschieden (S
MITH
&
B
ALTES
, 1999, S. 229ff). Außerdem muss der
Begriff Isolation von dem der Einsamkeit abgegrenzt werden
22
(L
EHR
, 2000b). Das
subjektive Gefühl der Einsamkeit wird keineswegs von der objektiven Kontakt-
häufigkeit bestimmt. Manch einer fühlt sich einsam, ist aber - an Ausmaß und Art
objektiv feststellbarer Sozialkontakte gemessen - keineswegs isoliert. Andere
Menschen hingegen, die objektiv verhältnismäßig wenige Sozialkontakte haben und
nach außen hin isoliert erscheinen, fühlen sich jedoch nicht unbedingt einsam (L
EHR
&
M
INNEMANN
, 1987). Für viele Menschen im höheren Lebensalter verschlechtern
sich aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nach dem 80. Lebensjahr die
sozialen Beziehungen. Sie klagen oft über Einsamkeit, vor allem, wenn sie kinderlos
sind bzw. keine Kontakte zu ihren Kindern haben, ihre bisherigen Beziehungs-
personen ausfallen oder sie im Heim leben (vgl. A
GRICOLA
, 1998). Betrachtet man
die Einsamkeitsgefühle der älteren Menschen, wird deutlich, dass diejenigen, die ihre
Gesundheit ungünstig einschätzen bzw. in den Alltagsaktivitäten eingeschränkt sind,
sich mehr als doppelt so häufig einsam fühlen als die eher gesunden und mobilen
Menschen. Vereinsamung ist also nicht nur eine Reaktion auf Isolation und fehlende
Kontakte, sondern auch eine Reaktion auf einen schlechten Gesundheitszustand. So
20
Soziale Einsamkeit: Personen vermissen gesellschaftliche Kontakte und soziale Aktivitäten mit
anderen.
21
Emotionale Einsamkeit: Menschen vermissen eine sehr enge Beziehung mit anderen Personen.
22
Während mit dem Begriff Isolation stärker objektive Gegebenheiten im Bereich sozialer Kontakte
zu erfassen sind, zielt der Begriff der Einsamkeit mehr auf das subjektive Erleben des sozialen
Interaktionsgefüges.

Theoretische Grundlagen
30
sind diese Menschen auch häufiger krank als jene, die über genügende soziale
Beziehungen verfügen. Bei seltenen Familienkontakten tritt das Einsamkeitsgefühl
doppelt so häufig auf wie bei zahlreichen Familienkontakten. Menschen fühlen sich
umso einsamer, je weniger Pläne und Zielsetzungen sie haben. Einsamkeit ist
demnach nicht nur sozial bedingt, sondern auch durch mangelnde eigene
Zielsetzungen bzw. negativ gefärbte Zukunftserwartungen verursacht. Protektive
Faktoren, um sich möglichst wenig einsam zu fühlen, sind: in einer Partnerschaft zu
leben, Kinder zu haben, zu denen emotional positive Beziehungen bestehen,
Integration in ehrenamtliche bzw. soziale Aktivitäten, lange Wohndauer und Berufs-
tätigkeit. Gefährdende Faktoren sind: Verwitwung, Scheidung im späten Leben,
schlechte Gesundheit, eingeschränkte Mobilität und starke Selbstbezogenheit
(R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
, 2002, S. 259ff.).
Geselligkeit ist für Ältere besonders nach dem Verlust von Lebenspartner und
Freunden ein starkes Motiv für die Annahme von Kontaktangeboten. Dabei suchen
sie nicht grundsätzlich die Seniorengemeinschaft, sondern die Teilhabe an den
gesellschaftlichen Möglichkeiten allgemein. Auf der einen Seite wird das Vereins-
leben gesucht, da sich Ältere in der Gesellschaft jüngerer selbst jünger fühlen, auf
der anderen Seite kann die Gemeinschaft gleichaltriger und gleich betroffener
Menschen eine große Hilfe sein (vgl. A
GRICOLA
, 1998).
2.7.2
Soziale Netzwerkanalyse
In der Studie ,,Bedingungen der Erhaltung und Förderung von Selbständigkeit im
höheren Lebensalter"
23
(SIMA) werden die sozialen Netzwerke der Teilnehmer aus
ihrer eigenen Perspektive erfasst (egozentrierte Netzwerke)
24
. Die Größe des
Netzwerkes variiert zwischen einer und 19 Personen bei einem Mittelwert von 8,5.
Männer und Frauen weisen keinen nennenswerten Unterschied hinsichtlich der
Netzwerkgröße auf. Knapp die Hälfte berichtete, dass ihr Netzwerk zu 51 Prozent
23
Diese interdisziplinäre Studie wurde seit 1990 als Längsschnittstudie mit ursprünglich 417
Menschen im Alter von 75 bis 93 Jahren, die in selbständiger Haushaltsführung leben, in den
städtischen Ballungsgebieten Mittelfrankens begonnen. Das Forschungsprojekt entstand am Institut
für Psychogerontologie der Universität Erlangen-Nürnberg unter der Leitung von Prof. Dr. W.D.
Oswald zusammen mit Dr. R. Rupprecht und Prof. Dr. E. Lang, Prof. Dr. H. Baumann, Prof. Dr. M.
Stosberg, Dr. K.C. Steinwächs sowie der Interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft für Angewandte
Gerontologie e.V.
24
Von den 276 Teilnehmern, die zum Zeitpunkt der Erfassung der Netzwerkstrukturen noch in der
Stichprobe waren, sind 180 Frauen und 96 Männer.

Theoretische Grundlagen
31
und mehr aus Verwandten bestehe. Gut sieben Prozent haben ausschließlich
Verwandte als Netzwerkpersonen benannt, während knapp acht Prozent gar keine
Verwandten als zu ihrem Netzwerk gehörig angaben. Es wird deutlich, dass
Familienbeziehungen eng und wichtig sind. Die Ergebnisse der Untersuchung
zeigen, dass fast alle der Teilnehmer auf die eine oder andere Weise formal in eine
Netzwerkstruktur integriert sind (vgl. S
TOSBERG
, 1998, S. 177ff). L
AMPERT
&
W
AGNER
(1998, S. 201) rechneten innerhalb der Berliner Altersstudie
25
(BASE, s.
Anhang 2) die Mittelwerte sozialer Integration auf die West-Berliner Population im
Alter von 70 Jahren und älter hoch. Demnach bezeichnete diese Berliner
Bevölkerungsgruppe 2,3 Personen als ihre Freunde und innerhalb eines Jahres
wurden im Schnitt 3,7 soziale Aktivitäten ausgeführt.
Bei dieser Untersuchung ging es nur um die Darstellung der Netzwerkstruktur, ohne
auf die Unterscheidung von Sporttreibenden und Nicht-Sporttreibenden einzugehen.
Doch es wurden die Beziehungsarten zu denjenigen untersucht, mit denen soziale
Aktivitäten unternommen werden: 50,7 Prozent aller genannten Aktivitäten werden
mit engen oder entfernten Verwandten unternommen. Bei den unternommenen
sozialen Aktivitäten wurden Freunde und Bekannte mit 20,1 Prozent bzw. 19,3
Prozent genannt, was zeigt, dass der Familie in dieser Generation trotz selbständiger
Haushaltsführung eine große Bedeutung zukommt (S
TOSBERG
, 1998, S. 180). Um
welche sozialen Aktivitäten es sich im Einzelnen handelte, geht aus den
Aufzeichnungen nicht hervor.
48 Prozent der über 70-jährigen Befragten aus der Berliner Altersstudie gaben an,
dass sie keine besondere Person in ihrem Netzwerk haben, auf deren emotionale
Unterstützung sie sich verlassen können. Dagegen gaben 52 Prozent (gleich viele 70-
bis 84-Jährige sowie 85-Jährige und ältere) an, eine Vertrauensperson zu haben
25
Die Berliner Altersstudie (vgl. M
AYER
&
B
ALTES
, 1999) zählt zu den größten bislang
durchgeführten gerontologischen Forschungsprojekten und zeichnet sich durch eine breite Multi- und
Interdisziplinarität der Erhebungen und Auswertungen, ein longitudinales Design sowie die
Konzentration auf das sehr hohe Alter aus. Die Grundgesamtheit sind Personen im Alter von 70
Jahren und älter in West-Berlin. Die ursprüngliche Brutto-Stichprobe, die in vier Wellen (März 1990,
März 1991, Juli
1991 und Januar 1992) als nach Alter und Geschlecht geschichtete Zufallsstichprobe
aus dem amtlichen Melderegister der Stadt Berlin gezogen wurde, umfasst 2297 Personen. 928
Personen waren für eine Beteiligung an der Ersterhebung zu gewinnen. 516 Personen haben an der
vollständigen Untersuchung teilgenommen (L
AMPERT
&
W
AGNER
,
1998;
M
AYER
&
B
ALTES
, 1999).
Die Berliner Altersstudie wird von der Arbeitsgruppe ,,Altern und gesellschaftliche Entwicklung"
(AGE) der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit der
Freien Universität Berlin und dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung durchgeführt. Dem
Leitungsgremium der Berliner Altersstudie gehören Prof. Dr. P.B. Baltes, Prof. Dr. K.U. Mayer, Prof.
Dr. H. Helmchen sowie Prof. Dr. Steinhagen-Thiessen an.

Theoretische Grundlagen
32
(S
MITH
&
B
ALTES
, 1999, S. 238). In diesem Zusammenhang wurde nicht untersucht,
ob diejenigen, die angaben, eine Vertrauensperson zu haben, sportlich aktiver sind,
als der Personenkreis, der laut Studie keine Vertrauensperson hat.
Mehr als die Hälfte der Jungsenioren und der Senioren hat vorgesorgt, um genügend
soziale Beziehungen im Alter zu haben, einerseits durch die Pflege familiärer
Bindungen und andererseits durch einen Freundeskreis (vgl. Tabelle 1) (A
GRICOLA
,
1998, S. 83, O
PASCHOWSKI
, 1998).
Tabelle 1: Vorsorge für soziale Beziehungen (Quelle: O
PASCHOWSKI
, 1998, S. 138)
Vorsorge für soziale Beziehungen
26
(Antworten in Prozent)
50 bis
64 Jahre
65 bis
79 Jahre
80 Jahre
und älter
Gesamt-
bevölkerung
Familiäre Bindungen erhalten
57
59
51
51
Freundeskreis pflegen
53
50
47
50
Hobby, Do-it-yourself
21
14
9
18
Vereinsbeitritt, Stammtisch
18
17
5
16
Ehrenamtliche Arbeit, soziales
Engagement
13
12
4
10
Weiterbildung (z.B. Kurse, Seminare,
Studien)
6
3
2
10
Der Freundeskreis wird - wie bei den nachkommenden Generationen - besonders
auch für allein stehende Senioren zum sozialen Netz und übernimmt Funktionen der
Familie, wenn auch mit anderer Beziehungsqualität. Viele ältere Menschen
beteiligen sich im Wohnumfeld und in weiterer Umgebung an Nachbarschafts-,
Strassen- und Viertelfesten, Freizeitsport- und Spielaktionen, Vereinsveranstaltungen
mit eigenen Beiträgen und Produkten (A
GRICOLA
, 1998, S. 83).
In den vergangenen Jahrzehnten wurde vielfach die Beziehungslosigkeit der
Menschen beklagt. Die Auswertung von Beobachtung und von Untersuchungen zeigt
zwar einen Wandel der Beziehungen, auch kürzere Beziehungszeiten, nicht aber ein
Nachlassen. Mehr als 60 Prozent der Befragten gaben an, sich im Ruhestand der
Familie zu widmen, 40 Prozent beschäftigen sich mit ihren Enkeln und zehn Prozent
engagieren sich ehrenamtlich (vgl. Tabelle 2). Von den 50- bis 70-Jährigen Senioren
26
Repräsentativbefragung von 3.000 Personen ab 14 Jahren im Dezember 1997 in Deutschland.
Frage: ,,Haben Sie über die finanzielle Versorgung hinaus etwas unternommen, um für den Ruhestand
vorzusorgen?"

Theoretische Grundlagen
33
leisten etwa 40 Prozent Familienhilfe. Bei den über 70-Jährigen sind es noch ein
Viertel der befragten Senioren (vgl. A
GRICOLA
, 1998).
Tabelle 2: Tätigkeiten und Wünsche von Senioren (Quelle: O
PASCHOWSKI
, 1998)
Soziale Welt - Tätigkeiten und Wünsche von Senioren
27
(Antworten in Prozent)
1983
1997
Frage 1: ,,Was tun Sie in Ihrer Freizeit alles?"
Frage 2: ,,Was würden Sie gern häufiger in Ihrer Freizeit machen?" 1 2 1 2
Sich der Familie widmen
72 19 66 12
Mit Nachbarn plaudern
50 14 51 10
Mit Enkelkindern beschäftigen
35 23 41 21
Freunde, Verwandte besuchen
42 31 34 21
Skatabend, Stammtisch
16 10 18 14
Ehrenamtliche Aufgaben übernehmen
11 10 17 13
Kaffeekränzchen
11 6 16
6
Zu den älteren Menschen, die über kein oder nur ein sehr geringes familiales
Unterstützungspotential verfügen, zählen vor allem ältere kinderlose Paare, ältere
ledige Personen und verwitwete Personen, insbesondere dann, wenn sie kinderlos
sind (BMFSFJ, 2001, S. 223). Freunde spielen bei den partner- und kinderlosen
Personen zwar eine größere Rolle, aber sie ersetzen in dieser Betrachtungsweise die
Familienbeziehungen nicht. Das Modell der hierarchischen Kompensation geht
davon aus, dass wenn die präferierten Hilfequellen Partner, Kinder, Freunde,
Nachbarn und andere Verwandte nicht vorhanden oder nicht verfügbar sind, formelle
Organisationen bzw. professionelle Helfer die Rolle von so genannten Lückenbüßern
einnehmen (H
OLLSTEIN
, 2002a, S. 237).
2.7.3
Freundeskreis
Bei einer Auswertung der BOLSA-Daten über eine 15-jährige Beobachtungszeit
stellen L
EHR
&
M
INNEMANN
(1987) fest, dass zunehmende Kontakte mit Freunden
mit einem aktiven Lebensstil in Bezug auf das Alltagsverhalten und in Bezug auf das
Zugehen auf Menschen sowie mit einer höheren Bereitschaft, Chancen aufzugreifen,
mit generell höherer Anregbarkeit und positiverer Stimmungslage korrelieren.
27
Zielgruppe: Alle Ruheständler in Westdeutschland. Befragung von 450 bzw. 375 Ruheständlern in
den Jahren 1983 und 1997 in Deutschland. Antworten ,,täglich" sowie ,,häufig" in Prozent.

Theoretische Grundlagen
34
In der ILSE weisen Frauen weit häufiger freundschaftliche Kontakte auf als Männer
(G
RÜNENDAHL
et al., 1997). Dieses Ergebnis entspricht auch den Ergebnissen der
einschlägigen amerikanischen Forschung (vgl. L
EHR
, 2000b).
In der Berliner Altersstudie berichteten 68,6 Prozent der 70- bis 84-Jährigen, einen
Freund zu haben. Bei den über 85-Jährigen sank der Anteil auf 43,3 Prozent. Ledige
hatten mit 76 Prozent am häufigsten eine Freundschaft. Unterschiede zwischen
Frauen und Männern ergaben sich hier nicht (W
AGNER
et al., 1999).
Nach dem Alters-Survey
28
(vgl. Anhang 3) werden Freunde von den 55- bis 69-
Jährigen von 35,7 Prozent und bei den 70- bis 85-Jährigen von 28 Prozent genannt.
Andere Personen der außerfamiliären Umgebung rangierten mit Nennungen von 2,8
Prozent bzw. 3,9 Prozent für Bekannte oder 9,6 Prozent bzw. 14,4 Prozent für
Nachbarn weit hinter den Freunden als wichtigste Personen (K
OHLI
&
K
ÜNEMUND
,
2000).
Die SWR-Studie ,,50+"
29
zeigt, dass es den meisten 50- bis 74-Jährigen (91 Prozent)
wichtig ist, Freunde zu haben, auf die man sich verlassen kann, und dass man sich
nicht einsam fühlt (83 Prozent). Knapp die Hälfte der Teilnehmer steht nach eigenen
Angaben regelmäßig mit vielen Menschen in sozialem Kontakt. Doch es zeigt sich
auch in dieser Studie, dass die älteren Menschen (65- bis 74-Jährige) weniger soziale
Kontakte haben, als die 50- bis 64-Jährigen (G
RAJCZYK
et al., 2001).
Knapp 85 Prozent der Gruppe der Ruheständler gab in der Studie ,,Keine Zeit für
Freizeit oder alle Zeit der Welt?"
30
(B
OECKH
, 1997) an, Freunde zu haben. Von
denen verfügt ein Drittel über einen Freundeskreis mit sechs bis zwölf Freunden und
ein Viertel der Ruheständler hat ein bis fünf Freunde. Fast die Hälfte der befragten
Ruheständler trifft sich monatlich und ein Drittel trifft sich wöchentlich mit ihren
Freunden.
Die Ergebnisse der Studie ,,Altern in der Großstadt"
31
zeigen, dass die außerfamiliäre
Anerkennung, vermittelt durch Freundschaftskontakte und -beziehungen, eine eigene
28
Die Stichprobe des Alters-Survey umfasst das Altersspektrum von 40 bis 85 Jahren. Befragt wurden
insgesamt knapp 5000 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, die in Privathaushalten leben. Die
Haupterhebung wurde im Frühjahr und Sommer 1996 durchgeführt (K
OHLI
&
K
ÜNEMUND
, 2000).
29
In der SWR-Studie ,,50+" wurden 1000 deutschsprachige Personen im Alter von 50 bis 74 Jahren
im Jahr 1999 zu ihrer Mediennutzung sowie allgemein zu sozialen Themen befragt.
30
In dieser Studie wurden insgesamt 349 Personen im Alter zwischen 55 und 75 Jahren mittels eines
Fragebogens befragt.
31
An der Wiener Studie, in der die vier Themenfelder Einsamkeit, Körperbezug, Bewegungsverhalten
und Alterskultur untersucht wurden, nahmen 1.022 60- bis 75-jährige Wiener teil. Die Untersuchung
wurde von R
OSENMAYER
&
K
OLLAND
(2002) geleitet.

Theoretische Grundlagen
35
Kategorie der Bestätigung der älteren Menschen darstellt und durch familiäre
Beziehungen nicht ersetzt werden kann (R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
,
2002, S. 252ff.).
Neben physischen Aktivitäten gelten Kontakte zu außerfamiliären Gruppen zu den
wichtigsten Prädiktoren erfolgreichen Alterns (vgl. P
ALMORE
,
1979;
W
ILLIGEN
,
2000). Diese generalisierende Aussage muss man jedoch dahingehend einschränken,
dass Intensität und Qualität sozialer Rollen, ihre Auswahl und die Häufigkeit ihrer
Ausübung einer ganzen Reihe von Bedingungsfaktoren unterliegen. Die Ergebnisse
der Wiener Studie bestätigen die entwicklungsbegünstigenden außerfamiliären
Kontakte.
Tabelle 3: Kontakte nach soziodemographischen Merkmalen (Quelle: R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
,
2002,
S.
256)
Kontakte nach soziodemographischen Merkmalen
(Angaben in Prozent)
zu Kindern/Enkeln
mind. 1x/Woche
zu Freunden
mind. 1x/Woche
Gesamt:
50
67
Altersgruppen:
60- bis 64-Jährige
53
73
65- bis 69-Jährige
54
71
70- bis 75-Jährige
45
56
Geschlecht:
Frauen
52
69
Männer
49
65
Zwei Drittel der befragten Älteren kommen zumindest einmal pro Woche mit
Freunden bzw. Bekannten zusammen (vgl. Tabelle 3). Ein Drittel der Befragten hat
wenigstens zwei Freunde und ein weiteres Drittel hat immerhin vier Freunde. Das
außerfamiliäre Beziehungsnetz ist von gesundheitlichen Bedingungen (Mobilität),
von Schichtzugehörigkeit und Alter beeinflusst. Höheres Alter und geringere
ökonomische Ressourcen reduzieren die Kontakthäufigkeiten und die Ausdehnungen
des Netzes (R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
, 2002, S. 257; T
OFAHRN
, 1998, S. 178). Bei
den außerfamiliären Kontakten kommt allerdings der körperlichen Mobilität eine
größere Bedeutung zu als der Schichtzugehörigkeit (R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
, 2002,
S. 257).

Theoretische Grundlagen
36
2.7.4
Nachbarschaftskontakte
Zu Beginn der BOLSA-Studie war die Häufigkeit der Kontakte der Probanden mit
ihren Nachbarn höher als die mit jeder anderen außerfamiliären Rolle. Bei 44,2
Prozent nahm sie während des 15-jährigen Beobachtungszeitraums zu und bei 55,8
Prozent nahm die Aktivität in der Nachbarrolle in dieser Zeit ab. Ein Disengagement
in der Nachbarrolle (sinkende Rollenaktivität bei zunehmender Zufriedenheit und
steigende Rollenaktivität bei sinkender Zufriedenheit), das bei 34,6 Prozent der
Befragten festzustellen war, verband sich mit höheren Werten in den kognitiven
Tests. Jene, die sich in der Nachbarrolle zunehmend mehr disengagierten, zeigten
eine höhere Zufriedenheit in der Rolle als Vereinsmitglied und Bürger. Eine
Reaktion im Sinne der Aktivitätstheorie, d.h. eine positiv erlebte zunehmende
Aktivität in der Nachbarrolle bzw. eine negativ erlebte nachlassende Aktivität ging
mit starken Belastungen in den Beziehungen zu den Kindern einher, einem einge-
schränkten Zukunftsbezug und einer Abnahme sonstiger außerfamiliärer Rollen-
aktivitäten, beispielsweise als Vereinsmitglied und als Bürger. Erklären kann man
das mit einer Restriktion des Lebensraumes, die zu einer Intensivierung räumlich
naher Sozialkontakte führte (L
EHR
,
2000b,
L
EHR
&
M
INNEMANN
,
1987).
2.7.5
Mitgliedschaft in einem Verein
Soziales Engagement bietet älteren Menschen nicht nur neue Zeitstrukturen und
Lebenssinnmöglichkeiten, sondern nutzt auch die sozialen Erfahrungen älterer
Menschen für die Zukunftsplanung der Gesellschaft. Viele ältere Menschen haben
aufgrund ihrer Lebenserfahrung gute Fähigkeiten, um als Multiplikatoren, Anleiter
oder Ausbilder in Projekten, in Einrichtungen, in der Nachbarschaft, in Vereinen
oder im Wirtschaftsbereich tätig zu sein (A
GRICOLA
, 1998, S. 87).
Die Zahl älterer Vereinsmitglieder und ihre Bereitschaft zum Ehrenamt steigen. Sie
unterstützen zudem solche Leistungen im Zusammenleben der Menschen (beispiels-
weise Kontakte, Beziehungen und Liebe) und im Umweltbereich, die sich der
Regelung durch Geld entziehen (A
GRICOLA
, 1998, S. 83).
Mehr als die Hälfte der Befragten der BOLSA-Studie verhielten sich während eines
15-jährigen Beobachtungszeitraums in der Rolle als Vereinsmitglied im Sinne der
Aktivitätstheorie (31,2 Prozent begrüßten die ansteigende Aktivität, ein Fünftel

Theoretische Grundlagen
37
bedauerte die sinkende Aktivität). Etwas weniger als die Hälfte reagierten im Sinne
der Disengagement-Theorie (44,4 Prozent waren zufrieden mit dem Nachlassen
dieser Rollenaktivität und 4,4 Prozent waren unzufrieden mit der steigenden
Aktivität in dieser Rolle). Jene Männer und Frauen, die im Sinne der Aktivitäts-
theorie reagierten, hatten eine weiterführende Schulbildung und zeigten einen
größeren Interessenradius als jene, die gemäß der Disengagement-Theorie reagierten
(L
EHR
,
2000b;
L
EHR
&
M
INNEMANN
, 1987).
Schaut man sich das ehrenamtliche Engagement im Alters-Survey an, dessen
überwiegender Anteil an eine Mitgliedschaft in Organisationen, Vereinen und
Verbänden gebunden ist, dann lässt sich feststellen, dass die Hälfte der 40- bis 85-
Jährigen Mitglied in mindestens einem Verein oder Verband ist. Männer sind mit 57
Prozent allerdings gegenüber den Frauen mit 46 Prozent häufiger Vereinsmitglied
(K
OHLI
&
K
ÜNEMUND
, 2000, S. 295). 17 Prozent der 55- bis 69-Jährigen sowie zwölf
Prozent der 70- bis 85-Jährigen nahmen wenigstens einmal pro Woche an Veran-
staltungen und Versammlungen in Vereinen und Verbänden teil. Rechnet man hierzu
noch diejenigen, welche ein- bis dreimal monatlich und jene, die mehrmals in der
Woche an Vereinsveranstaltungen teilnahmen, würde bei 43 Prozent der 55- bis 69-
Jährigen und bei etwa einem Drittel der 70- bis 85-Jährigen die einigermaßen regel-
mäßige Teilnahme an Vereinstätigkeiten zu ihrem alltäglichen Leben gehören
(K
OHLI
&
K
ÜNEMUND
, 2000; K
ÜNEMUND
&
H
OLLSTEIN
, 2000).
Aus der Wiener Studie lässt sich ablesen, dass von den 60- bis 75-Jährigen insgesamt
51 Prozent in Vereinen eingeschrieben sind. Aber nur etwa jeder Dritte nimmt aktiv
am Vereinsleben teil. 17 Prozent sind Mitglied in einer parteinahen oder gewerk-
schaftlich organisierten Seniorenvereinigung, 13 Prozent gehören einer kirchlichen
oder religiösen Gruppe an, zwölf Prozent sind Mitglied in Wohlfahrtsorganisationen
und weitere elf Prozent sind in einer Partei eingeschrieben. Jeweils neun Prozent sind
in einem Kultur- bzw. Sportverein Mitglied. Ein Drittel der Befragten nennt
mindestens eine Tätigkeit im Bereich der Freiwilligenarbeit. Von diesen tätigen
Personen sind vier Fünftel in mehr als einer Tätigkeit engagiert. Die Freiwilligen-
arbeit (= neues Ehrenamt) trägt einen stark privaten Charakter. Sie ist auf das un-
mittelbare soziale Milieu beschränkt. Während man in den Daten zur Vereinstätigkeit
(= altes Ehrenamt) einen höheren Männeranteil findet, findet man im Freiwilligen-
engagement mehr Frauen. Es besteht ein großer Zusammenhang zwischen Frei-

Theoretische Grundlagen
38
willigenarbeit und formaler Bildung. In der Freiwilligenarbeit sind 42 Prozent der
Hochschulabgänger im Vergleich zu 21 Prozent der Pflichtschulabgänger tätig (vgl.
Tabelle 4) (R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
, 2002).
Tabelle 4: Altes und neues Ehrenamt (Quelle:
R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
, 2002, S. 272; eigene
Darstellung)
Altes und neues Ehrenamt nach soziodemographischen Merkmalen
(Antworten in Prozent)
Altes Ehrenamt
Neues Ehrenamt
Geschlecht:
Männer
37
28
Frauen
32
36
Altersgruppen:
60- bis 64-Jährige
39
37
65- bis 69-Jährige
35
34
70- bis 75-Jährige
29
25
Schulbildung:
Volksschule
24
21
Hauptschule
22
27
Fachschule
35
33
Matura/Studium
41
38
Hochschule
51
42
Neben der allgemeinen Lebenszufriedenheit und dem Gesundheitsempfinden wurde
in der Wiener Studie der Einfluss des Ehrenamts auf soziale Integration untersucht.
R
OSENMAYR
&
K
OLLAND
(2002) konnten nachweisen, dass solche Tätigkeiten
Kommunikationsbedürfnisse erfüllen, Einsamkeit neutralisieren und angstredu-
zierend wirken. Jedoch wird bei einem Vergleich deutlich, dass die jeweilige Betäti-
gung als solche einen Einfluss hat, nicht aber das Ausmaß der Betätigung. Das
bedeutet, dass jene, die optimistisch in die Zukunft schauen, eher aktiv sind als jene,
die diese Erwartung nicht teilen. Vergleichsweise gering ist der Einfluss ehren-
amtlichen Engagements auf soziale Integration.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783836620093
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn – Philosophische Fakultät, Studiengang Sportwissenschaft
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,1
Schlagworte
alterssport netzwerk sportsoziologie freizeitaktivität selbstbild
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Titel: Altern in Gesellschaft
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