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Psychisch kranke Eltern, für Kinder (k)ein Problem?

Bewältigungsstrategien der Kinder und Unterstützungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit

©2007 Diplomarbeit 112 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
„Psychisch kranke Menschen... ja, die haben bestimmt auch Angehörige...“ Wenn von Angehörigen psychisch kranker Menschen die Rede ist, wird von Eltern, Geschwistern oder Partnern gesprochen. Psychisch kranke Menschen haben aber auch Kinder und diese Kinder sind vielfach minderjährig. Minderjährige Kinder sind sehr stark auf die Unterstützung und Begleitung durch ihre Eltern angewiesen. Nicht immer sind Eltern in der Lage, sich ständig um ihre Kinder zu kümmern. Sie müssen einer Erwerbstätigkeit nachgehen, üben Freizeitaktivitäten aus oder sind vielleicht auch einmal krank. Wenn die Mutter oder der Vater mit einem Schnupfen oder einer Grippe im Bett liegt, sind die Großeltern schnell zur Stelle oder die Nachbarn kümmern sich einen Tag um das Kind. Aber wie sieht es aus, wenn ein Elternteil keine Grippe hat, sondern eine psychische Erkrankung? Wie gestaltet sich dann die Betreuung der Kinder? „Psychisch krank“ bedeutet nicht zwangsläufig, dass z.B. die Mutter gar nicht mehr in der Lage ist sich um die Kinder zu kümmern. Jedoch treten akute Krisen auf, in denen sie evtl. über einige Zeit stationär behandelt werden muss. Wo bleiben in dieser Situation die Kinder und wie sieht es mit Säuglingen und Kleinkindern aus? Würde eine stationäre Mutter-Kind-Behandlung zu Verfügung stehen? Ob und inwieweit sich diese Form der Behandlung bis heute durchgesetzt hat und welche Funktion sie in Bezug auf die Mutter-Kind-Beziehung hat, wird in diesem Buch erörtert. Außerdem werden verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten anhand von Modellprojekten vorgestellt.
Da die Erwachsenenpsychiatrie intensiv mit psychisch kranken Eltern arbeitet, besteht hier für Sozialarbeiterinnen die Möglichkeit Kontakt zu diesen aufzunehmen. Die Jugendhilfe ist für alle Belange die Kinder und Jugendliche betreffen zuständig. Hier sehe ich Möglichkeiten die Kinder und ihre Familie bei der Bewältigung einer psychischen Erkrankung zu unterstützen. Deshalb gehe ich in Bezug auf Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern insbesondere auf den Bereich der Erwachsenenpsychiatrie und der Jugendhilfe ein. In diesem Kontext stellt sich die Frage nach dessen Aufgabenbereichen, Handlungsmustern und inwieweit eine kooperative Zusammenarbeit stattfindet oder stattfinden kann. Anhand einer Darstellung der Konfliktfelder im Bereich einer kooperativen Arbeit zwischen der Erwachsenenpsychiatrie und der Jugendhilfe sollen Schwierigkeiten deutlich werden. Ebenso werden […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Yvonne Behla
Psychisch kranke Eltern, für Kinder (k)ein Problem?
Bewältigungsstrategien der Kinder und Unterstützungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit
ISBN: 978-3-8366-1478-8
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2008
Zugl. Fachhochschule Hannover, Hannover, Deutschland, Diplomarbeit, 2007
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2008
Printed in Germany

1
1.
Einleitung
1
Anmerkungen
und
Definitionen
6
2.
Psychische Erkrankungen im Kontext der Familie
8
2.1
,,Kinder psychisch kranker Eltern" ­ Vorkommen und Häufigkeit
8
2.2
Psychische
Erkrankungen
und
Stigmatisierung
13
2.3
Psychische Erkrankungen sind Familienerkrankungen
21
2.4
Tabuisierung
und
Isolation
24
3.
Auswirkungen psychotischer Erkrankungen auf die Lebenssituation
der
Kinder
26
3.1
Unmittelbare und Folgeprobleme durch die psychische
Erkrankung 26
3.2
Die
Mutter-Kind-Beziehung
29
3.3
Die Beziehung des Kindes zum erkrankten Elternteil
34
3.4
Störungen in der kindlichen Entwicklung
37
3.5
Risikofaktoren in Bezug auf die psychische Erkrankung
38
4.
Bewältigungsstrategien
der
Kinder 42
4.1
Spezifisches Bewältigungsverhalten der Kinder
42
4.2
Resilienz
46
4.2.1 Ein konzeptueller Leitfaden von WALSH
48
4.2.2
Die
Kauai-Studie
49
4.2.3
Protektive
Faktoren
50
4.3
Die
Bedeutung
von
Ressourcen
54
5.
Beispiele der Unterstützung durch Modellprojekte in Deutschland
56
5.1
Modellprojekt
AURYN 56
5.2
Patenschaften für Kinder psychisch kranker Eltern in Hamburg
57
5.3
Präventionsangebot
KIPKEL
59
6.
Psychisch kranke Eltern und ihre Kinder als Zielgruppen der
Jugendhilfe
und
Erwachsenenpsychiatrie 62
6.1
Die Jugendhilfe in Deutschland
62
6.1.1 Aufgaben und Leistungen der Jugendhilfe/des Jugendamtes
nach
dem
SGB
VIII
63
6.1.2 Umsetzungsschwierigkeiten der Hilfen und Angebote
71

2
6.2
Das
Handlungsfeld
Erwachsenenpsychiatrie 75
6.2.1
Aufgaben
und
Leistungen
75
6.2.2 Angebote der Psychiatrie in Bezug auf die Kinder
77
6.2.3
Stationäre
Mutter-Kind-Behandlung
78
7.
Das Spannungsfeld Erwachsenenpsychiatrie und Jugendhilfe
84
7.1
Die verschiedenen Spannungsfelder von Jugendhilfe und
Erwachsenenpsychiatrie
84
7.2
Betrachtungsweisen und Positionen der Institutionen
87
7.3
Zur Kooperation der Handlungssysteme
und
Kooperationsaufforderungen
88
8.
Schlussbetrachtung
92

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
3
1. Einleitung
,,Psychisch kranke Menschen... ja, die haben bestimmt auch Angehörige..." Wenn
von Angehörigen psychisch kranker Menschen die Rede ist, wird von Eltern,
Geschwistern oder Partnern gesprochen. Psychisch kranke Menschen haben aber
auch Kinder und diese Kinder sind vielfach minderjährig. Minderjährige Kinder sind
sehr stark auf die Unterstützung und Begleitung durch ihre Eltern angewiesen.
Nicht immer sind Eltern in der Lage, sich ständig um ihre Kinder zu kümmern. Sie
müssen einer Erwerbstätigkeit nachgehen, üben Freizeitaktivitäten aus oder sind
vielleicht auch einmal krank. Wenn die Mutter oder der Vater mit einem Schnupfen
oder einer Grippe im Bett liegt, sind die Großeltern schnell zur Stelle oder die
Nachbarn kümmern sich einen Tag um das Kind. Aber wie sieht es aus, wenn ein
Elternteil keine Grippe hat, sondern eine psychische Erkrankung? Wie gestaltet
sich dann die Betreuung der Kinder? ,,Psychisch krank" bedeutet nicht
zwangsläufig, dass z.B. die Mutter gar nicht mehr in der Lage ist sich um die
Kinder zu kümmern. Jedoch treten akute Krisen auf, in denen sie evtl. über einige
Zeit stationär behandelt werden muss. Wo bleiben in dieser Situation die Kinder
und wie sieht es mit Säuglingen und Kleinkindern aus? Würde eine stationäre
Mutter-Kind-Behandlung zu Verfügung stehen? Ob und inwieweit sich diese Form
der Behandlung bis heute durchgesetzt hat und welche Funktion sie in Bezug auf
die Mutter-Kind-Beziehung hat, wird in diesem Buch erörtert. Außerdem werden
verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten anhand von Modellprojekten
vorgestellt. Da die Erwachsenenpsychiatrie intensiv mit psychisch kranken Eltern
arbeitet, besteht hier für Sozialarbeiterinnen die Möglichkeit Kontakt zu diesen
aufzunehmen. Die Jugendhilfe ist für alle Belange die Kinder und Jugendliche
betreffen zuständig. Hier sehe ich Möglichkeiten die Kinder und ihre Familie bei der
Bewältigung einer psychischen Erkrankung zu unterstützen. Deshalb gehe ich in
Bezug auf Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern insbesondere auf den Bereich
der Erwachsenenpsychiatrie und der Jugendhilfe ein. In diesem Kontext stellt sich
die Frage nach dessen Aufgabenbereichen, Handlungsmustern und inwieweit eine
kooperative Zusammenarbeit stattfindet oder stattfinden kann. Anhand einer
Darstellung der Konfliktfelder im Bereich einer kooperativen Arbeit zwischen der
Erwachsenenpsychiatrie und der Jugendhilfe sollen Schwierigkeiten deutlich
werden. Ebenso werden unterschiedliche Betrachtungsweisen und bestehende
Vorurteile der jeweiligen Handlungssysteme beispielhaft angeführt.

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
4
In welcher Weise und in welchem Kontext der erste Kontakt zu den Kindern
psychisch kranker Eltern stattfindet und ob die Kinder zu diesem Zeitpunkt schon
einen starken Einflüssen durch die psychische Erkrankung der Eltern ausgesetzt
sind, wird in der vorliegenden Arbeit untersucht.
Im Laufe meines Studiums habe ich mich zunehmend mit der Zielgruppe
,,psychisch kranke Menschen" beschäftigt. Im Rahmen des Hauptstudiums legte
ich meinen Schwerpunkt auf den Bereich ,,Sozialpsychiatrie". Hier kam ich erstmals
mit dieser Zielgruppe in Kontakt. Zuvor habe ich mich vorwiegend mit Kindern,
deren Entwicklung, deren Erleben und Lebenswelten beschäftigt. Nie tauchte das
Thema ,,psychisch kranke Eltern" auf, obwohl ich in meiner Tätigkeit als Erzieherin
ständig Kontakt mit Kindern und ihren Eltern hatte.
In der Projektpraxis bei FIPS e.V. (Kontaktstelle für psychisch kranke Menschen)
während des Studiums erfuhr ich in einem Gespräch mit einer Klientin, dass sie
einen 18 jährigen Sohn hat. Sie berichtete mir, dass sie niemals Hilfen für das Kind
in Anspruch genommen hat und zudem nicht wüsste, welche
Unterstützungsmöglichkeiten es überhaupt gibt. Dieses Gespräch war für mich der
Anlass mich intensiv mit diesem Thema zu beschäftigen.
Im Rahmen der Anfertigung dieses Buches wird untersucht, wie viele Kinder in
Deutschland ein oder zwei psychisch kranke Elternteile haben und ob sie bei ihren
Eltern leben. Wie gestaltet sich das Zusammenleben mit einem psychisch kranken
Elternteil? Wie wirkt sich die Erkrankung auf die Lebenssituation und die
Entwicklung der Kinder aus und wie erleben sie diese. Die konkreten Strategien,
die diese Kinder wählen oder vielmehr die ihnen zur Verfügung stehen um ihre
spezielle Lebenssituation zu bewältigen, werden in einem gesonderten Kapitel
thematisiert. Hier gehe ich zudem der Frage nach, welche familiären
Bewältigungsmuster dazu beitragen, Konflikte in der Familie zu bearbeiten und zu
bewältigen. Besonders wichtig für die Arbeit als Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin
ist die Frage, was sich hieraus für die Gestaltung der Hilfssysteme ableiten lässt.
Eine sehr zentrale Frage, die für die sozialpädagogische Arbeit nicht unbedeutend
ist, ist die nach den Kindern, die eine psychische Erkrankung der Eltern
,,unbeschadet" überstehen obwohl sie zu einer Risikogruppe gehören.
Entsprechend der Untersuchung von MATTEJAT (vgl. 2001, S.75) entwickeln 90%
der Kinder von psychisch kranken Menschen keine Psychose. Hier gilt es zu
untersuchen, was diese Entwicklung begünstigt und welche Faktoren und
Ressourcen dafür verantwortlich sind, dass die Mehrzahl der Kinder selbst nicht

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
5
psychotisch wird und dadurch ,,alles unbeschadet übersteht". Auch hier soll
herausgefunden werden, welche Möglichkeiten der Sozialen Arbeit bestehen, um
diese Faktoren zu fördern.
Des Weiteren stellt sicht die Frage, ob die vorhandenen Möglichkeiten ausreichen
und angemessen sind oder ob das Versorgungssystem für Kinder und ihre
Familien ausgebaut und verbessert werden muss. Bietet das SGB VIII Leistungen
an, die in Bezug auf die Kinder psychisch kranker Eltern eingesetzt werden?
Werden diese Angebote von Familien genutzt, wie können Hilfen zur Erziehung für
Kinder zugänglich gemacht werden?
Aus denn vorangegangenen Beschreibungen lässt sich folgende Frage ableiten:
Welche Handlungsimplikationen ergeben sich für die Sozialarbeit in der
Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie, um minderjährige Kinder mit
einem psychisch kranken Elternteil bei der Bewältigung ihrer spezifischen
Lebenssituation unterstützen zu können?

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
6
Anmerkungen und Definitionen:
Ich werde meine Ausführungen in diesem Buch auf Säuglinge, Kleinkinder und
Grundschulkinder beziehen. Das heutige Alltagsverständnis unterscheidet wie
folgt: Neugeborene (Geburt bis zum 10. Lebenstag), Säugling (11. Lebenstag bis
12. Lebensmonat), Kleinkind (2. bis 5. Lebensjahr) und Schulkind (6. bis 14.
Lebensjahr) (vgl. Stimmer 2000, S.376). Ein Zitat soll die Unterscheidung von
Kindern im Alter von 6 bis 14 Jahren festlegen:
,,Der Eintritt in die Grundschule bedeutet für die 6 bis 7jährigen einen
deutlichen biographischen Einschnitt und wird deshalb allgemein als
Beginn einer neuen Kindheitsphase angesehen. Für diese Phase hat sich
die Vorstellung einer Altersspanne von 6-12 Jahren und die Bezeichnung
mittlere Kindheit eingebürgert. Es ist sinnvoll, diese Phase noch einmal in
die Altersgruppe der Grundschulkinder (6-9/10 Jahre) und der älteren
Kinder oder Kids (9-bis 14jährige) zu unterteilen." (Böhnisch 1992, S.129)
Zudem sind immer Kindern gemeint, die mit ihrem Eltern oder einem Elternteil im
gemeinsamen Haushalt leben. Spreche ich von ,,psychisch kranken Eltern", so
meine ich Menschen, die an einer Schizophrenie oder an Depressionen erkrankt
sind. Zudem gehe ich immer von einem erkrankten Elternteil aus. Auch werde ich
überwiegend die Mutter als psychisch kranken Elternteil benennen. Die
Begründung ergibt sich im Verlaufe der Arbeit.
Definition: Lebensweltorientierung
,,Das Konzept der Lebenswelt ­oder Alltagsorientierung ­ im Folgenden
synonym gebraucht ­ kann als eine der zentralen Theorieströmungen
verstanden werden, die die Entwicklung der Sozialen Arbeit in Theorie und
Praxis seit den 70er Jahren mitgeprägt haben. Lebensweltorientierung
bezeichnet sowohl ein Rahmenkonzept sozialpädagogischer
Theorieentwicklung als auch eine grundlegende Orientierung
sozialpädagogischer Praxis, die sich in sozialpolitischen und rechtlichen
Rahmenbedingungen (...), in institutionellen Programmen und
Modellentwicklungen (...) sowie in Konzepten sozialpädagogischen
Handelns konkretisiert. (...) Das Konzept Lebensweltorientierte Soziale
Arbeit verweist auf die Notwendigkeit einer konsequenten Orientierung an

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
7
den AdressatInnen mit ihren spezifischen Selbstdeutungen und
individuellen Handlungsmustern in gegebenen gesellschaftlichen
Bedingungen. Daraus ergeben sich sowohl Optionen wie auch
Schwierigkeiten. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit nutzt ihre rechtlichen,
institutionellen und professionellen Ressourcen dazu, Menschen in ihren
vergesellschafteten und individualisierten Alttag zu Selbständigkeit,
Selbsthilfe und sozialer Gerechtigkeit zu verhelfen." (Grundwald/Thiersch
2005, S.1136)
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwende ich in diesem Buch durchgängig
die weibliche Form und meine damit immer beide Geschlechter.

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
8
2. Psychische
Erkrankungen
im Kontext der Familie
Im nachfolgenden Abschnitt untersuche ich zunächst anhand aktueller Daten, wie
viele Kinder einen erkrankten Elternteil haben und ob sie bei ihren Eltern leben.
Ebenso stellt sich die Frage, ob eher Mütter oder Väter psychisch krank sind und
welche Störungen bei ihnen am häufigsten auftreten. Anschließend werde ich die
für diese Arbeit relevanten psychischen Erkrankungen beschreiben und mich auf
deren Erscheinungsformen konzentrieren. Um herauszufinden, welche
Auswirkungen eine psychiatrische Diagnose auf den Betroffenen und sein soziales
Umfeld hat, setze ich mich mit der Stigmatisierung psychisch kranker Menschen
auseinander. Des Weiteren soll in diesem Kapitel skizziert werden, wie sich eine
psychische Erkrankung auf das Familiensystem auswirkt, insbesondere auf das
emotionale Klima in der Familie. Daneben stellt sich die Frage, inwieweit
spezifische Belastungen entstehen und ob es zu Störungen im Bereich der
Kommunikation kommt.
2.1
,,Kinder psychisch kranker Eltern" ­ Vorkommen und Häufigkeit
In diesem Teil der Arbeit wird anhand zweier Studien die Elternschaftsrate bei
psychisch kranken Menschen, deren Diagnosen und die Anzahl ihrer Kinder
dargestellt.
In Deutschland leben derzeit etwa 500 000 minderjährige Kinder, die psychisch
kranke Eltern haben (vgl. Lisofsky 2004, S.26). Die Angaben zu diesen Eltern mit
minderjährigen Kindern variieren zwischen 9% und 61%. Die enorme Differenz ist
darauf zurückzuführen, dass in den wenigen kontrollierten Studien verschiedene
Populationen untersucht wurden. Entweder wurden nur bestimmte
Diagnosegruppen, nur weibliche Patienten oder nur Frauen einbezogen, die mit
ihren Kindern zusammen lebten. Zahlen zur Vaterschaft liegen derzeit kaum vor
(vgl. Lenz 2005, S.33). Weshalb ich mich in meinen Darstellungen überwiegend
auf erkrankte Mütter beziehe.
Obwohl schon BLEULER 1972 eine umfangreiche Untersuchung durchführte, in
der psychisch kranke Eltern ermittelt wurden, wird dieses Thema erst seit einigen
Jahren in der Fachöffentlichkeit ausführlicher diskutiert. In dieser Studie wurden
Daten zur psychischen Störungen der Kinder, den Partnern der erkrankten
Elternteile, zur sozialen Stellung der Kinder und deren Leid erhoben (vgl. Bleuler

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
9
1972, S.436ff.). Im Zusammenhang mit dem Kongress des Bundesverbandes der
Angehörigen psychisch Kranker und in Zusammenarbeit mit dem Dachverband
Psychosozialer Hilfsvereinigungen ,,Hilfen für Kinder psychisch Kranker" wurden
erstmals im Dezember 1996 die Belange und Probleme von Kindern psychisch
kranker Eltern umfassend in der Fachöffentlichkeit erörtert (vgl.
Wagenblass/Schone 2001, S.581).
Heute wird u.a. diskutiert, dass ein bestehender Handlungsbedarf in den
verschiedenen Versorgungsbereichen vorhanden ist. Dabei spielen die Jugendhilfe
und die Erwachsenenpsychiatrie eine bedeutende Rolle (vgl. Schmitt-
Schäfer/Lisofsky 2000, S. 11). Aus diesem Grunde habe ich mich dafür
entschieden, in den letzten Teilen dieser Arbeit diese Handlungssysteme genauer
zu thematisieren.
GRUBE/DORN (vgl. 2007, S.66ff.) führten 2005 im ersten Quartal eine
Untersuchung zur Elternschaft psychisch kranker Menschen mit 438 Patienten im
Alter bis zu 60 Jahren durch. Es wurden alle ambulant, tagesklinisch oder stationär
behandelten Patienten bis zu einem Alter von 60 Jahren in Frankfurt befragt:
Untersuchte Gruppe insgesamt
438 Patienten
Hauptdiagnosen insgesamt
Schizophrenie
43,60%
affektive Störungen
19,40%
Persönlichkeitsstörungen, Neurosen, Reaktionen
16,40%
Suchterkrankungen 15,30%
hirnorganische Störungen
5,30%
Elternschaft
44,10%
Mütter insgesamt
54,60%
Väter insgesamt
33,80%
Elternschaft bei minderjährigen Kindern
26,50%
Mütter von minderjährigen Kindern
34,30%
Väter von minderjährigen Kindern
20,60%
Eltern, die mit ihren Kindern zusammen leben
23,50%
Mütter, die mit ihren Kindern zusammen leben
14,80%
Väter, die mit ihren Kindern zusammen leben
8,70%
Tabelle 1: Hauptdiagnosen/Elternschaft/Zusammenleben (vgl. Grube/Dorn 2007, S.68)
Anzahl der Kinder insgesamt
375
Anzahl minderjähriger Kinder
197
Anzahl der Kinder, die mit ihren Eltern leben
184
Anzahl der mit den Eltern zusammenlebenden minderjährigen Kinder
119
Anzahl der selbständig lebenden Kinder
114
Anzahl der in anderen Institutionen lebenden Kinder
77

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
10
Anzahl leiblicher Kinder
369
Anzahl behinderter oder kranker Kinder
20
Diagnosen bei Eltern
Elternschaftsrate bei schizophren Erkrankten
31,90%
Mütter
32,30%
Väter
14,60%
Elternschaft bei affektiv Erkrankten
69,40%
Mütter
41,20%
Väter
28,20%
Familienstand bei Eltern
feste Partnerschaft/verheiratet
76,7%
Mütter
45,9%
Väter
30,8%
getrennt lebend/geschieden
67,3%
Mütter
42,6%
Väter
24,70%
primär allein lebend
2,30%
Mütter
2,30%
Väter
0,00%
verwitwet
60,00%
Mütter
33,30%
Väter
26,70%
Tabelle 2: Anzahl der Kinder/ Diagnosen/Familienstand (vgl. Grube/Dorn 2007, S.68)
In dieser Tabelle sind Persönlichkeitsstörungen, Reaktionen und Neurosen nicht
aufgeführt, da ich mich in dieser Arbeit hauptsächlich mit den Diagnosen im
Bereich der Schizophrenie und affektiven Störungen beschäftige. Ebenso wurde
der Migrationseinfluss nicht mit aufgeführt, da dieser nicht gesondert diskutiert
wird.
Aus der Untersuchung geht eindeutig hervor, dass fast die Hälfte der Patientinnen
Eltern sind. Die am häufigsten gestellte Diagnose bei Eltern sind affektive
Störungen. Von der untersuchten Gruppe sind etwa 20% mehr Mütter als Väter
psychisch krank. Ebenso wird bei Müttern häufiger eine schizophrene oder
affektive Störung diagnostiziert. Die Unterschiede liegen bei ca. 20%. Mütter leben
häufiger getrennt vom Partner als umgekehrt, aber gleichsam öfter in festen
Beziehungen.
Wie konkret das Zusammenleben psychischer kranker Mütter und Väter mit ihren
Kindern aussieht und wieviele Kinder bei ihnen leben zeigte sich in der Studie von
GRUBE/DORN wie folgt:

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
11
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
ohne
Kinder
2
Kinder
4
Kinder
Patienten, die im
eigenen Haushalt
leben
Abbildung 1: Zusammenleben mit Kindern
(vgl. Grube/Dorn 2007, S.69)
Hier wird deutlich, dass etwa die Hälfte der Kinder (55,3%) zu Hause leben. Die
Patienten, die an der Erhebung teilnahmen, hatten 1-5 Kinder. Mit steigender
Kinderzahl verringert sich die Anzahl derer, die im Haushalt des erkrankten
Elternteils leben. Die andere Hälfte (44%) der Kinder lebt außerhalb des
Haushaltes des erkrankten Elternteils (vgl. Grube/Dorn 2007, S.69).
Eine weitere Untersuchung von SCHONE/WAGENBLASS (vgl. 2002, S.71) zeigt,
dass von Eltern, die in das psychiatrische Versorgungssystem kamen, 41,2% an
Schizophrenie erkrankten und 35,9% an Depressionen. Anders waren die Zahlen
der Erhebung bei niedergelassenen Ärzten. Hier standen die Depressionen mit
35,7% an erster Stelle und Schizophrenie und Persönlichkeitsstörungen mit je
17,9% an zweiter Stelle. SCHONE/WAGENBLASS (vgl. 2002, S.62ff.) haben
insgesamt 2.717 Personen, die das psychiatrische Versorgungsnetz in Bielefeld
und Warendorf im Befragungszeitraum in Anspruch genommen haben, untersucht.
Die Untersuchung fand in der stationären Psychiatrie, in Tageskliniken,
Institutsambulanzen, in der ambulanten Betreuung und in Wohnheimen statt.
Niedergelassene Nervenärzte sind ausgenommen. 12,2% der Eltern hatten
minderjährige Kinder. Die Ergebnisse dieser Analyse verdeutlichen, dass
Elternschaft eine besondere Bedeutung im Zusammenhang mit psychischen
Erkrankungen hat. Zwei fünftel aller Patienten waren Eltern, etwa die Hälfte der
Kinder leben bei den Eltern im Haushalt, zwei drittel davon sind minderjährig (vgl.
Schone/Wagenblass 2002, S.62ff.). Das folgende Diagramm zeigt, wo die Kinder
im Falle einer psychischen Erkrankung eines Elternteils leben:

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
12
0
10
20
30
40
50
60
erkrankte
Mutter
erkrankter Vater
bei der
Mutter
lebend
mit beiden
Elternteilen
Abbildung 2: Zusammenleben mit/ohne erkrankten Elternteil
(vgl. Schone/Wagenblass 2002, S.78)
Die Abbildung zeigt, dass die Kinder entweder bei der Mutter leben oder bei beiden
Elternteilen. In keinem der untersuchten Fälle leben die Kinder beim Vater. Ebenso
ist zu erkennen, dass die Kinder weitaus häufiger in ihrer Kernfamilie leben und
weniger bei ihrer allein erziehenden Mutter. Des Weiteren wird hier deutlich, dass
die Eltern seltener getrennt voneinander leben, wenn der Vater psychisch krank ist.
Die Zahl der Kinder, die bei der allein erziehenden Mutter leben ist jedoch
überdurchschnittlich hoch (32,4%), wenn der Vater psychisch krank ist.
Ebenso fanden SCHONE/WAGENBLASS (vgl. 2002, S.78) heraus, je jünger die
Kinder sind, desto öfter leben sie mit beiden Elternteilen in einem Haushalt (62,9%
der unter Sechsjährigen). Ältere Kinder leben, wenn die Mutter psychisch krank ist,
in 14,7% der Fälle bei dem Vater oder zu 16,2% ganz ohne Eltern (über
Zwölfjährige in Pflegefamilien, Heimen, bei der Verwandtschaft). Demzufolge
unterscheidet sich die Lebenssituation von Kindern psychisch kranker Väter
signifikant von der Lebenssituation Kinder psychisch kranker Mütter. Ebenfalls
unterscheidet sich die Situation der jüngeren Kinder von der der älteren Kinder.
Das Alter der Kinder und das Geschlecht der Eltern sind somit wesentliche
Einflussfaktoren auf die Lebenssituation der Kinder (vgl. Schone/Wagenblass
2002, S.78ff.).
Zu erkennen ist, dass die angeführten Ergebnisse der Studien unterschiedliche
Zahlen aufweisen. Für diese Arbeit ist allerdings nur relevant, welche psychischen
Erkrankungen bei Eltern die Häufigsten sind und dies geht aus den Erhebungen
eindeutig hervor. Schizophrenie und Depressionen stehen immer an erster und
zweiter Stelle, weshalb sie im Zentrum meiner Betrachtung stehen.

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
13
Neuere Forschungen zeigen, dass Frauen später erkranken als Männer. Männer
erkranken am häufigsten im Alter von 20 bis 24 Jahren und Frauen erst zwischen
dem 25. und 30. Lebensjahr (vgl. Dörner 2002, S.171). Psychisch kranke Männer
gründen deshalb seltener eine Familie als psychisch kranke Frauen (vgl.
Schone/Wagenblass 2002, S.68ff.). Dies können Gründe für die festgestellten
Unterschiede zwischen Frauen/Mütter und Männern/Vätern sein.
Für dieses Buch ist nur relevant, ob psychisch kranke Menschen Eltern sind und
ob ihre Kinder zum größten Teil bei ihnen leben. Dies geht aus allen Studien
hervor, auch wenn die Daten der beiden Studien nicht identisch sind.
Im Folgenden wird es darum gehen, die Erscheinungsformen und Symptome zu
benennen, die im Zuge der Erkrankungen auftreten können. Welche Wirkung eine
psychiatrische Diagnose haben kann, wird im nachfolgenden Abschnitt erläutert.
2.2
Psychische Erkrankungen und Stigmatisierung
In diesem Abschnitt beschreibe ich die Krankheitsbilder, um die es sich in den
meisten Fällen psychisch kranker Eltern handelt. Hier möchte ich nur auf die
Erscheinungsformen eingehen und weder Ursachen, noch
Behandlungsmöglichkeiten beschreiben. Kinder nehmen in erster Linie die
Veränderungen im Verhalten der Eltern war, was mich dazu veranlasst Symptome
der relevanten psychischen Störungen anzuführen.
,,Die Definition von ,,psychischer Krankheit" selbst stellt einen kaum endenden
Diskussionsprozess dar. In den 70er Jahren wurde mit der ,,Etikettierungstheorie"
im Rahmen der Antipsychiatriebewegung viel Bewusstseinsarbeit geleistet. Der
soziale Zuschreibungsprozess einer Diagnose wurde dabei hervorgehoben."
(Pretis/Dimova 2004, S.37). Der Labeling-Ansatz ist eine der frühen
sozialpsychiatrischen Theorien, die Vorstellungen zur Entstehung psychischer
Störungen benennen. Zunächst beschäftigte sich dieser Ansatz im Bereich der
Soziologie mit abweichendem Verhalten. In den 50er Jahren spielte er in den USA
eine bedeutende Rolle bei der Erforschung von Jugendkriminalität. Der
amerikanische Sozialwissenschaftler SCHEEF (vgl. 1972) hat den Labeling-Ansatz
mit seinem Buch ,,Etikett Geisteskrankheit" auf den Bereich der Psychiatrie
übertragen. In Deutschland übertrug KEUPP (vgl. 1972) die Etikettierungstheorie
mit seinem Buch ,,Psychische Krankheit als abweichendes Verhalten" auf den
Bereich der Psychiatrie. Die Labeling Theoretiker behaupten, dass nicht die

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
14
Störung zu einem Etikett führe, sondern dass Etikett zur Störung (vgl. Finzen 2000,
S.75). Auf die Auswirkungen der Etikettierung und Stigmatisierung gehe ich im
Anschluss an die Beschreibung der Störungsbilder ein.
Der Begriff der psychischen Krankheit bzw. Gesundheit wird wie folgt beschrieben
(Pretis/Dimova 2004, S.37):
Gesundheit und Krankheit werden auf einem Kontinuum angesiedelt. Es
gibt fließende Übergänge, die zeitlich variabel sein können
Sie stellen ein interaktives Konstrukt dar, welches die Kommunikation
zwischen Menschen lenkt. Allein die Zuschreibung ,,psychisch krank"
verändert die Kommunikation.
Krankheit und Gesundheit bezieht sich auf Teilbereiche menschlichen
Denkens, Erlebens und Fühlens, weshalb immer auch gesunde
Persönlichkeitsanteile vorhanden sind.
Das Etikett ,,psychisch krank" ist in einem enormen Maße stigmatisierend
und erscheint ,,tabuisiert". Hiermit gehen soziale Bewertungen einher.
Ob sich Symptome einer psychischen Erkrankung und das Erleben in einer
krisenhaften Situation des Betroffenen unmittelbar und im direkten Kontakt mit den
Kindern zeigt und ob diese einen Einfluss auf das Erleben der Kinder haben, soll in
einem späteren Kapitel diskutiert werden.
Krise wird hier ,,(...)als ein wiederkehrendes Lebensereignis verstanden,
das durch die gewohnten und gelernten Bewältigungsstrategien nicht
ausreichend in das bisherige Lebenskonzept integriert werden kann. Das
Individuum ist in Krisenzeiten bereit zu lernen, Neues auszuprobieren und
auch Unterstützung anzunehmen, weil die eigenen Deutungs- und
Handlungsmuster sich als unzureichend erwiesen haben(...)" (Szylowicki
2006, S.106ff).
In diesem Buch werde ich mich auf die Störungen aus dem Bereich der Psychosen
beziehen und körperlich begründbare Psychosen ausklammern. Ich richte mich im
Allgemeinen nach den Diagnosekriterien und Symptombeschreibungen des ICD-
10 (International Classification of Diseases). Der ICD-10 wurde im Rahmen der

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Weltgesundheitsorganisation erarbeitet und ist inzwischen mehrfach modifiziert
(vgl. Bosshard u.a. 1999, S.27).
Psychosen sind schwerwiegende psychische Erkrankungen, deren
hervorstechendes Merkmal eine Störung des Realitätsbezuges ist. Darüber hinaus
sind weitere Symptome charakteristisch für eine Psychose. Diese haben nicht nur
für den Betroffenen selbst massive Folgen, sondern ebenso für seine direkte
Umgebung (vgl. Remschmidt/Mattejat 1994, S.11). Der Psychosebegriff kann
jedoch nicht allgemeingültig definiert werden, weshalb in der ICD-10 der
Psychosebegriff aufgegeben wurde und nun von schizophrenen und affektiven
,,Störungen" gesprochen wird (ebd.).
Schizophrenie: DÖRNER u.a. (vgl. 2002, S.153) gehen davon aus, dass es die
Schizophrenie nicht gibt. Jeder Betroffene entwickelt seine ganz eigene
Schizophrenie, die entstehen kann, wenn die Betroffenen überdurchschnittlich
stark auf Belastungen reagieren. Die Reaktionsweisen können sich dann in Angst,
Verwirrung, Spannung, Denkstörungen, sowie in Form von Halluzinationen und
Wahn zeigen. Es gibt jedoch keine Formen des Ausdruckes, die als typisch
schizophren bezeichnet werden können. Für eine Schizophrenie sind jedoch
ausgeprägte Störungen der Wahrnehmung, dem Denken und den Affekten
signifikant (vgl. Dörner u.a. 2002, S.153). Intellektuelle Fähigkeiten und die
Bewusstseinsklarheit sind normalerweise nicht beeinträchtigt. Allerdings können
sich im Laufe der Zeit kognitive Defizite entwickeln (vgl. Dilling/Freyberger 2006,
S.89).
Die Person, das Ich, das Selbst, Andere und die Welt haben keine Grenzen mehr
oder die Grenzen verschwimmen. In der Zeit, in der ein Mensch schizophren
handelt, versucht er sich zu entwickeln und gegenteilig, sich nicht zu entwickeln.
Es stellt sich zumeist eine ausgeprägte Verletzlichkeit ein, aber auch ein Verhalten,
was verletzlich für andere sein kann (vgl. Dörner 2002, S.155ff.). Des Weiteren
werden folgende Symptome genannt: Eine gestörte Wahrnehmung (Wahrnehmen
von Bedrohungen, Gefühle der Verfremdung/Depersonalisation der eigenen
Person, Derealisation/Verfremdung der Umwelt); akustische, haptische oder
optische Halluzinationen (ebd.); Störungen der Denkabläufe (u.a. Eingebungen,
Ausbreitung und Lautwerden von Gedanken); (vgl. Dilling/Freyberger 2002, S.90)
Ebenso können Wahnideen, Wahnvorstellungen und Wahnbildungen (z.B.
Beziehungs-, Beeinflussungswahn oder Verfolgungswahn) auftreten (vgl. Dörner

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2002, S.155ff.). Es kommt zur Desintegration von Fühlen, Denken, Wollen,
Handeln in Form einer Ich-Störung (vgl. Finzen 2000, S.42). Ferner sind
gefühlsmäßige Beziehungen zur Umwelt beeinträchtigt (Gefühlswelt verarmt;
Gefühlsäußerungen stimmen oft nicht mit Gesagtem/der Situation überein) und die
betroffenen Personen befinden sich häufig nur in wenigen Beziehungen zu
Anderen (vgl. Dörner u.a. 2002, S.155ff.). Darüber hinaus werden ,,negative"
Symptome wie Sprachverarmung, auffällige Apathie und inadäquate und verflachte
Affekte genannt (vgl. Dilling/Freyberger 2006, S.90ff.).
Im Kontext mit der Schizophrenie wird vielfach davon ausgegangen, dass der
Verlauf nicht regulär beschreibbar ist. Häufig wird von Episoden und Schüben
gesprochen, die einmal, mehrmals oder immer wieder auftreten (ebd.). Neben
Stigmatisierungen, Isolation durch die Psychiatrie, eine falsche Behandlung,
können eine starke, feindselige Emotionalität in der Familie oder Belastungen am
Arbeitsplatz einen Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung haben (ebd. S.156). Im
ICD-10 werden folgende Untergruppen der Schizophrenie angeführt: Hebephrene
Schizophrenie, undifferenzierte Schizophrenie, paranoide Schizophrenie, katatone
Schizophrenie, schizophrenes Residuum, postschizophrene Depression sowie
Schizophrenia simplex (vgl. Dilling/Freyberger 2006, S.92ff.). Hier lässt sich
erkennen, wie komplex die Erscheinungsformen der Schizophrenie sind. Sie sollen
an dieser Stelle nur erwähnt werden. In erster Linie wird verdeutlicht, wie
unterschiedlich sich eine Schizophrenie zeigt und dass es kein für jeden
erkrankten Menschen einheitliches Erscheinungsbild gibt.
Manie mit/ohne psychotischer Symptome (vgl. Dillinger/Freyberger 2006,
S.119ff.): Eine Manie kann in vielen Fällen mit psychotischen Symptomen
verbunden sein, die am häufigsten auftretenden sind Wahnideen und Stimmen
hören (vgl. Dilling/Freyberger 2006, S.120). Die im Folgenden genannten
Anzeichen sprechen für eine Manie: eine beobachtbare gehobene Stimmung und
eine gleichzeitige unterschwellige Traurigkeit, die sich nicht beobachten lässt (vgl.
Dörner u.a. 2002, S.186). Bei manchen manischen Episoden ist die Stimmung
mehr misstrauisch und irritiert als gehoben (vgl. Dillinger/Freyberger 2006, S.119).
Eine Manie ist durch einen beschleunigten und gesteigerten Antrieb (ein enormes
Ausmaß an sozialen, psychischen und physischen Aktivitäten) und ideenflüchtiges
Denken (Nachdenken misslingt) geprägt. Zeigt sie sich in einem starken und
extremen Antrieb (ein Impuls folgt dem Nächsten), ist ein Handlungsvollzug
unmöglich (vgl. Dilling/Freyberger 2006, S.119). Kennzeichnend für eine Manie ist

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die unkritische Selbstüberschätzung (,,Andere können nichts, ich kann alles"/alles
geht sofort und leicht). Kredite werden aufgenommen und unsinnige Käufe werden
im Übermaß getätigt. Schuld und Schamgefühle sind nicht vorhanden. Am Ende
droht die Ruinierung der Existenz (von anderen und sich selbst) (vgl. Dörner u.a.
2002, S.186ff.). Während einer manischen Phase/Episode sind die vegetativen
Funktionen und Vitalgefühle beeinträchtigt. Die Signale des Körpers werden nicht
wahrgenommen (übermäßiges Essen oder das Essen ,,vergessen"; ernsthafte
Krankheiten werden ohne Schmerzsignale übersehen) und die Betroffene kommt
ohne Schlaf aus (vgl. Dörner u.a. 2002, S.186ff.).
Obwohl sich der manische Mensch immer heiter gibt, wird sein Befreiungsgefühl
immer von Unsicherheit, quälender Angst, ohnmächtiger Wut, Gehemmtheit und
Verletzung begleitet. Psychoanalytiker haben dies mit dem Begriff der ,,manischen
Abwehr" zusammengefasst. Die Manie ist gleichzeitig ein Lösungsversuch für den
Schmerz und die Angst, wenn auch gewaltsam und deshalb misslingend (ebd.
S.189). Die am häufigsten auftretenden Wahnideen sind Liebes-, Größen-,
Verfolgungs-, und Beziehungswahn (vgl. Dilling/ Freyberger 2006, S.121).
Depressive Episoden: Depressive Episoden werden im ICD-10 in leichte,
mittelgradige und schwere Episoden eingeteilt, was von der Anzahl und der
schwere der Symptome abhängt. Bei einer leichten depressiven Episoden ist die
Betroffene im allgemeinen Beeinträchtigung, kann aber ihren Alltag noch
bewältigen. Von den unten genannten Symptomen treten mindestens zwei auf (vgl.
Dillinger/Freyberger 2006, S.127ff.). Bei einer mittelgradigen depressiven Episode
treten für gewöhnlich sechs bis sieben Symptome auf und die betroffene Person
hat meistens große Schwierigkeiten ihre täglichen Aktivitäten durchzuführen. Von
einer schweren depressiven Episode kann dann gesprochen werden, wenn eine
Reihe von quälenden Symptomen auftritt. Häufig kommt es zu Suizidgedanken
und ­handlungen. Die schweren depressiven Episoden können zudem mit (major
depression) und ohne psychotische Symptome auftreten (ebd., S.130ff.). Begriffe
die außerdem genannt werden, sind: depressive Reaktion, majorer Depression,
psychogene Depression und reaktive Depression (ebd.). Ebenfalls werden weitere
Diagnoseformen der Depression im ICD-10 aufgeführt. Die Beschreibung derer
würde jedoch den Rahmen dieser Diplomarbeit überschreiten und soll deshalb
ausbleiben.
Symptome einer depressiven Episode sind (vgl. Dillinger/Freyberger 2006,
S.127ff./Dörner u.a. 2002, S.200):

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
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Eine depressive Stimmung (Hoffnungslosigkeit; Gefühlslosigkeit, Gleichgültigkeit)
und ein gehemmter Antrieb (entscheidungsunfähig, zeigt keine Initiative bis hin
zur/m Erstarrung/depressiven Stupor). Vorbesetztes Fühlen und Denken (,,Ich bin
der schlechteste Mensch der Welt"/,,Ich bin der kränkste Mensch der Welt") und ein
Gefühl der Überflüssigkeit und Unbrauchbarkeit entsteht (vgl. Dörner u.a. 2002,
S.200). Die vegetativen Funktionen und Vitalgefühle sind beeinträchtigt. Der
betroffene Mensch erlebt Gefühle der Niedergeschlagenheit. Bei Männern kann die
erotische Erlebnisfähigkeit und Potenz verloren gehen und bei Frauen kann die
Periode ausbleiben (ebd.). Häufig sind depressive Episoden geprägt durch
Früherwachen am Morgen und einem Morgentief. Es kann zu einem Gewichts-
und Appetitverlust kommen (vgl. Dillinger/Freyberger 2006, S. 128).
Bipolare affektive Störung (vgl. Dillinger/Freyberger 2006, S.122):
Bipolare affektive Störungen sind nach Angaben des ICD-10 durch mindestens
zwei Episoden charakterisiert. Das Aktivitätsniveau und die Stimmung der
Betroffenen sind deutlich gestört (ebd., S.122). Zum einen zeigen sich typische
Symptome der Manie und zum anderen Symptome, die für eine Depression
charakteristisch sind. Depressive Episoden, die anschließend wiederholt manische
Episoden aufzeigen, sind als bipolar zu bezeichnen. Weitere Störungsbilder sind
Mischzustände wie manisch-depressive Psychosen, manisch-depressive
Erkrankungen und manisch-depressive Reaktionen (vgl. Dilling/Freyberger 2006,
S.122).
Eine weitere Mischform ist die Schizo-affektive Psychose, welche ebenso als
Emotionspsychose, Mischpsychose, zykloide Psychose, atypische Psychose
bezeichnet wird (ebd., S.227).
Im vorangegangenen Text wurden verschiedenartige Symptome der Psychosen
aus dem schizophrenen Formenkreis aufgelistet. Jedes kann bei Betroffenen
ausgeprägt oder kaum vorhanden sein. Niemals kommen die Symptome alle
zusammen gleichzeitig zum Ausdruck. Diese Beschreibungen dienen als
Instrument zur Abgrenzung dieser Störungen von anderen Leiden. Sie ist nicht
dazu geeignet, um individuelles Leiden der Menschen zu beschreiben (vgl. Finzen
2000, S.59). Im Kontext dieser Arbeit dient die Beschreibung der
Veranschaulichung von Symptomen, die sich im Kontakt der Betroffenen und ihrer
Umwelt zeigen können.

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
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Eine Diagnose verfolgt zunächst einmal das Ziel, Krankheitsanzeichen zu
unterscheiden, zu ordnen und Ursachen, Symptome, den Verlauf und die
Prognose zu beschreiben. Sie dient der Verständigung zwischen Fachleuten und
Entlastung der Betroffenen. Jedoch bewirkt jede Diagnose eine Etikettierung. Sie
vermittelt eine allumfassende Identität der betroffenen Person, sodass alle anderen
Fähigkeiten und Eigenschaften nicht mehr gesehen werden und in den Hintergrund
rücken (vgl. Lazarus 2003, S.24). Die Stigmatisierung spielt eine große Rolle, da
der jeweiligen Person Verhaltensweisen zugesprochen werden, die negativ
bewertet werden. Daraus resultieren fatale Auswirkungen auf die soziale Situation
der Betroffenen. Die Folge der Verurteilung eines erkrankten Elternteils ist, dass
ihm die Fähigkeit, sich um die Versorgung, Erziehung und Betreuung der Kinder zu
kümmern, abgesprochen wird (ebd.). Die Diagnose einer Krankheit sagt letztlich
weder etwas über das Selbstbild des Betroffenen, noch über die Bewältigung der
Krankheitssymptome- und folgen aus. Sie gibt ebenfalls keinen Aufschluss über
die Bewältigung der psychischen Erkrankung im familiären und sozialen Umfeld
(ebd.).
Was bedeutet ,,Stigmatisierung" konkret? Im ursprünglichen Sinne meint das Wort
,,Stigma" ,,Brandmahl", ,,Stich" und ,,Zeichen". Dieser Ausdruck wurde in der
lateinischen bzw. in der griechischen Sprache entwickelt und dient als Zeichen,
dass sich eine Person in besonderer Weise von anderen Personen unterscheidet
(vgl. Grausgruber 2005, S.19). Der Terminus Stigma wird in Bezug auf eine
Eigenschaft benutzt, die diskreditierend ist. In ,,unserer" Vorstellung wird eine
gewöhnliche Person zu einer beeinträchtigten, befleckten Person herabgemindert
(vgl. Goffman 1967, S.10ff.).
Im Kontext psychischer Erkrankung entwickeln sich neben den primär
gesundheitlichen Folgen vielfältige, meist negative psychosoziale Konsequenzen
für die Betroffenen. Diese können als Resultat bestehender
gesamtgesellschaftlicher Prozesse und Strukturen angesehen werden (vgl.
Bottlender/Möller 2005, S.7). Beispielsweise hängt die Arbeitslosigkeit eines
psychisch kranken Menschen nicht nur von der individuellen Leistungsfähigkeit ab,
sondern maßgeblich von den in eine Gesellschaftsform implementierten
Versorgungs- und Hilfsstrukturen. Hierbei spielen die gesamtgesellschaftlich
vorhandene Akzeptanz, Toleranz und Einstellung gegenüber psychischen
Erkrankungen eine bedeutungsvolle Rolle. ,,Psychosoziale Defizite können somit
als Ausdruck einer Systemstörung konzeptualisiert werden, im Rahmen derer das
komplexe Zusammenspiel zwischen individuellen und gesamtgesellschaftlichen

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
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adaptiven Prozessen und Kapazitäten zur Aufrechterhaltung der Systemstabilität
überschritten wurde." (Bottlender/Möller 2005, S.7).
Der Begriff psychosoziale Beeinträchtigung beschreibt ein Abweichen der
Verhaltensmuster eines Individuums von den sozialen Erwartungen seiner Norm
gebenden Bezugsgruppe (ebd., S.7ff). Stereotype Vorstellungen bzw.
stigmatisierende Aspekte über an Schizophrenie erkrankte Menschen wurden im
Handbuch zum internationalen WPA-Programm gegen Diskriminierung und
Stigmatisierung von Schizophrenie (vgl. World Psychiatric Association 1998, S.73)
herausgearbeitet. Hierzu zählen insbesondere: Schizophrenie = unheilbare
Krankheit, ansteckend, eine Folge von Charakter-, und Willensschwäche.
Schizophrene Menschen = gefährlich, gewalttätig, unzurechnungsfähig,
unzuverlässig, faul, ,,könnten aufhören, wenn sie nur wollten", reden Unsinn,
können nicht arbeiten, die Eltern sind Schuld.
Folgende Erfahrungen von psychisch kranken Menschen machen das Phänomen
Stigmatisierung und Diskriminierung aus:
Absagen bei Anfragen nach einem neuen Job, Zurückweisungen durch Kollegen
und Nachbarn, die Reduzierung der Kontakten von Freunden, Ablehnung bei der
Wohnungssuche, Angst vor der Entwicklung der Krankheit, dem ,,Tuscheln hinter
vorgehaltender Hand" und Berichte in den Medien über die Gefährlichkeit
psychisch Kranker (vgl. Grausgruber 2005, S.19).
Diese Folgen sind nicht allein auf Stigmatisierungserfahrungen zurückzuführen.
Oftmals ziehen sich die Betroffenen als Ausdruck ihrer Erkrankung zurück. Sie
brechen soziale Kontakte ab und verlieren ihren Antrieb. Die Betroffenen
vernachlässigen sich selbst und kommen ihren sozialen und persönlichen
Verpflichtungen nicht mehr nach. Das Erleben, besonders aber das Verhalten der
Person ist für andere häufig nicht verständlich und nachvollziehbar (vgl. Finzen
2001, S.12).
Das Stigma wird zu einer zweiten Krankheit, die genauso belastend sein kann wie
die psychische Erkrankung selbst. Sie kann außerdem zum primären
Genesungshindernis werden (vgl. Finzen 2001, S.34) und zudem zu einer
Chronifizierung führen. Die gesellschaftlichen Reaktionen führen bei
stigmatisierten Menschen zur Übernahme der Rolle eines ,,psychisch kranken
Menschen". Wenn eine Person diese Rolle internalisiert hat, führt dies ebenfalls zu
einer Umorganisation seiner Identität, die sich nun um die zentrale Rolle
,,psychisch Kranker" herum anordnet (vgl. Grausgruber 2005, S.29).

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
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Des Weiteren kommt es oft zur Selbststigmatisierung durch die Betroffenen. Das
Stigma entfaltet seine Wirkung somit ebenso nach Innen und auf den Selbstwert
und das Selbstbild. Folgen der Selbststigmatisierung sind negative Erwartungen in
Bezug auf die eigenen sozialen Möglichkeiten und das Verhalten der Mitmenschen
(vgl. Rüesch 2005, S.203ff.).
Psychische Erkrankungen haben eine Wirkung auf das Familiensystem der
Betroffenen, denn auch hier bestehen Vorstellungen und Vorurteile über
psychische Erkrankungen. Welche Auswirkungen eine psychiatrische Diagnose
auf die Familie hat und wie diese die Situation bewältigt, wird im nächsten Teil
herausgearbeitet. In dieser Arbeit wird der Begriff der Familie wir folgt definiert:
Mit ,,Familien" sind jegliche Formen des familiären Zusammenlebens gemeint.
Eine einheitliche Auffassung was man als ,,Familie" bezeichnet, gibt es weder in
der Wissenschaft noch im Alltag. Familie und Verwandtschaft werden oft synonym
verwendet und kinderlose Ehen werden auch als Familie bezeichnet. Übliche
Definitionen beziehen sich zumeist auf die moderne (west-)europäische
Kernfamilie. Familie wird entweder als gesellschaftliche Institution oder als Gruppe
besonderer Art charakterisiert. Verbindet man die mikro- und die
makroperspektivische Sichtweise, dann sind Familien durch folgende Merkmale
gekennzeichnet: Übernahme bestimmter gesellschaftlicher Funktionen (z.B. die
Schutz-, Kult-, Produktionsfunktion), besonders enges Kooperations- und festes
Solidaritätsverhältnis zwischen den Mitgliedern, die Generationsdifferenzierung
(mindestens zwei Generationen) und das meist vorhandene Ehesystem (vgl.
Reinhold u.a. 1992, S.156).
2.3
Psychische Erkrankungen sind Familienerkrankungen
Jegliche Lebensereignisse, die im sozialen System der Familie nachdrückliche
Veränderungen mit sich bringen, können zu einem Stress- oder Belastungsfaktor
für die gesamte Familie werden (vgl. Schneewind 1999 zit. n. Wagenblass 2003,
S.8). Die Familie ist lange Zeit bevor eine psychische Erkrankung diagnostiziert
wird, involviert. Die Familiemitglieder erkennen, dass sich die Betroffene
ungewöhnlich verhält: Sie zieht sich zurück, wirkt abwesend und tut vielleicht
Dinge, die nicht nachvollziehbar sind. Außerdem schläft sie nicht mehr wie
gewohnt und ist mit einfachsten Aufgaben überfordert (vgl. Christiansen/Pleininger-
Hoffmann 2006, S.71). Mit den Symptomen einer Erkrankung gehen vielfältige
Verhaltensweisen einher, die das Familienleben beeinträchtigen.

Psychisch kranke Eltern ­ Für Kinder (k)ein Problem?
22
Familienmitglieder fragen sich ob die erkrankte Person Dinge nicht kann oder nicht
will (vgl. Koenning 2001, S.26). Psychische Erkrankungen können bei allen
Beteiligten zu beträchtlichen Belastungen und lebensweltlichen Veränderungen
führen. Der Begriff Lebenswelt wurde von E. Husserl (1859-1938) eingeführt (vgl.
Stimmer 2000, S.415).
,,Unter Lebenswelt versteht man die vorwissenschaftliche, dem Menschen
selbstverständliche Wirklichkeit, die ihn umgibt. Die Lebenswelt erhält ihr
Gepräge durch das persönliche Erleben seines alltäglichen, direkten
Umfeldes durch den Menschen, aus dem er seine Primärerfahrungen
bezieht, die ihm Handlungssicherheit verleihen." (Stimmer 2000, S.415)
Die Eltern fühlen sich häufig mit Erziehungsaufgaben und ihrer Rolle überfordert
und zwar besonders in Akutkrisen. Hinzu kommt die Besorgnis, dass ihnen die
Kinder weggenommen werden könnten. Der gesunde Elternteil hat bei der
Bewältigung dieser Situation Schwierigkeiten: Unsicherheiten im Umgang mit der
Krankheit und Schuldgefühle gegenüber den Kindern und dem Partner können
auftreten. In Akutkrisen sind sie mehr als sonst gefordert, weil sie sich meist nicht
nur allein um die Erziehung der Kinder und die Organisation des Familienalltages
kümmern müssen, sondern ferner um den erkrankten Partner (vgl. Wagenblass
2003, S.8).
Dieser Begriff Erziehung umfasst zunächst alle planmäßigen Einwirkungen von
innen (Selbstreflexion) und außen. Diese sollen den Mensche darin unterstützen,
seine Potentiale und Kräfte zu entfalten oder seine Haltungen, Eigenschaften und
Einstellungen zu verändern. Erziehung zielt auf die Individuation (Entwicklung und
Wachstum) und auf die soziale Dimension (Eingliederung) des Menschen ab (vgl.
Stimmer 2000, S.194).
Zusätzliche Belastungen, wie Trennungen oder familiäre Umbrüche kommen
ebenso auf die Kinder zu (ebd.). WAGENBLASS (vgl. 2003, S.9) berichtet von
Studien, aus denen hervorgeht, dass in einem überdurchschnittlich hohen Maße
Beziehungsabbrüche und Trennungen diese Familien treffen.
In den Familien, in denen die Mutter erkrankt ist, werden die Kinder, im Sinne einer
Parentifizierung, oft zu Eltern oder Partnern. Sie versorgen die Mutter, kümmern
sich um den Haushalt und versuchen in irgendeiner Weise die Wahnwelt der
psychotischen Mutter zu verstehen. Sie setzen alles daran, das ,,normale"

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2007
ISBN (eBook)
9783836614788
DOI
10.3239/9783836614788
Dateigröße
685 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Hannover – unbekannt, Sozialwesen
Erscheinungsdatum
2008 (Juni)
Note
1,0
Schlagworte
psychisch eltern kinder bewältigungsstrategien soziale arbeit tabuisierung
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Titel: Psychisch kranke Eltern, für Kinder (k)ein Problem?
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