Endphasensteuer versus Allphasensteuer
Überlegungen zu einer Reform des deutschen Umsatzsteuersystems
Zusammenfassung
Das Umsatzsteuersystem ist überwiegend auf Vertrauen aufgebaut. Vertrauen bedeutet, dass im derzeit bestehenden System vorausgesetzt wird, dass der Unternehmer selbst die abzuführende Umsatzsteuer korrekt errechnet, fristgerecht erklärt und an das Finanzamt abführt. Dieses Vertrauen ist allerdings seit einigen Jahren insbesondere bei politischen Entscheidungsträgern tief erschüttert. Ursache dafür war, dass in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ab dem Jahr 1999 erstmals das Umsatzsteueraufkommen rückläufig war. Weiterhin fand eine von der Bundesbank bereits 1997 festgestellte Abkopplung der Umsatzsteuereinnahmen von der Entwicklung des Bruttoinlandproduktes seit ca. Mitte der neunziger Jahre Beachtung.
In der Literatur werden unterschiedliche Ursachen für dieses Phänomen genannt:
Betrug durch Steuerschuldner, Veränderungen der Konsumstruktur der Verbraucher, nachlassende Veranlagungsqualität des Fiskus, unzureichende Personalausstattung der Finanzverwaltung, verstärkte Umsatzsteuerplanung international tätiger Unternehmen, zunehmend hohe Rechtsdichte, die weder von den Steuerpflichtigen, ihren Beratern noch den Finanzbeamten selbst beherrscht werden kann, Wechselkursprobleme, BIP-Wachstum vorrangig durch Exporte, die keine Umsatzsteuerzahllasten begründen, anhaltende Schwäche der Binnenkonjunktur, fehlendes Bewusstsein in der Bevölkerung für die Notwendigkeit der Bezahlung der Umsatzsteuer für das Gemeinwohl, weit verbreitete rechtswidrige Unsitte der Ohne-Rechnung-Geschäfte z. B. bei Handwerksleistungen, die staatliche Ordnungsmacht stößt an ihre Grenzen.
Eine genaue Analyse steht noch aus, ist jedoch nicht Gegenstand dieser Arbeit. Seit 2001 gibt es trotzdem eine intensive wissenschaftliche Diskussion über die Verhinderung von Betrugsmöglichkeiten, die auf der Annahme beruht, der Rückgang des Umsatzsteueraufkommens habe im Wesentlichen etwas mit der überproportionalen Steigerung des Umsatzsteuerbetruges zu tun, und vor allem mit dem Missbrauch des Anspruchs auf Vorsteuererstattung. Genaue Zahlen liegen hier nicht vor, was auch durch die Bundesregierung eingeräumt wird.
Allerdings gehen Schätzungen des ifo-Instituts München für die Jahre 2001 bis 2005 von ca. 11,0 bis 11,5% des deutschen Umsatzsteueraufkommens aus. Für das Jahr 2005 würde dies einen Steuerausfall in Höhe von 17 Mrd. Euro in Deutschland bedeuten.
In der o. g. wissenschaftlichen Diskussion wurde allerdings der Eindruck erweckt, dass die […]
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
INHALTSVERZEICHNIS
A Inhaltsverzeichnis
B Abbildungsverzeichnis
C Tabellenverzeichnis
D Abkürzungsverzeichnis
1. Problemstellung, Vorgehensweise und Bewertungsmuster
1.1. Einführung
1.2. Problemstellung
1.3. Vorgehensweise
1.4. Bewertungsmuster
1.4.1. Zielstellung
1.4.2. Faktoren für das Bewertungsmuster.
2. Das derzeit gültige Umsatzsteuersystem
2.1. Einordnung in die Besteuerungsformen.
2.2. Das Allphasen-Nettoumsatzsteuersystem
2.3. Begründung für die Einführung
2.4. Historische Entwicklung
2.4.1. Abzugsverfahren.
2.4.2. Nicht-Besteuerung der Geschäftsveräußerung im Ganzen
2.4.3. Innergemeinschaftlicher Warenverkehr.
2.5. Bewertung des Erfolges
3. Analyse des bestehenden Umsatzsteuersystems
3.1. Systembedingte Schwachstellen
3.1.1 Übersicht
3.1.2. Karussellbetrug
3.1.3. Kettenbetrug und Besteuerung der Werkvertragsunternehmer im Baugewerbe
3.1.4. Umsatzsteuerausfälle bei Globalzession
3.1.5. Umsatzsteuerausfälle durch Optionen bei Grundstücksveräußerungen
3.1.6. Leasing- und Mietkaufmodelle
3.1.7. Umsatzsteuer in der Insolvenz
3.2. Faktoren zur Begünstigung der Umsatzsteuerkriminalität
3.2.1. Schwächen in der Finanzverwaltung
3.2.2. Steigende Zahl der Unternehmen
3.2.3. Stärken der Täter
3.2.4. Schwächen im Rechtssystem
3.2.5. Schwankende Steuermoral
3.3. Quantitative Charakterisierung der Steuerausfälle
4. Bisherige gesetzgeberische Maßnahmen und Ergebnisse
4.1. Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz
4.2. Steueränderungsgesetz 2001
4.3. Steueränderungsgesetz 2003
4.4. Qualitative und quantitative Ergebnisse
5. Ansätze für eine Systemänderung in der Literatur
5.1. Vorstufenbefreiung nach Gernot Mittler (Mainzer Modell)
5.2. Vorsteuerüberrechnung nach Norbert Matthes (Österreichisches Modell)
5.3. Vorsteuerverrechnungsmodelle (Reverse-Charge-Verfahren)
5.4. Generelle Ist-Versteuerung
5.5. Generelle Ist-Versteuerung mit Cross-Check
5.6. Quellensteuererhebung – ifo-Modell
5.7. Endverbrauchsbesteuerung nach Ludwig Merk
5.8. Steuerliches audit-Verfahren nach Heike Jochum
6. Vergleichende Analyse
6.1. Grundlegende Systemunterschiede
6.1.1. Übersicht
6.1.2. Allphasensteuer versus Endphasensteuer
6.1.3. Soll-Versteuerung versus Ist-Versteuerung
6.1.4. Steuerschuldnerschaft des Leistungserbringers versus Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers
6.2. Analyse anhand des Bewertungsmusters
6.2.1. Wegfall von Betrugsmöglichkeiten
6.2.2. Entstehung neuer Betrugsmöglichkeiten
6.2.3. Nutzen-Aufwands-Analyse und Verhältnismäßigkeit
6.2.4. vertikale und horizontale Neutralität
7. Fazit
E Anhang
1. Übersicht zu den Umsatzsteuertypen
2. Übersicht zu den bisherigen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Eindämmung des Karussellbetrugs
3. Bruttoinlandsprodukt von 1950 bis 2006
4. Übersicht über die Steuereinnahmen von 2002 bis 2005
5. Übersicht zu den Möglichkeiten der Steuerhinterziehung bei verschiedenen Einkunftsarten der deutschen Einkommenssteuer
6. Übersicht zu den Vor- und Nachteilen der Endphasenbesteuerung
7. Übersicht zu den Vor- und Nachteilen der Allphasenbesteuerung
8. Übersicht zu den Vor- und Nachteilen der Soll- und Ist-Versteuerung
9. Übersicht zum Aufwand-Nutzen-Verhältnis des Reformmodells Reverse-Charge-Verfahren
10. Übersicht zur systematischen Vermeidung von Umsatzsteuerbetrug bezogen auf die Reformmodelle
11. Ergebnis der steuerlichen Betriebsprüfung 2001 – 2004
F Literaturverzeichnis
G Eidesstattliche Erklärung
B ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1: Entwicklung des BiP und der Umsatzste
Abbildung 2: Phasenschema von Urproduktion bis Konsum
Abbildung 3: Überwälzung der Umsatzsteue
Abbildung 4: Vorsteuerabzug und Umsatzsteu
Abbildung 5: Vorteil der Fraktionierten Zahlu
Abbildung 6: Abzugsverfahren und Nullregel
Abbildung 7: Nicht steuerbare Geschäftsveräußeru
Abbildung 8: Steuerbare Geschäftsveräußerun
Abbildung 9: Innergemeinschaftlicher Warenverke
Abbildung 10: Umsatzsteuerkaruss
Abbildung 11: Kettenbetrug im Baugewer
Abbildung 12: Umsatzsteuerausfälle bei Globalzess
Abbildung 13: Umsatzsteuerausfälle bei Grundstücksgeschäfte
Abbildung 14: Leasing- und Mietkaufmodell
Abbildung 15: Leasing- und Mietkaufmodell
Abbildung 16: Entwicklung der USt in Relation zum B
Abbildung 17: Gernot-Mittler-Modell (Vorstufenbefreiun
Abbildung 18: Vorsteuerüberrechnung nach Matt
Abbildung 19: Vorsteuerverrechnung (Reverse-Charge)
Abbildung 20: Produktion von Kontoauszüg
Abbildung 21: Ist-Versteuerung mit Cross-Che
Abbildung 22: Ist-Versteuerung mit Quellenssteuererhebung
Abbildung 23: Endverbrauchsbesteuerung nach Merk
Abbildung 24: Steuerliches Audit-Verfahren nach Jochum
Abbildung 25: Leistungserbringer als Steuerschuldne
Abbildung 26: Leistungsempfänger als Steuerschuldner
Abbildung 27: Umsatzsteuerkarussell mit Leistungsteilun
Abbildung 28: Systembrüche bei Reverse-Charge.
Abbildung 29: Zwischenschaltung von Betrugsfirmen
C TABELLENVERZEICHNIS Seite
Tabelle 1 Steuerausfalltypen
Tabelle 2 Nachteile verschiedener Besteuerungsstufen
Tabelle 3 Möglichkeiten der Besteuerung
Tabelle 4 Handlungsoptionen bei Steuerhinterziehung
Tabelle 5 Systembedingte Schwachstellen
Tabelle 6 Umfang Schattenwirtschaft
Tabelle 7 Einstellungen zur Schattenwirtschaft
Tabelle 8 Quantifizierung des MwSt-Aufkommens.
Tabelle 9 USt-Steuerhinterziehungsquote
Tabelle 10 Steuerausfalltypen.
Tabelle 11 USt-Aufkommen aus BiP und Schattenwirtschaft
Tabelle 12 Bisherige Gesetzgeberische Maßnahmen
Tabelle 13 Aufteilung des Umsatzsteueraufkommens auf Rechnungsgrößenklassen
Tabelle 14 USt-Ausfallminderung durch RC
D ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Problemstellung, Vorgehensweise und Bewertungsmuster
1.1. Einführung
„Das Umsatzsteuersystem ist überwiegend auf Vertrauen aufgebaut.“[1] Vertrauen bedeutet, dass im derzeit bestehenden System vorausgesetzt wird, dass der Unternehmer selbst die abzuführende Umsatzsteuer korrekt errechnet, fristgerecht erklärt und an das Finanzamt abführt. Dieses Vertrauen ist allerdings seit einigen Jahren insbesondere bei politischen Entscheidungsträgern tief erschüttert. Ursache dafür war, dass in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ab dem Jahr 1999 erstmals das Umsatzsteueraufkommen rückläufig war.[2] Weiterhin fand eine von der Bundesbank bereits 1997 festgestellte Abkopplung der Umsatzsteuereinnahmen von der Entwicklung des Bruttoinlandproduktes seit ca. Mitte der neunziger Jahre Beachtung.[3]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes; Quelle: BRH 2003,
Seite 16/17
In der Literatur werden unterschiedliche Ursachen für dieses Phänomen genannt:
- Betrug durch Steuerschuldner[4],
- Veränderungen der Konsumstruktur der Verbraucher[5],
- nachlassende Veranlagungsqualität des Fiskus[6],
- unzureichende Personalausstattung der Finanzverwaltung[7],
- verstärkte Umsatzsteuerplanung international tätiger Unternehmen[8],
- zunehmend hohe Rechtsdichte, die weder von den Steuerpflichtigen, ihren Beratern noch den Finanzbeamten selbst beherrscht werden kann[9],
- Wechselkursprobleme[10],
- BIP-Wachstum vorrangig durch Exporte, die keine Umsatzsteuerzahllasten begründen,
- anhaltende Schwäche der Binnenkonjunktur,
- fehlendes Bewusstsein in der Bevölkerung für die Notwendigkeit der Bezahlung der Umsatzsteuer für das Gemeinwohl[11],
- weit verbreitete rechtswidrige Unsitte der Ohne-Rechnung-Geschäfte z. B. bei Handwerksleistungen[12],
- die staatliche Ordnungsmacht stößt an ihre Grenzen[13].
Eine genaue Analyse steht noch aus,[14] ist jedoch nicht Gegenstand dieser Arbeit. Seit 2001 gibt es trotzdem eine intensive wissenschaftliche Diskussion über die Verhinderung von Betrugsmöglichkeiten, die auf der Annahme beruht, der Rückgang des Umsatzsteueraufkommens habe im Wesentlichen etwas mit der überproportionalen Steigerung des Umsatzsteuerbetruges zu tun, und vor allem mit dem Missbrauch des Anspruchs auf Vorsteuererstattung. Genaue Zahlen liegen hier nicht vor[15], was auch durch die Bundesregierung eingeräumt wird.[16]
Allerdings gehen Schätzungen des ifo-Instituts München für die Jahre 2001 bis 2005 von ca. 11,0 bis 11,5% des deutschen Umsatzsteueraufkommens aus.[17] „Für das Jahr 2005 würde dies einen Steuerausfall in Höhe von 17 Mrd. Euro in Deutschland bedeuten.“[18]
In der o. g. wissenschaftlichen Diskussion wurde allerdings der Eindruck erweckt, dass die vorgenannten 17 Mrd. Euro überwiegend durch so genannte Karussellgeschäfte dem deutschen Fiskus entzogen wurden: „Das größte Problem: Umsatzsteuer-Karusselle.“[19] Daher wurde die Diskussion zum Teil auch sehr emotional und leidenschaftlich[20], zumindest aber stark kontrovers geführt.[21]
Zur Problembehebung wurden in der Literatur die unterschiedlichsten Systemänderungen am Umsatzsteuererhebungssystem vorgeschlagen und begründet. Unter Leitung des Bundesministeriums der Finanzen wurden Planspiele zu zwei der vorgeschlagenen Systemänderungen durchgeführt, die zu einer Präferenz für einen Systemwechselvorschlag, dem so genannten Reverse-Charge-Verfahren, auch Vorsteuerverrechnungsmodell genannt, führten. Darauf aufbauend beantragte die Bundesregierung eine Ausnahmegenehmigung nach Artikel 27 Abs.1 der 6. EG-Richtlinie zur Mehrwertsteuer (RL 77/388/EWG), um dieses Verfahren generell in Deutschland einzuführen. Der Antrag wurde am 19. 07. 2006 durch die EG-Kommission[22] abgelehnt.
Ziel dieser Arbeit ist es, die vorgeschlagenen Systemänderungen zu analysieren und festzustellen, ob und wenn ja mit welchen Auswirkungen Systemänderungen zur Verbesserung des Umsatzsteueraufkommens beitragen könnten. Ein Vergleich mit dem aktuellen System wird dabei ebenso nötig sein wie eine kritische Wertung der Systemänderungen, insbesondere dahingehend, ob diese ausreichend sind oder z. B. durch flankierende Maßnahmen unterstützt werden können bzw. müssten.
1.2. Problemstellung
Das derzeit in der Europäischen Union geltende Mehrwertsteuersystem ist ein Allphasen-Nettoumsatzsteuersystem mit Vorsteuerabzug.[23] Wichtiges Merkmal ist dabei die so genannte fraktionierte Zahlung durch die jeweiligen Unternehmer auf allen Produktions- und Dienstleistungsstufen, obwohl nach der Zielstellung des Systems ausschließlich der Verbraucher mit der Umsatzsteuer belastet werden soll. Die fraktionierte Zahlung, die dadurch entsteht, dass auf jeder Produktionsstufe der leistende Unternehmer seine geschuldete Umsatzsteuer um die an den Vorleistungserbringer gezahlte Umsatzsteuer (Vorsteuer) kürzt, wird nunmehr überwiegend als die „Achillesferse“[24] des Mehrwertsteuersystems betrachtet. Darüber hinaus sei der Vorteil der fraktionierten Zahlung eine optische Täuschung[25] und daher ein systemimmanenter Grundfehler, der förmlich zum Betrug einladen würde.
Es wird daher vorgeschlagen, durch einen Systemwechsel die fraktionierte Zahlung durch die generelle Abschaffung des Vorsteuerabzugs aufzuheben, die Steuerzahllasten auf das Ende der Produktions- und Dienstleistungsprozesse zu verlagern und somit einen großen Teil der zwischenbetrieblichen Zahlungsflüsse (B2B) um die Umsatzsteuer zu reduzieren. Durch diese Reduzierung der Zahlungen um die Umsatzsteuer könne sie in der Konsequenz auch nicht mehr betrügerisch hinterzogen werden.[26] Es wird allerdings eingeräumt, dass durch die Systemumstellung auch neue Betrugsmöglichkeiten eröffnet werden.
Daher ist zu untersuchen, welche Ursachen für die Umsatzsteuerausfälle im derzeitigen System zu finden sind und ob sie durch Systemänderungen behoben werden können. Es wird darzulegen sein, welche Auswirkungen diese Systemänderungen haben könnten. Es werden die Systemvorschläge verglichen, eine Kosten-Nutzen-Analyse aufgestellt, neue Betrugsmöglichkeiten diskutiert sowie andere außerhalb des Steuerrechts liegende Möglichkeiten der Betrugsbekämpfung thematisiert. Daraus schlussfolgernd soll eine begründete Bewertung der vorgeschlagenen Reformmodelle erarbeitet werden.
1.3. Vorgehensweise
Die Arbeit soll einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten, ob eine Systemumstellung bei der Erhebung der Umsatzsteuer die bestehenden Umsatzsteuerausfälle verhindern oder begrenzen kann. Dazu ist es notwendig, zunächst ein Bewertungsmuster zu entwickeln, mit dem die unterschiedlichen Ansätze beurteilt werden und wie sie sich tatsächlich oder vermeintlich auf das Umsatzsteueraufkommen auswirken.
Im Mittelpunkt der Arbeit stehen daher folgende Fragen:
- Warum wurde das Allphasen-Nettoumsatzsteuersystem geschaffen? Hat es sich bewährt, und warum wurde es in vielen Ländern außerhalb der EU eingeführt?[27]
- Worin besteht der grundlegende Nachteil des Allphasen-Nettoumsatzsteuer-systems und welche negativen Folgen sind nachweisbar?
- Welche unterschiedlichen Modellvorschläge gibt es und welche Vor- und Nachteile haben diese? Welche Wirkungen können oder werden sie entfalten?
- Welches der Modelle kann der Forderung, das Umsatzsteueraufkommen zu erhöhen, am besten gerecht werden?
- Welche weiteren Möglichkeiten und Ansätze gibt es, die eine Erhöhung des Umsatzsteueraufkommens unterstützen könnten?
Die Arbeit gliedert sich neben der Einführung in sechs weitere Abschnitte:
Der zweite Abschnitt beginnt mit einer Darstellung des bestehenden Allphasen-Nettoumsatzsteuersystems. Daran anschließend erfolgt eine Darstellung der weiteren historischen Entwicklung unter Berücksichtigung der Einführung des gemeinsamen EG-Binnenmarktes. Den Abschnitt beschließt eine Würdigung des Systems, das zwischenzeitlich u.a. durch die Befürwortung durch die Weltbank zu einem europäischen „Exportschlager“[28] geworden ist.
Im dritten Abschnitt erfolgt eine Analyse der in der Literatur dargestellten systembedingten Schwachstellen sowie eine Analyse der Faktoren zur Begünstigung der Umsatzsteuerkriminalität. Des Weiteren werden die Steuerausfälle aus quantitativer Sicht diskutiert.
Im vierten Abschnitt werden die bisherigen gesetzgeberischen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufgezeigt.
Im fünften Abschnitt werden die in der Literatur vorgestellten Systemänderungsmodelle thematisiert und erläutert. Dabei wird intensiv auf ihre jeweiligen spezifischen Besonderheiten eingegangen.
Im sechsten Abschnitt werden diese dann verglichen. Es werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Modelle herausgearbeitet, der Wegfall und die Entstehung neuer Betrugsmöglichkeiten dargestellt. Ergänzt wird dies durch eine Kosten-Nutzen-Analyse sowie die Bewertung anhand des aufgestellten Bewertungsmusters.
Im abschließenden siebten Abschnitt wird als Fazit eine begründete Bewertung aus den Analysen abgeleitet.
1.4. Entwicklung eines Bewertungsmusters
1.4.1. Zielstellung
Die Formulierung eines Bewertungsmusters dient im Kontext dieser Arbeit als ein Maßstab, an dem die Folgen und Wirkungen eines jeden Umsatzsteuererhebungssystems beurteilt werden können. Mit Hilfe dieses Maßstabes kann bewertet werden, ob die einzelnen Merkmale in einem System tatsächlich der Verhinderung eines Umsatzsteuerausfalls, auch unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit, dienen und welche quantitativen Auswirkungen dies haben wird.
Den Ausgangspunkt bilden dabei die im bisherigen Umsatzsteuerrecht bekannten und in Kategorien unterteilbaren Steuerausfalltypen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Steuerausfalltypen, Quelle: ifo-Institut, hier zitiert nach PSP 2005, S. 12 (geändert)
Die wesentlichen Ausfälle entstehen durch Insolvenzen und durch Betrügereien mit der fraktionierten Zahlung.
Zwar sind die Positionen „andere Steuerausfälle“ mit den Unterpositionen „höchstrichterlicher Rechtsprechung“ und „legale Steuergestaltung“ ebenfalls ursächlich für Mindereinnahmen bei der Umsatzsatzsteuer, jedoch erscheint es unwahrscheinlich, dass diese durch einen Systemwechsel verhindert werden können. Da es sich dabei um z.T. legale Sachverhalte handelt, erscheint es darüber hinaus zumindest fragwürdig, hierbei von echten Steuerausfällen zu sprechen.
Beide Umsatzsteuerausfallarten werden daher in der Arbeit nicht berücksichtigt. Sehr wohl thematisiert werden jedoch die beiden verbleibenden Steuerausfallarten „Schattenwirtschaft“ und „unversteuerte unentgeltliche Wertabgaben“.
1.4.2. Faktoren für das Bewertungsmuster
a) qualitative und quantitative Wirksamkeit
Die Wirksamkeit eines geänderten Umsatzsteuersystems muss sich daran messen lassen, ob (qualitativ) und wie hoch (quantitativ) es eine Auswirkung auf die geschätzten Steuerausfälle haben wird. Positive und negative Wirkungen sind dabei zu saldieren. Vorab muss aber angemerkt werden, dass hier das Problem auftritt, das genaue Zahlen schwer zu ermitteln sind. Einen guten Ansatz bietet das durchgeführte Planspiel, auf das daher genauer einzugehen ist. Letztendlich beruhen aber auch diese Zahlen nur auf Schätzungen oder Hochrechnungen, deren Wahrscheinlichkeiten nicht genau bestimmt werden können.
b) Nutzen-Aufwand-Verhältnis
Zu berücksichtigen ist auch, mit welchem Aufwand dies erreicht werden kann. Dem dient eine Kosten-Nutzen-Analyse, welche die Effizienz des Systems feststellen soll. Erschwerend für eine allgemein akzeptierte Bewertung ist hier zu berücksichtigen, dass die Auffassungen über die Merkmale von effizienten Systemen weit auseinandergehen.
c) Verhältnismäßigkeit
Unter dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit ist weiterhin zu prüfen, ob es für die beteiligten Wirtschaftssubjekte sowie die übrigen Mitglieder der Gesellschaft zumutbar ist, zur Verhinderung von Betrug durch einige wenige Personen[29] die Wirtschaftstätigkeit eines Großteils der Gesellschaft einzuschränken bzw. das vorhandene, weitgehend stabile Gleichgewicht zwischen Normensetzung und Einhaltung durch grundlegende Systemänderungen zumindest zeitweise zu destabilisieren.
d) vertikale Neutralität
Ein wesentliches Merkmal der Umsatzsteuer ist, dass sie ihrer Definition nach vom Endverbraucher getragen werden soll. Sie ähnelt daher sehr stark einer klassischen Einzelhandelssteuer allerdings nur im Ergebnis, in der Art ihrer Erhebung nicht. Im gesamten Produktions- und Dienstleistungsprozess soll sie keine Auswirkungen haben, also neutral wirken. Dies war einer der wesentlichen Gründe für die Einführung des Mehrwertsteuersystem von 1968. Es ging darum, die Neutralität auf allen Stufen des Produktionsprozesses (insbesondere im grenzüberschreitenden Warenverkehr) wieder herzustellen, die durch das frühere Allphasen-Bruttoumsatzsteuersystem nicht mehr gewährleistet war.
Die vorgestellten Umsatzsteuermodelle müssen daher auch auf diese Neutralität hin untersucht werden, ob diese u.a. im bestehenden System noch existiert und ob diese in den vorgeschlagenen Modellalternativen weiterhin existieren wird.
e) horizontale Neutralität (Wettbewerbsverzerrungen)
Einsichtig erscheint auch, dass die zu erhebende Umsatzsteuer keine Auswirkungen auf den Wettbewerb zwischen den Unternehmungen innerhalb einer Branche haben darf. Dies wird primär dadurch gewährleistet, dass die Umsatzsteuer unabhängig vom Steuersubjekt und Steuerschuldner stets gleich ist, da sich die Steuerbarkeit und die Steuersätze ausschließlich nach dem Produkt bzw. der erbrachten Leistung richten.[30] Jedoch wurden durch einige Steuersubjekte Methoden entwickelt, um durch verschiedene illegale Gestaltungspraktiken unter Ausnutzung des umsatzsteuerlichen Preisaufschlages eine Verbilligung der Waren und Dienstleistungen zu erreichen und sich so Vorteile am Markt zu verschaffen. Vorteile die dadurch entstehen, indem die Gleichgewichtspreisbildungsprozesse ausgeschaltet und durch einseitige Preisfestsetzungen, die denen einer Monopolpreisbildung entsprechen, ersetzt werden. Aus makroökonomischer Sicht ist dem entgegenzutreten.
Für die effektive Allokation der Ressourcen, die Gewährleistung der Gerechtigkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz können derartige Effekte nicht hingenommen werden. Das bestehende Umsatzsteuersystem aber auch eventuelle zukünftige Systeme sind danach zu beurteilen, ob o. g. Wettbewerbsverzerrungen möglich sind oder gegebenenfalls systemimmanent verhindert werden können.
2. Das derzeit gültige Umsatzsteuersystem
2.1. Einordnung in die Besteuerungsformen
Die Umsatzsteuer gehört zu den Verbrauchssteuern, da der private Verbrauch der Besteuerung unterworfen werden soll. In Deutschland gilt Johannes Popitz als der Schöpfer der deutschen Umsatzsteuer. Ihm gelang es, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten eine reichseinheitliche Umsatzsteuer in Deutschland einzuführen.[31] Dies geschah in drei Stufen. Begonnen wurde durch das Gesetz vom 26. Juni 1916 mit der Einführung eines Warenumsatzstempels mit einer Abgabe von 0,1 % auf alle Warenlieferungen. Die Fortsetzung erfolgte durch das Gesetz vom 26. Juli 1918 mit der Ausdehnung auf alle gewerblich erbrachten Dienstleistungen mit einem erhöhten Steuersatz von 0,5 %, die mit der Einbeziehung auch der freiberuflich erbrachten Dienstleistungen und der Anhebung des Steuersatzes auf 1,5 % durch das Gesetz vom 24. Dezember 1919 seinen Abschluss fand.
Jedoch gehen die Anfänge noch weiter zurück. Bereits 1702 wurde in Sachsen unter August dem Starken im Mansfeld und 112 Städten eine „Generalkonsum-akzise“ eingeführt, um die leere Staatskasse zu füllen. 1707 wurde sie auf alle Städte und Flecken ausgedehnt.[32] Auf jeden Einkauf von Waren im Land wurde von nun an eine Abgabe erhoben. Eine Verbrauchssteuer.
Bei beiden Steuern handelte es sich aus systematischer Sicht um eine sogenannte Einphasenbruttosteuer, da sie durch jeden Händler erhoben, einbehalten und abgeführt werden musste. Dies ist eine der möglichen Formen der Umsatzsteuer, die wir heute kennen. Die Verbrauchssteuern können in direkte (erhoben bei den Haushalten) und indirekte (erhoben bei den Unternehmen, getragen aber durch die Haushalte) unterschieden werden.
In dieser Arbeit geht es ausschließlich um die indirekten, allgemeinen Verbrauchsteuern, also die Umsatzsteuer. Eine Übersicht über die Umsatzsteuertypen findet sich im Anhang 1.
Die Unterscheidung der Besteuerungsformen kann im wesentlichen durch drei Kriterien erfolgen, und zwar durch die Auswahl
a) des Steuerobjekts,
b) die Anzahl der Besteuerungsstufen und
c) die zeitliche Zurechnung der Umsätze.
Bei der Auswahl des Steuerobjekts geht es um die Wahl der materiellen Bemessungsgrundlage. Es wird zwischen Brutto- und Nettosteuer unterschieden. Bei der Bruttosteuer bildet der auf jeder Produktionsstufe anfallende Bruttoumsatz die Bemessungsgrundlage. Bei der Nettosteuer bildet der Nettoumsatz die Bemessungsgrundlage, d. h. der Bruttoumsatz abzüglich der Vorleistungen auf den vorangegangenen Produktionsstufen. Es soll nur noch die jeweils auf einer Produktionsstufe anfallende zusätzliche Wertschöpfung – der Mehrwert – besteuert werden.
Bei der Anzahl der Besteuerungsstufen geht es darum, wie oft im Laufe des Produktions- und Handelsprozesses eines Gutes die Umsätze der Besteuerung unterliegen. Es kann zwischen
a) Allphasen-,
b) Mehrphasen- und
c) Einphasensteuern
unterschieden werden. „Gedanklich stelle man sich dazu den Weg von der Urproduktion zur Konsumreife in mehreren Stufen vor:“[33]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Phasenschema von Urproduktion bis Konsum,
Quelle: Schmidt, Peter 1999, S. 42
Bei der Allphasensteuer unterliegen grundsätzlich sämtliche Umsätze, die bei einem Produkt vom Rohstoff über die Weiterverarbeitung bis hin zum fertigen Endprodukt anfallen, der Steuerpflicht, d. h. auf jeder neuen Produktionsstufe wird erneut der Umsatz besteuert. Bei der Mehrphasensteuer unterliegen die Umsätze auf mehreren Phasen von der Urproduktion zum Endprodukt der Besteuerung. Sie unterscheidet sich von der Allphasensteuer nur dadurch, dass die Umsätze bestimmter Produktionsstufen von der Besteuerung befreit werden. Bei der Einphasensteuer dagegen erfolgt die steuerliche Belastung der Umsätze nur ein einziges Mal während des Produktionsprozesses, also auf einer Produktionsstufe.
Es kann auch noch eine Unterscheidung nach der zeitlichen Zurechnung der Umsätze getroffen werden. Das Problem der zeitlichen Zurechnung ergibt sich immer dann, wenn der Vertragsabschluss, die Erbringung der Leistung[34] und die Zahlung in unterschiedliche Perioden fallen. Dies kann z. B. beim Verkauf eines PKW der Fall sein, dessen Lieferung ein Vierteljahr in der Zukunft liegt und der dann unter Gewährung eines Zahlungsziels von 6 Wochen erfolgt. Je nachdem, welcher Tag als der Zeitpunkt der Umsatzrealisation angesehen wird – Leistung oder Zahlung (Vertragsschluss als Zeitpunkt der Umsatzrealisation ist nirgendwo üblich) – spricht man entweder von Umsatzbesteuerung nach "vereinbarten Entgelten" (Soll-Besteuerung) oder nach "vereinnahmten Entgelten" (Ist-Besteuerung).
2.2. Erläuterung des Allphasen-Nettoumsatzsteuersystems
Im Gegensatz zu der Zeit der Einführung der Umsatzsteuer herrscht in Europa in der heutigen Zeit das Allphasen-Nettoumsatzsteuersystem vor. Das bedeutet, die Steuer wird auf allen Produktions- und Handelsstufen, inklusive der Dienstleistungen erhoben. Bemessungsgrundlage ist dabei der Wert dessen was der Empfänger aufwendet, jedoch abzüglich der Umsatzsteuer[35]. Auf diesen wird die Umsatzsteuer[36] hinzugerechnet und ergibt somit den zu zahlenden Bruttobetrag.
Bsp: Lieferung eines Radios (netto) 100,00 Euro
Zuzüglich 10 % USt 10,00 Euro
Zahlbetrag (brutto) 110,00 Euro
Der Lieferer ist Umsatzsteuerschuldner, obgleich der Träger der Steuer der Warenempfänger ist, da die Umsatzsteuer beim Lieferer lediglich einen durchlaufenden Posten darstellt. Das Ziel der Besteuerung des Verbrauches ist somit erfüllt. Sofern der Verbraucher bereit ist, für das Radio 110,00 Euro zu zahlen, spricht man von der Überwälzung der Umsatzsteuer.
Überwälzung der Umsatzsteuer
Finanzamt
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Überwälzung der Umsatzsteuer, Quelle: Eigene Darstellung
Dieses Prinzip gilt auf allen Stufen der Produktion und des Handels. Das hat allerdings zur Folge, das systembedingt sich der Preis eines Produktes auf jeder Stufe um die Umsatzsteuer erhöht. Je öfter also ein Produkt im Produktions- und Handelsprozess den Eigentümer wechselt, umso größer ist der im Preis enthaltene Umsatzsteuerbetrag.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Im Ergebnis würde der Staat 2,50 + 5,00 + 10,00 = 17,50 Euro Steuern einnehmen. Wäre ein weiterer Händler zwischengeschaltet, würde sich der Steueranteil weiter erhöhen, obwohl sich der Endverbraucherpreis von 110,00 Euro nicht ändern würde.
Da dies jedoch nicht gewollt ist, soll auf allen Stufen die Zahlung der Umsatzsteuer der Vorstufe neutralisiert werden.
Daher kann von der Umsatzsteuerschuld an den Fiskus die Umsatzsteuer abgezogen werden, die dem Unternehmer von seinem Vorlieferanten berechnet wurde. Bezogen auf das vorgenannte Beispiel ergeben sich folgende Werte:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Im Ergebnis wird somit nur der jeweilige Wertzuwachs, also der „Mehrwert“ besteuert. Deshalb wird diese Form der Besteuerung auch als Mehrwertsteuer bezeichnet. Insgesamt erhält das Finanzamt aber die korrekten 10,00 Euro (2,50 + 2,50 + 5,00).
Das nachfolgende Bild zeigt nochmals die Zahlungsströme:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Vorsteuerabzug und Umsatzsteuer, Quelle: Eigene Darstellung
Im Ergebnis bekommt das Finanzamt von jedem der drei Unternehmer einen Teil der Umsatzsteuer nämlich 2,50 + 2,50 + 5 Euro = 10 Euro, die schlussendlich durch den Verbraucher getragen wurde. Der Kreis ist somit geschlossen.
Die Aufteilung der Begleichung der 10 Euro an den Staat wird fraktionierte Zahlung genannt. Dieser fraktionierten Zahlung werden vier wesentliche Vorteile zugeschrieben.[37]
a) Eine reine Einzelhandelssteuer würde erheblich mehr Steuerhinterziehungsmöglichkeiten eröffnen, indem Umsätze an Endverbraucher verschwiegen werden oder als Umsätze an Unternehmer deklariert werden.
b) Die Möglichkeit der Geltendmachung des Vorsteuerabzugs nötige die Unternehmer dazu, auch die betreffenden Ausgangsumsätze zu deklarieren. Unterbleibt die Deklaration, so verbleibt dem Fiskus wenigstens die ansonsten als Vorsteuer abziehbare Umsatzsteuer aus dem Vorumsatz.
c) Die Fraktionierung der Steuer führe dazu, dass alle Unternehmer in die Inkassofunktion für den Fiskus eingeschaltet würden.
d) Aus psychologischen Gründen sei es vorteilhaft, wenn nicht nur Einzelhändler mit der Umsatzsteuerzahllast belastet würden.[38]
Während a), c) und d) eher psychologischer Art sind, stellt b) einen objektiven Sachverhalt dar. Sofern es sich nämlich bei dem Einzelhändler um einen unredlichen Unternehmer handelt, der mit krimineller Energie und Intelligenz in Größenordnungen Ausgangsumsätze nicht deklariert, wird er klugerweise auch auf die Deklaration der Vorsteuerbeträge verzichten. Zum einen wird er versuchen, seine nicht deklarierten Erlöse in Bareinkaufsgeschäfte zu wandeln, um so die nötigen Waren zu erwerben, zum anderen wird er, wenn dies unmöglich ist, die beglichenen Rechnungen seines Vorlieferanten in seinen Büchern nicht erfassen, um durch beide Maßnahmen seinen kalkulierten Gewinnaufschlag der übrigen ordnungsgemäß erfassten Umsätze nicht zu verfälschen. Er wird dabei das Ziel verfolgen, beim Finanzamt nicht aufzufallen, um so sein unredliches Geschäft längerfristig durchführen zu können und es somit zu sichern.
Im Ergebnis jedoch erhält der Fiskus in diesen Fällen zumindest einen Teil der Umsatzsteuer (im vorliegenden Beispiel 5 Euro).
Vorteil der fraktionierten Zahlung
Finanzamt Finanzamt
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Vorteil der Fraktionierten Zahlung, Quelle: Eigene Darstellung
Das vorgenannte System wird flächendeckend auf alle Umsätze angewendet. Es betrifft selbstverständlich alle Lieferungen, aber auch alle Dienstleistungen.[39] Unterschiede bei der Zahlungshöhe gibt es aufgrund unterschiedlicher Steuersätze (staatliche Subventionierung von Lebensmitteln, Büchern, Urheberrechten u. v. m. mit einem geringeren Steuersatz als den Regelsteuersatz) und durch Ausnahmen, die für bestimmte Waren oder Leistungen eine Umsatzsteuerbefreiung vorsehen (z. B. Gesundheitsdienstleistungen, Leistungen der Briefpost, Mietzins für Wohnungen, u. a.). Sofern eine Steuerbefreiung gilt, wird dabei der Vorsteuerabzug für diese Stufe der Liefer- bzw. Leistungskette versagt. Ausnahmen gibt es lediglich bei grenzüberschreitenden Lieferungen und Leistungen, die als im Ausland erbracht gelten.
2.3. Begründung für seine Einführung
Die Allphasen-Nettoumsatzsteuer wurde per 01. Januar 1968 durch das Umsatzsteuergesetz vom 29. Mai 1967[40] in Deutschland eingeführt. Dem war eine jahrelange Diskussion über die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Systeme vorausgegangen.
Die bis zu diesem Zeitpunkt in Deutschland herrschende Allphasen-Bruttoum-satzsteuer hatte einige gewichtige Nachteile. Die bei ihrer Einführung geringen Steuersätze von 0,1 % bis 1,5 % boten den Vorteil, dass diese für die Wirtschaftsteilnehmer unmerklich und daher leicht überwälzbar war, einen nur geringen Aufwand für Wirtschaft und Verwaltung erforderte und dabei hohe Erträge lieferte, ohne den Konjunkturverlauf nachteilig zu beeinflussen.[41]
Der Hauptnachteil jedoch stellte die kumulative Wirkung dar, die umso größer wurde, je höher der Steuersatz ist. Da der allgemeine Steuersatz mit Gesetz vom 28. Juni 1951 auf 4 % angehoben wurde, kumulierte sich die auf den Produkten lastende Umsatzsteuer auf geschätzte 10 %. Somit entsteht ein Vorteil für diejenigen Unternehmer, die über unterschiedliche Umsatzstufen selbst verfügen (Produktion, Großhandel, Absatz), da die Kosten so um bis zu 6 % gesenkt werden können.[42] Aus diesem Nachteil entstehen somit drei ungewollte Folgen:
a) Es entsteht ein Anreiz zur Konzentration von Wirtschaftseinheiten und damit eine Behinderung der volkswirtschaftlich erwünschten Arbeitsteilung.
b) Es entstehen unterschiedliche und dazu noch in ihrer genauen Höhe nach unbekannte steuerliche Endbelastungen, sodass Wettbewerbsverzerrungen im volkswirtschaftlichen Preisbildungsprozess festgestellt werden müssen.
c) Im grenzüberschreitenden Warenverkehr ist ein exakter Grenzausgleich aufgrund der unbekannten tatsächlichen Höhe der Umsatzsteuerbelastung nicht möglich.
Daraus schlussfolgernd hatte bereits am 13. Dezember 1956 der Deutsche Bundestag durch Beschluss die Bundesregierung aufgefordert, einen umfassenden Bericht über die Möglichkeiten des Umbaus des Steuersystems vorzulegen.[43] Ziel dabei sollte sein:
a) einen einwandfreien Ausgleich der umsatzsteuerlichen Belastungen bei der Ein- und Ausfuhr zu ermöglichen;
b) die Möglichkeit zu schaffen, aus wirtschafts- oder sozialpolitischen Gründen bestimmte Waren oder Dienstleistungen steuerfrei zu stellen oder geringer zu belasten;
c) die kumulative Wirkung auch für Investitionsgüter zu beseitigen um, insbesondere eine zusätzliche Belastung von Rationalisierungsmassnahmen auszuschließen.
Das Ergebnis wurde in einer 1958 vorgelegten Denkschrift (BT-Drucksache III/ 730) erläutert, die allerdings noch keine Vorentscheidung für oder gegen eines der diskutierten Systeme fällte. Auch später wurden verschiedene Möglichkeiten in Betracht gezogen. So legte 1960 der Bundesminister der Finanzen eine Studie zu einer Mehrwertsteuer mit Vorsteuerabzug in Form eines Gesetzentwurfes der Öffentlichkeit vor, und der wissenschaftliche Beirat beim BMF empfahl in einer 1962 vorgelegten Studie eine Mehrwertsteuer mit Vorumsatzabzug.[44] Noch war also keine Entscheidung gefallen.
„Die Bestrebungen im innerstaatlichen Bereich, die Umsatzsteuer zu reformieren, erhielten einen neuen Impuls durch die Bemühungen, die Umsatzsteuern der Mitgliedsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu harmonisieren.“[45] So sah die erste und zweite Umsatzsteuerrichtlinie[46] verbindlich die Einführung eines Mehrwertsteuersteuersystems mit Vorsteuerabzug in allen Ländern der EWG vor. So gab es in der Praxis m.E. kaum eine Alternative zur Einführung des fraglichen Umsatzsteuersystems. Lediglich punktuelle Einflussnahme auf einzelne Vorschriften wären möglich gewesen. Gleichwohl beschäftigt sich die Gesetzesbegründung auch mit anderen Formen der Umsatzbesteuerung. Erwogen wurde dabei[47]
a) eine Einzelhandelssteuer
b) eine Grossistensteuer
c) Produktionssteuer
d) Mischsysteme
Alle diese Formen der Umsatzbesteuerung wurden abgelehnt, da deren Nachteile die Vorteile überstiegen. Im Einzelnen führt die Gesetzesbegründung dazu aus:[48]
Als Vorteile werden bei allen Formen genannt, dass sie einer reinen Verbrauchsteuer[49] am nächsten kommen, da keine Kumulation der Steuerbeträge eintritt sowie ein exakter Grenzausgleich (außer kleiner Grenzverkehr) möglich ist. Als Nachteile werden aufgeführt
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Nachteile verschiedener Besteuerungsstufen, Quelle: Eigene Darstellung
Eine genauere Begründung hat Flockermann 1968[50] vorgelegt, die im folgenden kurz dargestellt werden soll.
Als Nachteile der Mehrwertsteuer mit Vorsteuerabzug nennt Flockermann den offenen Steuerausweis, die Vorsteuererfassung sowie neue zivilrechtliche Probleme (z. B. Schadenersatz, Versicherungsfragen) die sich daraus ergeben. Außerdem würde steuersystematisch sich der Übergang zur Einzelhandelssteuer förmlich anbieten. Da allerdings die Vorumsätze nicht völlig außer Betracht gelassen werden können, müssten prinzipiell alle Umsätze der Steuerbarkeit unterworfen werden und auf eine Bescheinung der Unternehmereigenschaft des Leistungsempfängers könnte nicht verzichtet werden. Gleichwohl plädiert Flockermann für ein Allphasen-Nettoumsatzsteuersystem mit Vorsteuerabzug, da
a) die Anzahl der steuerpflichtigen Betriebe nur unwesentlich geringer wäre als bei einer Einzelhandelssteuer (auch Unternehmen der Vorstufen leisten an Endkunden bzw. erwerben für den privaten Eigenbedarf),
b) die Feststellung, ob ein von der Einzelhandelssteuer zu erfassender Umsatz der letzten Stufe vorliegt, in vielen Fällen auf Schwierigkeiten stoßen wird,
c) gerade die Vielzahl kleinerer Unternehmer mit den dafür erforderlichen Aufzeichnungspflichten überfordert sind, was zu einer Benachteiligung dieser kleinen Geschäftsleute gegenüber den größeren Wirtschaftseinheiten führt,
d) eine Einzelhandelssteuer zu unterschiedlichen Preisen bei Vorstufen und Endstufenumsätzen führt, und zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits bekannt sein muss, ob der Leistungsempfänger die Unternehmereigenschaft besitzt oder nicht, was zu einer Behinderung der Vertragsverhandlungen führt,
e) diese Preisunterschiede insbesondere im Massengeschäft (Selbstbedienungsläden, Tankstellen) eine schnelle Abwicklung der Geschäfte erschweren und steuerpsychologisch zu unerwünschten Nebenwirkungen (z.B. in Gaststätten – Geschäftsleute zahlen weniger als Privatpersonen) führen könnte,
f) die hohe steuersatzbedingte Preisdifferenz ein starker Anreiz zur Steuerumgehung darstellt, zumal die Unternehmereigenschaft des Abnehmers nicht mit letzter Sicherheit bestimmt werden kann,
g) die Verteilung des Steueraufkommens auf alle Wirtschaftsteilnehmer die Basis der Steuererhöhung wesentlich verbreitert, damit weniger krisenanfällig gestaltet wird und somit das Steueraufkommen stabilisiert wird (durch Risikostreuung), dies insbesondere mit dem Hinweis auf die bei den Produktions- und Großhandelsstufen zumeist regelmäßig vorliegende bessere Buchführung und Zahlungsfähigkeit sowie die zivilrechtliche Stärke, Zahlungspflichten auch durchsetzen zu können und nicht zuletzt
h) die Kontrolle der steuerfreien Vorstufenumsätze wegen der nicht immer objektiv feststellbaren Voraussetzungen ein besonders schwerwiegendes Problem darstellt.
Der Einwand, die Abführung der Umsatzsteuer auf den Vorstufen nutzt dem Fiskus wenig, da die Vorsteuer ja auf der nächsten Stufe verrechnet wird, ist auch für Flockermann nur scheinbar berechtigt. Schon wegen der sich aus einem Missverhältnis von Umsätzen und Vorsteuerabzug ergebenden Kontrollmöglichkeiten „dürfte die Gefahr von Umsatzsteuerhinterziehungen wahrscheinlich geringer sein als bei einer Einzelhandelssteuer, die wegen der nicht einfachen Überprüfung, ob es sich tatsächlich um einen Umsatz an einen Endkunden handelt, geradezu einen Anreiz bietet, steuerfrei zu verkaufen“.[51]
2.4. Historische Entwicklung
2.4.1. Abzugsverfahren
Waren die Ziele mit der Einführung des Allphasen-Nettoumsatzsteuersystems erreicht, so wurden doch im Laufe der Zeit verschiedene Änderungen notwendig.
Bereits 1980 wurde das Abzugsverfahren[52] bei sonstigen Leistungen von Nichtgebietsansässigen eingeführt, das für Werklieferungen und sonstige Leistungen im Ausland ansässiger Unternehmen gilt sowie für Inländer im Rahmen von Lieferungen sicherungsübereigneter Wirtschaftsgüter durch den Sicherungsnehmer (z. B. eine Bank) und die Lieferung von Grundstücken im Rahmen von Zwangsversteigerungen durch den Vollstreckungsschuldner.
Der Empfänger einer Leistung war demnach zur Einbehaltung und Abführung der jeweiligen Umsatzsteuer an den Fiskus verpflichtet. Er trat neben dem Leistungserbringer in die Haftungsschuld[53] der Umsatzsteuer ein. Dies betraf neben Unternehmern auch Kleinunternehmer, pauschalierende Landwirte sowie juristische Personen des öffentlichen Rechts.
Zur Vereinfachung gab es eine sogenannte Nullregelung[54], die anwendbar war, wenn
a) der Leistungserbringer keine Rechnung mit offen ausgewiesener Umsatzsteuer erteilt hat und
b) der Leistungsempfänger diese Umsatzsteuer als Vorsteuer abziehen könnte.
Abzugsverfahren und Nullregelung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Abzugsverfahren und Nullregelung, Quelle: Eigene Darstellung
Ziel dieser Regelung war die Sicherung des Steueranspruches, der insbesondere bei ausländischen Leistungserbringern gefährdet schien.
Das Abzugsverfahren wurde per 01. Januar 2002 durch die Steuerschuldnerschaft nach §13b UStG (Reverse Charge) ersetzt.[55]
2.4.2. Nichtbesteuerung der Geschäftsveräußerung im Ganzen
Eine weitere Korrektur, die das grundlegende System der Allphasennettoumsatzsteuer punktuell außer Kraft setzte, war die Einführung der Nichtbesteuerung der Geschäftsveräußerung im Ganzen, die per 01. 01.1994 in Kraft trat. Sofern nach der sogenannten „Fußstapfentheorie“ der Erwerber einer Unternehmung im ganzen an die Stelle des Veräußerers tritt (entgeltliche oder unentgeltliche Übereignung, Einbringung) unterliegt diese Transaktion nicht der Umsatzsteuer.[56]
Nicht steuerbare Geschäftsveräußerung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 7: Nicht steuerbare Geschäftsveräußerung, Quelle: Eigene Darstellung
Ziel war es, den Missbrauch einzudämmen, der mit der vorher steuerpflichtigen Veräußerung möglich war und vermutlich in einem bestimmten Umfang auch betrieben wurde. Wenn nämlich der Veräußerer mit dem Verkaufserlös Verbindlichkeiten tilgen musste, und über diese Tilgung hinaus keine weiteren liquiden Mittel verfügbar waren, unterblieb die Abführung der Umsatzsteuer, die u.a. durch Insolvenz des Veräußerers für immer verloren war. Gleichwohl hatte der Erwerber jedoch einen Anspruch auf Erstattung seiner gezahlten Vorsteuer.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 8: Steuerbare Geschäftsveräußerung, Quelle: Eigene Darstellung
Im Ergebnis entstand dem Fiskus ein Schaden von 10.000 GE.
Durch den Übergang zur nichtsteuerbaren Geschäftsveräußerung im Ganzen konnten die diesbezüglichen Anreize unterbunden bzw. eingedämmt werden.
2.4.3. Innergemeinschaftlicher Warenverkehr
Einen erheblichen Eingriff in das bestehende Mehrwertsteuersystem stellten jedoch die Korrekturen zur Schaffung des europäischen Binnenmarktes dar, die im folgenden erläutert werden.
Zum 01. 01. 1993 wurde innerhalb der EG ein weiterer Schritt auf dem Wege der Harmonisierung der Umsatzsteuer innerhalb der Gemeinschaft vollzogen. Es folgten der Wegfall aller Grenzkontrollen und die Beseitigung der Steuergrenzen. Wesentliche Rechtsgrundlage bildete die sogenannte Sechste USt-Richtlinie der EG (Richtlinie 77/388/EWG, ABl. EG 1977 Nr. L 145 S.1) umgesetzt in nationales Recht durch das UStG 1980 vom 26. November 1979 (BStBl. 1979 I 654). Diese sah „die völlige Angleichung der Bemessungsgrundlagen bei der Umsatzsteuer“[57] in den beteiligten Ländern vor.
Nicht erreicht wurden allerdings die im Weißbuch[58] der EG-Kommission vom 14. 06. 1985 (für die Tagung am 28./29. 06. 1985 in Mailand) genannten programmatischen Schritte für ein innergemeinschaftliches Umsatzsteuerrecht nach dem Ursprungslandprinzip[59]. In dieser Frage konnte in der EG keine Einigung erzielt werden, deren Ursachen hier aber nicht näher untersucht werden sollen.
Stattdessen beschloss der Rat Übergangsregelungen[60], die bis zu einer Neuordnung innerhalb der EG gelten sollten. Da für eine solche Neuordnung allerdings bis heute keine Einigung erzielt werden konnte, gelten die Übergangsregelungen noch immer, und es ist nicht absehbar, ob und wann ein Ersatz der Übergangsregelungen Wirklichkeit wird.
Es geht dabei um das Problem, wo bei einer Lieferung oder Leistung die Umsatzsteuer erhoben werden soll. Grundsätzlich existieren vier verschiedene Orte, an denen der Leistungsaustausch als ausgeführt gelten kann:
a) der Ort, an dem der Unternehmer leistet (die Leistung beginnt),
b) der Ort, an dem die Leistung empfangen wird (die Leistung endet)
c) der Ort, von wo die Bezahlung aus erfolgt bzw. beginnt, also die Gegenleistung erbracht wird und
d) der Ort, wo die Bezahlung erhalten wird bzw. endet, also die Gegenleistung vereinnahmt wird.[61]
Aus historischer Sicht, als Lieferungen auf lokalen Märkten stattfanden, fielen diese Orte i. d. R. zusammen, da die Leistung und die Gegenleistung (Lieferung und Bezahlung) zumeist als ein einheitlicher Vorgang durchgeführt wurden. Der Ort der Steuerpflicht war somit fest vorgegeben und bedurfte keiner Klärung.
Mit der zunehmenden Komplexität des Handels fielen die Orte und Zeitpunkte von Handelsgeschäften und damit von Leistungsaustauschen allerdings zum Teil auseinander, z. B. der Unternehmer der Stadt A versorgte Kunden in der Stadt B, die darüber hinaus erst später zahlten und dann auch noch andere Werte als zuvor vereinbart (Skonti, Mängelabzüge) waren.
Sofern beide Orte innerhalb eines Besteuerungsgebietes liegen, erübrigt sich eine genaue Unterscheidung, da im Zweifel eine Besteuerung in jedem Falle erfolgt. Befinden sich aber die beiden Orte in verschiedenen Besteuerungsgebieten, z. B. unterschiedlichen Nationalstaaten, bedarf es Regelungen, wo der Leistungsaustausch als ausgeführt gilt. Andernfalls könnte es zu Doppelbesteuerung oder aber auch zu Nichtbesteuerung kommen. Tabelle 2 gibt eine Übersicht über die denkbaren Besteuerungen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 3: Möglichkeiten der Besteuerung, Quelle: Haufler, Andreas 1993, S.8, leicht geändert.
Ausgehend von der Annahme, dass die Fälle der Doppelbesteuerung und der Nicht-Besteuerung ausgeschlossen werden sollen, gilt es eine Regelung zu finden, welchem Land das Besteuerungsrecht zufällt, dem Land, in dem der Leistende ansässig ist (die Lieferung beginnt), oder dem Land, in dem der Gegenleistende, also der Empfänger der Leistung (diese empfängt), ansässig ist. Bezugnehmend auf die Tatsache, dass somit jede Lieferung/Leistung einen Ursprungsort und einen Bestimmungsort aufweist, spricht man dabei von der Besteuerung nach dem Ursprungsland- bzw. nach dem Bestimmungslandprinzip.
Grundsätzlich werden im Allphasen-Nettoumsatzsteuersystem alle Umsätze nach dem Ursprungsortprinzip versteuert. Steuerschuldner ist der Lieferer oder der Leistende unabhängig davon, an wen und wohin geleistet wird. Dies ist einfach zu kontrollieren, da dazu nur die getätigten Umsätze erfasst und mit dem jeweils geltenden Steuersatz multipliziert werden müssen.
Entsprechend dem Weißbuch 1985 der EG[62] sollte dieses Prinzip auch im europäischen Binnenmarkt angewendet werden, um somit den Leistungsaustausch innerhalb der EU grundsätzlich dem innerhalb der Nationalstaaten gleichzustellen.
Wie oben erwähnt, ist es dazu nicht gekommen, da sich die EU-Mitgliedsstaaten zum einen nicht auf einheitliche Steuersätze einigen konnten, die aber zur Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig sind, und zum anderen ein Clearingsystem zum Ausgleich der fiskalischen Folgen durch die Umstellung auf das Ursprungsort(land)prinzip nicht geschaffen werden konnte.
Stattdessen wurde das bis 31.12.1992 geltende Prinzip der Steuerbefreiung für Exporte weitergeführt, mit dem Unterschied, dass die Grenzen faktisch in die Unternehmen verlegt wurden.
Dadurch wird das Ziel der Abschaffung der Landesgrenzen zwar formal erreicht. In den Unternehmen entsteht jedoch ein relativ hoher verwaltungstechnischer Aufwand, der erforderlich ist, die grenzüberschreitenden Lieferungen und Leistungen zu erfassen, um eine ordnungsgemäße Besteuerung im Bestimmungsland zu gewährleisten. Zwar bleibt für den Exporteur der Export steuerfrei, jedoch müssen Daten erhoben werden, die das Bestimmungsland des jeweiligen Umsatzes erfassen und in Form von Meldungen an das Bestimmungsland diesem die Möglichkeit geben, die Steuerschuldner zu überprüfen und gegebenenfalls zur Zahlung heranzuziehen. Die ohne Binnenmarkt durch die Zoll- und Steuerbehörden vorgenommene Export- und Importbesteuerung wird so auf die Unternehmen abgewälzt, also de facto nicht wie gewünscht abgeschafft.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 9: Innergemeinschaftlicher Warenverkehr, Quelle: Eigene Darstellung
Insgesamt verkomplizieren sich aus o. g. Gründen auch die gesetzlichen Regelungen, und es besteht eine erhöhte Missbrauchsanfälligkeit. Diese besteht darin, dass die Steuerfreiheit der Exporte, die bis 31.12.1992 durch die Zollverwaltung durchgeführt wurde, ersatzlos wegfällt und durch eigene Erklärungen der Steuerpflichtigen ersetzt werden.
2.5. Bewertung des Erfolges
Aus der Sicht des deutschen Gesetzgebers scheint das bestehende Umsatzsteuersystem offenbar besonders zum Steuerbetrug einzuladen.[63] Im Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 18. 08. 2001 ist sogar von „betrügerischen Machenschaften“[64] die Rede. Die Ursache dafür liegt nach Auffassung des Bundesrechnungshofes im geltenden System der Umsatzsteuer. „Dem Fiskus entgehen durch nationale und internationale Betrugsdelikte im Bereich der Umsatzsteuer jährlich zweistellige Milliardenbeträge. Darüber hinaus lässt das System der Umsatzsteuer zu, sich durch steuerliche Gestaltungen auf Kosten der Allgemeinheit ungerechtfertigte Vorteile zu verschaffen.“[65]
Diese aktuelle Haltung erstaunt um so mehr, da bis Ende der neunziger Jahre das Mehrwertsteuersystem als ein besonders gelungenes Steuersystem galt. Es erschien als eine der intelligentesten steuerlichen Erfindungen des vergangenen Jahrhunderts und hat sich weltweit als beispielloser europäischer Exportschlager erwiesen, von Australien, bis nach Asien, von Süd, Mittel- und Nordamerika (allerdings mit der bezeichnenden Ausnahme der USA), und allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft und sogar der Schweiz bis nach Russland und selbst bis ins ferne Turkmenistan.[66] Ein aktuelles Beispiel ist weiterhin die Einführung des Mehrwertsteuersystems in Hongkong, die mit maßgeblicher deutscher Hilfe entstand.
Es lohnt sich daher, die Ursachen für diesen Siegeszug näher zu betrachten. Der Erfolg kann nur mit den Vorteilen des Systems erklärt werden, die auch von den Gegnern nicht bestritten werden:
a) Endverbrauchsbesteuerung mit vollständiger Wettbewerbsneutralität (keine Förderung von Konzentrationstendenzen)
b) Wettbewerbsneutralität und Verteilungsgerechtigkeit im internationalen Bereich (unter Nutzung des Bestimmungslandsprinzips)
c) Verringerung des Risikos von Steuerverkürzungen auf der Ausgangsseite, weil dies mit einem Verlust des Vorsteuerabzugs verbunden wäre[67]
d) Es wird vermieden, das der Leistungserbringer die Unternehmereigenschaft des Leistungsempfängers überprüfen muss und schließt die diesbezüglich möglichen Fehler bzw. Betrugsfälle aus.[68]
Zu a) und b)
National wie international wird eine weitgehende Wettbewerbsneutralität erreicht, was insbesondere die Handelstätigkeit und damit die gesellschaftlich gewünschte Arbeitsteilung fördert. Nationale Grenzen und räumliche Distanzen spielen umsatzsteuerrechtlich immer weniger eine Rolle, was in der modernen Kommunikationsgesellschaft unerlässlich ist. Auch werden die (allerdings zum Teil kritisierten) Globalisierungstendenzen gefördert, Produktionsorte und Handelswege spielen bei der Umsatzbesteuerung keine Rolle mehr. Auch das Problem unterschiedlicher Umsatzsteuersätze in den verschiedenen Staaten ist für die Preisbildung unerheblich. Gleichwohl ist die Besteuerung des Verbrauches am jeweiligen Ort systematisch gesichert.
Weiterhin sind Anreize zur vertikalen Integration entfallen. Es macht keinen Sinn, zumindest nicht aus steuerlicher Sicht, die Fertigungstiefe in den Unternehmen weiter zu erhöhen. Obwohl es keine empirischen Daten darüber gibt, ob und in welcher Quantität das Allphasen-Nettoumsatzsteuersystem zur Verhinderung der Konzentrationsprozesse in der Wirtschaft beigetragen hat, so konnte der Autor zumindest in der Literatur diesbezüglich keine kritischen Hinweise finden.
Zu c)
Dass das Allphasen-Nettoumsatzsteuersystem zur Verringerung des Risikos der Steuerverkürzung beigetragen hat, kann ebenfalls empirisch nicht belegt werden. Die diesbezügliche Annahme allerdings gründet sich auf die im Folgenden dargestellte Überlegung. Als Beispiel wird eine Pizzeria gewählt, die nach allgemeiner öffentlicher Meinung sehr zur systematischen Steuerverkürzung geeignet erscheint und offenbar auch benutzt wird.
Die vereinfachte Kalkulation einer solchen Gastwirtschaft stellt sich wie folgt dar:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Entsprechend der Richtsatzsammlung 2005 des BMF[69] gelten dabei im deutschen Bundesgebiet folgende Durchschnittswerte (in v.H., Betrieb mit einem Jahresumsatz von max. 150.000 Euro):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Anhand dieser Zahlen vermag ein Sachverständiger die Unternehmung darauf hin zu kontrollieren, ob die erklärten Umsätze und Aufwendungen plausibel sind. Im weiteren werden allerdings die übrigen Aufwendungen vernachlässigt, da diese lediglich ertragssteuerrechtliche Auswirkungen haben, es hier aber um die Umsatzsteuer geht. Als Maßstab wird daher der Rohgewinn I gewählt. Bei einem Jahresumsatz von 150.000 Euro ergibt das folgende Werte:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[70]
Der Vergleich mit den Richtsatzwerten lässt eindeutig erkennen, dass die erklärten Geschäftsvorfälle nicht den Tatsachen entsprechen können. Kein rational denkender und handelnder Unternehmer wird eine derartige Unternehmung länger als eine „Probezeit“ betreiben. Es wären grundlegende Korrekturen am Geschäftsmodell notwendig.
Der Unternehmer muss daher mit dem hohen Risiko des Aufdeckens des Betruges rechnen. Er wird sich deshalb zur Vermeidung dieser Entdeckung dazu entschließen, unauffällig zu bleiben und deshalb außer der Manipulation der Erlöse auch die der Kosten durchzuführen. Die daraus abgeleitete Soll-Buchhaltung der Pizzeria hätte folgendes Aussehen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Um 36.500 Euro nicht zu deklarieren, verzichtet der Unternehmer auf 9.855 Euro Wareneinsatz und verfügt somit wieder über ein unauffälliges Zahlenwerk. Die Entdeckung der Steuerverkürzung ohne eine tiefere Prüfung wäre sehr unwahrscheinlich.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Diese Herangehensweise entspricht dem ökonomischen Grundmodell der Steuerhinterziehung, das von Michael G. Allingham und Agnar Sandmo bereits 1972 entwickelt wurde.[71] Der Steuerzahler wird im Modell als rational und risikoavers handelndes Subjekt betrachtet, das Risiko und Ertrag zweier Handlungsoptionen vergleicht. „Der Steuerzahler entscheidet sich dann für die Ertrags-Risiko-Kombination mit dem höchsten Nutzenniveau.“[72]
Da in der Praxis eine gewisse Wahrscheinlichkeit für das Aufdecken der Steuerverkürzung besteht, wird im Modell der jeweilige Ertrag der beiden Handlungsoptionen mit einem Faktor, der die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung modelliert, gewichtet.
Sofern keine Betriebsprüfung (allgemeine Außenprüfung oder Umsatzsteuersonderprüfung) durchgeführt wird, kann die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung mit nahezu Null angenommen werden. Sofern die o.g. Soll-Vergleichswerte denen der Ist-Buchhaltung entsprechen sowie keine anderen auffälligen Verhaltsweisen des Steuerpflichtigen zu einer Prüfung führen, wird der zuständige Sachbearbeiter in der Veranlagung keine Anhaltspunkte für eine Steuerverkürzung erkennen können und der Steuererklärung folgen.
Lediglich von den routinemäßig durchgeführten Prüfungen geht eine Entdeckungsgefahr aus. Jedoch ist diese ebenfalls gering. Als diesbezüglicher praxisrelevanter Maßstab können die tatsächlich durchgeführten Prüfungen bei Klein- und Kleinstbetrieben angenommen werden. Gemäß dem Ergebnis der steuerlichen Betriebsprüfung 2004[73] wurden in 2004 bei 5.252.015 Kleinstbetrieben und 1.111.628 Kleinbetrieben insgesamt 116.577 Prüfungen durchgeführt. Dies ergibt eine Quote von 1,83 %. Da im Regelfall im Rahmen einer Betriebsprüfung drei Jahre geprüft werden, erhöht sich die Quote auf 5,49 %. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass 94,51 % der vorgenannten Betriebe nicht geprüft werden und somit eine Entdeckung der Steuerverkürzung unwahrscheinlich ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 4: Handlungsoptionen bei Steuerhinterziehung, Quelle: Eigene Darstellung
Auf den ersten Blick scheint es rational zu sein, die Steuerhinterziehung zu begehen, da der Erwartungswert der Strafe scheinbar kaum ins Gewicht fällt. Dies wird um so deutlicher wenn man zusätzlich berücksichtigt, dass dem Unternehmer ja neben dem unterschlagenen Umsatzsteuerbetrag weitere zusätzliche Gewinne zur Verfügung stehen, die, je nachdem wie die weitere Kalkulation erfolgt, auch in hinterzogener Einkommenssteuer, Gewerbesteuer und vor allem Sozialabgaben bestehen.
Allerdings muss beachtet werden, dass die Höhe der hinterzogenen Steuern unsicher ist, zumindest bis zum Ablauf von 10 Jahren, wenn die Straftat der Steuerhinterziehung verjährt. Im Gegensatz dazu ist der Steuerzahlbetrag bei Steuerehrlichkeit uneingeschränkt sicher.
Im Ergebnis kann aber festgehalten werden, dass durch die fraktionierte Zahlung bei Umsatzsteuerhinterziehung zumindest ein Teil der 27 % der tariflichen Umsatzsteuer trotz Verkürzung der Erlöse als Zahlung beim Fiskus verbleiben.
Kritisch ist anzumerken, dass die Entscheidung, die Umsätze bewusst zu verkürzen oder nicht, stark subjektiv ist. Wie auch Körner und Strotmann hinweisen „zeigen mikroökonomische Experimente, dass auch bei völlig fehlenden Steuerprüfungen Steuern gezahlt werden“[74].
Andererseits ist allerdings auch damit zu rechnen, dass einige Unternehmer irrational handeln und den Wareneinsatz aus Gier ungekürzt zum Abzug bringen, sodass die volle Vorsteuer des Vorlieferanten wieder an den unredlichen Unternehmer erstattet wird. Der Vorteil der fraktionierten Zahlung wäre damit hinfällig geworden.
Zu d)
Der Verzicht auf die bei einer Einzelhandelssteuer notwendige Unterscheidung in Unternehmer und Nicht-Unternehmer stellt eine starke Vereinfachung für den Unternehmer als auch für den Fiskus dar. Zwar gibt es die Möglichkeit der Verwendung einer Art von Ausweis verbunden mit der Pflicht zur Überprüfung der Gültigkeit desselben oder aber auch die Vereinfachung, das bestimmte Umsätze, die einer hohen Missbrauchsgefahr unterliegen (z.B. auch privat verwendbare Wirtschaftsgüter), ganz vom Vorsteuerabzug auszuschließen, jedoch wird die Pflicht zur Feststellung von Identitätsmerkmalen immer an der Grenze des Zumutbaren liegen[75]. Zumindest stellen sie ein Kommunikations- und damit wirtschaftliches Hindernis dar, die die Gefahr des Abdrängens eines Teils der Umsätze in die Schattenwirtschaft begünstigen.
Der Unternehmer wird also durch den Verzicht auf die Unternehmereigen-schaftsüberprüfung durch Fehler bei der Abgrenzung durch Unkenntnis, durch Fahrlässigkeit, aber auch vor Handlungsweisen ungetreuer Mitarbeiter und vor Betrug durch Kunden geschützt.
Den Mitarbeitern der Finanzverwaltung wird ebenfalls die Arbeit erleichtert, da es unerheblich ist, an wen die Leistung erbracht wird, es ist stets die gleiche Umsatzsteuer fällig. Ein noch so ausgeklügeltes Umgehungsmodell kann keine Änderung an der Summe der zu zahlenden Umsatzsteuer bewirken.
3. Analyse des bestehenden Umsatzsteuersystems
3.1. Systembedingte Schwachstellen
3.1.1. Übersicht
Trotz der fast weltweiten Verbreitung des Allphasen-Nettoumsatzsteuer-systems sind Betrugs- und andere Ausfallmöglichkeiten nicht zu bestreiten, die bei einem Einphasensystem so nicht auftreten würden. Aus theoretischer Sicht lassen sich die Nachteile in zwei Hauptgruppen einteilen: Das ist zum einen
a) die Nichtabführung von Umsatzsteuer und zum anderen
b) der unberechtigte Vorsteuerabzug.
Die Nichtentrichtung der geschuldeten Umsatzsteuer kann dabei ungewollt, z.B. durch Insolvenz, aber auch gewollt, also vorab geplant erfolgen. Der Vorsteuerabzug wiederum kann durch Scheinrechnungen oder Scheingeschäfte erfolgen. Diese sind zwar bei Vorsatz unter Strafe gestellt, jedoch verhindert eine Strafbewehrung bekanntlich nicht die Ausführung von Straftaten, allenfalls werden diese erschwert.
Die andere denkbare Variante des unberechtigten Vorsteuerabzugs durch Unternehmer ist möglich, sofern Waren und Leistungen durch die Unternehmung für den privaten Bereich der Unternehmer erworben werden und dies danach nicht als unternehmensfremde Verwendung deklariert wird. Auch ergeben sich hier erhebliche Abgrenzungsprobleme.
Schlussendlich ist auch der unberechtigte Vorsteuerabzug durch Nichtunternehmer denkbar, die sich den Unternehmerstatus durch falsche Angaben erschleichen und somit, zumindest für eine befristete Zeit, die Möglichkeit verschaffen, ohne die sonst fällige Umsatzsteuer Erwerbe für den Privathaushalt zu tätigen. Die Möglichkeiten werden in der folgenden Tabelle zusammengefasst:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 5: Systembedingte Schwachstellen, Quelle: Eigene Darstellung
Aus diesen theoretisch denkbaren Möglichkeiten haben sich in der Praxis einige relativ häufig vorkommenden Sachverhalte entwickelt. Eine genaue Analyse der Praxis ergibt sich aus dem Bericht des Bundesrechnungshofes aus dem Jahre 2003.[76] Dabei werden folgende Fallgruppen unterschieden:
a) Karussellbetrug
b) Kettenbetrug und Besteuerung der Werkvertragsunternehmer im Baugewerbe
c) Umsatzsteuerausfälle bei Globalzession
d) Umsatzsteuerausfälle durch Optionen bei
Grundstücksveräußerungen
e) Leasing- und Mietkaufmodell
f) Umsatzsteuer in der Insolvenz
3.1.2. Karusselbetrug
Umsatzsteuerkarussellbetrug stellt die am häufigsten diskutierte Form von Umsatzsteuerhinterziehung dar. Das Umsatzsteuerkarussell basiert auf einer Kombination der umsatzsteuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung, des innergemeinschaftlichen Erwerbs und dem Recht auf Vorsteuerabzug. Eine gute Darstellung bietet Klawikowski.[77]
Die Beteiligten werden Missing Trader (MT), Buffer Company (BC) und Distributor (Distri) genannt. Entscheidend ist, dass der Missing Trader die Waren ohne Umsatzsteuer (also netto) aus dem europäischen Ausland bezieht und zum gleichen Preis (also brutto) an den Buffer weiterveräußert. Dieser wiederum verkauft die Ware mit einem kleinen Aufschlagsatz an den Distributor weiter, welcher sich die (an den Buffer) gezahlte Vorsteuer auszahlen lässt und die Ware umsatzsteuerfrei netto als innergemeinschaftliche Lieferung ins europäische Ausland veräußert. Die Ware wurde so um die Umsatzsteuer verbilligt.
Der eigentliche Hinterziehungsprozess läuft beim MT ab. Nur dieser verhält sich rechtswidrig. Dieser führt die durch ihn geschuldete Umsatzsteuer gewollt nicht ab, obwohl er in seinen Rechnungen an die BC diesen Umsatz ausweist. Kommt ihm die Finanzverwaltung auf die Spur, verschwindet er vom Markt, und sofern der Geschäftsführer ermittelt wird, besteht keine Möglichkeit diesen finanziell zur Verantwortung zu ziehen. „Denn bei den Missing Tradern handelt es sich i.d.R. um vermögenslose Personen, die zu Geschäftsführern einer mit Mindestkapital ausgestatteten GmbH gemacht werden, um hier entsprechende Ausgangsrechnungen zu unterschreiben.“[78] Oft erweisen sich diese auch als kleinkriminell, drogenabhängig und bereits überschuldet.[79]
Die beim Distributor vereinnahmte Vorsteuer wird entweder unter den Beteiligten aufgeteilt oder dient tatsächlich zur Verbilligung der Waren, mit denen sich nunmehr besser auf dem Markt konkurrieren lässt, obwohl die Buffer und Distributoren gegenüber der Finanzverwaltung bei Prüfungs- und Fahndungsmaßnahmen sich als steuerehrlich und hinsichtlich der Umsatzsteuerkarusselle als ahnungslos ausgeben.
[...]
[1] BGH 2002.
[2] BRH 2003, S. 17.
[3] Deutsche Bundesbank 1997.
[4] Vgl. Merk, Ludwig 2001, S. 97.
[5] Vgl. Mittler, Gernot 2004, S. 2.
[6] Vgl. BRH 2006, S. 13 f.
[7] Vgl. Helsper, Helmut 2001, S. 81ff.
[8] Vgl. Achatz, Markus 2003, S. 577.
[9] Vgl. Matheis, Philipp / Groß, Stefan 2006, S. 388.
[10] Vgl. BRH 2003, S. 14.
[11] Vgl. Kühn, Alfons 2003, S. 530.
[12] Vgl. Kemper, Martin 2006, S. 571.
[13] Vgl. Jochum, Heike 2005, S. 91.
[14] Vgl. Achatz, Markus 2003, S. 577.
[15] Vgl. Tiedke, Walter 2004, S. 11.; DStBV 2006, S. 1.
[16] Vgl. BT-Drucksache 15/1453, S. 582.
[17] Vgl. Ifo 2005 2005, S. 13 f.
[18] BMF 2006, S. 45.
[19] Weimann, Rüdiger 2006, S. 354.
[20] Vgl. Stadie, Holger 2004, S. 136 ff und 2004a, S. 398 ff.
[21] Vgl. Solms, Hermann Otto 2004 und Widmann, Werner 2004, S. 177 ff.
[22] EG-Kommission 2006.
[23] siehe auch Abschnitt 2.
[24] Vgl. Weimann, Rüdiger 2006, S. 351.
[25] Reiß, Wolfram 2002, S. 564.
[26] Widmann, Werner 2002, S. 15.
[27] Reiß, Wolfram 2002, S. 251.
[28] Vgl. Reiß, Wolfram 2002, S. 251.
[29] Über die Anzahl dieser „Betrüger“ liegen aufgrund der hohen Dunkelziffer keine verlässlichen Angaben vor.
[30] Noch bestehende historisch entstandene Ausnahmen im Gesetzesvollzug werden korrekterweise durch höchstrichterliche Entscheidungen zunehmend eliminiert, siehe z.B. BFH, v. 3.2.2000 – V R 1/98; EUGH 10.02.2002 – Rs. C-141/00.
[31] Vgl. o.V. 1967, S. 102.
[32] Naumann, Günter 1998, S. 146, 148.
[33] Schmidt, Peter 1999, S. 42.
[34] Die Begriffe Leistung und Lieferung werden aus Vereinfachungsgründen in dieser Arbeit synonym verwendet. Sofern der Begriff explizit eine Lieferung oder Leistung im rechtlichen Sinne meint, ergibt sich dies aus dem jeweiligen Zusammenhang.
[35] Vgl. §10 Abs. 1 S. 2 UStG.
[36] Der derzeit in Deutschland geltende Umsatzsteuersatz beträgt seit dem 01. 01. 07 19 %. Aus Vereinfachungsgründen werden alle Beispiele in dieser Arbeit jedoch mit 10 % Steuersatz gerechnet.
[37] Vgl. Reiß, Wolfram in Tipke/Lang 1996, §13, Rz.4.
[38] Reiß, Wolfram in Tipke/Lang 1996, S. 555.
[39] siehe §1 Abs.1 Nr.1 UStG.
[40] UStG 1967.
[41] Vgl. Bundestagsdrucksache IV/1590, A. IV. 2.
[42] Vgl. Bundestagsdrucksache IV/1590, A. IV. 3.
[43] Vgl. Bundestagsdrucksache IV/1590, A. V. 4.
[44] Vgl. BT-Drucksache IV/1590, A. V. 4.
[45] BT-Drucksache IV/1590, A. V. 5.
[46] EU-Rat 1967, S. 1301.
[47] Vgl. BT-Drucksache IV/1590, A. V. 6.
[48] Vgl. BT-Drucksache IV/1590, A. V. 6.
[49] Vgl. BT-Drucksache V/1581, 3.
[50] Vgl. Flockermann, Paul G. 1968, S. 357 ff.
[51] Flockermann, Paul G. 1968, S. 361.
[52] §18 Abs.8 UStG 1980, §§ 51 – 58 UStDV.
[53] §55 UStDV.
[54] §52 Abs. 2 UStDV.
[55] Siehe Abschnitt 4.3.
[56] §1a UStG.
[57] Vgl. Sikorski, Ralf 1998, S. 21.
[58] EG-Kommission 1985.
[59] Vgl. Behrendt, Joachim 1992, S. 23.
[60] Vgl. Birkenfeld, Wolfram 1993, S. 22.
[61] Da sich die Steuerbarkeit aufgrund der gesetzlichen Regelung der Steuerpflicht auf die Lieferungen und Leistungen beschränkt werden die Orte der Gegenleistung nicht weiter berücksichtigt.
[62] EG- Kommission 1985.
[63] BR-Drucksache 637/01, S. 1.
[64] BR-Drucksache 637/01, S. 6.
[65] BRH 2003, S. 4.
[66] Reiß, Wolfram 2002, S. 561.
[67] Vgl. Himsel, Gabriele 2002, S. 394f.
[68] Vgl. Reiß, Wolfram 2002, S. 564.
[69] BMF 2006b.
[70] Es wurde hier mit 10% USt gerechnet. Bei höheren Steuersätzen erhöht sich der Ertrag aus der Verkürzung entsprechend.
[71] Allingham, Michael G. / Sandmo, Agnar 1972, hier zitiert nach Körner, Martin / Strotmann, Harald 2006, S. 10 ff.
[72] Körner, Martin und Strotmann, Harald 2006, S. 10.
[73] BMF 2005.
[74] Körner, Martin / Strotmann, Harald 2006, S. 19.
[75] Vgl. auch Lohse, Christian 2000, S. 321.
[76] Vgl. BRH 2003.
[77] Vgl. Klawikowski, Petra 2002, S. 121.
[78] Klawikowski, Petra 2002, S. 123.
[79] Gehm, Matthias 2002, S. 894.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2007
- ISBN (eBook)
- 9783836617635
- DOI
- 10.3239/9783836617635
- Dateigröße
- 1.1 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Wissenschaftliche Hochschule Lahr – Betriebswirtschaftslehre
- Erscheinungsdatum
- 2008 (August)
- Note
- 1,7
- Schlagworte
- umsatzsteuer reverse-charge umsatzsteuerreform cross-check ist-versteuerung
- Produktsicherheit
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