Lade Inhalt...

Neue religiöse Bewegungen und Gewalt

Erklärungsansätze zur Dynamik gewaltsamer Eskalationsprozesse

©2006 Diplomarbeit 80 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Ich beschäftige mich im Rahmen dieser Arbeit mit der Theoretisierung und Erklärung gewalttätigen Handelns an Beispielen dreier neuer religiöser Bewegungen (NRB) der 90er Jahre. Anhand der Gruppen Aum Shinrikyo, dem Orden des Sonnentempels sowie der Bewegung „Heaven’s Gate“ wird der Entstehungskontext gewalttätiger Episoden und Verhaltensmuster untersucht, wobei der Fokus bei der Beantwortung der Frage nach den Ursachen der Gewalt maßgeblich auf der Interaktion von internen und externen Faktoren liegt. Dabei soll erstens geklärt werden, welcher Stellenwert den verschiedenen bedingenden Ursachen zukommt, sowie zweitens auf welche Weise der Interaktionsprozess zwischen NRB und sozialer Umwelt bei der Entstehung eskalierender Dynamiken beteiligt ist.
Ich gehe in diesem Zusammenhang von der Annahme aus, dass die Gewalt im Kontext NRB einerseits aus dem Zusammenspiel verschiedener, sich gegenseitig verstärkender Faktoren resultiert, der Prozess der Zuspitzung der Gewalt jedoch andererseits immer einen realen oder imaginären Konflikt zwischen NRB und sozialer Umwelt mit einschließt. Von Relevanz sind in diesem Kontext alle die gewaltsamen Handlungen, bei denen es sich um kollektive relationale Akte handelt, die in einer kausalen Beziehung zur jeweiligen Bewegung oder Kontrollinstanz stehen und welche durch die Bezugnahme auf ideologische Motive legitimiert werden.
Die Arbeit gliedert sich demnach in einen theoretischen und einen empirischen Teil, wobei sich die ersten drei Abschnitte des theoretischen Teils mit der Analyse einzelner Ursachen beschäftigen. Zuerst werde ich dabei auf die Rolle apokalyptischer Ideologien, als Voraussetzung für die Entstehung von gewaltsamen Eskalationsprozessen, eingehen und mich anschließend mit dem Stellenwert charismatischer Herrschaftsformen auseinandersetzen.
Anschließend sollen die Auswirkungen organisatorischer Merkmale, beispielsweise soziale Isolation und totalitäre Organisation, behandelt werden, um dann im vierten Abschnitt mit der Verknüpfung der einzelnen Faktoren zu beginnen. Hier werden die bereits untersuchten Einzelursachen anhand zweier Modelle mit externen Faktoren in Beziehung gesetzt und verschiedene dynamische Szenarien der gewaltsamen Eskalation identifiziert. Im Anschluss daran wird versucht, die gewonnenen Erkenntnisse im empirischen Teil auf die drei genannten Bewegungen anzuwenden, wobei hier eine besondere Betonung auf die relevanten Mechanismen der Zuspitzung von […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Dominic Akyel
Neue religiöse Bewegungen und Gewalt
Erklärungsansätze zur Dynamik gewaltsamer Eskalationsprozesse
ISBN:
978-3-8366-1703-1
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland, Diplomarbeit, 2006
Coverfoto: Günther © GvOuwerkerk - Fotolia.com
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die
der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen,
der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der
Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung,
vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im
Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der
Bundesrepublik Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich
vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des
Urheberrechtes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem
Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche
Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten
wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können Fehler nicht
vollständig ausgeschlossen werden, und die Diplomarbeiten Agentur, die Autoren oder
Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für evtl.
verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany

2
Inhalt
Vorwort
3
1. Einleitung
5
2.
Erklärungsansätze zur Dynamik gewalttätiger Episoden im
Kontext neuer religiöser Bewegungen
8
2.1 Apokalyptische
Ideologien
9
2.2 Charismatische
Herrschaft
14
2.3
Soziale Isolation und totalitäre Organisation
20
2.4
Dynamiken gewaltsamer Eskalation
22
3.
Fallstudien zur Gewalt in neuen religiösen Bewegungen
29
3.1 Aum
Shinrikyo
30
3.2
Der Orden des Sonnentempels
44
3.3 ,,Heaven's
Gate"
57
4. Resümee
70
5. Literaturverzeichnis
73

3
Vorwort
Die meisten, wenn nicht sogar alle gewaltsamen Konflikte zwischen sozialen Gruppen
thematisieren neben politischen, wirtschaftlichen sowie kulturellen Unterschieden und
Interessen auf die eine oder andere Weise Differenzen bezüglich der ideologischen bzw.
religiösen Deutung der Welt. Obwohl nicht alle Weltanschauungen ihren Zielsetzungen mit
dem Einsatz von Gewalt Geltung verschaffen wollen, hat die existentielle Dimension
bestimmter Formen ideologischen Denkens in der Vergangenheit eine Vielzahl
unterschiedlicher gewaltsamer Konfliktkonstellationen hervorgebracht.
Spätestens seit den Anschlägen auf das World Trade Center hat diese hinlänglich bekannte
Verbindung von Religion und Gewalt eine neue Aktualität gewonnen und in den meisten
europäischen Ländern enorme Ängste mobilisiert sowie zu einem Wandel des
gesellschaftlichen Klimas hin zu einer verstärkten Diskriminierung religiöser Minderheiten
beigetragen. Die von Mitgliedern sozialer Gruppen artikulierten, kultivierten und zur
Handlungsmaxime erklärten kollektiven Haltungen und Einstellungen im Umgang mit dem
jeweils kulturell Andersartigen sind dabei maßgeblich für die emotionale Aufladung
kultureller Unterschiede und Konflikte verantwortlich und manifestieren sich nicht selten in
Form von Feindbildern, die den Abbruch kommunikativer, deeskalierender Prozesse im Fall
eines Konfliktes zwischen marginalen religiösen Gruppen und der hegemonialen Ordnung
wahrscheinlicher machen. Die Vorstufen der Gewalt beginnen somit nicht erst dort, wo es
Verletzte und Tote zu beklagen gibt, sondern bereits erheblich früher, unmerklich, und in der
Mitte der Gesellschaft. Das, was wir als manifeste Gewalt wahrnehmen, ist dabei zumeist die
letzte Stufe eines langwierigen Zuspitzungsprozesses und keineswegs ein unvorhersehbares
Ereignis, das einer Naturkatastrophe gleich über die Menschheit hereinbricht. Wie so viele
gesellschaftliche Entwicklungen sind demnach auch religiös motivierte gewaltsame Konflikte
im Zusammenhang mit neuen religiösen Bewegungen hausgemacht und nicht zwingend
unabwendbar. Eine Absicht dieser Arbeit besteht deshalb darin, die besondere Bedeutung des
gesellschaftlichen Klimas bei der Entstehung von Konfliktkonstellationen und eskalierenden
Dynamiken anhand von konkreten Beispielen zu verdeutlichen.
Von Wichtigkeit ist in diesem Zusammenhang außerdem die inhaltliche Abgrenzung
zwischen religiös motiviertem Terrorismus und Gewalt im Kontext neuer religiöser
Bewegungen. Obwohl sich letztere, wie das Beispiel Aum Shinrikyo zeigen wird, auch in
Form von terroristischen Anschlägen äußern kann, die Grenzen somit fließend sind, und beide
Formen Konflikte über die kulturelle und soziale Deutungshoheit implizieren, sind die

4
meisten religiös motivierten terroristischen Gruppierungen im soziologischen Sinne nicht als
neue religiöse Bewegungen zu verstehen. Das Netzwerk Al-Quaida erfüllt beispielsweise
nicht die Voraussetzungen, um als eine solche aufgefasst zu werden, so dass sich die
Anschläge auf das WTC nicht adäquat als Gewalt im Kontext neuer religiöser Bewegungen
erfassen lassen.
Dennoch können einige generalisierende Schlüsse über die kausalen Bedingungen hinsichtlich
der Entstehung von Gewalt gezogen werden, vor allem in Hinblick darauf, wie sich die
Vorstufen der Gewalt frühzeitig erkennen und die Entstehung gewaltsamer Konflikte
verhindern lässt. Ohne im Detail auf die Frage nach idealen Formen des Zusammenlebens
eingehen zu wollen, drängt sich der Schluss auf, dass es vor allem ein Klima der Repression,
des gegenseitigen Misstrauens und der Intoleranz ist, welches neben ideologischen Elementen
maßgeblich für die Entstehung von gewaltsamen Eskalationsprozessen verantwortlich ist. Auf
gegenseitigem Respekt und real gelebter Toleranz basierende Kollektive, die an einem
kommunikativen Ausgleich von divergierenden Interessen und Weltanschauungen interessiert
sind, wären demnach wahrscheinlich weitaus geeigneter um der Entstehung von Konflikten
vorzubeugen als repressive Sozialformen, die mit negativen Sanktionen und Kontrolle auf
abweichende Kulturformen reagieren.
Da diese Arbeit als eine Vorarbeit für die Entwicklung geeigneter deeskalativer Strategien
aufgefasst werden kann, soll sie indirekt nicht nur die Frage erörtern, welche Gruppen unter
welchen Umständen in der Zukunft Zuflucht zur Gewalt nehmen könnten, sondern den Leser
grundsätzlich in den Themenbereich einführen und die Sensibilität für die interaktive
Dynamik gewaltsamer Eskalationsprozesse schärfen.

5
1. Einleitung
Ich beschäftige mich im Rahmen dieser Arbeit mit der Theoretisierung und Erklärung
gewalttätigen Handelns an Beispielen dreier neuer religiöser Bewegungen (NRB) der 90er
Jahre. Anhand der Gruppen Aum Shinrikyo, dem Orden des Sonnentempels sowie der
Bewegung ,,Heaven's Gate" wird der Entstehungskontext gewalttätiger Episoden und
Verhaltensmuster untersucht, wobei der Fokus bei der Beantwortung der Frage nach den
Ursachen der Gewalt maßgeblich auf der Interaktion von internen und externen Faktoren
liegt. Dabei soll erstens geklärt werden, welcher Stellenwert den verschiedenen bedingenden
Ursachen zukommt, sowie zweitens auf welche Weise der Interaktionsprozess zwischen NRB
und sozialer Umwelt bei der Entstehung eskalierender Dynamiken beteiligt ist. Ich gehe in
diesem Zusammenhang von der Annahme aus, dass die Gewalt im Kontext NRB einerseits
aus dem Zusammenspiel verschiedener, sich gegenseitig verstärkender Faktoren resultiert, der
Prozess der Zuspitzung der Gewalt jedoch andererseits immer einen realen oder imaginären
Konflikt zwischen NRB und sozialer Umwelt mit einschließt. Von Relevanz sind in diesem
Kontext alle die gewaltsamen Handlungen, bei denen es sich um kollektive relationale Akte
handelt, die in einer kausalen Beziehung zur jeweiligen Bewegung oder Kontrollinstanz
stehen und welche durch die Bezugnahme auf ideologische Motive legitimiert werden.
Die Arbeit gliedert sich demnach in einen theoretischen und einen empirischen Teil, wobei
sich die ersten drei Abschnitte des theoretischen Teils mit der Analyse einzelner Ursachen
beschäftigen. Zuerst werde ich dabei auf die Rolle apokalyptischer Ideologien, als
Voraussetzung für die Entstehung von gewaltsamen Eskalationsprozessen, eingehen und mich
dann mit dem Stellenwert charismatischer Herrschaftsformen auseinandersetzen.
Anschließend sollen die Auswirkungen organisatorischer Merkmale, beispielsweise soziale
Isolation und totalitäre Organisation, behandelt werden, um dann im vierten Abschnitt mit der
Verknüpfung der einzelnen Faktoren zu beginnen. Hier werden die bereits untersuchten
Einzelursachen anhand zweier Modelle mit externen Faktoren in Beziehung gesetzt und
verschiedene dynamische Szenarien der gewaltsamen Eskalation identifiziert. Im Anschluss
daran wird versucht, die gewonnenen Erkenntnisse im empirischen Teil auf die drei
genannten Bewegungen anzuwenden, wobei hier eine besondere Betonung auf die relevanten
Mechanismen der Zuspitzung von Konflikten sowie auf die Verflechtung interner und
externer Faktoren gelegt wird.
Hinsichtlich ihres Entstehungskontexts sind die NRB eng mit den in den 60er Jahren
vorherrschenden gegenkulturellen Strömungen in der westlichen Welt verknüpft und kamen

6
der Öffentlichkeit erstmals Ende der 60er Jahre als neuartige Form der religiösen Praxis zu
Bewusstsein. Die USA boten dabei sehr gute Bedingungen für die Entstehung religiöser
Gemeinschaften, weshalb sich dort anfangs die meisten Bewegungen entwickelten. Das
Phänomen NRB blieb jedoch nicht nur auf Nordamerika beschränkt, sondern breitete sich
bald über Großbritannien nach Europa aus und später auf eine Vielzahl von Ländern auf allen
Kontinenten. Als Resultat der zunehmenden Präsenz der NRB im öffentlichen Raum und
ihrem Erfolg bei der Rekrutierung von Mitgliedern formten sich zu Beginn der 70er Jahre
erste Anti-Kult-Gruppen, die sich zum Teil mit Repräsentanten der sozialen Ordnung
verbündeten und ein stereotypes Bild religiöser Indoktrination zeichneten. Diese Allianzen
forcierten ein Modell zur Erklärung der Aktivitäten NRB, welches um die Begriffe
,,Brainwashing" und ,,Coercive Persuasion" zentriert war, gegenkulturelle Bewegungen
abwertend als ,,Kult" stigmatisierte und in der Folgezeit maßgeblich das öffentliche
Bewusstsein prägte.
Anfang der 70er Jahre begann außerdem die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit
diesem Themenfeld, und es entstanden vielfältige Ansätze zur Klassifizierung, Interpretation
und Erklärung von Prozessen, die mit der Entwicklung und den Aktivitäten der NRB
verbunden waren. Ende der 70er Jahre, nach den Morden der Manson Familie 1969 und dem
kollektiven Suizid des Volkstempels 1978, wurden diese Aspekte darüber hinaus um eine
weitere Facette ergänzt, indem nun auch die Beziehung zwischen NRB und Gewalt im
wissenschaftlichen Rahmen diskutiert wurde. Bis zum Beginn der 90er Jahre hatten sich
jedoch nur wenige Fälle massiver Gewalt im Kontext NRB ereignet, doch dieser Sachverhalt
änderte sich in den 90er Jahren und führte zu einer Fülle unterschiedlicher Ansätze zur
Erklärung gewaltsamer Eskalationsprozesse. In der ersten Zeit der Theoriebildung wandte
sich das Interesse vor allem der Analyse einzelner Faktoren zu; in den 80ern und 90ern
begann dann die Verknüpfung selbiger zu Interpretationsmodellen, welche verstärkt auf die
interaktive Dynamik der Beziehung zwischen NRB und sozialer Ordnung Bezug nahmen.
Obwohl diese marginalen religiösen Gruppen aufgrund ihrer Charakteristika von
verschiedenen Seiten oft als instabil eingestuft werden und ihnen im Allgemeinen eine
grundsätzliche Affinität zur Gewalt unterstellt wird, ist es notwendig, die Annahme einer
intrinsischen Beziehung zwischen NRB und Gewalt prinzipiell in Frage zu stellen. Ganz
abgesehen davon, dass die allermeisten dieser Gemeinschaften sich in der Ausübung ihrer
spirituellen Absichten keineswegs gewaltsamer Mittel bedienen, lassen sich darüber hinaus
bei genauer Betrachtung kaum Evidenzen für die populäre Auffassung finden, dass marginale
religiöse Gruppen eine stärkere Neigung zur Gewalt aufweisen als etablierte Religionen. Der

7
Eindruck einer quantitativen und qualitativen Steigerung gewaltsamer Konflikte im Kontext
NRB liegt daher einerseits in der zahlenmäßigen Zunahme relevanter Gruppen begründet und
reflektiert darüber hinaus die historische Entwicklung des Verhältnisses zwischen sozialer
Ordnung und NRB. ,,The few cases of violent episodes need to be interpreted in the context of
the relatively large number and rapid growth of new movements."
1
Ein weiterer Grund, weshalb man vorsichtig sein sollte NRB generell mit Gewalt in
Verbindung zu bringen, ergibt sich aus den möglichen Szenarien des Verlaufs eines
gewaltsamen Konfliktes. Es existieren nur einige wenige Fälle, in denen die Gewalt von NRB
ausging, und es ist weitaus wahrscheinlicher, dass Gruppen das Ziel von äußerer Aggression
und Provokation werden. In den diesbezüglich relevanten Ereignissen der letzten zwei
Jahrzehnte zeigte sich darüber hinaus eine wachsende Distanz zwischen der hegemonialen
Ordnung und den betroffenen Bewegungen, worin sich unter anderem tiefliegende Konflikte
über die Legitimität sozialer und kultureller Prozesse widerspiegelten. Da sich solche
Auseinandersetzungen nicht in einem sozialen Vakuum ereignen, besteht überdies eine
logische Verbindung zwischen den gewalttätigen Episoden verschiedener NRB, indem der
Verlauf von und die Reaktionen auf Konflikte maßgeblich vom Ausgang zeitlich früherer
Auseinandersetzungen mitbeeinflusst wird. Die 90er Jahre, besonders die Zeit nach der Waco-
Tragödie im Frühjahr 1993, müssen aus diesem Grund als Phase erhöhter Sensibilität auf
beiden Seiten betrachtet werden.
Darüber hinaus ist diskutabel, was Charakteristika NRB sind, und in welcher Hinsicht diese
als etwas qualitativ Neues aufgefasst werden können. Der Begriff ist nicht streng von anderen
Konzepten abgegrenzt, wird jedoch im Allgemeinen auf marginale religiöse Gruppen
angewendet, die seit den 60er Jahren in den westlichen Gesellschaften entstanden sind,
Merkmale sozialer Bewegungen aufweisen und sich verhältnismäßig unkonventioneller
Formen religiöser Organisation bedienen. Obwohl viele Gemeinschaften, die heutzutage unter
diesem Ausdruck zusammengefasst werden, schon erheblich früher gegründet wurden und
sich teilweise auf Traditionen berufen, die weit in die Vergangenheit hineinreichen, besteht
das qualitativ Neue an selbigen vorwiegend in der Art und Weise, wie sie Ideen und Elemente
der traditionellen religiösen Praxis miteinander kombinieren. Neu ist auch das öffentliche
Auftreten derselben, die Formen der Opposition, mit welchen sie sich konfrontiert sehen,
sowie die Aufmerksamkeit, die ihnen von wissenschaftlicher Seite entgegengebracht wird.
1
Bromley, David G., Violence and New Religious Movements, in: James R. Lewis (Hg.), The Oxford Handbook
of New Religious Movements, Oxford 2004, S. 146.

8
2. Erklärungsansätze zur Dynamik gewalttätiger Episoden im Kontext neuer religiöser
Bewegungen
Es ist unbestritten, dass bezüglich der Eskalation von Gewalt im allgemeinen viele
unterschiedliche Faktoren zusammenspielen und sich der Prozess der Zuspitzung von
Konflikten nicht ausschließlich anhand einzelner Aspekte erklären lässt. Zwar teilen die
Bewegungen, in denen es in der Vergangenheit zu gewalttätige Episoden kam, wie der
Volkstempel, die Davidianer, Aum Shinrikyo, der Orden des Sonnentempels sowie ,,Heaven's
Gate" einige charakteristische Merkmale, doch die überwiegende Mehrheit der Gruppen,
denen diese Charakteristika zu eigen sind, weisen keinerlei Tendenzen zur Gewalt auf. Aus
diesem Grund erlaubt die bloße Identifizierung dieser Faktoren deshalb einerseits noch keine
verlässlichen Schlüsse bezüglich der Frage, welche Bewegungen in der Zukunft Zuflucht zu
gewalttätigem Handeln nehmen könnten und gibt andererseits generell wenig Aufschluss
darüber, unter welchen Bedingungen es zur Dramatisierung und Zuspitzung von Gewalt
kommt. Entscheidend ist dabei vielmehr die Dynamik, die aus der Kombination und
Interaktion von internen und externen Einflüssen erwächst. Über die Beziehung zwischen
bestimmten ideologischen, organisatorischen und taktischen Merkmalen, wie apokalyptischer
Weltsicht, charismatischer Herrschaft sowie einem totalitären Milieu und Gewalt kann daher
bereits zu diesem Zeitpunkt gesagt werden, dass erstere notwendige, jedoch nicht
hinreichende Bedingungen für letztere darstellen. Im Zusammenspiel mit externen, situativen
Bedingungen erhöhen die genannten Faktoren jedoch die Wahrscheinlichkeit von Gewalt; sie
sind darüber hinaus allerdings genauso gut mit der Abwesenheit von selbiger zu vereinbaren.
Die Aspekte, welche im Kontext religiöser Gewalt als verstärkend identifiziert worden sind,
lassen sich anhand zweier Dimensionen kategorisieren: interne versus externe sowie soziale
versus kulturelle Faktoren. Interne Bedingungen beziehen sich auf die inneren Eigenschaften
von religiösen Bewegungen, welche sich wiederum hinsichtlich sozialer und kultureller
Merkmale unterteilen lassen. Soziale Faktoren beinhalten unter anderem strukturelle und
organisatorische Aspekte, wie die spezifische Herrschaftsform, die Gruppenstruktur und die
jeweiligen Praktiken der sozialen Kontrolle. Kulturell bedingte Ursachen beziehen sich
dagegen auf die ideologischen und weltanschaulichen Komponenten sowie auf innere
Haltungen und religiöse Praktiken innerhalb der Gruppe. Dabei schließen sich diese beiden
Kategorien allerdings nicht aus, sondern ergänzen sich; die Ausprägungen charismatischer
Herrschaft enthalten beispielsweise sowohl strukturelle als auch ideologische Elemente, und
Aspekte des religiösen Glaubens wirken ebenso auf die spezifische Beschaffenheit sozialer

9
Kontrollpraktiken in einer Gruppe.
2
Ähnliches gilt auch für die Unterscheidung zwischen
internen und externen Faktoren. Externe Ursachen resultieren aus der Dynamik des
wechselseitigen Anpassungsprozesses von NRB und sozialer Umwelt an die Ansprüche und
Verhaltensweisen des jeweils Anderen. Einen starken Einfluss üben diesbezüglich vor allem
die Medien, staatliche Stellen sowie lokale und nationale Opponentengruppen aus. Durch
stereotype Berichterstattung, Mechanismen der Distanzierung und repressive Praktiken
wirken diese Akteure aktiv an der Transformation der inneren Beschaffenheit NRB und somit
an der Produktion gewalttätiger Konflikte mit.
2.1 Apokalyptische Ideologien
Ein zentraler Aspekt, der in allen durch Episoden extremer Gewalt auffällig gewordenen NRB
eine entscheidende Rolle spielte, ist die religiöse Interpretation der Realität im Rahmen
apokalyptischer Heilsmodelle
3.
So lässt sich bei allen signifikanten Gruppen der 90er Jahre
4,
als auch bei verschiedenen extremistischen Gruppierungen der Vergangenheit
5
die Koexistenz
von apokalyptischen Denkmustern und kollektiven Gewaltdispositionen beobachten. Die
Apokalypse im religiösen Sinne ist eine Form der Eschatologie, bei welcher die Offenbarung
über das Ende der Geschichte als geschichtsimmanent aufgefasst und der Geschichtsprozess
im Lichte dieser Enthüllungen interpretiert wird. Sie impliziert dabei sowohl einen
prophetischen Inhalt bezüglich der Ereignisse, die zum Ende der Geschichte führen, als auch
eine Offenbarung im Sinne des Hervortretens jener göttlichen und satanischen Kräfte, die
sonst lediglich im Verborgenen wirken. Apokalyptische Heilsmodelle operieren nach einem
strikten Schema: auf eine Zeit der Krise und des Kampfes zwischen guten und bösen Mächten
folgt der Sieg des Guten, die damit verbundene entgültige Vernichtung des Bösen und die
Belohnung der Tugendhaften durch die Teilhabe an der neuen und gerechten Ordnung. ,,[...]
[A] persecuting tyrant (e.g., Antichrist) oppresses the faithful and is destroyed by divine
forces, after which there is divine judgement involving retribution for the wicked and a
(possibly utopian) reward for the deserving."
6
Die apokalyptische Sichtweise ist also durch
2
Vgl. Robbins, Thomas, Sources of Volatility in Religious Movements, in: David G. Bromley/ Gordon J.
Melton (Hg.), Cults, Religion and Violence, Cambridge 2002, S. 57 f.
3
Ich verwende den Begriff hier als Überbegriff für verschiedene Ausprägungen apokalyptischer Ideologien.
4
Besonders die Davidianer, Aum Shinrikyo, der Orden des Sonnentempels, ,,Heaven's Gate", die Bewegung zur
Wiedereinsetzung der zehn Gebote und die ,,Montana Freemen".
5
Beispielsweise bei den frühen Mormonen, der antiken ,,Kirche der Märtyrer" und den Wiedertäufern des
17.Jhd.
6
Robbins, Thomas/ Palmer, Susan J., Patterns of Contemporary Apocalypticism in North America, in: Thomas
Robbins/ Susan J. Palmer (Hg.), Millennium, Messiahs and Mayhem. Contemporary Apocalyptic Movements,
New York/ London 1997, S. 5.

10
den Entwurf von Szenarien, welche die kollektive Erlösung an den Verlauf der Geschichte
binden, einerseits geschichtsdeterministisch und interpretiert die Realität andererseits in
streng dualistischen Kategorien. Beide Merkmale treten häufig zusammen auf und können
unter Umständen eine verschärfende Wirkung auf religiöse Konflikte haben. ,,Persons and
groups who adhere to apocalyptic visions and are under stress may perceive scripted
catastrophic scenarios being actualized and may themselves become volatile and prone to
violence."
7
Diese Dynamik kam beispielsweise beim Überfall und der Erstürmung der
Davidianer-Ranch in Waco/USA durch das FBI zum tragen, da die gewaltsame
Vorgehensweise der Einsatzkräfte von David Koresh, dem Führer der Gruppe, als Beginn des
angenommen Endzeitszenarios interpretiert wurde. Darüber hinaus können radikal
dualistische Interpretationen der Realität, welche politischen oder religiösen Konflikten eine
kosmische Signifikanz zuordnen (,,exemplary dualism"), besonders in Verbindung mit realer
oder imaginärer Verfolgung, einer ablehnenden Haltung zur Welt sowie räumlicher und
sozialer Isolation zu einem Zustand kollektiver Paranoia innerhalb der Gruppe führen und
dadurch gewaltsamen Eskalationen massiv Vorschub leisten (beispielsweise im Falle Aum
Shinrikyos).
8
Im engeren Sinne bezieht sich der Ausdruck ,,Apokalypse" jedoch auf den
Transformationsprozess, welcher den Übergang von der alten zur neuen Ordnung markiert.
Mit Referenz auf den biblischen Ursprung des Begriffs unterscheidet Landes zwei
Dimensionen anhand derer mögliche Endzeitszenarien eingeordnet werden können. Einerseits
kann der Wechsel in einer gewalttätigen, leidvollen und krisenhaften Weise (,,catastrophic"),
andererseits aber auch tendenziell friedlich durch freiwillige Konversion der Ungläubigen
(,,transformative") erfolgen. Die zweite Achse dagegen betrifft die Rolle menschlichen
Handels im apokalyptischen Transformationsprozess. Aktive Szenarien räumen der religiösen
Gemeinschaft den maßgeblichen Part in der Herbeiführung der neuen Ordnung ein, während
passive Auslegungen diese Rolle den göttlichen Kräften überlassen.
9
Obwohl man in diesem
Zusammenhang annehmen könnte, dass Gruppen die davon überzeugt sind, den Verlauf der
Ereignisse beeinflussen zu können, stärker zur Gewalt neigen, kann sich unter beiden
Bedingungen eine gewaltsame Dynamik entwickeln. Während aktive Szenarien die
Möglichkeit revolutionärer Gewalt mit sich bringen, kann die empfundene Hilflosigkeit eine
7
Ebd. S. 5.
8
Vgl. Robbins, Thomas/ Anthony, Dick, Sects and Violence: Factors Enhancing the Volatility of Marginal
Religious Movements, in: Lorne L. Dawson (Hg.), Cults in Context. Readings in the Study of New Religious
Movements, New Brunswick/ New Jersey 1998, S. 348.
9
Vgl. Landes, Richard, Millennialism, in: James R. Lewis (Hg.), The Oxford Handbook of New Religious
Movements, Oxford 2004, S. 345 ff.

11
Gruppe zum ,,Verlassen" der dem Untergang geweihten alten Welt durch kollektiven Suizid
motivieren (wie geschehen im Fall des Ordens der Sonnentempler und bei der Gruppe
,,Heaven's Gate").
10
Neben der Apokalypse ist außerdem die spezifische Heilserwartung, und
die damit verbundene Beschaffenheit der neuen Ordnung von Bedeutung. Millennialistische
Bewegungen wenden sich daher, im Gegensatz zu apokalyptisch orientierten Gruppen, die
sich vorwiegend mit dem krisenhaften Endzeitszenario beschäftigen, stärker der
postapokalyptischen Ordnung zu. Der Begriff Millennium bezeichnet dabei im ursprünglichen
Sinne die biblische Vorstellung der tausendjährigen Herrschaft Christi auf Erden. Im
wissenschaftlichen Gebrauch bezieht sich dieser Ausdruck jedoch auf eine breitere Kategorie
von religiösen Ideen, welche den erstrebten Zustand vollkommenen Friedens und
übernatürlicher Fülle bereits im Diesseits erwarten. Innerhalb des Spektrums
millennialistischer Gruppen lassen sich darüber hinaus ,,pre"- und ,,post"- millennialistische
Gemeinschaften unterscheiden. Letztere erachten die Menschheit als fähig, das himmlische
Königreich selbsttätig zu errichten und nehmen folglich an, dass Christus erst nach dem
erfolgreichen Aufbau der neuen Ordnung auf die Erde zurückkehrt. Erstere erwarten seine
Wiederkunft dagegen bereits vor Beginn des Millenniums, da die Menschheit als unfähig oder
unwürdig erachtet wird, die Herrschaft des Bösen zu verhindern, so dass erst durch das
Eingreifen der göttlichen Kräfte die Vernichtung des Bösen und die Errichtung der neuen
Ordnung bewerkstelligt werden kann. Die zeitgenössischen ,,pre"-millennialistischen
Gruppen unterscheiden sich außerdem hinsichtlich der Frage, ob die ,,Würdigen" die
Herrschaft des Bösen überdauern müssen (,,posttribulationist") oder bereits vor Beginn
derselben erlöst werden (,,pretribulationist"), um dann nach dem Sieg des Guten in das
irdische Gottesreich einzugehen.
11
,,Pre"- millennialistische Gruppen hatten dabei in der
Vergangenheit eine stärkere Neigung zur Gewalt, was sich vor allem darauf zurückführen
lässt, dass diese eine mit der Herrschaft des ,,Antichristen" einhergehende Zeit gewaltsamer
Krisen erwarten, woraus häufig eine geringere Resistenz gegenüber äußeren Provokationen
resultiert. Eine ,,pre"- tribulationistische Weltsicht kann sich in diesem Zusammenhang
allerdings durchaus auch hemmend auf die Neigung zur Gewalt auswirken. ,,This belief may
operate as a safety valve, reducing volatility by inhibiting expectations of lethal endtimes
persecution and thereby downgrading actual opposition to a sub-eschatological level."
12
,,Post"- tribulationistische Gruppen, wie Barkun exemplarisch an der ,,Christian Identity"
10
Vgl. Robbins, Thomas, Sources of Volatility in Religious Movements, in: David G. Bromley/ Gordon J.
Melton (Hg.), Cults, Religion and Violence, Cambridge 2002, S. 67.
11
Vgl. Ebd. S. 65 f.
12
Ebd. S. 66.

12
Bewegung darstellt, neigen im Gegensatz dazu unter Umständen zu einer defensiven
,,survivalist mentality", ,,[...] a lifestyle predicated on the belief that an impending catastrophe
(in this case, race war) requires the cultivation of maximum self-sufficiency, so that the
individual is no longer dependent on traditional institutions"
13
. Besonders militante
Bewegungen, die den Gebrauch von Waffengewalt und militärische Praktiken befürworten
sowie dem Glauben anhängen, als Auserwählte im Kampf gegen das Böse ihre religiöse
Enklave verteidigen zu müssen, weisen in diesem Zusammenhang ein größeres Potential für
gewalttätiges Handeln auf.
14
Hall fasst diese Überlegungen zu zwei idealen Typen apokalyptischer (bzw.
millennialistischer) Sekten zusammen. Die ,,pre"- apokalyptische ,,warring sect" strebt aktiv
die Herbeiführung der Apokalypse sowie den damit verbundenen Kampf gegen das Böse an,
während die ,,post"- apokalyptische ,,other-worldly sect" die Errichtung der himmlischen
Ordnung abseits des apokalyptischen Geschehens beabsichtigt. Gruppen des ersten Typs
neigen häufig stärker zu gewalttätigem Verhalten, grundsätzlich können allerdings beide
Arten eine Tendenz zur Gewalt aufweisen.
15
Wessinger bezieht sich unter anderem auf diese
Ansätze, erstrebt jedoch, die an die protestantischen Sekten angelehnte Kategorisierung durch
ein allgemeineres Schema zu ersetzen. Sie unterscheidet zwei Grundformen
millennialistischer Glaubenssysteme: ,,catastrophic millennialism" und ,,progressive
millennialism". Ersterer beinhaltet ein pessimistisches Welt- und Menschenbild, welches die
gewaltsame Zerstörung der alten Ordnung durch übernatürliche Kräfte (und möglicherweise
unter menschlicher Mithilfe) als notwendige Bedingung für die Errichtung der neuen Ordnung
voraussetzt. Letzterer favorisiert dagegen ein positives Szenario, in dem die menschlichen und
göttlichen Kräfte, vereint und friedvoll, schrittweise das millennialistische Königreich
erschaffen. ,,Catastrophic millennialism and progressive millennialism differ on whether
humanity contains enough positive potential to make the transition noncatastrophically or is
so depraved that violent destruction of the old world is necessary before the millennial
kingdom can be established."
16
Sie betont außerdem, dass bestimmte Gruppen durchaus
Merkmale beider Formen aufweisen können, oder es aufgrund äußerer Einflüsse zu einer
13
Barkun, Michael, Millenarians and Violence. The Case of the Christian Identity Movement, in: Thomas
Robbins/ Susan J. Palmer (Hg.), Millennium, Messiahs and Mayhem. Contemporary Apocalyptic Movements,
New York/ London 1997, S. 251.
14
Vgl. Robbins, Thomas/ Palmer, Susan J., Patterns of Contemporary Apocalypticism in North America, in:
Thomas Robbins/ Susan J. Palmer (Hg.), Millennium, Messiahs and Mayhem. Contemporary Apocalyptic
Movements, New York/ London 1997, S.11 f.
15
Vgl. Hall, John R./ Schuyler, Philip D./ Trinh, Sylvaine, Apocalypse Observed. Religious movements and
violence in North America, Europe and Japan, London/ New York 2000, S. 9.
16
Wessinger, Catherine, How the Millennium Comes Violently. From Jonestown to Heaven`s Gate, New York/
London 2000, S. 17.

13
Veränderung der ideologischen Ausrichtung kommen kann. ,,If a group experiences some
prosperity, some success at building its millennial kingdom, the expectations of catastrophe
may wane and progressive expectations will come to the fore."
17
Für Wessinger resultieren
gewalttätige Episoden demzufolge aus einer Kombination von äußeren Einflüssen, und einer
Ideologie des ,,catastrophic millennialism". Sie unterscheidet dabei zwischen instabilen
millennialistischen Gruppen (,,fragile millennial groups"), die deshalb zur Gewalt greifen,
weil sie ihr religiöses Ziel angesichts realer oder imaginärer Verfolgung als gefährdet ansehen
(z.B. Aum Shinrikyo) und attackierten millennialistischen Bewegungen (,,assaulted millennial
groups"), die aufgrund ihrer realen oder imaginären Gefährlichkeit zur Zielscheibe akuter
staatlicher Repression werden (z.B. die Davidianer). Des weiteren existieren
millennialistische Gruppen, die durch ihre revolutionäre Ideologie bereits ein inhärentes
Gewaltpotential besitzen (,,revolutionary millennial groups"), da sie einen gewaltsamen
Umsturz der bestehenden Ordnung anstreben (z.B. die ,,Montana Freemen"). Auch hier
schließen sich die Kategorien nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich. Eine NRB kann
demnach durchaus instabil und einem Angriff von außen ausgesetzt sein, während sie
gleichzeitig revolutionären Aktivitäten nachgeht.
18
Was apokalyptische Glaubenssysteme somit generell anfälliger für gewalttätige Konflikte mit
der ungebenden Gesellschaft macht, ist ihre ideologie-implizite Zurückweisung des
bestehenden sozialen Gefüges und der damit verbundenen Normen- und Wertesysteme
zugunsten eines utopischen Gegenentwurfs. In Vorwegnahme der zukünftigen Ordnung und
angesichts der bevorstehenden Apokalypse erstreben millennialistische Gruppen dabei oft
Handlungsautonomie für ihre zumeist ,,gegenkulturelle" Lebensweise und ihr religiös
motiviertes Verhalten. Deshalb, und auch weil die erstrebte radikale Transformation häufig
einen Wechsel der bestehende Machtverhältnisse impliziert, weisen alle millennialistischen
Bewegungen ein zumindest latentes revolutionäres Potential auf, was sie häufig in Opposition
zur hegemonialen Ordnung bringt. ,,The perceived imminence of the last days may be
expected to relativize conventional norms and rules. [...] Apocalyptic visions thus have
inherent antinomian implications."
19
Darüber hinaus sind besonders solche Gruppen anfällig
für gewaltsame Episoden, in welchen apokalyptische Glaubensinhalte sich in der Gestalt eines
charismatischen Führers verkörpern, der das durch ihn enthüllte Schicksal der Menschheit an
seine persönlichen emotionalen Stimmungen und Bedürfnisse knüpft.
17
Ebd. S. 17.
18
Ebd. S. 18 ff.
19
Robbins, Thomas/ Anthony, Dick, Sects and Violence: Factors Enhancing the Volatility of Marginal Religious
Movements, in: Lorne L. Dawson (Hg.), Cults in Context. Readings in the Study of New Religious Movements,
New Brunswick/ New Jersey 1998, S. 346.

14
2.2 Charismatische Herrschaft
Die meisten Bewegungen, die in der Vergangenheit zu kollektiver Gewalt neigten, wiesen
neben apokalyptischen Ideologien außerdem verschiedene Ausprägungen charismatischer
Herrschaft auf. Deshalb wurde letztere als ein entscheidendes Merkmal identifiziert, welches
in Verbindung mit anderen Faktoren die Wahrscheinlichkeit gewalttätiger Konflikte erhöhen
kann. Obwohl charismatische Herrschaftsmodelle damit offenbar eine gewisse
Konfliktneigung besitzen, deutet bei näherer Betrachtung wenig darauf hin, dass diesen
deshalb ein intrinsisches Potential zur Gewalt innewohnt. Gerade weil Charisma ein
etablierter Bestandteil der sozialen Ordnung ist, welcher sich in den meisten Bereichen der
Gesellschaft in mehr oder weniger stark ausgeprägter Form finden lässt, stellt sich die Frage,
in welchem Zusammenhang charismatische Herrschaft gewalttätiges Handeln begünstigen
kann.
Max Weber identifiziert Charisma mit dem Glauben an übernatürliche oder zumindest
außergewöhnliche Qualitäten eines Individuums, aus welchen sich die Legitimität der
Herrschaftsbeziehung ableitet und aufgrund derer es sich von der Masse abhebt.
20
Im
religionsgeschichtlichen Sinne handelt es sich dabei meistens um eine Person, die
Offenbarungen aus einer verborgenen übernatürlichen Quelle empfängt (Götter, Engel,
Geister, Außerirdische). Im Gegensatz zu anderen Herrschaftsformen erwächst die Autorität
eines charismatischen Herrschers jedoch nicht aus seiner Position, sondern einzig und allein
aus den ihm von anderen zugeschriebenen persönlichen Attributen. Des Weiteren impliziert
charismatische Herrschaft eine intensive emotionale Bindung zwischen Anhängern und
Herrscher, welche erstere oft dazu bewegt ein hohes Maß an Hoffnung und Vertrauen in
letzteren hineinzulegen. Das Resultat ist häufig ein sehr enger Gruppenzusammenhalt sowie
ein überaus hoher Grundkonsens bezüglich lebensweltlichen Wertvorstellungen. Da sich
charismatische Herrschaft jedoch ausschließlich durch die subjektive Wahrnehmung der
Anhänger legitimiert, und sie weder durch institutionelle Widerstände kontrolliert noch mit
Hilfe bürokratischer Instanzen gestützt wird, ist sie weniger stabil als Herrschaftsformen,
welche sich aus anderen Quellen speisen. ,,Precariousness inheres in the absence of both
institutionalized restrains to keep the leader in bounds and institutionalized supports to
sustain the leader and stabilize his regime."
21
Das aus diesem Zusammenhang entstehende
20
Vgl. Weber, Max, Rationalisierung und entzauberte Welt. Schriften zu Geschichte und Soziologie, Leipzig
1989, S. 231 ff.
21
Robbins, Thomas, Sources of Volatility in Religious Movements, in: David G. Bromley/ Gordon J. Melton
(Hg.), Cults, Religion and Violence, Cambridge 2002, S. 73.

15
Problem bezüglich der kontinuierlichen Legitimation charismatischer Herrschaft kann in
Verbindung mit anderen Faktoren zu einer destabilisierenden Gruppendynamik beitragen und
somit die Wahrscheinlichkeit von gewalttätigen Episoden erhöhen. Dawson sieht die Gefahr
besonders darin, dass charismatischen Herrschern angesichts der vielfältigen Anforderungen
hinsichtlich des Erhalts ihrer herausragenden Stellung die Kontrolle über die soziale Dynamik
entgleitet, und sie dann eher Zuflucht zu gewaltsamen Lösungen nehmen. ,,The true danger
stems, I will argue, from the mismanagement of certain endemic problems of charismatic
authority that are rooted in the problematic legitimacy of charisma. [...] When leaders, trying
to preserve their authority, make the wrong choices in the face of these challenges, they can
set off a cycle of deviance amplification that greatly increases the likelihood of violent
behavior."
22
Er identifiziert in diesem Zusammenhang vier spezifische Probleme, welche sich
aus der inneren Beschaffenheit charismatischer Herrschaftsformen ergeben und die
kontinuierlich bearbeitet und moderiert werden müssen, um einerseits die Stabilität des
sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten, und um andererseits die Eskalation von Konflikten
zu vermeiden.
Charismatische Herrscher sind erstens darauf angewiesen, das Image ihrer Person und die
damit verbundene Aura des Übernatürlichen zu erhalten. Die persönliche Beziehung zwischen
Anführer und Anhängern muss dabei durch hinreichende Präsenz desselben sowie
unmittelbaren Kontakt stetig bekräftigt werden, ohne jedoch den Schein des Mystischen durch
ein Zuviel an Nähe zu gefährden. ,,The charismatic aura must be continuously replenished
with new, if highly programmatic, tales of the electrifying effects of private interviews with
the leader."
23
Um dieses wichtige Element des Mystischen zu bewahren, isolieren sich die
meisten Anführer weitgehend von der Gruppe und gewähren lediglich ausgewählten
besonders loyalen Gruppenmitgliedern Zugang zu ihrer Person. Öffentliche Auftritte werden
sorgfältig vorbereitet und geplant, um sich der Anhängerschaft wunschgemäß in einem
möglichst positiven Licht zu präsentieren. So wie jedoch ein Zuviel an Kontakt bedrohlich
sein und die Rolle des Herrschers delegitimieren kann, ruft auch die übermäßige Isolation
destabilisierende Dynamiken hervor. Da sich die loyalsten Mitglieder üblicherweise stark mit
ihrem Anführer identifizieren und ihre bevorzugte Position erhalten wollen, haben sie ein
großes Interesse daran, ihn vor negativen Einflüssen zu schützen, indem sie den Zugang zu
ihm begrenzen und durch selektive Auskünfte systematisch bestimmte Informationen
unterdrücken. Dadurch kommt es leicht zum physischen und sozialen Einschluss desselben
22
Dawson, Lorne L., Crises of Charismatic Legitimacy and Violent Behaviour in New Religious Movements, in:
David G. Bromley/ Gordon J. Melton (Hg.), Cults, Religion and Violence, Cambridge 2002, S. 81.
23
Ebd. S. 86.

16
durch einen Kreis absolut ergebender Jünger, so dass die unmittelbaren
Kommunikationsstrukturen zwischen Anführern und Anhängern kollabieren. Da narzisstische
Herrscher dadurch nur selten Umgang mit gleichwertigen Gesprächspartnern haben, denen es
gestattet ist Kritik zu üben, entsteht leicht eine Abhängigkeit von den Urteilen unkritischer
Mitglieder. ,,[...] [L]eaders might find themselves surrounded by sycophants who are
incapable of providing them with the negative feedback essential to making sound and
realistic decisions for the future of the group."
24
Das daraus resultierende Missmanagement
der Gruppe kann zu einer Legitimationskrise führen, welche den Anführer zu extremen
Maßnahmen veranlassen kann, um sich der Loyalität der Anhänger zu versichern.
Andererseits kann es passieren, dass die Anhängerschaft vollkommen aus dem Prozess der
Entscheidungsfindung ausgeschlossen wird und somit kaum darüber im Bilde ist, welche
genauen Ziele die Führungsriege mit der unwissentlichen Unterstützung derselben verfolgt.
Im Falle Aum Shinrikyos wurden die Gewalttaten beispielsweise ausschließlich unter strenger
Geheimhaltung von Angehörigen des inneren Kaders verübt, so dass die meisten Anhänger
über diese Vorgänge nicht im Bilde waren.
Die zweite Problematik hängt mit der üblicherweise starken Identifikation der Anhänger mit
der Person des Anführers und der Gruppe zusammen. Angriffe auf die Gruppenidentität oder
den charismatischen Herrscher werden aufgrund dessen häufig als unmittelbarer Angriff
gegen die eigene Person wahrgenommen. Je größer dabei das Ausmaß der Identifikation
innerhalb einer Gemeinschaft, umso größer ist auch das Potential für extreme Reaktionen zum
Zwecke der Verteidigung. Eine Folge dieses Prozesses ist die umfassende Dämonisierung und
zum Teil erbitterte Bekämpfung des jeweils anderen im Konflikt zwischen
Gruppenangehörigen und ehemaligen Anhängern. Der Fanatismus, mit welchem manche
Aussteiger dabei gegen ihre vormaligen Mitgläubigen ins Feld ziehen, muss gleichfalls vor
dem Hintergrund der starken psychologischen Identifikation zwischen Anführer und
Anhängern betrachtet werden. ,,The whole cycle is sustained by the tendency to demonize the
charismatic leader and their group, perhaps as a defensive measure against the traumatic
effects of the failure of the apostate's fusion with the leader."
25
Die existentielle Dimension
dieser Vorgänge sowie die damit einhergehenden starken Emotionen wirken tendenziell
konfliktverschärfend und erhöhen somit die Wahrscheinlichkeit von Gewalt. Letztere
vergrößert sich außerdem, wenn die Spannungen zwischen religiöser Gemeinschaft und der
sozialen Umwelt darüber hinaus von Anführern für ihre Zwecke funktionalisiert werden.
,,They can use the tensions as a pretext for increasing the isolation of the group, or their own
24
Ebd. S. 87.
25
Ebd. S. 90.

17
segregation, and they can use the tensions to rationalize an increase in their authority by
encouraging even higher levels of psychological fusion with the leader."
26
Shoko Asahara, der
Anführer von Aum Shinrikyo sowie Marshall Herff Applewhite (Do, der Anführer von
Heaven's Gate) machten beide von dieser Möglichkeit Gebrauch und trugen damit
maßgeblich zur Destabilisierung des Gruppenzusammenhanges bei.
Das dritte Problem betrifft die von charismatischen Anführern oft als Gefahr empfundene
Routinisierung ihres Charismas. Wenn Gruppen über einen längeren Zeitraum unter dem
Einfluss eines charismatischen Herrschers stehen und aufgrund ihres Erfolges an Größe
zunehmen, entwickeln sich häufig bürokratische Strukturen und damit Ansätze rationaler
Herrschaft, welche die charismatische Autorität des Anführers herausfordern. Besonders
angesichts steigender Mitgliederzahlen wird es für letzteren unmöglich, alle wichtigen
Gruppenaktivitäten selbst zu überwachen und so ständigen Kontakt zu seinen Anhängern zu
halten. ,,Growth impairs charismatic leaders' capacity to maintain the personal contact with
followers from which their authority grew."
27
Dadurch verschiebt sich die Legitimation der
Herrschaftsbeziehung, so dass sich diese nicht mehr ausschließlich aus dem Charisma der
herrschenden Person ableitet, sondern zunehmend auch an personenunabhängige Positionen
gekoppelt ist. Durch die damit verbundene routinemäßige Delegation von Aufgaben an andere
kommt diesen verstärkt auch ein Teil des Prestiges und der Macht zu, welche sonst nur dem
charismatischen Anführer zusteht. ,,Successful lieutenants, either individually or collectively,
may begin explicitly or implicitly to usurp some of the prestige and power granted to the
original charismatic leader as they conduct the daily business of the religious organization."
28
Dieser Prozess wird von vielen Anführern als bedrohlich empfunden und oft als nicht
hinnehmbare Beschneidung der eigenen Entscheidungsmacht aufgefasst. Um dem
entgegenzuwirken, haben selbige deshalb verschiedene Strategien entwickelt, welche
destabilisierend auf die Gruppe wirken und damit die Abhängigkeit der Anhänger von der
persönlichen Autorität des Herrschers erhöhen. Dazu gehören unter anderem abrupte
Veränderungen der Ideologie und der religiösen Praktiken, welche häufig durch neue
übernatürliche Offenbarungen gerechtfertigt werden. ,,In the face of new knowledge or ways
of doing things, all become equally dependent, once again, on the guiding insight and the
wisdom of the leader."
29
Ein ähnlicher Effekt wird auch durch verstärkte Forderungen nach
absoluter Hinwendung und persönlicher Aufopferung zugunsten der Gruppe erzielt. Dieses
26
Ebd. S. 88 ff.
27
Ebd. S. 91.
28
Ebd. S. 91.
29
Ebd. S. 92.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783836617031
Dateigröße
610 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Freie Universität Berlin – Philosophie und Sozialwissenschaften, Soziologie
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,0
Schlagworte
religion soziologie konfliktforschung sekte ideologie
Zurück

Titel: Neue religiöse Bewegungen und Gewalt
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
80 Seiten
Cookie-Einstellungen