Bildungsproblematik der Jugendlichen türkischer Herkunft durch das selektive Schulsystem in Deutschland
Zusammenfassung
Der Fokus dieser Arbeit richtet sich auf die Darstellung der schulischen Bildung junger Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik Deutschland. Im Kern dieser Arbeit werden primär der Schulbesuch und die erbrachten schulischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund dargestellt, analysiert und bewertet. In dieser Arbeit sollen zunächst die migrationsbedingten Veränderungen/ Problematiken in Bezug auf die Bildungsbeteiligung im deutschen Bildungssystem betrachtet werden. Das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der PISA Studie hat die bildungspolitische Debatte stark angeregt und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen.
Gerade im Hinblick auf den Anspruch auf Chancengleichheit sind die individuellen Lebensverhältnisse der Schüler und deren Familien untersucht worden. Auffallend ist, dass Kinder/ Jugendliche mit Migrationshintergrund auf Realschulen und Gymnasien unterrepräsentiert und auf Hauptschulen und Sonderschulen überrepräsentiert sind. Umstritten ist, ob die Ursachen für dieses Phänomen auf institutionelle Diskriminierung und systematische Benachteiligung durch das Bildungssystem zurückzuführen sind oder ob es sich um kulturalistische oder sozioökonomische Effekte handelt. Diesbezügliche Studien vor PISA haben vorwiegend nur in Expertenkreisen für Diskussionen gesorgt.
Der Arbeit liegt die zentrale These zugrunde, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem nicht dieselben Chancen für eine erfolgreiche Schulkarriere besitzen, wie die Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund.
Das zweite Kapitel dient der Einführung in die Thematik und stellt die Bedeutung der Migration für die Bundesrepublik Deutschland dar. Nachdem die für diese Arbeit relevanten Begrifflichkeiten definiert wurde, erfolgt anschließend eine Betrachtung der Migration und die zukünftige Entwicklung der Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland um schließlich einen Überblick über die Zusammensetzung der ausländischen Wohnbevölkerung und der ausländischen Schülerschaft Deutschlands zu geben. Das dritte Kapitel umfasst den Schulbesuch und die Leistungen der Schülerschaft mit Migrationshintergrund. Im Rahmen dieses Kapitels wird zunächst die Bildungsbeteiligung der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund an den Schulformen des allgemein bildenden Schulwesens betrachtet und eine Übersicht über ihre erreichten Schulabschlüsse geliefert.
Im Rahmen […]
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Migranten türkischer Herkunft in der deutschen Gesellschaft
2.1 Begrifflichkeiten
2.2 Migrationsgeschichtlicher Hintergrund
2.2.1 Gründe zur Einwanderung der türkischen Migranten nach Deutschland
2.2.2 Förderung der Rückkehr
2.2.3 Von Gastarbeitern der Ausländer zu Zuwanderern
2.3 Stellungen der zweiten und dritten Generation türkischer Migranten in der deutschen Gesellschaft
2.3.1 Psychosoziale Situation und soziale Identität
2.3.2 Arbeitsstatus als Stigma
2.3.3 Berufliche Stellung
2.3.4 Wohnverhältnisse und Familiengröße
2.3.5 Kulturelle Bindungen
2.3.6 Sprache und Sprachkompetenz
3. Schulbesuch und Bildungsbenachteiligung von Migranten türkischer Herkunft im deutschen Schulsystem
3.1 Jugendliche aus Migrantenfamilien
3.2 Basiskompetenzen der Jugendlichen mit und ohne Migrationhintergrund
3.3 Zusammensetzung der ausländischen Schülerschaft
3.4 Bildungsbeteiligung und Schulerfolg
3.4.1 Ursachen für das Schulversagen von Migrantenkinder
3.4.2 Besondere Problemstellungen der schulischen Situation von türkischen Kindern und Jugendlichen
3.4.3 Bildungsabschlüsse im Vergleich
3.4.4 Folgen für die weitere Bildungs- und Berufs- laufbahn
3.5 Einfluss bestimmter Sozialisationsbedingungen auf den Schulerfolg
3.5.1 Auswirkungen des Sprachgebrauchs auf den Schulerfolg
3.5.2 Bildungsniveau und berufliche Stellung
3.5.3 Traditionelle Erziehungsziele und Religion
3.6 Schulleistungsvergleichsstudie PISA
3.6.1 Befunde zu den Herkunftsgruppen bei der PISA-Studie
3.6.2 Das deutsche Bildungssystem – integrativ oder selektiv?
3.7 Schlussfolgerung
4. Erklärungsansätze
4.1 Erklärungsmöglichkeiten für die Bildungsbenachteiligung
4.2 Sozio-kulterelle Faktoren
4.2.1 Zum Kulturbegriff
4.2.2 Kulturelle Transformationen
4.2.3 Sprachliche Voraussetzungen
4.2.4 Religion
4.2.5 Benachteiligung durch sozio-kulturelle Faktoren
4.2.5.1 Schule und Zweisprachigkeit
4.2.5.2 Schule und Religion
4.2.5.3 Kulturelle Heterogenität im Schulsystem
4.3 Sozio-ökonomische Faktoren
4.3.1 Bildungsniveau und soziale Einstellungen der Eltern
4.3.2 Auswirkungen der Lebensbedingungen auf den Schulerfolg
4.3.3 Benachteiligung durch sozio-ökonomische Faktoren
4.4 Schulorganisatorische Faktoren
4.4.1 Institutionelle Diskriminierung
4.4.2 Vorschulische Erziehung
4.5 Rechtliche Situationen als Rahmenbedingungen für die Bildungssituation
5. Perspektiven und Chancen für ein gerechtes deutsches Schulsystem
5.1 Die Aufgabe der deutschen Schule
5.2 Fördermaßnahmen im Elementar-, Primar- und Sekundarbereich
5.2.1 Sprachliche Fördermaßnahmen
5.2.2 Migrantenkindern an der Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen
5.3 Defizite und mögliche Veränderungen
6. Fazit
Literaturverzeichnis
Erklärung
1. Einleitung
Der Fokus dieser Arbeit richtet sich auf die Darstellung der schulischen Bildung junger Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik Deutschland. Im Kern dieser Arbeit werden primär der Schulbesuch und die erbrachten schulischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund dargestellt, analysiert und bewertet. In dieser Arbeit sollen zunächst die migrationsbedingten Veränderungen/ Problematiken in Bezug auf die Bildungsbeteiligung im deutschen Bildungssystem betrachtet werden. Das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der PISA Studie hat die bildungspolitische Debatte stark angeregt und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen. Gerade im Hinblick auf den Anspruch auf Chancengleichheit sind die individuellen Lebensverhältnisse der Schüler und deren Familien untersucht worden. Auffallend ist, dass Kinder/ Jugendliche mit Migrationshintergrund auf Realschulen und Gymnasien unterrepräsentiert und auf Hauptschulen und Sonderschulen überrepräsentiert sind. Umstritten ist, ob die Ursachen für dieses Phänomen auf institutionelle Diskriminierung und systematische Benachteiligung durch das Bildungssystem zurückzuführen sind oder ob es sich um kulturalistische oder sozioökonomische Effekte handelt. Diesbezügliche Studien vor PISA haben vorwiegend nur in Expertenkreisen für Diskussionen gesorgt.
Der Arbeit liegt die zentrale These zugrunde, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem nicht dieselben Chancen für eine erfolgreiche Schulkarriere besitzen, wie die Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund.
Das zweite Kapitel dient der Einführung in die Thematik und stellt die Bedeutung der Migration für die Bundesrepublik Deutschland dar. Nachdem die für diese Arbeit relevanten Begrifflichkeiten definiert wurde, erfolgt anschließend eine Betrachtung der Migration und die zukünftige Entwicklung der Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland um schließlich einen Überblick über die Zusammensetzung der ausländischen Wohnbevölkerung und der ausländischen Schülerschaft Deutschlands zu geben. Das dritte Kapitel umfasst den Schulbesuch und die Leistungen der Schülerschaft mit Migrationshintergrund. Im Rahmen dieses Kapitels wird zunächst die Bildungsbeteiligung der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund an den Schulformen des allgemein bildenden Schulwesens betrachtet und eine Übersicht über ihre erreichten Schulabschlüsse geliefert. Im Rahmen der Bildungsbeteiligung der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund erfolgt auch eine Darstellung ihrer Repräsentanz an den Schulformen. Zudem wird auf besondere Problemstellungen der schulischen Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und im Rahmen dessen auf regionale und nationalitätenspezifische Unterschiede in der Bildungsbeteiligung eingegangen und auf eventuelle Ungleichheiten hingewiesen. Neben der Darstellung der schulischen Bildungsbeteiligung erfolgt eine Darstellung und Vorstellung des Leistungsniveaus der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund im Rahmen der Schulleistungsvergleichsstudie PISA. So weit möglich erfolgt in den einzelnen Betrachtungsaspekten des Schulbesuchs und der Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund ein Vergleich mit den Schülerinnen und Schülern deutscher Herkunft um auf eventuelle Ungleichheiten und statistische Auffälligkeiten zwischen diesen beiden Gruppen hinzuweisen. Im folgenden Kapitel werden Erklärungsansätze für die Bildungsbenachteiligung der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund geliefert. Neben der Darstellung der soziokulturellen Faktoren, werden als weitere Erklärungsmöglichkeit sozioökonomische Faktoren vorgestellt, um dann abschließend auf den Aspekt schulorganisatorische Faktoren und die rechtliche Situation als Rahmenbedingungen für die Bildungssituation einzugehen. Im fünften Kapitel wird auf die schulische Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund eingegangen. Hier werden Fördermöglichkeiten in der Grundschule und in der Sekundarstufe aufgezeigt.
Im sechsten Kapitel werden die vorgestellten Daten aus den vorangegangen Kapiteln zusammengefasst dargelegt und kritisch beleuchtet und eine abschließende Einschätzung der zukünftigen Entwicklung der Bildungsbeteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund im Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland vorgenommen.
2. Migranten türkischer Herkunft in der deutschen Gesellschaft
2.1 Begrifflichkeiten
► Migranten/Migration: Menschen, die einzeln oder in Gruppen ihre bisherigen Wohnorte verlassen, um sich an anderen Orten dauerhaft oder zumindest für längere Zeit niederzulassen, werden als Migranten bezeichnet. Tourismus und andere Kurzzeitaufenthalte fallen nicht unter die Definition von Migration (Soziologie), saisonale Arbeitsmigration wird jedoch manchmal mit einbezogen.
Überschreiten Menschen im Zuge ihrer Migration Ländergrenzen, werden sie aus der Perspektive des Landes, das sie betreten, Einwanderer oder Immigranten (von lat.: migrare, wandern) genannt. (Aus der Perspektive des Landes, das sie verlassen, heißen sie Auswanderer oder Emigranten.) Weltweit wird die Anzahl der Immigranten auf 190 Millionen geschätzt (UN-Schätzung, 2005), das sind jedoch nur 3% der Weltbevölkerung. Migration ist eine bedeutende Änderung im Leben eines Menschen und mit großen, zum Teil lebensbedrohlichen Risiken verbunden (siehe unerlaubte Migration), und zerreißt oft Familienverbände und soziale Strukturen. Deswegen findet Migration meist aufgrund von Ausnahmesituationen wie Krieg, Not oder Verfolgung statt, in einem vermutlich geringeren Anteil spielen Neugier und die Hoffnung auf ökonomische Verbesserung eine Rolle.
► Transformation: Eine Transformation (lateinisch: die Umformung) bezeichnet allgemein die Veränderung der Gestalt bzw. Form bzw. Struktur. Die Transformation kann ohne Verlust der Substanz bzw. Inhalt erfolgen.
► Integration: Der Begriff Integration ist vom lateinischen „integratio“ abgeleitet und bedeutet in der Soziologie Herstellung eines Ganzen, Erneuerung. Integration beschreibt einen dynamischen, lange andauernden und sehr differenzierten Prozess des Zusammenfügens und Zusammenwachsens. Dieser Prozess besteht aus Annäherung, gegenseitiger Auseinandersetzung, Kommunikation, Finden von Gemeinsamkeiten, Feststellen von Unterschieden und der Übernahme gemeinschaftlicher Verantwortung zwischen Zugewanderten und anwesender Mehrheitsbevölkerung. Im Gegensatz zur Assimilation (völlige Anpassung), verlangt Integration nicht die Aufgabe der eigenen kulturellen Identität.
Die Integration umfasst vier verschiedene Stufen:
1. Strukturelle Integration (Akkommodation): Die Migranten werden als Mitglieder der Aufnahmegesellschaft anerkannt, erhalten Zugang zu gesellschaftlichen Positionen und erreichen gleichberechtigte Chancen in der Gesellschaft. Voraussetzung hierfür ist der Erwerb von sprachlichen Fähigkeiten und Kenntnisse über soziale Regeln des Zuwanderungslandes.
2. Kulturelle Integration (Akkulturation): Durch das Lernen der Kultur und ihrer Verinnerlichung ist eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben möglich. Es erfolgt zusätzlich eine Veränderung von Werten, Normen und Einstellungen der Migranten.
3. Soziale Integration: Die Aufnahmegesellschaft akzeptiert die Einwanderer im privaten Bereich, die an sozialen Aktivitäten teilnehmen und Mitglieder in Vereinen der Aufnahmegesellschaft sind.
4. Identifikatorische Integration: Die Migranten entwickeln ein neues persönliches Zugehörigkeitsgefühl.
► Bilateral: (lat. bi = zwei, latus = Seite) bedeutet zweiseitig.
In der Politik verwendet man das Adjektiv für Verhandlungen und Abkommen, die ausschließlich zwischen zwei verschiedenen Beteiligten stattfinden. Bilaterale Diplomatie ist immer noch in der Form vieler Verträge zwischen zwei Staaten üblich. Botschaften und Staatsbesuche dienen hauptsächlich dieser Funktion. Der älteste noch in Kraft befindliche bilaterale Vertrag ist der Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag zwischen Preußen und den Staaten des Deutschen Zollvereins einerseits und Argentinien andererseits vom 19. September 1857.
► Bilingualismus: Mit Bilingualismus wird das Phänomen bezeichnet, zwei Sprachen zu sprechen und/oder zu verstehen. Der Bilingualismus oder die Zweisprachigkeit wird zunächst in zweierlei Art verstanden; die Bezeichnung kann sich sowohl auf Einzelpersonen (individueller Bilingualismus) als auch auf ganze Gesellschaften beziehen (gesellschaftlicher Bilingualismus). Werden drei oder mehr Sprachen gesprochen/verstanden, spricht man von Mehrsprachigkeit oder Multilingualismus. Bilingualismus, Multilingualismus und Polyglossie können alle als Überbegriffe für dasselbe Phänomen verwendet werden (vgl. Diglossie). Bilingualismus kann ebenso die entsprechende Forschungsrichtung bezeichnen, die das Phänomen selbst untersucht.
► Emigration: Emigration (von lat. ex (assimiliert zu e) hinaus; migrare wandern) ist das Verlassen des Heimatlandes auf Dauer. Die Emigranten oder Auswanderer verlassen ihre Heimat entweder freiwillig oder erzwungenermaßen aus wirtschaftlichen, religiösen oder politischen Motiven oder aus persönlichen Gründen. Meist wandern Einzelpersonen oder einzelne Familien aus; in der Geschichte hat es aber auch die Auswanderung eines ganzen Volkes oder von großen Teilen eines Volkes gegeben. Die Auswanderer kommen als Immigranten (Einwanderer) in das sie aufnehmende fremde Land.
► De-facto: Mit de facto wird ein Umstand dann bezeichnet, wenn er als weit verbreitet und allgemein anerkannt gilt, auch wenn nicht durch entsprechende Institutionen formal als de jure festgelegt. De jure bezeichnet also den rechtlichen Soll-Zustand, de facto den tatsächlichen Zustand (Ist-Zustand).
► Ich-Identität: Erik Erikson definiert Ich-Identität als „Zuwachs an Persönlichkeits-reife, den das Individuum am Ende der Adoleszenz der Fülle seiner Kindheits-erfahrungen entnommen haben muss, um für die Aufgaben des Erwachsenenlebens gerüstet zu sein.“ Ich-Identität ist somit „eine soziale Funktion des Ichs“, die darin besteht, „die psychosexuellen und psychosozialen Aspekte einer bestimmten Entwicklungsstufe zu integrieren und zu gleicher Zeit die Verbindung der neu erworbenen Identitätselemente mit den schon bestehenden herzustellen“. Es handelt sich um das Gefühl für ein inneres Sich-Selbst-Gleichsein, ein Wissen um die eigene Unverwechselbarkeit und deren Bejahung. Oder mit Erving Goffman im Anschluss an Erikson ausgedrückt „das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt.“
► Handlungskompetenz : Die Verlagerung des Begriffes Handlungskompetenz in die Diskussion um Bildungspolitik verstellt oft die Sicht dafür, dass Handeln und der Erwerb von Handlungskompetenz vor allem ein psychologisch-pädagogischer Begriff ist, dessen konkrete Ausgestaltung eng mit der individuellen Entwicklung des Menschen zusammenhängt. Handlungskompetenz erwirbt der Mensch, wenn er in seiner Entwicklung günstige oder produktive Situationsbedingungen (Sozialisation) vorfindet. Die Möglichkeit, sozial angemessen zu handeln, gründet auf einer entsprechenden Kompetenz als Produkt angemessener Sozialisation eines Individuums. Ganz entscheidend dafür sind die Bedingungen, die das Individuum in seiner frühen Kindheit (Kindheitsforschung) vorfindet. Das haben schon Untersuchungen von René Spitz gezeigt: Säuglinge, die nicht die Möglichkeit der Interaktion mit erwachsenen Personen hatten, waren später und u. U. ihr Leben lang in ihrem Sozialverhalten (sehr) gestört, je nach Situation und Möglichkeit der Interaktion mit Bezugspersonen. Ähnliches wurde übrigens auch in Tierversuchen nachgewiesen (F. W. Harlow).
Bei der Interaktion des Individuums mit der (Um)Welt entwickelt sich in jedem Individuum so etwas wie eine persönliche Orientierung, in der die Lernergebnisse und ihre strategische Bedeutung für das Handeln des Individuums grundgelegt sind. So hat jeder Mensch in jeder Situation je unterschiedliche Orientierungen von der Situation und ihrer Bedeutung. Danach und auf der Grundlage dieser Hintergründe interpretiert er die (soziale) Situation. Entsprechend daran orientiert sich das Handeln bzw. die konkreten Handlungssequenzen. Die Orientierung findet jedoch fortwährend und beim gesunden Menschen permanent statt - und damit auch die stetig veränderbare Orientierung. Man könnte das die Dynamik der individuellen Orientierung oder der Handlungsplanungen nennen.
Insofern missachtet die bildungspolitische Diskussion, so wichtig sie sein mag, gelegentlich die realen Hintergründe für die Handlungskompetenzen von Kindern und Jugendlichen und verliert aus den Augen, dass Kindern auch angemessene Bedingungen geboten werden müssen, um die o. a. Kompetenzen in ihren gesamten sozialen Umfeld zu entwickeln - (die Schule und der Beruf sind nur Teilbereiche der Sozialisation, die zudem in der Entwicklung des Menschen spät angesiedelt sind, auch wenn sie aus formalen Gründen für die bildungspolitische Diskussion einen höheren Stellenwert haben mögen). Bildungspolitik darf nicht so tun, als gebe es nur einen staatlich-institutionellen Beitrag zur Entstehung von Handlungskompetenz.
Unter Erstsprache versteht man im Allgemeinen die Sprache, die der Mensch zuerst erworben hat. Der Terminus Zweitsprache ist mehrdeutig. Einerseits bezieht er sich auf die Erwerbsfolge der Sprachen. Andererseits kann Zweitsprache auch auf die Verkehrsprache eines Landes bezogen werden, und zwar aus der Perspektive der Bevölkerungsgruppen, deren Muttersprache nicht die Landessprache ist, wie Migranten oder Minoritäten. Die Zweitsprache wird natürlich, ungesteuert gelernt, d.h. ohne formalen Unterricht; die Fremdsprache künstlich, gesteuert, d.h. durch Unterricht.
Der Terminus Mehrsprachigkeit wird allgemein in Abgrenzung zur Einsprachigkeit verwendet und kann sowohl zwei als auch mehr Sprachen umfassen. Es gibt keine Einigkeit darüber, wie die gegenseitigen Beziehungen der Sprachen sein müssen, damit man von Mehrsprachigkeit sprechen kann (es gibt über zwei Dutzend Definitionen: von beinah sicheren Beherrschung der Sprachen bis zu geringen aktiven und passiven Kenntnissen in der einen Sprache. Nach Oksaar ist Mehrsprachigkeit die Fähigkeit des Individuums, hier und jetzt zwei oder mehr Sprachen als Kommunikationsmittel zu verwenden und ohne weiteres von der einen in die andere Sprache umzuschalten, wenn die Situation es erfordert. Mehrsprachigkeit bedeutet also nicht Gleichsprachigkeit, die als idealtypisch anzusehen ist.
Grundsätzlich unterscheidet man zwei Wege bzgl. der Erziehung zur Mehrsprachigkeit:
- Submersion: Schüler mit einer anderen Herkunftssprache werden in die regulären Klassen eingeschult. Man vertraut darauf, dass sie die Sprache der Majorität durch den Kontakt mit ihren Mitschülern und den Unterricht erlernen. Vorübergehende Sprachförderung der Sprache der Majorität kann hinzutreten.
- Immersion: die Schüler erhalten Unterricht in der Zweitsprache in einer Weise, die ihren sprachlichen Voraussetzungen angepasst ist. Die Lehrkräfte sind für den Unterricht der Sprache als Zweitsprache qualifiziert.
2.2 Migrationsgeschichtlicher Hintergrund
Die Türken in Deutschland bilden die zahlenmäßig größte Gruppe an Migranten. In der Auseinandersetzung mit der Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern nicht-deutscher Herkunft wurde deutlich, dass gerade die Migrantenkinder türkischer Herkunft schlechtere Bildungschancen haben. Sie bilden die größte Gruppe unter den Kindern- und Jugendlichen mit schwächeren Schulabschlüssen. Da liegt es nahe, das Merkmal der Nationalität als entscheidenden Faktor für die Erklärung der Bildungsbenachteiligung heranzuziehen. Die folgenden Ausführungen sollen diesen oftmals angewandten Erklärungsansatz hinterfragen und ergründen, inwieweit es sich um ein Zusammenwirken verschiedener Bedingungsfaktoren handelt, die zu einer besonders starken Benachteiligung beitragen. Um das Merkmal einer bestimmten Nationalität als Erklärungsfaktor heranzuziehen, bedarf es dem Bestehen einer homogenen Gruppe von Migranten türkischer Herkunft. Bei der Auseinandersetzung mit der Definition von Kultur wurde deutlich, dass von der türkischen Kultur in Deutschland allgemein nicht gesprochen werden kann. Demnach ist es auch nicht möglich von einer allgemeinen türkischen Schülerschaft an deutschen Schulen zu sprechen. Schon in Auseinandersetzung mit dem migrationsgeschichtlichen Hintergrund der Einwanderer türkischer Herkunft lassen sich unterschiedliche Voraussetzungen feststellen, in denen kulturelle Transformationen zu einer Veränderung der Kultur führen können. Zudem werden hier die Bedingungen deutlich, die mit Beginn der Einwanderung von Migranten türkischer Herkunft nach Deutschland eine Integration schwierig gemacht haben. Die Frage wird sein, inwiefern sich dies auf die heutige Schülergeneration auswirkt.
2.2.1 Gründe zur Einwanderung der türkischen Migranten nach Deutschland
Die Türkei wurde in die europäischen Arbeitsmigrationsprozesse der Nachkriegszeit einbezogen, als sie im Oktober 1961 ein zweiseitiges Anwerbeabkommen mit der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete. Angesichts einer rasch wachsenden Bevölkerung förderten die türkischen Behörden die Auswanderung von Arbeitskräften nach Westeuropa, um den Druck auf den heimischen Arbeitsmarkt zu reduzieren. Arbeitsmigranten wurden über die staatliche, türkische Arbeitsvermittlung angeworben und registriert. Die anfänglich geringe Anzahl an Arbeitskräften gewann bald an Fahrt und erreichte ihren Höhepunkt Anfang der 1970er Jahre. Bis Ende 1973 entsandte die türkische Arbeitsvermittlung mehr als 780.000 Arbeitskräfte nach Westeuropa, wovon mehr als 80% nach Deutschland gingen. 1973/74 wurde die offizielle Anwerbung von Arbeitskräften gestoppt, da die internationale Ölkrise und ihre wirtschaftlichen Nachwirkungen einen politischen Wandel herbeiführten. Die westeuropäischen Länder beendeten die Anwerbung von Arbeitsmigranten aus Nicht-EG-Staaten, gewährten jedoch zumeist jenen, die bereits in ihrem Staatsgebiet arbeiteten und lebten, eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis und das Recht auf Familienzusammenführung.
Daher entschieden sich viele türkische Staatsbürger, in ihren Gastländern zu bleiben und ihre Familien nachziehen zu lassen. Mit dem Prozess der Familienzusammenführung, veränderte sich die demographische Struktur der Migration grundlegend: Frauen und Kinder zogen zu den überwiegend männlichen ehemaligen Gastarbeitern, und diese Familien wurden zu dauerhaften Einwohnern westeuropäischer Länder. Trotz des offiziellen Anwerbestopps versiegten die Migrationsströme aus der Türkei nach Europa nicht, sondern veränderten sich vielmehr. Teilweise geschah dies aufgrund des anhaltenden Prozesses der Familienzusammenführung.[1] Bedeutsamer war jedoch, dass die Anzahl irregulärer Arbeitsmigranten zu steigen begann und in den 1980er und 1990er Jahren beachtliche Flüchtlingsbewegungen entstanden. Verantwortlich für die Flüchtlingsbewegungen war der Staatsstreich von 1980 und der Ausbruch militärischer Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und der ehemals separatistischen Partiya Karkerên Kurdistan (PKK) in den östlichen, überwiegend von Kurden bewohnten Provinzen der Türkei. Die wichtigsten Länder, die Flüchtlingen aus der Türkei während dieses Zeitraums Asyl gewährten, waren Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich.[2]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1
Quelle: Ministerium für Arbeit und Sicherheit, Türkei
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2
Quelle: UNHCR Statistisches Jahrbuch 2003
2.2.2 Förderung der Rückkehr
Nach nunmehr 35 Jahren türkischer Migration in die Bundesrepublik leben zurzeit etwa zwei Millionen Staatsbürger türkischer Herkunft in Deutschland. Über 7,2 Millionen Menschen aller Altersstufen und Bildungsstände, Familien und Einzelne, Gesunde und Kranke, Starke und Schwache, Reiche und Arme usw., denen nur eines gemeinsam ist, nämlich, dass sie ausländischer Herkunft sind, leben unter uns. Über 80% davon schon mehr als 10 Jahre, 30% schon mehr als 20 Jahre. Betrachtet man die größte nationale Gruppe unter ihnen, nämlich die Türken, etwas näher, so kann man zwei zunächst widersprüchliche Diagnosen aufstellen: Einerseits sind nach wie vor ethnisch homogene türkische Wohnviertel in den städtischen Ballungsräumen erkennbar. Gleichzeitig weisen zahllose empirische Untersuchungen, wie sie etwa im letzten Familienbericht der Bundesregierung wiedergegeben sind, darauf hin, dass sich die türkischen Einwanderer in wesentlichen Parametern ihres sozialen Verhaltens der Mehrheitsgesellschaft angeglichen haben: In ihrer Altersstruktur, in ihrem Heirats- und ihrem generativen Verhalten, sowie in ihrem geschlechtsspezifischen und alters-spezifischen Rollenverhalten sind sie – bei vergleichbaren Lebenslagen - den Deutschen wesentlich ähnlicher geworden, als dies im öffentlichen Stereotyp wahrgenommen wird.[3]
Die zweite Generation der Zuwanderer ist deutlich anders akkulturiert, als die erste. Sie ist meist perfekt bilingual und kann sich auch in verschiedenen kulturellen Mustern flexibel bewegen. Die ihnen häufig nachgesagte Identitätsproblematik (Stichworte: „Täglich eine Reise von der Türkei nach Deutschland und zurück“, „zwischen allen Stühlen“ usw.) erweist sich bei näherem Hinsehen nicht nur als Defizit, sondern auch als Ressource. Allerdings entstand hier eher eine neue türkisch-deutsche städtische Subkultur, die weder mit der deutschen noch mit der türkischen Herkunftskultur zu verwechseln ist. Erst die dritte Generation scheint sich aus verschiedenen Gründen wieder stärker auf die kulturellen Wurzeln der Großeltern (die ja nicht die „eigenen“ sind), zu besinnen: Die Heiratspartner stammen wieder häufiger aus dem Herkunftsland, es wird wieder mehr an Rückkehr und sozialen Aufstieg im Herkunftsland gedacht, es findet eine Art religiöser Renaissance statt.
Von den Menschen türkischer Herkunft haben von Ende 1964 bis Ende 1995 insgesamt 2.143.570 Deutschland wieder verlassen, d.h. etwas mehr als die gesamte türkische Wohnbevölkerung im Jahre 1995.[4]
Derzeit kehren nach deutschen Statistiken jährlich etwa 40.000 – 45.000 Personen in die Türkei zurück. Die Rückkehr-Quote hat sich bei 2,3% stabilisiert. Allerdings geben diese Zahlen keinen genauen Aufschluss über die Quote der zunehmenden Pendel-Migration, die sich bei der türkischen Population hauptsächlich im Bereich der Kinder und Jugendlichen abspielt, da für die Erwachsenen ja noch keine Freizügigkeit besteht. Erwachsene behalten oft ihre deutsche Wohnadresse und melden sich nicht ab, auch wenn sie sich längere Zeit in der Türkei aufhalten, eben um ihre mühsam erworbenen Aufenthaltsrechte nicht zu verlieren. Auch scheinbar äußerlich vergleichbare Gruppen von Remigranten, die aufgrund von äußeren Bedingungen, wie z.B. Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Inflation, politische oder ethnische Diskriminierung usw. den Rückweg antreten, befinden sich jeweils in höchst unterschiedlichen Phasen ihrer familiären Biographie. Je nachdem, ob, wie lange und wie erfolgreich die Kinder schon die deutsche Schule besuchten, gewinnt die Entscheidung zur Rückkehr im familiären Kontext eine ganz andere Bedeutung. Je nachdem, ob Heirat erst bevorsteht, oder schon langjährige Partnerschaft besteht, ob Trennung oder Scheidung anstehen, oder Verlust des Partners durch Tod, wird die Rückwanderung andere Perspektiven, andere Ängste und andere Ressourcen eröffnen.
Motive der Rückkehr können positiver, wie negativer Art sein: Anpassungsprobleme, Arbeitslosigkeit, Heimweh, Diskriminierung können zur überstürzten oder endlich vollzogenen Remigrationen ebenso führen, wie besonders erfolgreiche Ansammlung von wirtschaftlichem und/oder Humankapital (Bildung, Ausbildung). Insgesamt scheint jedoch eine größere Anzahl von Remigranten sich eher aus den Erfolgreichen, als aus den Gescheiterten zu rekrutieren.
Was wir hier im Moment noch gar nicht diskutiert haben und wohl aufgrund der schwierigen Datenlage auch nicht diskutieren können, sind die Remigranten, die aufgrund abgelehnter Asylanträge zur Rückkehr gezwungen werden, ebenso, wie diejenigen, die wegen Straffälligkeit, wegen chronischer psychiatrischer Behandlungs-bedürftigkeit oder wegen Nichterfüllung bestimmter Auflagen des deutschen Ausländergesetzes (Nachzugsalter etc.) ins Heimatland abgeschoben werden.
Man darf aber wohl davon ausgehen, dass diese unfreiwillig remigierte Gruppe mehr als alle anderen vor größte Reintegrationsprobleme gestellt ist und dass es besonderer Ansätze von Hilfe bedürfte, um ihnen das unfreiwillige Leben im Herkunftsland erträglich zu machen.
Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland 1977-1981 und Zunahme (+) / Abnahme (-) im jeweiligen Jahr
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3
Daten entnommen aus: Korte, H./Schmidt, A.: Migration und ihre sozialen Folgen, Hannover 1983; S. 22.
2.2.3 Von Gastarbeitern der Ausländer zu Zuwanderern
Die Geschichte der bundesrepublikanischen Politik gegenüber Einwanderern lässt sich kurz und bündig mit den drei Bezeichnungen für Einwanderer in Deutschland fassen: Gastarbeiter – Ausländer – Zuwanderer. Im Wandel der Begrifflichkeiten drückt sich ein Wandel der öffentlichen Einstellung aus, der aber nie so weit ging, anzuerkennen, dass es um Einwanderer geht, die zum Leben in Deutschland selbstverständlich dazugehören.[5] Die Migration von Arbeitern aus der Türkei nach Deutschland begann vor über vierzig Jahren. Sökefeld macht mit den oben zitierten Worten deutlich, wie schwierig es seitdem für die deutsche Politik und die Gesellschaft war und noch immer ist, Deutschland als Einwanderungsland anzuerkennen. Eine tatsächliche Integration von Einwanderern erfordert, dass sie nicht mehr als Fremde und als Problem gesehen werden, sondern eben als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Ein Verstehen der heutigen Situation türkischer Einwanderer in Deutschland und damit auch die der Kinder und Jugendlichen im deutschen Schulsystem erfordert zunächst eine Betrachtung derer Migrationsgeschichte und die damit verbundene Stellung in der deutschen Gesellschaft. Durch den Wirtschaftsboom und den extremen Arbeitskräftemangel in den sechziger und frühen siebziger Jahren im Nachkriegsdeutschland schloss die Bundesrepublik mit einer Reihe von Staaten Vereinbarungen über staatlich organisierte Anwerbung von Arbeitskräften ab, so dass 1955 das erste Anwerbeabkommen mit Italien zustande kam. Im Oktober 1961 wurde die deutsch-türkische Vereinbarung unterzeichnet. Allerdings stand man der Anwerbung von zum Teil nicht-europäischen Arbeitskräften eher skeptisch gegenüber. Von deutscher Seite aus waren es schließlich außenpolitische Überlegungen und der Status der Türkei als wichtiger NATO-Partner, die zum Abschluss des Anwerbeabkommens führten. Die Türkei hingegen versprach sich einen positiven Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Die oben angesprochene Skepsis führte zu anderen Bedingungen für die türkischen Arbeiter, als sie für die der Anwerbeländer Italien, Spanien, Griechenland und Portugal galten. So war die Aufenthaltsdauer auf zwei Jahre beschränkt, jeglicher Familiennachzug wurde ausgeschlossen und medizinische Untersuchungen[6] wurden mit dem seuchenhygienischen Schutz der deutschen Bevölkerung begründet.[7]
Die Migrationsgeschichte begann für die türkischen Einwanderer also mit der Diskriminierung der Arbeiter. Die Bezeichnung der Arbeitsimmigranten als Gastarbeiter zeigt eindeutig ihren gesellschaftlichen Status an. Gast eines Landes zu sein bedeutet, nicht zu bleiben, sondern wieder zurückzukehren in das Heimatland. Eine Neufassung des Abkommens durch die Forderung deutscher Arbeitsnehmer, gut eingearbeitete Arbeitskräfte nicht nach kurzer Zeit zu verlieren, brachte im September 1964 eine Aufhebung der Sonderregelungen für türkische Arbeiter. „Damit war der entscheidende erste Schritt zur (zumindest möglichen) Niederlassung und De-facto-Einwanderung von Arbeitsmigrantinnen aus der Türkei getan. Die wirtschaftlichen Interessen deutscher Unternehmer hatten hierfür ihre Grundlage geschaffen.“[8] Durch die mit der Neufassung verbundene steigende Niederlassung der Arbeiter in Deutschland und das Nachkommen der Familienangehörigen war die Bezeichnung Gastarbeiter nicht länger haltbar. Die nun allgemein als Ausländer (und nicht als Einwanderer) bezeichneten Migranten ließen sich in sozial benachteiligten, für sie gerade erschwinglichen Stadtteilen nieder. Die steigende Angst der deutschen Gesellschaft vor Überfremdung spiegelte sich in den damaligen Schlagzeilen der Medien wieder. „Die Türken kommen – rette sich wer kann“ überschrieb der Spiegel 1973 seinen Text zur Titelgeschichte „Ghettos in Deutschland – Eine Millionen Türken“.[9] Es verbreitete sich der Wunsch nach einem Rückgang der nicht-deutschen Arbeiter. Dieser konnte durch den verhängten Anwerbestopp jedoch nicht erfüllt werden. Bis in den frühen 70er Jahren war die Arbeitslosigkeit der Gastarbeiter mit einer Rückkehr in das Heimatland verbunden. Da nun eine Neueinwanderung nicht mehr möglich war, blieben mehr, zumeist arbeitslose Arbeiter in Deutschland und es kam zu verstärkten Familienzusammenführungen. Die Ballung von Migranten in sozialschwachen Wohngebieten und eine hohe Zahl an Arbeitslosigkeit spiegelt deren damalige Position in der Gesellschaft wider. Besonders schwierig war die Lage für Kinder und Jugendliche nichtdeutscher Herkunft. Drei Viertel der 15–24-Jährigen war 1980 ohne Hauptschulabschluss, der sie zu einer Berufsausbildung hätte qualifizieren können. 46 % der 16–20-Jährigen hatten weder eine Arbeit, noch eine Lehrstelle, noch gingen sie zur Schule. Dies kann als Folge der ausländerpolitischen Linie der Bundesregierung seit 1974 angesehen werden. Eine Eingliederung sollte zwar stattfinden, jedoch keine Einwanderung. Eine Integration in das deutsche Schulsystem wurde erschwert, da sie immer unter der Voraussetzung bald in das Heimatland zurück-
zukehren gesehen wurde.[10] Ende der 70er Jahre änderte sich das Gesicht der türkischen Einwanderer, „denn in Folge der politischen Situation in der Türkei, die durch eine massive Polarisierung zwischen extremen Rechten und radikalen Linken sowie durch wachsende staatliche Repression geprägt war, kamen nun erstmals im großen Umfang (linke) politische Flüchtlinge.“ Damit stieg der Anteil der türkischen Bevölkerung in Deutschland erneut. Die Ausländerpolitik wurde seit Beginn der 80er Jahre nun zu einem dominanten politischen Thema. Deutschland sollte kein Einwanderungsland sein und auch keines werden. Rückkehrprämien und die Erschwerung des Familiennachzuges sollten einen Rückgang der Ausländer bewirken, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Der Kurs der Regierung Kohl ab 1982 sollte die Meinung, Deutschland sei kein Einwanderungsland, klar beibehalten. Die Zielsetzung der Integration von Ausländern wurde durch die Förderung der Rückkehrbereitschaft und der Verhinderung des weiteren Zugangs verdrängt. Dies betraf vor allem die Gruppe der Nicht-EG-Mitglieder und damit insbesondere die türkischen Einwanderer. Der damalige Innenminister Zimmermann verwies auf den kulturellen Unterschied zwischen Türken und beispielsweise Italienern. So machte er darauf aufmerksam, dass es ein Unterschied sei, ob er integrationsbereite Italiener oder „1,7 Millionen Moslems vor [sich] habe, die in Wirklichkeit ja nicht auf Dauer bleiben wollen, sondern mit dem erkennbaren Willen einreisen, hier Geld zu verdienen und dann wieder zurückzukehren.“[11] Die Zahl der Türken sank tatsächlich, nicht zuletzt wegen des immer stärker werdenden Ausländerdiskurses. 1985 ereigneten sich die ersten Gewalttaten gegen Türken. Allerdings erhöhte sich die Zahl durch die nun vor allem kurdischen Flüchtlinge als Ergebnis des Krieges zwischen der PKK und der türkischen Armee im Osten Anatoliens wieder. Dies führte erneut zur Steigerung der Bereitschaft zu rassistischer Gewalt, insbesondere in Form von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte in den 90er Jahren. Die bis dahin vorherrschende Wahrnehmung, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, wandelte sich erst mit dem kurzfristigen Internetboom Ende der 90er Jahre und der damit wachsenden Furcht vor dem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 20001 lässt die Anerkennung der Einwandererrealität erkennen. Dennoch wird noch immer nicht von Einwanderung direkt, sondern meist von Zuwanderung gesprochen. „Der Griff zu einer neuen Vokabel versucht den Anschein zu wahren, als ginge es nach wie vor um etwas anderes als um längst stattgefundene Einwanderung.“[12]
2.3 Stellungen der zweiten und dritten Generation türkischer Migranten in der deutschen Gesellschaft
Unter Migranten türkischer Herkunft der zweiten und dritten Generation werden im Allgemeinen die Kinder der Arbeitsmigranten oder bereits deren Nachfolgegeneration verstanden. Diese sind ihren Eltern oder ihrer Familie entweder nachgefolgt oder, wie viele unter ihnen, bereits in Deutschland geboren.
Ihr schulischer und beruflicher Status unterscheidet sich weitestgehend von dem der Eltern. Im Jahr 2000 war der Anteil derjenigen ohne Schulabschluss bei der zweiten Generation wesentlich geringer als bei der ersten Generation der Migranten türkischer Herkunft. Auch der Anteil derer, die mindestens eine mittlere Reife haben, stieg im Vergleich der Elterngeneration an.[13] Damit ist ihr Verhältnis zur deutschen Gesellschaft ein anderes. Bedingt durch die Vorgeschichte der Elterngeneration bilden sie zudem eine noch weitaus heterogenere Gruppe. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihres Einreisealters, der Aufenthaltsdauer, des Geburtslandes, der schulischen und beruflichen Bildung und des Berufes erheblich voneinander.[14]
Uysal beschreibt ebenfalls, dass das Bildungsniveau der zweiten und dritten Generation in den letzten Jahren gestiegen ist. Außerdem gelinge es „der neuen Generation, heute aktiver an Sozial- und Bildungsprozessen teilzunehmen, um ihre Interessen in der Öffentlichkeit besser zu vertreten, als es ihren Eltern möglich war.“[15]
Im Folgenden soll die Stellung der Migrantenkinder in der deutschen Gesellschaft bezüglich ihrer psycho-sozialen Situation, ihrer sozialen Identität, ihrer sozialen Stellung, ihren Beziehungen zur Türkei sowie ihre kulturellen Bindungen und Religiosität und ihrem Sprachgebrauch dargestellt werden. Anschließend soll auf dieser Grundlage die schulische Situation der Migrantenkinder türkischer Herkunft näher betrachtet werden. Ich beziehe mich bei den nachstehenden Ausführungen zum großen Teil auf die Untersuchungen Polats, die anhand von Befragungen die soziale und kulturelle Identität der zweiten und dritten Generation Migranten türkischer Herkunft in Hamburg untersucht.[16]
2.3.1 Psycho-soziale Situation und soziale Identität
In den letzten Jahren haben sich die Möglichkeiten zur technischen Kommunikation und die modernen Verkehrsmittel stark verbessert, so dass auch die Möglichkeiten, einen intensiven Kontakt zum Herkunftsland zu pflegen größer geworden sind. Dies führt zu einer Zunahme an Pendelmigrationen zwischen mehreren Ländern. Die Migranten verfügen zunehmend über eine Alltagswelt die nicht auf ein Land, eine Kultur und eine Sprache beschränkt und festgelegt ist.
Diese neuen Umstände bringen auch neue Lebensperspektiven für junge Menschen hervor. Jugendliche mit Migrationshintergrund beziehen diese mobilen Möglichkeiten in ihre Berufswünsche mit ein.[17]
In der Literatur wird häufig davon gesprochen, dass die Kinder- und Jugendlichen in einem Spannungsfeld zweier unterschiedlicher Kulturen leben, was zu psychischen Belastungen und Identitätsproblemen führt. Boos-Nünning sieht bspw. die Schulschwierigkeiten von Kindern nicht-deutscher Herkunft durch Störungen bei der Entwicklung der Ich-Identität verursacht. Die Autorin nimmt als Vorraussetzung für eine erfolgreiche Persönlichkeitsentwicklung homogene Werte in Elternhaus, Schule und sozialer Gemeinschaft an, die bei Kindern und Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft nicht vorzufinden sind.[18]
Auch Nieke erweist insbesondere auf Jugendliche aus ethnischen Minderheitskulturen, für die „immer wieder schwierige, manchmal unlösbare Situationen eines Konflikts zwischen widersprüchlichen Norm- und Wertorientierungen entstehen, die aus der Ethnie, d.h. der Minderheitenkultur einerseits und der umgebenden Kultur der Mehrheitsgesellschaft an sie gestellt werden.“[19]
Polat merkt jedoch an, das bei solchen Annahmen das Positive eines Lebens in zwei Kulturen und das Integrationsvermögen der Migrantenkinder außer Acht gelassen wird. Eine Lebensgestaltung, die die Normen und Werte zweier Kulturen zusammenbringen muss, könne z.B. zu größeren Handlungskompetenzen und zu einem universellen Denken und Handeln führen.[20]
Dabei ist jedoch die Akzeptanz dieser kulturell vielseitigen Lebenshaltung notwendig. Oftmals werden jedoch die Jugendlichen türkischer Herkunft in eine Art Parallelgesellschaft verortet und es herrscht die Ahnnahme vor, dass sie eher innerethnische als interethnische Kontakte pflegen. Dies weist auf einen Blickwinkel hin, der die kulturelle Vielseitigkeit der Migranten türkischer Herkunft außer Acht lässt. Den Auswertungen Polats zufolge hätten nämlich gerade die Migrantenkinder dieser Herkunft oftmals interethnische Freundschaften.
In ihren Auswertungen zur psycho-sozialen Situation türkischer Migranten der zweiten und dritten Generation hält Polat fest, dass die meisten der befragten Jugendlichen täglich Kontakt zu Deutschen hätten und diesem auch einen großen Stellenwert zukommen lassen.
Auch wenn diese Nachfolgegenerationen türkischer Arbeitsmigranten den Befragungen nach einen intensiveren Kontakt zu Deutschen pflegt, ist ihr der Kontakt zu türkischen Landsleuten meistens allerdings tatsächlich wichtiger.
Die soziale Identität und damit das Gefühl von Zugehörigkeit von Migranten ist ein entscheidendes Kriterium für ihre Integration bzw. Desintegration in die Aufnahmegesellschaft.
In den oben bereits erwähnten Untersuchungen Polats werden die Unterschiede herausgearbeitet, die es zwischen den Migrantenkindern türkischer Herkunft bezüglich ihrer sozialen Identität gibt. Hier spricht die Autorin entweder von einer türkischen Identität oder einer bikulturellen Identität. Die Zuordnung zu der einen oder anderen Gruppe haben die befragten Jugendlichen selbst vorgenommen.
Die Befragten, die sich der Gruppe mit türkischer Identität zuordnen, identifizieren sich in einem stärkeren Maße mit einer als türkisch definierten Gruppe. Sie gehen demnach selbst davon aus, dass es eine solche rein türkische Gruppierung gibt, die sich von der deutschen in einem erheblichen Maße unterscheidet und der sie sich selbst zuordnen.
Sie heben ihre eigene Gruppe positiv hervor und bewerten die Vergleichsgruppe eher negativ. Dadurch können sie ihr Selbstbild bestätigen und stärken. Diese starke Identifizierung mit der türkischen Gruppe und das Ablehnen der deutschen werden in der Auswertung der Untersuchung als Folge der negativen Besetztheit der türkischen Identität in Deutschland gesehen. Eine Solidarität gegenüber der eigenen Gruppe wird umso größer, je mehr sie von in diesem Falle als deutsch definierte Gruppe abgelehnt wird.
Befragte mit so genannter bikultureller Identität neigen den Befragungen nach weder dazu, die eine noch die andere Gruppe aufzuwerten, da sie sich beider Gruppen zugehörig fühlen. Hier tritt weder die Identität als Türke, noch die als Deutscher in den Vordergrund. Ihre soziale Identität scheint „ in der Ausrichtung auf eine `kulturelle` bzw. `nationale` Kategorie für sie keine allzu große Bedeutung einzunehmen.“[21] Das Intergruppenverhalten, d.h. die Favorisierung der eigenen Gruppe und die gleichzeitige Diskriminierung der Fremdgruppe, ist demnach bei dieser Gruppe geringer, als bei der Gruppe mit türkischer Identität. Das Intergruppenverhalten verstärkt sich, je mehr Bedeutung der Gruppenzugehörigkeit zukommt. So nehmen sich die befragten Personen mit türkischer Identität in einem stärkeren Maße als Mitglieder einer fest gefügten Gruppe wahr, in der sie durch die anderen Mitglieder Rückhalt bekommen können. Damit sind ihre sozialen Bindungen auf diese Gruppe beschränkt, während die der Befragten mit bikultureller Identität nicht an eine bestimmte Gruppe gebunden sind.
Der zu Beginn des Abschnittes beschriebenen Gefahr einer psychischen Belastung bikultereller Kinder- und Jugendlicher stellt Polat eine positive Entwicklung der bikulturellen Identität gegenüber. Sie beschreibt Bikulturalität als ein Verschmelzen zwischen der türkischen und deutschen Gruppenzugehörigkeit, was eine Integration in die deutsche Gesellschaft erleichtert. An dieser Stelle soll die Situation des Hin-und-Her-Gerissenseins zwischen den beiden Kulturen verbessert werden. Das Denken und Handeln spielt vielmehr auf den Hintergrund zweier kultureller Kontexte. Zwei klar abgrenzbare Kulturen an sich werden hier jedoch nicht mehr angenommen. Es entsteht eine heterogene Kulturalität, deren Teilhaber in unterschiedlichem Maße von dem einem oder anderen kulturellen Kontext beeinflusst sind.
Die zweite und dritte Generation der Arbeitermigranten hat somit den Vorteil, einen umfassenderen Erfahrungs- und Verstehenshorizont zu haben. Sie sehen sich als Teil der deutschen Gesellschaft, was eine Integration erleichtern kann. Welche Unterschiede die Angehörigkeit zu der einen oder anderen Gruppe auf den Schulerfolg hat, wird im Kapitel 3.5.3 näher beschrieben. Hier sei nur kurz angemerkt, dass Polat feststellte, dass die Befragten mit türkischer Identität über eine geringere Anzahl an höher qualifizierten Schulabschlüssen verfügen.
Interessant sind hier auch die Ergebnisse, die einen Zusammenhang zwischen sozialen Status und sozialer Identität aufstellen: Die Befragten mit türkischer Identität nehmen innerhalb der Gruppe türkischer Migranten eher die Position im unteren Milieu ein und sowohl in den Arbeitsmark, als auch in die deutsche Gesellschaft nur geringfügig integriert. Es verstärkt sich somit durch die Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt die Identifikation mit der Gruppe des Herkunftslandes.
2.3.2 Arbeiterstatus als Stigma
Zu Beginn des Kapitels wurden die Unterschiede zwischen der zweiten und dritten Generation und der Elterngeneration türkischer Migranten deutlich gemacht. Dennoch ist die Beziehung zwischen diesen Generationen maßgeblich an der Identität der Migrantenkinder in der deutschen Gesellschaft beteiligt. Eine überdauernde Begründung für die Anwesenheit von Migranten war die Arbeit als Sinn und die Rückkehr in das Heimatland als Ziel des Aufenthalts. Auch wenn nach dem Anwerbestopp schnell offensichtlich hätte werden müssen, dass das Modell der Gastarbeit nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entsprach, hielt man lange an dieser Vorstellung fest. So lebt und arbeitet ein großer Teil der Arbeiter noch immer in Deutschland und deren Kinder identifizieren sich bis heute mit der aufrechterhaltenden Kernbegründung von Migration.[22] Einer Befragung nach definieren sich die Migrantenkinder selber nicht mehr als Gastarbeiter und haben für sich den Status eines Inländers angenommen. Dennoch ist auch für sie die Arbeit ein zentrales Thema geblieben. Ihr Ziel ist Däuble nach, ebenso wie das der Eltern, „die Schaffung einer gesicherten materiellen Lebensbasis durch Arbeit“.
Tietze betrachtet in ihren Auswertungen einer Vergleichsstudie zu muslimischen Religiositätsformen[23] diese Nähe zur Arbeitswelt differenzierter und geht auf den Konflikt ein, den Jugendliche, die neben der Schule oder Ausbildung innerhalb eines Kleinunternehmens der Familie arbeiten, unterliegen. Gewünscht ist eine in finanzieller und familiärer Hinsicht persönliche Autonomie, die den Aussagen der Befragten nach durch die Arbeit innerhalb der Familie nicht erreicht werden kann. Im Gegenteil, sie wird vielmehr mit dem Gefühl von Ausgrenzung verbunden, indem sie der Gruppe der Ausländer zugeordnet werden. Mit dieser Zuordnung entsteht der Eindruck, als einzelner am Rande der Gesellschaft verortet zu sein. Dieses Ausgegrenzt-Sein geht einher mit dem Gefühl, im heiklen Arbeitsmarkt integriert zu sein.[24]
An dieser Stelle wird der Wunsch nach Autonomie und auch nach Abgrenzung von der Elterngeneration deutlich, was nicht bedeutet, dass eine Distanz zur Arbeitswelt insgesamt aufgebaut wird.
Die Bereitschaft für einen erfolgreichen Bildungsweg und eine Integration in den Arbeitsmarkt ist hoch und somit ist der fehlende Bildungserfolg insbesondere von Migrantenkindern türkischer Herkunft nicht mit dem Mangel an Willen für eine erfolgreiche Bildungskarriere zu begründen.
2.3.3 Berufliche Stellung
Auf die verbesserten Verhältnisse der zweiten und dritten Generation türkischer Migranten habe ich bereits hingewiesen. Dennoch wird auch durch Tietzes Studie offensichtlich, dass eine soziale Randstellung noch immer bewahrt ist. (vgl. Kap. 2.3.2)
Dies begründet sich in der oben bereits angedeuteten Tatsache, dass sich die berufliche Stellung der türkischen Migranten auch in der zweiten Generation noch immer auf den Arbeiterstatus konzentriert. Diese Zahl hat sich im Vergleich zu der 1. Generation zwar deutlich verringert: Im Jahre 2000 steht ein Anteil von 71 % einer Quote von 44 % gegenüber. Vergleicht man diese doch mit der der deutschen Bevölkerung (14 %) und der anderen Anwerbestaaten (27 %), so ist noch immer eine Überrepräsentation in diesem Berufsfeld zu verzeichnen.
Auch die hohe Arbeitslosigkeit innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe blieb 2000 mit 16,2 % überdurchschnittlich bestehen. Im Vergleich dazu waren 2000 nur 7,8 % der Deutschen im vergleichbaren Alter und 8,4 % der zweiten Generation anderer Anwerbestaaten arbeitslos.[25]
[...]
[1] Hrsg. Uwe Hunger, Karin Meendermann, Bernhard Santel, Wichard Woyke: Migration in erklärten und unerklärten Einwanderungsländern. Münster 2001; S. 234-244.
[2] Zentrum für Türkeistudien: Türkei-Jahrbuch des Zentrums für Türkeistudien. Münster 1999/2000, nach Zürcher 2003.
[3] BMFFJ , Bundesministerium für Familie, Frauen und Jugend (2000): 6. Familienbericht: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland, Leistungen – Belastungen – Herausforderungen. Drucksache 14/4357; S. 91ff.
[4] Enquete-Kommission: Demographischer Wandel, Deutscher Bundestag. Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den einzelnen und an die Politik; Heidelberg 1999.
[5] Sökefeld, M.: Das Paradigma kultureller Differenz - Zur Forschung und Diskussion über Migranten aus der Türkei in Deutschland in: Sökefeld, M. (Hg.): Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz, Neue Perspektiven auf Einwanderer aus der Türkei. Bielefeld 2004; S. 14.
[6] 1952 wurde die Türkei Mitglied der NATO.
[7] vgl. Motte J. / Ohliger R. / Oswald: Nur in dem Abkommen mit Marokko wurde eine Begrenzung der Aufenthaltsdauer festgelegt. Formulierungen zur gesundheitlichen Eignung der Arbeiter fanden sich nur noch im Abkommen mit Tunesien. Die Möglichkeit des Familiennachtzugs wurde neben der Türkei Jugoslawien, Marokko und Tunesien untersagt. Frankfurt /Main und New York 1999; S. 149.
[8] Motte, J. / Ohlinger, R. / Oswald: 50 Jahre Bundesrepublik, 50 Jahre Einwanderung - Nachkriegs-geschichte als Migrationsgeschichte. Frankfurt/Main und New York 1999; S. 150.
[9] Sökefeld, M. : Das Paradigma kultureller Differenz: Zur Forschung und Diskussion über Migranten aus der Türkei in Deutschland in: Sökefeld, M. (Hg.): Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz, Neue Perspektiven auf Einwanderer aus der Türkei. Bielefeld 2004; S .9-28.
[10] Herbert, U. : Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland: Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Flücht-linge. München 2001; S. 238. vgl. ebd.: S. 187.
[12] vgl. Sökefeld, M.: Das Paradigma kultureller Differenz - Zur Forschung und Diskussion über Migranten aus der Türkei in Deutschland in: Sökefeld, M. (Hg.): Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz, Neue Perspektiven auf Einwanderer aus der Türkei. Bielefeld 2004; S. 38.
[13] Özcan, V.: Aspekte der sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Integration der türkischen Bevölkerung in Deutschland in: Gutachten im Auftrag des Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration – Die Situation der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland. Berlin 2004; S. 27.
[14] Polat, Ülger: Soziale und kulturelle Identität türkischer Migranten der zweiten Generation in Deutschland. Hamburg 1997; S. 13.
[15] Uysal, Y.: Biografische und ökologische Einflussfaktoren auf den Schulerfolg türkischer Kinder in Deutschland: Eine Empirische Untersuchung in Dortmund. Münster 1998; S. 2.
[16] In den Untersuchungen wurden 306 Personen mit Hilfe eines schriftlichen Fragebogens befragt. Davon 53,3 % Männer und 46,7 % Frauen. Das Alter lag zwischen 16 und 33 und im Durchschnitt bei 22,2 Jahren. In Deutschland lebten die Befragten durchschnittlich seit 17,2 Jahren.
[17] Gogolin, I./Neumann, U./Roth, H.-J.: Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrations-hintergrund, Heft 107 der Bund-Länder-Komission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. Bonn 2003; S. 30.
[18] Hoffmann, K.: Leben in einem fremden Land - Wie türkische Jugendliche ‚soziale’ und ’persönliche’ Identität ausbalancieren. Bielefeld 1990; S. 60.
[19] Vgl. Nieke in: Polat, Ülger: 1997; S. 36.
[20] vgl. Polat, Ülger: Soziale und kulturelle Identität türkischer Migranten der zweiten Generation in Deutschland. Hamburg 1997; S. 25.
[21] Polat, Ülger: Soziale und kulturelle Identität türkischer Migranten der zweiten Generation in Deutschland. Hamburg 1997; S. 148.
[22] Däuble, H.: Auf dem Weg zum Bundesrepublikaner; Einwanderung – kollektive Identität – politische Bildung. Schwalbach 2000; S. 120ff.
[23] Die Studie wurde im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, dem Pariser Stadtteil Argenteuil und Neuhof, einem Bezirk der Stadt Straßburg, durchgeführt. Die Untersuchungsgruppe setzt sich aus jungen Männern türkischer Herkunft zwischen 16 und 30 Jahren zusammen. In den genannten Stadtteilen häufen sich ökonomische und soziale Probleme und verstärken sich gegenseitig. Die ausgewählten Zitate oder Aussagen dieser Arbeit beziehen sich auf die in Deutschland gemachten Befunde. Der Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland wird an dieser Stelle außer Acht gelassen, da er nicht dem Rahmen dieser Arbeit entspricht.
[24] Tietze, N.: Muslimische Selbstbeschreibungen unter jungen Männern: Differnzkonstruktionen und die Forderung nach Respekt in: Sökefeld, M. (Hg.): Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz, Neue Perspektiven auf Einwanderer aus der Türkei. Bielefeld 2004; S. 124ff.
[25] Özcan, V.: Aspekte der sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Integration der türkischen Bevölkerung in Deutschland in: Gutachten im Auftrag des Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration - Die Situation der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland. Berlin 2004; S. 12/20.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2008
- ISBN (eBook)
- 9783836619516
- DOI
- 10.3239/9783836619516
- Dateigröße
- 802 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Duisburg-Essen – Gesellschaftswissenschaften, Sozialwissenschaften
- Erscheinungsdatum
- 2008 (September)
- Note
- 1,7
- Schlagworte
- migration schulsystem bildung türkei bildungsbenachteiligung