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'Party government' oder 'parti présidentiel'?

Die Rolle der politischen Parteien im Regierungssystem der V. Französischen Republik

©2007 Magisterarbeit 106 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
„Je voulais briser les partis. J’étais le seul à pouvoir le faire et le seul à croire la chose possible au moment que j’ai choisi. J’ai eu raison contre tous.“ (de Gaulle 1962).
Charles de Gaulles sieht die politischen Parteien als Grundübel und Hauptursache für den Untergang der III. und IV. Französischen Republik. Mit Etablierung der V. Republik sollen sie deshalb dauerhaft aus dem Prozess der politischen Entscheidungsfindung verdrängt werden. Doch entgegen der Intention ihrer Gründungsväter passen sich die Parteien den Vorgaben des neuen Regierungssystems an und erlangen infolgedessen zunehmende Bedeutung im Zusammenspiel der politischen Hauptakteure.
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit diesen unerwarteten Einflussmöglichkeiten der Parteien auf die Regierungspolitik. Hierbei soll analysiert werden inwieweit das französische Regierungssystem als Form der Parteienregierung charakterisiert werden kann. Ausgehend von Richard S. Katz’ Kriterien des „party government“ und dem französischen Gegenstück der präsidentialisierten Parteien, „parti présidentiel“, soll die Rolle der politischen Parteien im Regierungssystem analysiert werden.
Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage nach dem realen Einfluss der französischen Parteien auf die Hauptentscheidungen des politischen Lebens Frankreichs, auf die Konstituierung der Exekutive und auf die Formulierung von Regierungspolitik. Die Parteien werden in diesem Zusammenhang insbesondere auf ihr Verhältnis zum französischen Staatspräsidenten hin untersucht, da dieser der zentrale Akteur im Verfassungsgefüge ist und somit maßgeblich die Machtposition der Parteien beeinflusst.
Es wird die These aufgestellt, dass sich das Regierungssystem der V. Französischen Republik zu einer abgeschwächten Form der Parteienregierung entwickelt hat. Insbesondere bei der direkten Präsidentschaftswahl, dem zentralen politischen Ereignis, nehmen die Parteien eine wichtige Stellung ein. An diesem Punkt soll gezeigt werden, dass die politischen Parteien durch die Ernennung eines eigenen Spitzenkandidaten starken Einfluss auf die Konstituierung der Exekutive nehmen. Des Weiteren können die Parteien auch auf die Bestimmung der Regierungspolitik kontinuierlich mehr einwirken. Es soll gezeigt werden, dass ihre Macht im Gegensatz zu anderen westlichen Demokratien an diesem Punkt jedoch nach wie vor gering ist.
In der Literatur werden die V. Französische Republik und die politischen Parteien umfassend […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


I. Einleitung

„Je voulais briser les partis. J’étais le seul à pouvoir le faire et le seul à croire la chose possible au moment que j’ai choisi. J’ai eu raison contre tous.“ (de Gaulle 1962 zit. bei Passeron 1966: 64)

Charles de Gaulles sieht die politischen Parteien als Grundübel und Hauptursache für den Untergang der III. und IV. Französischen Republik. Mit Etablierung der V. Republik sollen sie deshalb dauerhaft aus dem Prozess der politischen Entscheidungsfindung verdrängt werden. Doch entgegen der Intention ihrer Gründungsväter passen sich die Parteien den Vorgaben des neuen Regierungssystems an und erlangen infolgedessen zunehmende Bedeutung im Zusammenspiel der politischen Hauptakteure.

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit diesen unerwarteten Einflussmöglichkeiten der Parteien auf die Regierungspolitik. Hierbei soll analysiert werden inwieweit das französische Regierungssystem als Form der Parteienregierung charakterisiert werden kann. Ausgehend von Richard S. Katz’ Kriterien des “party government“ (vgl. 1986) und dem französischen Gegenstück der präsidentialisierten Parteien, “parti présidentiel“ (vgl. Portelli 1980), soll die Rolle der politischen Parteien im Regierungssystem analysiert werden.

Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage nach dem realen Einfluss der französischen Parteien auf die Hauptentscheidungen des politischen Lebens Frankreichs, auf die Konstituierung der Exekutive und auf die Formulierung von Regierungspolitik. Die Parteien werden in diesem Zusammenhang insbesondere auf ihr Verhältnis zum französischen Staatspräsidenten hin untersucht, da dieser der zentrale Akteur im Verfassungsgefüge ist und somit maßgeblich die Machtposition der Parteien beeinflusst.

Es wird die These aufgestellt, dass sich das Regierungssystem der V. Französischen Republik zu einer abgeschwächten Form der Parteienregierung entwickelt hat. Insbesondere bei der direkten Präsidentschaftswahl, dem zentralen politischen Ereignis, nehmen die Parteien eine wichtige Stellung ein. An diesem Punkt soll gezeigt werden, dass die politischen Parteien durch die Ernennung eines eigenen Spitzenkandidaten starken Einfluss auf die Konstituierung der Exekutive nehmen. Des Weiteren können die Parteien auch auf die Bestimmung der Regierungspolitik kontinuierlich mehr einwirken. Es soll gezeigt werden, dass ihre Macht im Gegensatz zu anderen westlichen Demokratien an diesem Punkt jedoch nach wie vor gering ist.

In der Literatur werden die V. Französische Republik und die politischen Parteien umfassend untersucht. Insbesondere die Forschung zu den einzelnen Parteien und der Entwicklung des Parteiensystems ist weitreichend. Noch zahlreicher sind die Arbeiten, welche sich mit dem französischen Regierungssystem und hierbei vor allem der Rolle des Staatspräsidenten beschäftigen. In diesem Zusammenhang ist auch die seit Jahren lebhaft geführte Diskussion um die Einordnung der V. Republik in die Typologie demokratischer Regierungssysteme zu nennen, also der Klassifizierung Frankreichs als parlamentarisches, präsidentielles oder semi-präsidentielles System.

Trotz des weiten Spektrums der Literatur fällt auf, dass sich vor allem die französischen Autoren der Konzeption Charles de Gaulles nahtlos anschließen und die politischen Parteien als schwache, wenig stabile Gebilde darstellen. Die französische Forschung orientiert sich überwiegend an einer präsidentialistischen Verfassungsauslegung und beurteilt die Macht der Parteien innerhalb des Regierungssystems als äußerst gering. Die Parteien werden ganz im Sinne der Verfassungsväter der V. Republik als untergeordnete Organisationen charakterisiert, die sich dem präsidentiellen Willen bedingungslos beugen. Als hauptsächliche Vertreter dieser Anschauung seien hier Maurice Duverger (vgl. 1987 und 1990), Pierre Avril (vgl. insbesondere 1982 und 1988) und Hugues Portelli (vgl. insbesondere 1980 und 1988) genannt. Dominique Chagnollaud und Jean-Louis Quermonne wiederum gestehen den Parteien in ihrem vierbändigen Werk zur V. Republik (vgl. 2000) ein für die französische Literatur durchaus weitgehendes Maß an Einflussmöglichkeiten zu. Dies könnte ein Anzeichen für einen Wandel in der französischen Forschung und die höhere Anerkennung der Parteien in den letzten Jahren sein.

In der englisch- und deutschsprachigen Forschung hingegen setzt sich immer mehr die Auffassung durch, dass die französischen Parteien sehr wohl eine zentrale Stellung im Regierungssystem einnehmen. Gerade in der deutschen Forschung hat sich in den letzten Jahren eine lebhafte Debatte entwickelt, ob die V. Französische Republik eine Form der Parteienregierung darstellt. Hierbei sei vor allem auf die Diskussion in der Zeitschrift für Parlamentsfragen hingewiesen, die zwischen Romy Messerschmidt und Adolf Kimmel, sowie Ina Stephan und Dirk Zadra geführt wird (vgl. Messerschmidt 2003 und 2004, Kimmel 2004, Stephan 1998 und Zadra 1997 b). Auch Christine Pütz (vgl. insbesondere 2004 und 2007) widerlegt die französischen Interpretationen der Parteien als bloße “partis présidentiel“ und widmet sich hierbei insbesondere der Betrachtung der Staatspräsidenten als Parteiführer. Für die englischsprachige Forschung seien Alistair Cole (vgl. insbesondere 1990 und 1993) und Andrew Knapp (vgl. 2004) genannt, die ebenfalls auf die gewonnene Machtposition der Parteien hinweisen.

Trotz der großen Menge an Literatur füllt die vorliegende Arbeit insofern eine Lücke, als dass sie den Zusammenhang zwischen Parteien- und Regierungssystem darzustellen versucht. Indem die Untersuchung Verfassungsnorm sowie Verfassungspraxis betrachtet und die konkreten Einflussmöglichkeiten der politischen Parteien innerhalb dieser aufzeigt, stellt sie einen Beitrag zur aktuellen Diskussion bezüglich der Einordnung der V. Republik als Parteienregierung dar.

Die Konstitution bildet den grundlegenden, strukturierenden Rahmen für das Handeln der Verfassungsorgane. Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist deshalb die Darstellung der konstitutionellen Ordnung der V. Französischen Republik um in einem zweiten Schritt deren Interpretation durch die politischen Akteure sowie die Regierungspraxis zu untersuchen.

Im ersten Teil der Arbeit werden die bereits im Titel genannten Begriffe des “party government“ sowie der “parti présidentiel“ erläutert und deren jeweilige Merkmale aufgeführt. Die Analyse der Verfassungsordnung der V. Französischen Republik stellt den zweiten Teil der Arbeit dar. Hierbei wird auf die Gründung der V. Französischen Republik, die Intention der Verfassungsgeber und die Verfassungsrevision von 1962 eingegangen. Anschließend wird die Besonderheit des französischen Regierungssystems mit seiner Struktur einer doppelköpfigen Exekutive untersucht. Die Verfassung etabliert durch die direkte Präsidentschaftswahl sowie die Legislativwahlen zwei Exekutivorgane: Den Staatspräsidenten und die von der Nationalversammlung unterstützte Regierung unter Führung des Premierministers. Rolle und Machtbefugnisse dieser beiden Exekutivorgane werden aufgezeigt um anschließend ihr Zusammenwirken darzustellen. Abschließend werden die Stellung der politischen Parteien im Verfassungssystem und allgemeine Merkmale des französischen Parteiensystems aufgezeigt. Die Nationalversammlung wird auf die für die Fragestellung relevanten Punkte des Wahlmodus und des Instruments des rationalisierten Parlamentarismus hin untersucht. Ein kurzes Zwischenfazit resümiert die gewonnenen Erkenntnisse und dient somit als Grundlage für die anschließende Betrachtung der Verfassungspraxis in der V. Republik.

Die Untersuchung der Rolle der politischen Parteien im Regierungssystem ist das Kernstück der Arbeit und folgt im dritten Teil. Die realen Einflussmöglichkeiten der Parteien sollen hier durchleuchtet werden. Die Analyse greift die Fragestellung der Arbeit auf, ob das französische Regierungssystem als eine Art der Parteienregierung bezeichnet werden kann oder aber durch präsidentialisierte Parteien mit minimalen Einflussmöglichkeiten gekennzeichnet ist.

Erster Aspekt ist hierbei der Einfluss der Parteien auf die Bildung und Zusammensetzung der Exekutive. Die Präsidentschaftswahl steht in diesem Zusammenhang als hauptsächliches politisches Ereignis im Zentrum der Analyse. Es soll gezeigt werden, dass die Präsidentschaftswahlen weniger Personen- als vielmehr Parteienwahlen sind, bei denen die Parteien eine wichtige Position bei der Erlangung der Präsidentschaft einnehmen. In einem zweiten Schritt soll die Rolle der Parteien bei der Regierungsbildung untersucht werden. Die Einflussmöglichkeiten auf die Auswahl des Kabinetts werden in Zeiten gleichgerichteter Mehrheiten und Phasen unterschiedlicher parteipolitischer Ausrichtung, der so genannten Kohabitation, unterteilt. Daran anschließend erfolgt die Charakterisierung des Staatspräsidenten als Führer “seiner“ Partei.

Zweiter Aspekt der Rolle der Parteien im Regierungssystem ist die Beziehung zur Regierungspolitik aus parlamentarischer Sicht. Auch hierbei muss aufgrund der Verfassungskonzeption einer doppelten Exekutive zwischen Phasen übereinstimmender präsidialer und parlamentarischer Mehrheiten und Phasen der Kohabitation unterschieden werden.

In den Phasen gleichgerichteter parteipolitischer Mehrheiten wird zunächst die Entstehung einer parlamentarischen Regierungsmehrheit betrachtet. Es soll gezeigt werden, dass dieser “fait majoritaire“ das Fundament präsidentieller Regierungspolitik darstellt. Daraufhin sollen die realen Einwirkungsmöglichkeiten der Parteien auf die Formulierung von Regierungspolitik untersucht werden. Die Macht der Parteien variiert hierbei je nach politischen Phasen und Akteuren. Deshalb soll daran anschließend die präsidentielle Regierungspraxis der fünf bisherigen französischen Staatspräsidenten und der jeweilige Einfluss “ihrer“ Regierungspartei analysiert werden. Die im Mai 2007 begonnene Präsidentschaft Nicolas Sarkozys wird von dieser Untersuchung ausgenommen, da nach neun Monaten Regierungszeit noch keine klare Einschätzung möglich ist, sondern lediglich Tendenzen angedeutet werden können. Dies soll im Schlussteil der Arbeit erfolgen.

Der Untersuchung über den Parteieneinfluss auf die Regierungspolitik bei gleichgerichteten Mehrheiten wird die Analyse der Einwirkungsmöglichkeiten in Kohabitationszeiten gegenübergestellt. Zunächst sollen Erscheinungsformen und allgemeine Charakteristika der Kohabitation geschildert werden um anschließend zu durchleuchten, inwieweit während dieser Phasen ein Machttransfer innerhalb der Exekutive stattfindet. Daraufhin wird die Regierungspraxis während der drei bisherigen Kohabitationen untersucht und die Einflussmöglichkeiten der Parteien auf die Regierungspolitik aufgezeigt. Dies dient der abschließenden Erörterung, ob die politischen Parteien in Zeiten der Kohabitation größeren Einfluss auf Regierungsentscheidungen nehmen als in Phasen gleichgerichteter parteipolitischer Mehrheiten.

Es wird darauf verzichtet eine Einordnung der V. Republik in der Typologie demokratischer Regierungssysteme vorzunehmen. Die Frage, ob es sich um ein parlamentarisches, präsidentielles oder semi-präsidentielles Regierungssystem handelt, impliziert zwar Auswirkungen auf die Funktionen politischer Parteien. Deren Beantwortung würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen und geht über die Fragestellung weit hinaus. Des Weiteren konzentriert sich die Untersuchung auf die Rolle der politischen Parteien in Beziehung zu Staatspräsident, Premierminister und Regierung sowie Nationalversammlung. Der Senat, als zweite Kammer der französischen Legislative, findet keine Betrachtung, da er in der Verfassungspraxis nur eine untergeordnete Rolle spielt. Auch die Funktion und Ausgestaltung des französischen Verfassungsrats, des Conseil Constitutionnel, wird von der Betrachtung ausgeklammert, da seine Position im Verfassungsgefüge für die Analyse des Parteiencharakters der V. Republik nur wenig Aufschluss gibt.

Ebenfalls von der Untersuchung ausgeschlossen wird die Rekrutierung politischen Führungspersonals. Dieser Aspekt der französischen Verfassungspraxis ist in den letzten Jahren verstärkt in die Kritik gekommen. Absolventen der Grandes Écoles, insbesondere der ENA (École nationale d’administration), steigen ohne vorherige Parteienarbeit direkt oben in das Regierungsgeschäft ein. Obwohl dieser Gesichtspunkt äußerst interessant in der Betrachtung der politischen Ordnung und einer “exception française“ ist, stellt er für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit nur einen Nebenaspekt dar. Dieser soll nicht weiter ausgeführt werden, da sich die Untersuchung auf die Einflussmöglichkeiten von Parteien auf Konstituierung und Entscheidungsfindung der Exekutive konzentriert.

II. Hauptteil

1. Kriterien von Parteienregierung und präsidentialisierten Parteien

1.1. Merkmale des “party government“

Die vorliegende Arbeit soll untersuchen, inwieweit das französische Regierungssystem eine Form der Parteienregierung darstellt. Die von Richard S. Katz entwickelten Kriterien des “party government“ (Katz 1986) stellen den Ausgangspunkt und Maßstab dieser Analyse dar.

“Party government“, Parteienregierung, bezeichnet die Fähigkeit politischer Parteien ein Regierungsprogramm zu formulieren und dieses durch die Besetzung von Regierungsämtern in politische Entscheidungen umzusetzen. Das Modell des “party government“ macht die Regierung verantwortlich vor einer allgemeinen Öffentlichkeit, denn Individuen, die in Parteien organisiert sind und ihre Position der Wahl dieser Partei verdanken, werden mit der Regierungsarbeit betraut (vgl. Jäger 1980: 595).

Parteienregierung beinhaltet drei Konditionen: Zunächst müssen alle wichtigen Regierungsentscheidungen von Leuten getroffen werden, die aus Wahlen entlang der Parteilinien hervorgehen oder durch Personen, die von diesen Akteuren ernannt worden und diesen gegenüber verantwortlich sind. Somit müssen alle politischen Entscheidungen auf Individuen zurückgehen, die ihre Autorität entweder direkt oder indirekt dem Wahlabstimmungserfolg ihrer Partei verdanken. Zweitens muss Politik innerhalb der Regierungspartei, beziehungsweise bei Koalitionen innerhalb der Regierungsparteien, entschieden werden. Dies muss entlang der Parteilinien geschehen, sodass jede Partei für ihre Position verantwortlich gemacht werden kann. Drittens müssen alle obersten Amtsträger innerhalb der Regierungspartei/en ausgewählt werden und verantwortlich vor den Mitgliedern dieser Partei/en sein. Regierungspositionen müssen aufgrund der Unterstützung innerhalb der Partei und nicht durch Wahlerfolg besetzt werden, sodass die Amtsträger durch ihre Parteibindung dem Volk gegenüber verantwortlich sind (vgl. Katz 1986: 43).Diese drei Konditionen des “party government“ –Modells stellen einen Idealtyp der Parteienregierung dar. Katz unterstreicht die ultimative Auslegung seiner Konzeption, welche in diesem Maße nicht realisierbar ist und ein theoretisches Extrem darstellt. Das Modell bietet demnach keine komplette Beschreibung des jeweiligen Regierungssystems sondern eine Abstraktion von Parteienregierung, die je nach politischem System institutionell unterschiedlich ausgestaltet ist (vgl. ebd.: 44 f.).

Des Weiteren betont Katz die Wichtigkeit der „cohesive team behavior“ (ebd.: 43). Als Voraussetzung dieses Zusammenhaltes müssen die parlamentarische Mehrheit, die Regierungsmitglieder und die außerparlamentarischen Organisationen dieselben Parteipositionen vertreten, unabhängig von Verfassungsbestimmungen über die Machttrennung zwischen Exekutive und Legislative. Die Fraktionsdisziplin hebt somit das formal freie Abgeordnetenmandat auf. Infolgedessen ist die Unterstützung der eigenen Parteiführung die wichtigste Funktion für die Regierungspartei/en. Eine Vernachlässigung oder Missachtung dieser Aufgabe macht Parteienregierung unmöglich (vgl. Reif 1982: 1.24).

Zusammenfassend ist “party government“ also ein Modell, in dem geschlossen agierende Parteien Regierungspolitik festlegen. Politische Entscheidungen werden von Parteipolitikern oder unter deren Kontrolle getroffen, die aus Parteien rekrutiert und verantwortlich vor diesen Parteien sind. Das Gegenteil dieser Konzeption von Parteienregierung stellt der Begriff der “parti présidentiel“ dar, welcher im Folgenden genauer erläutert wird.

1.2. Der Begriff der “parti présidentiel“

Das Konzept der “parti présidentiel“, also der präsidentialisierten Partei, bringt Hugues Portelli in seinem Aufsatz von 1980 „La présidentialisation des partis français“ erstmals in die Diskussion ein. Die These der Präsidentialisierung politischer Parteien geht von einer präsidentialistischen Lesart der französischen Verfassung aus und bezeichnet die Anpassung der Parteien an die Machtmechanismen des Regierungssystems: „[…], le modèle institutionnel de la Ve République est devenu la règle de tous les partis.“ (Portelli 1980: 100). Der Begriff der “parti présidentiel“ stellt folglich einen Bezug her zwischen den Institutionen der V. Republik und deren politischen Akteuren. Der Vorrang des Präsidenten im institutionellen System hat sich auf die innerparteiliche Struktur übertragen. Die präsidentialisierten Parteien sind in ihrer Entstehung und Entwicklung ganz von der Ausrichtung auf die Präsidentschaft bestimmt. Alle Strategien artikulieren sich demnach entsprechend der Präsidentschaftswahl als zentralem Ereignis des nationalen politischen Lebens (vgl. ebd.: 100).

Portellis These folgend konzentriert sich der Parteienwettbewerb seit Einführung der Direktwahl 1962 auf die Präsidentschaftswahl. Die politischen Parteien werden Bestandteil einer präsidentiellen Wahlallianz oder müssen eigene Kandidaten aufstellen, wenn sie im Wettbewerb lang- oder mittelfristig erfolgreich sein wollen. Jede politische Richtung muss deshalb über einen potentiellen Präsidentschaftskandidaten verfügen: „[…]: faute de présidentiable, un courant politique n’existe pas.“ (ebd.: 100).

Vor allem die französische Forschung sieht in dieser Präsidentialisierung eine Schwächung der Parteien. Portelli schlussfolgert, dass die traditionelle Schwäche der französischen Parteien durch die Präsidentialisierung weiter verstärkt wird: „Pauvres partis français, déjà les plus faibles de toute l’Europe occidentale et que le système présidentiel a encore contribué à affaiblir.“ (ebd.: 106). Auch Maurice Duverger hebt die schwache Position der französischen Parteien im Regierungssystem hervor. Seiner Auffassung nach können sich potentielle Präsidentschaftskandidaten sehr leicht der Partei bemächtigen und diese kontrollieren: „La Ve pousse vers un parti du Président, non vers un Président à la merci d’un parti.“ (1987: 221).

Für Jean-Louis Quermonne stellen die französischen Parteien lediglich „machines“ dar, einzig darauf ausgerichtet ihren Kandidaten an die Macht zu bringen, und bei erfolgreicher Kandidatur seine Politik zu unterstützen (vgl. 1987: 100).

Auch die aktuelle deutsch- und englischsprachige Diskussion greift das Konzept der “parti présidentiel“ auf. Vermehrt weisen die Autoren jedoch auf die zentrale Stellung der Parteien im Präsidentschaftswahlkampf hin. So betont Uwe Jun die Wichtigkeit gegenseitiger Anpassung und Übereinstimmung der politischen Projekte und Zielsetzungen von Partei und Präsidentschaftsanwärter für eine erfolgreiche Kandidatur (vgl. 2002: 139f.). Auch John Gaffney verweist auf die kontinuierliche Stärkung der französischen Parteien. Je nach deren Anpassungsgrad an die institutionellen Voraussetzungen der V. Republik würden sie an Einflussmöglichkeiten gewinnen: „The developing presidentialism of the Fifth Republic saw the parties regaining their strength, but this according to the manner in which they adapted to presidential contests.“ (1989: 10).

Unbestritten ist somit die Anpassung der französischen Parteien an die institutionellen Machtmechanismen der V. Republik. Trotz einiger Ausnahmen leitet die Mehrzahl der Autoren aus dieser Präsidentialisierung eine gleichzeitige Schwächung der Parteien ab. Das Konzept der “parti présidentiel“ stellt somit das Gegenteil des “party government“ dar. Während die Aufgabe präsidentialisierter Parteien lediglich auf die Unterstützung eines Präsidentschaftskandidaten ausgelegt ist, dessen Ernennung, Programm und Beziehung zur Partei sie nur minimal beeinflussen können, nehmen die Parteien im Modell des “party government“ eine zentrale Rolle im politischen Leben ein.

Inwieweit das Regierungssystem der V. Republik einem dieser beiden Konzepte zugeordnet werden kann, soll in der vorliegenden Arbeit analysiert werden. Im Folgenden soll deshalb die Verfassungsordnung untersucht werden, um die institutionellen Voraussetzungen einer Parteienregierung beziehungsweise eines präsidentialisierten Parteiensystems aufzuzeigen. Dies bildet die Grundlage für die anschließende Einordnung der Rolle der politischen Parteien im Regierungssystem.

2. Die Verfassungsordnung der V. Französischen Republik

2.1. Die Konstituierung der V. Französischen Republik

2.1.1. Gründung der V. Republik und Intention der Verfassungsgeber

Charles de Gaulle wird am 13. Mai 1958 von der französischen Nationalversammlung (Assemblée nationale) zum letzten Ministerpräsidenten der IV. Republik ernannt. Beim Aufstand der algerischen Siedler und Armee Anfang Mai 1958 gegen die französische Regierung traut man nur ihm die Beendigung dieses Krieges und die Verhinderung eines faschistischen Militärregimes zu. Bis dahin hatte sich Charles de Gaulle als „Politiker im Wartestand“ (Müller-Brandeck-Bocquet 2000: 19) nach Colombey-les-deux-Églises zurückgezogen. Nun wird er sowohl für die Aufständischen als auch für die inländischen Politiker zur zentralen Figur um die Krise beizulegen.

De Gaulle knüpft seine Rückkehr an zwei Bedingungen: Die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und Sondervollmachten für Algerien. Daraufhin beauftragt und bevollmächtigt ihn die Nationalversammlung mit der Bearbeitung einer neuen Verfassung und den geforderten Vollmachten für Algerien Die Beratungen über den Verfassungsentwurf werden somit nicht von der Volksvertretung selbst, sondern von der Regierung unter Vorsitz de Gaulles abgehalten.

Dieser bildet sein Kabinett zusammengesetzt aus den Führern der traditionellen Parteien, mit Ausnahme der Kommunisten, und drei langjährigen Vertrauten in den Schlüsselministerien Innen-, Außen- und Verteidigungspolitik. Am 3. September 1958 stimmt der Ministerrat dem Verfassungsentwurf zu. Da die Volksvertreter aber nur einen sehr geringen Anteil an der Ausarbeitung haben, wird zur demokratischen Legitimierung ein Referendum abgehalten. Am 28. September nimmt das französische Volk die neue Verfassung mit knapp 80% der abgegebenen Stimmen an. So tritt die Verfassung am 4. Oktober in Kraft und konstituiert die V. Französische Republik (vgl. Kempf 2000: 21 ff.).

Das Verfassungswerk stellt einen Kompromiss zwischen Charles de Gaulle und der Mehrheit der Parteien der IV. Republik dar. Die verschiedenen Parteien sind zwar in de Gaulles Regierung repräsentiert und verfügen somit über Einflussmöglichkeiten, geleitet werden die Beratungen allerdings von Michel Debré, einem langjährigen Vertrauten de Gaulles. Deshalb basiert der Verfassungsentwurf von 1958 vorwiegend auf de Gaulles und Debrés Vorstellungen (vgl. Grunberg / Haegel 2007: 14).

Dem „régime des partis“ (de Gaulle zit. bei ebd.: 278) ein Ende zu setzen, ist oberstes Ziel der Verfassungsväter. Aus dieser Perspektive heraus soll die Ausgeglichenheit zwischen legislativer und exekutiver Macht geschaffen werden durch Einschränkung der bis dahin dominanten legislativen Macht.

Der Konzeption einer klaren Trennung der Gewalten folgend, soll insbesondere das Amt des Staatspräsidenten ausgeweitet werden und diesen zum Initialträger exekutiver Macht bestimmen. De Gaulle intendiert eine übergeordnete Stellung des Präsidenten über Parteigrenzen und ideologische Trennlinien innerhalb der Bevölkerung hinweg. Der Staatspräsident soll sich demnach gegenüber der Nation und dem Allgemeinwohl verpflichtet fühlen, sodass keine Notwendigkeit für die Mittlerrolle politischer Parteien entsteht (vgl. Zadra 1997 b: 688).

Bereits in seiner Rede von Bayeux am 16. Juni 1946 schildert Charles de Gaulle sein Vorhaben: „C’est du Chef de l’État, placé au-dessus des partis, élu par un collège qui englobe le parlement mais beaucoup plus large […] que doit procéder le pouvoir exécutif.“ (zit. bei Chagnollaud / Quermonne 2000 d: 278). Zwölf Jahre später setzt er unmittelbar nach seiner Rückkehr an die Macht diese Überlegungen in einer neuen Verfassungsordnung um.

Wie im Folgenden aufgeführt, vervollständigt de Gaulle seine Vorstellungen eines überparteilichen Staatspräsidenten mit der Verfassungsrevision von 1962.

2.1.2. Die Verfassungsrevision von 1962

Die Verfassung von 1958 sieht die Wahl des Staatspräsidenten durch ein Wahlkolleg vor, zusammengesetzt aus Parlamentariern, allgemeinen Beratern und Delegierten der Städte und Kommunen. Um seine Vorstellungen endgültig umzusetzen nimmt de Gaulle ein Attentat auf seine Person zum Anlass in einer Rundfunk- und Fernsehansprache die Revision des Präsidentenwahlmodus zu verkünden. Die Parteien sollen ersetzt werden durch den direkten Dialog des Staatschefs mit dem Volk (vgl. Avril 1995: 49).

De Gaulles Hauptkritikpunkt ist die mangelnde Autorität seines Nachfolgers. Dieser könne, so de Gaulle, niemals auf das gleiche Maß an nationaler Unterstützung bauen, wie er selbst als Widerstandsführer im Zweiten Weltkrieg und „Retter der Nation“ (Hartmann / Kempf 1989: 82). Deshalb habe er nicht die zur Ausübung der Funktionen des französischen Staatspräsidenten notwendige Autorität und bleibe von den Parteien und der parlamentarischen Mehrheit abhängig: „Quand je ne serai plus là, il faudra un chef de l’Etat en dehors des partis et qui ne soit pas lié à une majorité parlementaire.“ (de Gaulle zit. bei Passeron 1962: 134). Dieses Defizit soll durch die Einführung der allgemeinen Direktwahl des Staatspräsidenten ausgeglichen werden.

De Gaulle ruft ein Referendum über diese Verfassungsmodifizierung aus, das am 28. Oktober 1962 mit 62% der abgegebenen Stimmen vom Volk angenommen wird.[1]

Die Verfassungsrevision von 1962 modifiziert lediglich Art. 6 und 7 der Verfassung von 1958, welche die Präsidentschaftswahl betreffen. Dennoch ändert sie das gesamte Verfassungsgefüge und bringt ein präsidentielles Element in die Verfassung ein. Laut Maurice Duverger wandelt die Reform das bis dahin parlamentarische System der V. Republik in ein semi-präsidentielles System um: „Ainsi a pris fin la République parlementaire établie depuis 1875.“ (Duverger 1990: 178).[2]

Insgesamt kann jedoch festgehalten werden, dass die Verfassungsrevision von 1962 die Vorrangstellung des französischen Staatspräsidenten verstärkt, indem er die gleiche demokratische Legitimität wie die Nationalversammlung erhält.

2.2. Die doppelköpfige Exekutive

2.2.1. Der Staatspräsident

2.2.1.1. Wahlmodus

Seit 1962 wird der französische Staatspräsident nach Art. 6 und 7 der Verfassung für sieben Jahre, seit 2002 für fünf Jahre, direkt vom Volk gewählt. Erhält keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen findet vierzehn Tage später eine Stichwahl zwischen den zwei Bestplatzierten statt. Gewählt ist, wer im zweiten Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Dieser Wahlmodus führt zu strategischem Wahlverhalten der Bürger: „…the voter chooses at the first ballot and eliminates at the second ballot….“ (Bell / Criddle 1988: 22).

Seit 1976 muss jeder Bewerber von 500 Mandatsträgern aus Parlament, Wirtschafts- und Sozialrat oder lokalen Mandatsträgern aus mindestens 30 verschiedenen Departments unterstützt werden, um unglaubwürdige Bewerber abzuhalten und die Zahl der Kandidaten zu begrenzen. Dem Verfassungsrat obliegt die Aufsicht über die ordnungsgemäße Durchführung der Präsidentschaftswahl. Bei allen bisherigen Wahlen hat kein Kandidat die im ersten Wahlgang erforderliche absolute Mehrheit erreicht. Die meist hohe Stimmbeteiligung bei allen Wahlgängen unterstreicht die Zufriedenheit der Bürger mit dieser Art direkter Einflussnahme (vgl. Carcassonne 1995: 34).

2002 wurde die Amtszeit des Staatspräsidenten von sieben auf fünf Jahre verkürzt. Die Einführung des so genannten “quinquennat“ stand seit Anfang der Siebziger Jahre zur Debatte, wurde jedoch erst im Herbst 2000 nach zustimmendem Referendum durchgesetzt. Die realpolitischen Auswirkungen der Reform stehen noch offen. Durch die Angleichung an den Wahlzyklus der Legislativwahlen ist jedoch eine Stärkung des Staatspräsidenten wahrscheinlich, da die Präsidentschaftswahlen vor den Legislativwahlen stattfinden und somit richtungweisend sind.

2.2.1.2. Status

„Car comment peut marcher la Constitution de 1958, et comment marche-t-elle? Très bien depuis sept ans. Elle marche grâce à un chef d’État qui n’appartient pas aux partis; qui n’est pas délégué par plusieurs d’entre eux, ni même, à forte raison, par tous; qui est là pour le pays; qui a été désigné, sans doute par les événements, mais qui, en outre, répond à quelque chose qui est commun à tous les Français, par-dessus les partis, et qui est leur intérêt commun, leur intérêt national.“ (de Gaulle zit. bei Passeron 1966: 136)

Der Verfassungstext nennt das Amt des Staatspräsidenten an zweiter Stelle unmittelbar nach dem Prinzip der Volkssouveränität. Dies drückt symbolisch die wahre Gewichtsverteilung innerhalb der doppelköpfigen Exekutive aus.

„Le président de la République doit être la clef de voûte de notre régime parlementaire“ (zit. bei Chagnollaud / Quermonne 2000: 290). Mit diesen Worten schildert Michel Debré die Rolle und den Status des Staatspräsidenten bei einer Rede am 27. August 1958, in welcher er die neue Verfassung vor dem Staatsrat erläutert. Der Präsident ist folglich der “Eckstein“ in der neuen Verfassungsordnung.

Laut Art. 5 wacht der Staatspräsident über die Verfassung. Er ist ein Schiedsrichter über den Parteien, der die nationale Einheit garantiert und über dem politischen Alltagsgeschäft steht. So sichert er das Funktionieren der öffentlichen Gewalten und die Kontinuität des Staates, garantiert die nationale Unabhängigkeit, die Unverletzlichkeit des Staatsgebietes und die Einhaltung der Abkommen über die Französische Gemeinschaft und die internationalen Verträge (vgl. Haensch / Tümmers 1998: 104).

Des Weiteren kann der Präsident nicht zur politischen Verantwortung gezogen werden. Dem monarchischen Prinzip des „le roi ne peut mal faire“ (Duverger 1990: 253) folgend muss er sich lediglich im Falle des Hochverrats nach Art. 68 der Verfassung vor dem Verfassungsrat verantworten.

Die verfassungsrechtlichen Befugnisse sind zwar wichtig für die Amtsausübung des Staatschefs, entscheidend für die präsidentielle Vorrangstellung ist hingegen weniger der Verfassungstext als vielmehr dessen Interpretation und die Verfassungspraxis de Gaulles. Wie in Kapitel 3 gezeigt werden soll, weitet der Staatspräsident seine Stellung innerhalb kürzester so erheblich aus, dass Yves Mény und Andrew Knapp zu dem Ergebnis kommen: „[…],from 1958 to 1986 […], no Western Head of State or Prime Minister – not even the President of the United States – held such extensive powers.“ (1998: 223).

2.2.1.3. Machtbefugnisse

Im Vergleich zu anderen demokratischen Regierungssystemen verfügt der französische Staatspräsident über weitreichende Machtbefugnisse. Diese lassen sich unterteilen in “pouvoirs propres“, Entscheidungen, die er ohne Zustimmung oder Initiative der Regierung treffen kann, und in “pouvoirs partagés“, also geteilten Zuständigkeiten, die dieser Zustimmung bedürfen.

Zu den allein getroffenen Machtbefugnissen gehört die Bildung der Regierung. Nach Art. 8 ernennt der Staatschef den Premierminister und auf dessen Vorschlag hin die übrigen Regierungsmitglieder. Entlassen kann er den Premierminister allerdings nur nach dessen vorherigem Rücktrittsangebot. In Zeiten gleichgerichteter parteipolitischer Mehrheiten von Staatspräsident und Nationalversammlung weicht die Verfassungspraxis hier jedoch erheblich vom Verfassungstext ab. In der Praxis agiert der Staatspräsident völlig frei bei der Auswahl des Kabinetts und der Entlassung von Regierungsmitgliedern (vgl. Chagnollaud / Quermonne 2000 b: 59).

Des Weiteren führt der Staatspräsident nach Art. 9 der Verfassung den Vorsitz im Ministerrat, legt somit dessen Tagesordnung fest und leitet die Beratungen der Regierung.

Er verkündet die Gesetze und hat die Möglichkeit den Verfassungsrat zu deren Überprüfung anzurufen oder die erneute Beratung eines Gesetzes in der Nationalversammlung herbeizuführen. Dieses suspensive Veto kann jedoch durch eine erneute Verabschiedung im Parlament aufgehoben werden (Art. 10, Art. 61).

Laut Art. 12 hat der Staatspräsident das Recht ohne Gegenzeichnung des Premierministers die Nationalversammlung aufzulösen. Zwar muss er zuvor die Stellungnahme des Premierministers und der Präsidenten der beiden Parlamentskammern einholen, diese sind jedoch nicht verbindlich. Dass er nur einmal pro Jahr auf dieses Mittel zurückgreifen darf, stellt die einzige Beschränkung dar.

Der Einsatz nuklearer Streitmächte obliegt ebenfalls dem Präsidenten. Ohne ministerielle Gegenzeichnung trifft er hier die finale Entscheidung, gestützt auf Art. 5 und 15 der Verfassung.

Auch im Notstandsfall gemäß Art. 16 nimmt der Staatspräsident eine herausragende Stellung ein und wird mit besonderen Vollmachten ausgestattet.

Als weitere “pouvoirs propres“ sind zu nennen das Recht Botschaften an das Parlament zu richten (Art. 18), das Initiativrecht bei Verfassungsänderungen (Art. 89) sowie die Ernennung hoher Staatsbeamter und Teile des Verfassungsrates (Art. 13, Art. 56).

Das Referendum hingegen kann gemäß Art. 11 nur auf Antrag der Regierung oder beider Parlamentskammern vom Präsidenten durchgeführt werden, fällt folglich in den Bereich der geteilten Machtbefugnis. Auch hier ist jedoch eine Diskrepanz zwischen Verfassungstext und –wirklichkeit festzustellen, da bisher alle Referenden vom Präsidenten angeregt wurden. Der Rückgriff auf den Volksentscheid stellt somit faktisch eine Vertrauensfrage des Präsidenten an das Volk auf nationalem Gebiet dar (vgl. Cayrol 1995: 99).

Alle sonstigen Befugnisse des Präsidenten unterliegen der Gegenzeichnungspflicht durch den Premierminister oder zuständigen Minister (Art. 19), die so die Verantwortung gegenüber dem Parlament übernehmen. Status und Machtbefugnisse des Premierministers und der Regierung werden deshalb im Folgenden kurz erläutert.

2.2.2. Der Premierminister und die Regierung

Der Premierminister wird laut Art. 8 vom Staatspräsidenten ernannt, welcher hierbei keinen formalen Beschränkungen unterliegt. Auf Vorschlag des Premiers designiert der Staatspräsident des Weiteren die Staatsminister. Wie bereits in Kapitel 2.2.1.3. dargestellt wurde, geht die Regierung somit aus dem Präsidenten hervor und verdankt ihm ihre politische Existenz. Diese, in der Verfassung nicht vorgesehene, politische Abhängigkeit wirkt sich direkt auf Funktion und Status des Premierministers und der Regierung aus (vgl. Pactet 2001: 380).

Der Verfassungstext sieht vielmehr die Interdependenz der Regierung zur französischen Nationalversammlung vor. Nach Art. 49 und 50 der Verfassung kann die Regierung von der Assemblée nationale entweder durch Misstrauensantrag oder per Verweigerung des Vertrauensvotums gestürzt werden. Infolgedessen ist die Regierung laut Verfassung nach einmaliger Ernennung durch den Staatspräsidenten vom Vertrauen des Parlaments abhängig. Einmal im Amt können Premierminister und Staatsminister laut Verfassung nur von der Nationalversammlung, jedoch nicht vom Staatschef entlassen werden. Die Regierungspraxis der V. Republik zeigt jedoch, dass alle bisherigen Premierminister aufgrund der politischen Abhängigkeit vom Staatspräsidenten auf dessen Willen hin zurückgetreten sind (vgl. Massot 1986: 287). Bisher ist nur ein Premierminister aufgrund eines Misstrauensantrags der Assemblée nationale zurückgetreten.[3]

Vordergründig herrscht ein machtpolitisches Gleichgewicht zwischen Staatspräsident und Regierung. Nach Art. 20 bestimmt und leitet die Regierung die Politik der Nation. Der Premierminister wiederum leitet nach Art. 21 die Tätigkeit der Regierung. Hierzu verfügt er über die Verwaltung und die bewaffnete Macht, also die Streitkräfte und Sicherheitsorgane. Der Premierminister ist an die Beschlüsse des Ministerrates gebunden und leitet die Regierungsgeschäfte auf Grundlage dieser Verfügungen (vgl. Baecque 1986: 294 f.).

Durch die eigenwillige Verfassungsinterpretation Charles de Gaulles, welche von seinen Nachfolgern so weitergeführt wird, erscheint jedoch der Staatspräsident und nicht der Premierminister als de facto Exekutivchef. Udo Kempf bezeichnet den Premier aufgrund dessen Abhängigkeit und Verantwortung vor dem Präsidenten als „ersten Mitarbeiter des Staatschefs“ (2007: 85) anstatt als Regierungschef. Im Folgenden soll gezeigt werden wie die doppelköpfige Exekutive auf Grundlage dieser Verfassungsbestimmungen und der tatsächlichen Verfassungspraxis konkret zusammenwirkt.

2.2.3. Das Zusammenwirken der doppelköpfigen Exekutive

Das Regierungssystem der V. Republik ist entscheidend geprägt durch das Nebeneinander von Staatspräsident und Premierminister. In Zeiten gleichgerichteter Mehrheiten bedeutet dies allerdings keine Doppelherrschaft an der Spitze des Staates sondern eine klare Hierarchie zugunsten des Staatspräsidenten. Wenn die Konditionen des mehrheitlichen Präsidentialismus erfüllt sind, etabliert sich laut Georges Vedel ein „leadership vigoureux et stable du chef réel de l’exécutif à la fois sur les membres du Gouvernement et sur la majorité des députés“ (2001: 34). Der Premierminister ist für den Staatspräsidenten eine zusätzliche politische Quelle an die er Teile seiner Angelegenheiten delegieren kann und fungiert somit oftmals als Sündenbock für unpopuläre Entscheidungen (vgl. Mabileau 1986: 188).

[...]


[1] De Gaulles Ausrufung eines Referendums ist jedoch verfassungswidrig, denn Verfassungsänderungen können nicht per Volksentscheid durchgesetzt werden, sondern bedürfen nach Art. 89 der Verfassung der Zustimmung beider Kammern des Parlaments. Aufgrund dessen stürzt die Nationalversammlung die Regierung unter Premier Georges Pompidou per Misstrauensvotum, woraufhin de Gaulle die Versammlung auflöst. Alle Parteien, außer den Gaullisten, schalten eine massive Propaganda gegen die Verfassungsänderung unterstützt von nahezu der gesamten Presse. Dennoch hat de Gaulle mit dem Referendum einen eindeutigen Erfolg und bei den anschließenden Legislativwahlen zur Nationalversammlung erhält die gaullistische Partei über 36% der abgegebenen Stimmen. Aufgrund dieses klaren Volksvotums beginnt bei den politischen Parteien ein Prozess völligen Umdenkens und Anpassens an die neuen Strukturen (vgl. Reif 1982: 4.13 f.).

[2] Zur Diskussion über die Einordnung des französischen Regierungssystems in die Typologie der Regierungssysteme sei hier vor allem auf die Werke von Maurice Duverger (1990) und Winfried Steffani (1997) verwiesen. Duverger steht für eine semi-präsidentielle Lesart der V. Republik. Für ihn ist neben der parlamentarischen Abberufbarkeit der Regierung die direkte Präsidentschaftswahl das entscheidende Kriterium. Er ordnet das französische Regierungssystem folglich als ein Mischsystem ein. Steffani hingegen sieht die parlamentarische Abberufbarkeit der Regierung als primäres Kriterium. Er befürwortet eine klare Zuordnung in parlamentarische oder präsidentielle Regierungssysteme und kritisiert Duvergers Konzept des Semi-Präsidentialismus. Steffani charakterisiert die V. Französische Republik als parlamentarisches System mit Präsidialdominanz.

[3] Am 02. Oktober 1962 spricht die Nationalversammlung Premierminister Georges Pompidou aufgrund der von Staatspräsident de Gaulle geplanten Verfassungsrevision mit 280 gegen 240 Stimmen das Misstrauen aus, und zwingt seine Regierung infolgedessen zum Rücktritt.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2007
ISBN (eBook)
9783836616607
Dateigröße
986 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn – Philosophische Fakultät
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,5
Schlagworte
frankreich verfassung regierungssystem französische republik parlament
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Titel: 'Party government' oder 'parti présidentiel'?
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