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Der Germanenmythos im Drama des 19. Jahrhunderts

Christian Dietrich Grabbes "Die Hermannsschlacht" und Friedrich Hebbels "Die Nibelungen"

©2006 Magisterarbeit 157 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Das Jahr 2006 brachte im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft eine Debatte hervor, die in dieser Form seit langem in Deutschland nicht mehr präsent war. Die Stichworte lauteten Patriotismus und Vaterlandsliebe. Politiker und Journalisten, die sich diesem Thema stellten, waren schon im Vorfeld um eine Definition dieser Begriffe bemüht. Roland Koch sagte in einem Interview:
"Patriotismus ist die Liebe zum eigenen Land. [...] Man entwickelt die Liebe zum Land durch Vorbild, Erfahrung und Gewohnheit."
Der Journalist Giovanni di Lorenzo schrieb in einem Artikel in der Zeit:
"Patriotismus braucht [...] das Bewusstsein einer halbwegs ruhmreichen Vergangenheit, die Auflehnung gegen einen Besatzer oder den Sieg über einen Unterdrücker im Inneren. Aus einer kollektiven Erfahrung der erkämpften Freiheit und Einigung erwächst ein identitäts- und demokratiestiftender Patriotismus."
Welche Vorbilder und historischen Ereignisse der deutschen Vergangenheit könnten dieses patriotische (Selbst-) Bewusstsein hervorbringen?
Betrachtet man zwei weitere kulturelle Ereignisse des Jahres 2006, stehen zwei Gestalten im Fokus des Geschehens: Arminius und Siegfried.
Die Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen, die Pfingsten eröffnet wurde, beginnt mit Exponaten zur Varusschlacht bei Kalkriese. Gezeigt wird das Visier eines römischen Reiteroffiziers, der im Jahr 9 n. Chr. an der Schlacht gegen den Cheruskerfürsten Arminius teilnahm. Grund für den Einstieg mit der Römermaske war folgender:
"Die ganze Historie der Deutschen zu zeigen, ist schon deshalb ein schwieriges Unterfangen, weil es während des größten Teils dieser langen Geschichte weder Deutschland gab noch ein deutsches Nationalbewusstsein noch eine deutsche Nation. Und so nahm die Museumsleitung die Sprache als entscheidendes Moment: Im Bericht des römischen Geschichtsschreibers Tacitus über die Niederlage des Varus wird der Begriff Germanen zum ersten Mal verwandt."
Die deutsche Geschichte beginnt demnach mit dem Sieg des Arminius über Varus und dem Ende der römischen Besatzung in Germanien.
Ein weiterer Kulturhöhepunkt im Sommer 2006 waren die Bayreuther Nibelungen-Festspiele mit der Neuinszenierung von Richard Wagners Musikdrama Der Ring des Nibelungen durch Tankred Dorst. Siegfried ist in diesem Stück ein ungestümer Held, [...] ein junger Mann, wild, stark und ohne Angst, der gegen die germanischen Götter rebelliert […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Das Jahr 2006 brachte im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft eine Debatte hervor, die in dieser Form seit langem in Deutschland nicht mehr präsent war. Die Stichworte lauteten Patriotismus und Vaterlandsliebe. Politiker und Journalisten, die sich diesem Thema stellten, waren schon im Vorfeld um eine Definition dieser Begriffe bemüht. Roland Koch sagte in einem Interview:

Patriotismus ist die Liebe zum eigenen Land. [...] Man entwickelt die Liebe zum Land durch Vorbild, Erfahrung und Gewohnheit.“[1]

Der Journalist Giovanni di Lorenzo schrieb in einem Artikel in der „ Zeit “:

Patriotismus braucht [...]das Bewusstsein einer halbwegs ruhmreichen Vergangenheit, die Auflehnung gegen einen Besatzer oder den Sieg über einen Unterdrücker im Inneren. Aus einer kollektiven Erfahrung der erkämpften Freiheit und Einigung erwächst ein identitäts- und demokratiestiftender Patriotismus.“[2]

Welche Vorbilder und historischen Ereignisse der deutschen Vergangenheit könnten dieses patriotische (Selbst-) Bewusstsein hervorbringen?

Betrachtet man zwei weitere kulturelle Ereignisse des Jahres 2006, stehen zwei Gestalten im Fokus des Geschehens: Arminius und Siegfried.

Die Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin „ Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen “, die Pfingsten eröffnet wurde, beginnt mit Exponaten zur Varusschlacht bei Kalkriese. Gezeigt wird das Visier eines römischen Reiteroffiziers, der im Jahr 9 n. Chr. an der Schlacht gegen den Cheruskerfürsten Arminius teilnahm (s. Abb. 1). Grund für den Einstieg mit der Römermaske war folgender:

Die ganze Historie der Deutschen zu zeigen, ist schon deshalb ein schwieriges Unterfangen, weil es während des größten Teils dieser langen Geschichte weder Deutschland gab noch ein deutsches Nationalbewusstsein noch eine deutsche Nation. Und so nahm die Museumsleitung die Sprache als entscheidendes Moment: ‚Im Bericht des römischen Geschichtsschreibers Tacitus über die Niederlage des Varus wird der Begriff Germanen zum ersten Mal verwandt’.“[3]

Die deutsche Geschichte beginnt demnach mit dem Sieg des Arminius über Varus und dem Ende der römischen Besatzung in Germanien.

Ein weiterer Kulturhöhepunkt im Sommer 2006 waren die Bayreuther Nibelungen-Festspiele mit der Neuinszenierung von Richard Wagners Musikdrama Der Ring des Nibelungen durch Tankred Dorst. Siegfried ist in diesem Stück „ ein ungestümer Held, [...] ein junger Mann, wild, stark und ohne Angst[4], der gegen die germanischen Götter rebelliert und sich in die Walküre Brünhilde verliebt. Gerade der Nibelungenstoff scheint sich in den letzten Jahren in Deutschland großer Beliebtheit zu erfreuen. Im Jahr 2004 drehte Uli Edel den Spielfilm Die Nibelungen - Der Fluch des Drachen mit Benno Fürmann in der Rolle des vorbildlichen Helden Siegfried. 2005 erschien Tom Gerhardts Kinofilm Siegfried, in dem „ ‚Sigi’ [...] als kraftstrotzender semmelblonder Hüne zwar äußerlich alle Voraussetzungen für eine heroische Gestalt [erfüllt], doch sein Verstand ist nicht mitgewachsen.[5] Für 2009 plant Dieter Wedel sogar ein Nibelungen-Musical, das auf dem Drama Die Nibelungen von Friedrich Hebbel (1855-60) basiert.

Siegfried und Arminius spielen in unserem kulturellen Leben noch immer eine Rolle. Ob sie uns heute noch als Vorbilder dienen und ein patriotisches Gefühl hervorrufen können sei dahingestellt. Tatsache ist jedoch, dass diese beiden Helden deshalb einen bedeutenden Platz in der deutschen Kultur einnehmen, weil sie ein Mythos umgibt, den vor allem das 19. Jahrhundert populär gemacht hat. Es ist der Mythos des germanischen Helden, der sich in mehreren hundert Jahren entwickelte und stets im Zusammenhang mit der Geschichte der deutschen Nation und des deutschen Nationalbewusstseins stand. Die literarische Rezeption des Arminius-, beziehungsweise Siegfriedstoffes hat im Laufe der Jahrhunderte für die Bildung, Ausformung, Verbreitung und Instrumentalisierung des Germanenmythos gesorgt. Besonders im 19. Jahrhundert, im Zuge des Prozesses der deutschen Nationalstaatbildung nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, erlebte der Stoff einen literarischen Höhepunkt, der sogar zu der Annahme führte, dass Siegfried und Arminius ein und dieselbe Person seien.[6] Zu diesem Zeitpunkt spielte im kulturellen Leben Deutschlands die Figur des germanischen Helden eine gewichtige Rolle als patriotisches, moralisches und untadeliges Vorbild.

Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist daher eine Untersuchung zum Bild des germanischen Helden im Drama des 19. Jahrhunderts, die anhand der Dramen Die Hermannsschlacht von Christian Dietrich Grabbe (1836) und Die Nibelungen von Friedrich Hebbel (1855-60) durchgeführt wird. Das Drama galt zu dieser Zeit als höchste literarische Gattung und erzielte auf der Bühne die unmittelbarste Wirkung. Die Auswahl auf die Werke von Grabbe und Hebbel begründet sich aus der zeitlichen Nähe ihrer Entstehung und der Gemeinsamkeit, dass den Dramen eine gewisse Geschichtskonzeption zugrunde gelegt wurde, welche vor allem über das Heldenbild vermittelt wird. Ziel der Untersuchung ist die Identifikation des Hermann-[7] beziehungsweise Siegfriedbildes der beiden Autoren. Es wird dabei der Frage nachgegangen, inwieweit diese Bilder mit dem Germanenmythos des 19. Jahrhunderts übereinstimmen und vor allem welche Änderungen vorgenommen wurden. Dazu sollen die Heldenkonzeptionen Grabbes und Hebbels dargelegt und miteinander verglichen werden. Ein Hauptaugenmerk wird hierbei auch auf den Intentionen der Autoren hinsichtlich ihrer Geschichtsauffassung und der daraus entwickelten Rolle des Helden liegen. Ein Vergleich des Hermann- und Siegfriedbildes am Ende der Analyse wird letztlich eine Aussage dazu liefern, ob Grabbes und Hebbels Protagonisten tatsächlich dem tradierten Bild des germanischen Helden entsprechen und welchen Beitrag sie mit ihren Heldenkonzeptionen für den Germanenmythos in der Literatur und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts leisten.

Die Studie gliedert sich in vier aufeinanderfolgende Teile. Um ein besseres Verständnis für die Thematik zu liefern, wird im ersten Teil die Entwicklung des Germanenmythos in der literarischen Rezeptionsgeschichte dargestellt. Dabei werden Quellen, Ausbau und Instrumentalisierung des Mythos herausgearbeitet. Die Identifikation dieser drei Aspekte erfolgt anhand der Bearbeitungen des Arminius- und Siegfriedstoffes, welche die Heraus- und Weiterbildung des Germanenmythos bis ins 19. Jahrhundert entscheidend geprägt haben.

Vor dem Hintergrund der in den vorherigen Kapiteln gewonnenen Einblicke werden im zweiten und dritten Teil die beiden Dramen Die Hermannsschlacht und Die Nibelungen analysiert und das darin entwickelte Heldenbild untersucht. Als Grundlage für die Dramenanalyse wird die Darstellung der Biografien der Autoren, ihres gesellschaftlich-politischen Umfeldes und ihrer Dramentheorie dienen. Bei der Untersuchung der Dramen werden hauptsächlich die Figuren Hermann und Siegfried hinsichtlich der Beantwortung der oben genannten Fragestellung analysiert. Dabei bildet die Identifikation der Faktoren, welche Erkenntnisse über die Konzeption des germanischen Helden bei Grabbe und Hebbel liefern, den Schwerpunkt.

Der vierte Teil beinhaltet einen Vergleich der zuvor herausgearbeiteten Bilder Hermanns und Siegfrieds, um diese hinsichtlich der Fragestellung dieser Arbeit zu untersuchen und abschließend zu beurteilen.

Das Fazit dient der Zusammenfassung und Bewertung der in dieser Arbeit erlangten Ergebnisse.

Der Forschungsstand über die beiden jeweils letzten Dramen Grabbes und Hebbels ist in neuester Zeit ins Stocken geraten. Die einschlägige Literatur befasst sich vorrangig mit den populäreren Dramen dieser Autoren und stammt größtenteils aus den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Neuere Aufsätze lassen sich oft nur in den Jahrbüchern der Grabbe- und Hebbelgesellschaften finden. Einzelinterpretationen der Dramen und der Hermann- und Siegfriedfigur sind seltener. Dagegen existiert eine Vielzahl von Studien und Aufsätzen, die sich mit der Dramentheorie und Geschichtsauffassung Grabbes und Hebbels befassen.

Die hier vorgenommene Analyse des Germanenbildes im Drama des 19. Jahrhunderts stützt sich weitgehend auf wissenschaftliche Sekundärliteratur und den in vorherigen Kapiteln ausgewerteten Sachverhalten. Die kritische Bearbeitung der Sekundärliteratur soll zudem unterschiedliche Interpretationsansätze aufzeigen, um sie gegebenenfalls zu bestätigen oder zu widerlegen.

„[...]liberator haud dubie Germaniae [...].“

Tacitus

1. Tacitus` Schriften und das Nibelungenlied : Die Rezeption des Germanenmythos bis ins 19. Jahrhundert

1.1. Der Hermannmythos

1.1.1. Tacitus` Germania und die Annalen

Publius Cornelius Tacitus (ca. 55 n. Chr.-120 n. Chr.) veröffentlichte im Jahre 98 die Prosaschrift De origine et situ germanorum, die sogenannte Germania. Sie ist eine ethnographisch-geographische Einzelschrift über die Herkunft, den Siedlungsraum und die Sitten und Gebräuche der Germanen.

Die Annalen (Ab excessu Divi Augusti), die Jahrbücher, sind nach 112 entstanden. Sie behandeln die Zeit von 14 bis 66 n. Chr. und schildern die Regierungszeiten der römischen Kaiser seit Augustus.[8] In dieser Schrift berichtet Tacitus auch von der Varusschlacht und von Arminius. In diesen beiden Werken liegt die eigentliche Quelle eines Germanen-, beziehungsweise eines Hermannmythos.

In der Germania beschreibt Tacitus die Germanen als äußerst tapfer, freiheitsliebend und stets bewaffnet. Er vermittelt das Bild eines sehr kriegerischen Volkes, das nur wenig Ackerbau betreibt und stattdessen auf Raubzüge geht. Wenn die Germanen nicht kämpfen, so Tacitus, tun sie am liebsten gar nichts, außer essen, trinken, schlafen und spielen. Als besonders barbarisch erscheint ihm die ungeordnete Kampfweise der Germanen.[9] Er gibt an, dass als einzige feste Institution die Gefolgschaft gilt, abstrakte Ordnungsprinzipien dagegen nicht anerkannt werden. Dies beruhe auf der libertas der Germanen, woraus ihre virtus resultiere. Aus dem Freiheitsdrang der Stämme entstehe aber auch Unordnung und Zwietracht.[10]

Tacitus vermittelt das Bild einer einfach strukturierten, ursprünglichen Gesellschaft in einem wirtschaftlich armen und rückständigen Land. Er schildert die Germanen als ein kriegerisches, aber unorganisiertes und uneiniges Volk.

In den Annalen berichtet Tacitus von dem Konflikt des Arminius mit seinem Schwiegervater Segest, dem dieser die Tochter raubte.[11] Er schildert weiterhin, wie der römische Feldherr Germanicus die germanischen Stämme unter Arminius Führung bekämpft. Der Cheruskerfürst wird immer wieder als geschickter Taktiker präsentiert, der die waldige und sumpfige Umgebung seiner Heimat gezielt zu seinem Vorteil einzusetzen weiß.[12] Außerdem sei Arminius leidenschaftlich, von großer Körperkraft und beim Volk als Vorkämpfer für die Freiheit äußerst beliebt gewesen.[13] Doch als er die Hand nach dem Thron ausstreckte, sei er auf den Widerstand der freiheitsliebenden Germanen gestoßen und schließlich „ dolo propinquorum cecidit[14] gefallen. Tacitus beschreibt den Cheruskerfürsten Arminius als Befreier Germaniens:

[…]liberator haud dubie Germaniae et qui non primordia populi Romani, sicut

alii reges ducesque, sed florentissimum imperium lacessierit.[15]

Seine Taten würden von Barbarenvölkern noch immer besungen. Der hieraus resultierende Hermannmythos besagt im Wesentlichen, dass allein die Befreiungstat des Arminius Ursache für den Verzicht der Römer auf das rechtsrheinische Germanien war. Doch Arminius ist nicht nur der Verteidiger Germaniens gegen äußere Feinde, sondern er ist auch derjenige, der die germanischen Stämme gegen Rom vereint. Aus einer eher losen Stämmegemeinschaft entsteht das Bild eines auch innerlich geeinten Germaniens, das es so nie gegeben hat. Doch symbolisiert Arminius die moralische Festigung eines neuen Selbstverständnisses der Mitglieder der einzelnen Stämme als Germanen.

Für die Entstehung des Germanenbildes waren aber vor allem die ethnographischen Beschreibungstopoi des Tacitus ausschlaggebend. Dazu gehören neben virtus, simplicitas und libertas auch das Bild eines autochthonen Volkes, die angeborene Wildheit der Germanen, ihr Jähzorn und die perfidia, welche in den Annalen besonders im Zusammenhang mit der Varusschlacht betont wird.[16] Da Tacitus stets sowohl positive wie negative Aspekte der Germanen hervorhebt, entsteht eine gewisse Zweideutigkeit, welche es späteren Stoffbearbeitern einfach machte, die taciteischen Schriften für ihre jeweiligen Intentionen zu instrumentalisieren.[17] Die Wandermotive aus der Germania bildeten die ersten Umrisse für ein Heldenbild, das auch aufgrund der unhistorischen Quellenlage viel Potential für die Entwicklung eines Mythos bot.[18]

1.1.2. Die Wiederentdeckung der Tacitus – Schriften im Humanismus

Tacitus` Schriften blieben im weiteren Verlauf der Antike weitgehend unbeachtet. Erst im Mittelalter wird Tacitus wieder namentlich erwähnt.[19] Von der Germania blieb nur eine einzige Handschrift erhalten, ein Kodex aus der Mitte des 9. Jahrhunderts. Dieser wurde um 1455 von Enoch von Ascoli (Ende 14. Jh.-1457) in der Bibliothek des Klosters Hersfeld wiederentdeckt. Er brachte die Germania mit nach Rom, wo sie nach seinem Tode von Enea Silvio de` Piccolomini (1405-1464) erworben wurde.[20]

Die Germania diente sowohl Piccolomini, dem späteren Papst Pius II. (1458-64), als auch Giovanantonio Campano (1429-1477) als politisches Werkzeug.

Piccolomini schrieb 1458 ein Traktat gegen den Mainzer Kanzler Mair[21] namens Aeneae Sylvii de ritu, situ, moribus et conditione Germaniae discriptio, in dem er versuchte, dessen Beschwerden bezüglich einer ausbeuterischen, verweltlichten katholischen Kirche zu widerlegen. Er vergleicht die Barbarei der germanischen Frühzeit mit der fortschrittlichen Renaissance - Gegenwart, um zu beweisen, dass Deutschland erst durch „ das römische Christentum zu einem reichen, wohlkultivierten Lande geworden [sei] und [...] sich daher Rom gegenüber nicht beschweren [dürfe]“.[22] Die Germanen werden in Piccolominis Germania als einfältige, arme Barbaren dargestellt, deren Nachfahren erst durch das Christentum kultiviert worden seien.

Campano verwandte die Germania des Tacitus für eine ‚Türkenrede’[23] vor den deutschen Fürsten 1471. Er wollte erreichen, dass sich die Fürsten mit ihren heldenhaften Vorfahren identifizierten und sich damit ihrer patriotischen Pflicht bewusst würden. Dazu stellte Campano eine historische Kontinuität der bedeutenden Leistungen der Deutschen her. Er behauptete, die Deutschen und ihre Vorfahren seien von Natur aus zu Krieg und Aggression veranlagt. Campano belegte seine Behauptung mit Stellen aus der Germania. So versuchte er, die Fürsten auf ihren

angeblich angeborenen Hang zum Krieg hinzuweisen.[24]

Als 1496 Piccolominis Traktat gegen Mair in Leipzig gedruckt wurde, fand es sofort große Verbreitung. Die deutschen Humanisten begannen daraufhin, sich ebenfalls mit der Germania des Tacitus` zu beschäftigen.[25] Sie entdeckten die positiven Seiten ihrer Vorfahren. Den Vorwurf der zivilisatorischen Rückständigkeit verwandelten sie in den Topos unverdorbener Sittlichkeit, welche sie auch auf sich selbst übertrugen.[26] Die Germanen hätten durch Tugend und Stärke den höchsten Kriegsruhm erworben und das römische Imperium erobert, aber „ [e]sfehlte der Homer, unsere Taten zu besingen “.[27] Tacitus lieferte ihnen jedoch die Grundlage, um den Hochkulturen der Griechen und Römern eine eigene kulturelle Identität entgegenzusetzen. Dies erfolgte hauptsächlich durch Abgrenzung des Eigenen von dem Fremden.

1505 wurden die Annalen im Kloster Corvey in einer Handschrift aus dem 9. Jahrhundert gefunden. Die Annalenbücher 1-6 wurden 1515 von Beroaldus (1453-1505) neu herausgegeben. Sie dienten auch Ulrich von Hutten (1488-1523) als Quelle, als er 1520 das Werk Arminius dialogus huttenicus schrieb. Darin lässt er Arminius vor den Stuhl des Minos, Richter des antiken Totenreiches, treten, um von diesem die Anerkennung als größter Feldherr vor Alexander, Scipio und Hannibal zu fordern. Tacitus selbst unterstützt ihn dabei. Minos erkennt seine Ansprüche an und weist ihm den ersten Platz unter den Vaterlandsbefreiern zu.[28] Hutten beabsichtigte mit diesem Dialog im deutschen Volk ein patriotisches Gefühl zu wecken, um den Unabhängigkeitswillen gegen die römische Kurie zu stärken. Zur Identifizierung mit der namenlosen Masse der Germanen bot sich der Held aus den Annalen geradezu an.[29] In Huttens Klageschrift an Friedrich von Sachsen (1463-1525) heißt es:

„Was mag nun wohl derselbig Held [Arminius] in jener Welt sagen, wenn er sieht uns
Teutschen, über die er doch die Römer etwan, do sie redlich und adentlich Leut und
Herren der gantzen Welt waren, nit gewollt herrschen lassen, den weichen zarten
Pfaffen und weibischen Bischöfen unterworfen seind? Fürwahr er würd sich seiner
Nachkommenden schämen.[30]

In Huttens Arminius-Dialog muss der Cherusker Argumente vorbringen, um die Bedenken seiner Gesprächspartner hinsichtlich seiner moralischen Integrität zu zerstreuen. Georg Spalatin (1484-1545) dagegen nennt Arminius in seinem Werk Von dem thewern Deudschen Fürsten Arminio einen „ listigen Menschen “ und lehnt seinen ‚Verrat’ an der römischen Obrigkeit strikt ab.[31]

In der deutschen Chronik, die Aventin (1477-1534) zwischen 1524 und 1534 verfasste, übersetzte er den Namen Arminius als Hermann ins Deutsche. Auch Luther setzte 1530 Arminius mit Hermann (Heer man = dux belli) gleich.[32]

Melanchthon (1497-1560) sorgte für die Verbreitung des Arminius-Dialogs von Hutten[33], doch gerade er relativierte auch die Bedeutung Arminius. Aus einer heilsgeschichtlichen Perspektive heraus hielt er nicht den Sieg des Cheruskers, sondern die Herrschaft des Augustus für wesentlich. Denn unter dem römischen Kaiser habe Gott durch die Menschwerdung seines Sohnes das römische Reich legitimiert.[34]

Im deutschen Humanismus formierte sich erstmals ein nationaler Mythos rund um die Germanen und Arminius. Er diente zur Stiftung einer nationalen Identität, die sich vor allem auf eine gemeinsame Geschichte, einen Nationalcharakter und ein gemeinsames Feindbild stützte. Dazu bedurfte es keines nationalen Einheitsstaates, da man sich als Kulturnation mit gemeinsamer Abstammung, Sprache und Geschichte verstand. Am Ende der Renaissance ist Arminius ein Deutscher und Germanien gleich Deutschland.

1.1.3. Die Entwicklung des Hermannmythos im Barock

Im 17. Jahrhundert wurde das tradierte Germanenbild des 16. Jahrhunderts überwiegend übernommen. Die Gleichsetzung der Deutschen mit den Germanen wurde fortgesetzt und auch der Name Hermann erscheint gleichwertig neben Arminius. Der Cheruskerfürst ist nun ein Symbol altdeutscher Tugend, nationaler Größe und heldisch-vaterländischer Gesinnung.[35] Wesentlich ist man auch an der Liebesgeschichte zwischen Arminius und seiner Frau Thusnelda interessiert.

Eine weitere Variante der Rezeption des Arminius-Stoffes stellt H. M. Moscherosch (1601-1669) in seinem Werk Wunderliche und warhafftige Gesichte Philanders von Sittewald (1640/42) vor. Der zweite Teil des Buches beginnt mit dem A la Mode Kehrauß.[36] Der verwelschte Philander wird darin auf ein Schloss gebracht, wo er sich vor den uralten deutschen Helden (darunter Ariovist, Wittekind, Arminius und Siegfried) für sein ausländisches Gebaren verantworten und als wirklicher Deutscher erweisen muss. Die deutschen Helden sind in Moscheroschs Werk von gewaltiger Gestalt, mit langen Bärten, das Haar zum Knoten gebunden, mit Fellen bekleidet und schwer bewaffnet.[37] Diese Beschreibung lässt sich in Tacitus` Germania detailgetreu wiederfinden.[38]

In Moscheroschs Zielsetzung, den Leser zu nationalem Bewusstsein zu erziehen, schleicht sich bereits eine falsche Idealisierung der germanischen Helden ein, die sich vor allem in der Kontrastierung der altdeutschen Tugenden mit der französisch-welschen Mode ausdrückt. Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde der Germanenmythos zunehmend im Zusammenhang mit antifranzösischen Argumenten benutzt, so dass das alte römisch-katholische Feindbild durch ein neues antiwelsches abgelöst wurde.

Diese Tendenz hinderte jedoch Daniel Casper von Lohenstein (1635-1683) nicht daran, ein Werk nach dem Vorbild des heroisch-galanten Romans der Franzosen zu schreiben.[39] Der Roman Großmüthiger Feldherr Aminius oder Hermann, Als ein tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit / Nebst seiner Durchlauchtigen Thusnelda. In einer sinnreichen Staats-, Liebes- und Heldengeschichte. Dem Vaterland zu Liebe. Dem deutschen Adel aber zu Ehren und rühmlichen Nachfolge in Zwei Theilen vorgestellt von 1689/90 stützt sich vor allem auf Tacitus` Annalen. Er schildert die Kriege des Arminius gegen Varus, Marbod und Germanicus. Daneben kommt es zu allerlei erotischen und diplomatischen Verwicklungen, wie es der Gattung des heroisch-galanten Romans entsprach.[40]

Lohenstein wurde laut Vorbericht von hohen Standespersonen um ein deutsches Heldenepos gebeten. Die patriotische Tendenz zeigt sich in der Rückführung aller größeren weltgeschichtlichen Ereignisse auf germanische Initiativen.[41] Es gibt im Roman verschlüsselte Anspielungen auf Ereignisse und Personen der Zeitgeschichte, besonders des habsburgischen Kaiserhauses. Laut Romantitel sieht Lohenstein den deutschen Adel als Nachfolger der Germanen. Kaiser Leopold I. (1658-1705), dem dieses Werk gewidmet ist, erscheint schließlich sogar wie der wiedergeborene Arminius.

Um ein möglichst positives Licht auf seine Vorfahren zu werfen, deutet Lohenstein die historischen Fakten um und begünstigt in den Schlachtschilderungen immer die Germanen, für die Römer lässt er dagegen keine Ausreden gelten.[42] So ist auch sein Arminius ein Vorbild an Mut, Klugheit, Tugendhaftigkeit, Selbstbeherrschung und über jeden moralischen Zweifel erhaben. Weder Spott noch Grausamkeit findet man bei ihm. Er ist das Musterbeispiel eines barocken Helden.[43]

Die Römer dagegen fallen „ vor allem durch ihre ‚Geilheit’ gegenüber den deutschen Frauen[44] auf, werden für alles Schlechte verantwortlich gemacht und als verschlagen dargestellt. Diese Schwarz-Weiß-Kategorisierung ist auch durch die Gattungsgesetze des Heldenromans bedingt, die erfordern, dass „ die Haupt-Person an Tugenden und Helden-Thaten / nicht weniger als treuer Liebe / vollkommen seyn muss “.[45]

1.1.4. Die Rezeption der Germanenidee im 18. Jahrhundert

Lohensteins Arminiusroman wurde 1731 neu gedruckt. Von diesem Roman gingen literarische Anregungen aus, die zu zahlreichen Veröffentlichungen von Hermann-Dramen und -Epen führten. Den Anfang machte Johann Elias Schlegel (1719-1749), dessen Tragödie Herrmann, ein Trauerspiel 1743 erschien. Darin thematisiert er die germanisch-römische Antithese im Motiv der verfeindeten Brüder Herrmann und Flavius.

Schlegel, der sich lange in Dänemark aufhielt, befasste sich mit einem Stoff der eigenen Nationalgeschichte, da er meinte, dass „ diejenigen Trauerspiele mehr interessieren und stärker auf die Gemüther wirken, deren Stoff in der Geschichte des Volkes liegt, für welches man dichtet “.[46] Man müsse also auf den besonderen Charakter und Nationalgeschmack Rücksicht nehmen. Trotz dieser nationalpatriotischen Tendenz ist das Trauerspiel nach den Maßstäben des französischen Klassizismus gearbeitet.

Schlegels Germanen entsprechen den typischen Topoi, die auf Tacitus zurückgehen: Sie sind freiheitsliebend, mutig, ehrlich, loyal, einfältig und verfügen über eine natürliche Frömmigkeit. Die römische Fremdherrschaft hat bei Schlegel einen negativen Einfluss auf die germanische Tugend. Herrmann ist daher besonders um den Schutz der Moral seines Volkes bemüht. Die Bedrohung der germanischen Freiheit durch die Römer wird weniger stark thematisiert, dafür aber die juristische Unterdrückung und Ungerechtigkeit der Besatzungsherrschaft.[47]

Herrmann ist der vollkommen-standhafte Held des französischen Barockklassizismus. Er erscheint als die gefestigte Figur eines mutigen Kriegers, der tugendhaft, ehrenhaft, tapfer und treu ist. Diese fast übermenschliche Größe Herrmanns entspricht der Idealisierung des Tragödienhelden Schlegels, auf den alle Tugenden zu häufen seien.[48]

Weniger um die Moral als um die Politik bemühte sich Justus Möser (1720-1794) mit seinem Stück Arminius. Ein Trauerspiel (1749). Arminius muss sich darin nach dem Sieg über Varus mit den germanischen Fürsten auseinandersetzen, die sich gegen sein Vorhaben, ein ‚modernes’ aufgeklärtes Königtum einzuführen, stellen. Sie bangen um den Verlust ihrer ererbten germanischen Freiheit und wollen sich keiner Zentralgewalt beugen. Arminius wird letztlich von Sigest hinterrücks ermordet. Arminius verkörpert den wahren Patriotismus und steht für ein aufgeklärtes Königtum, in dem der Fürst ein „ Knecht des Volkes[49] ist.

Möser entkräftete den konstanten Vorwurf der kulturellen Rückständigkeit der Germanen, indem er behauptete, dass die gesellschaftliche Elite aufgrund der Beziehungen zu den Römern durchaus romanisiert, d.h. zivilisiert gewesen sei. Die Volksmassen dagegen hätten ihre natürliche Sittlichkeit und nationale Eigenart beibehalten können und diese sei auch noch bei den niederdeutschen Bauern der Gegenwart zu finden.[50]

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahm sich die Bardendichtung des Germanenstoffes an. Die Bardendichtung wurde als besondere literarische Gattung aufgefasst und bezeichnet eine Gruppe deutscher Gedichte, vornehmlich lyrisch-epischer Art, deren Dichter sich Barden[51] nannten und deren Motive und Formen altgermanischen Ursprungs waren.

Angeregt wurde die Bardenmode durch die Werke von James Macpherson (1736-1796), der angeblich Lieder über mythisch-heroische Gestalten der Vorzeit, von einem Barden namens Ossian verfasst, aus dem Keltischen ins Englische übersetzte.[52] Diese Übersetzung von 1760 erwies sich schnell als Falsifikat, doch hatte sie großen Einfluss auf die patriotische Literatur.[53]

Weitere (mythologische) Einflüsse gingen von dem Schweizer Paul Henri Mallet (1730-1807) aus. Er verfasste 1755 die Introduction à l´Histoire de Dannemarc und übersetzte die mythologischen Teile der jüngeren Edda, die dadurch erst bei weiteren Kreisen Zugang fanden. Herder urteilte daraufhin, „ dass unsre alten Germanier Brüder der tapferen Dänen [...] gewesen sind “.[54] In der Folgezeit fanden sich viele Elemente der nordischen Mythologie in der deutschen Bardendichtung als Bestandteil der eigenen Mythologie wieder. Klopstock sprach gar von einer „ teutonischen “ Mythologie, zusammengesetzt aus einer germanischen, einer altdeutschen und einer nordischen.[55]

Der bekannteste Vertreter dieser Dichtung war Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803). Daneben gehörten Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (1737-1823), Carl Friedrich Kretschmann (1738-1809) und Michael Denis (1729-1800) zu den Vertretern der „ bardischen Schreibart[56]. Die Werke Klopstocks nehmen eine Sonderstellung ein. Seine vaterländischen Dramen werden als Bardiete bezeichnet und lehnen sich an das barditus bei Tacitus an. Im Gegensatz zur sonstigen Bardendichtung, die sich gegen antike Elemente in der deutschen Dichtung wandte, näherte sich Klopstock in seinen Bardieten formal der griechischen Tragödie an.

Als Klopstock mit seiner Hermann-Trilogie begann, kannte er sowohl die Edda als auch die ossianischen Gesänge, Tacitus und die Arbeit Mallets. 1769 erschien Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne. Hermann und die Fürsten (1784) und Hermanns Tod (1787) komplettierten die Trilogie.

Sein Werk enthält eine national-patriotische Tendenz, welche schon im vorangegangenen Siebenjährigen Krieg einen Höhepunkt erreicht hatte. Er wollte in Deutschland ein nationales Selbstgefühl wecken und benutzte dazu die traditionellen germanisch-römischen Antithesen. Seine Germanen führen als Hirten- und Jägervolk ein unschuldiges und friedliches Leben in den Wäldern. Sie verteidigen nicht nur ihre eigene Freiheit, sondern sind auch auserwählt, andere Völker von der römischen Knechtschaft zu erlösen. Diesen Topos der Erwähltheit übernimmt Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) später im Rahmen deutscher Selbstbeschreibung.[57]

Weiterhin zeichnen sich Klopstocks Germanen durch Opfermut, Vaterlandsliebe, Freiheitsstreben, moralische Integrität, Todesverachtung und Vasallentreue aus. Ihre Naturverbundenheit geht soweit, dass die Natur selbst scheinbar aktiv in das Kampfgeschehen eingreift. Der Gegensatz von Germanischem und Römischem wird besonders in der Antithese von Natur und Zivilisation deutlich.[58]

In der Gewissheit einen gerechten Krieg zu führen, berufen sich Klopstocks Germanen auf Brutus, der schon bei Hutten als vorbildlicher Befreier von tyrannischer Unterdrückung galt, weshalb der Humanist Hermann als „ Brutus Germanicus “ bezeichnet hatte. Auch Klopstocks Hermann erscheint als ein neuer, deutscher Brutus.[59] Doch vor allem schildert er ihn als einen menschlichen, gefühlsbetonten Helden und seine Zeit als „ fast ideale Epoche deutscher Geschichte “.[60]

Goethe (1749-1832) urteilt später in Dichtung und Wahrheit über das Werk Hermanns Schlacht, dass Klopstocks Germanenbild „[...] gar wohl geeignet [sei], das Selbstgefühl der Nation zu erwecken.“[61]

Die beiden letzten Bardiete behandeln vor allem die Zwietracht zwischen Hermann und den germanischen Fürsten, denen er schließlich unterliegt. Laut Wilhelm Gössmann habe die „ damals neu entdeckte Nibelungen-Dichtung und ihre Bearbeitung durch Bodmer, [...] offensichtlich den letzten Szenen von ‚Hermanns Tod’ die Stimmung vermittelt.“[62]

1.1.5. Der Hermannmythos nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation

Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden.“[63], so beklagte Schiller (1759-1805) schon vor dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation „ die topographische Aporie einer [...] einsetzenden Suche nach nationaler Identität.“[64]

Unter dem Eindruck des Reichsdeputationshauptschlusses 1803 und dem Ende des HRRDN aufgrund der Bildung des Rheinbundes 1806 wurde Deutschland zu einer „ ortlosen Idee[65]. Auch Heinrich von Kleist (1777-1811) ließ in seinem Katechismus der Deutschen (1809) die Frage stellen: „ Wo find` ich es, dies Deutschland, von dem du sprichst, und wo liegt es?[66]. Diese Suche nach einem Deutschland und nach deutscher Identität beschäftigte fast das ganze 19. Jahrhundert. Es entwickelten sich nationale Gedanken, die vor allem in Fichtes Reden an die deutsche Nation (1807/08) zum Ausdruck kamen. Dieser neue Nationalismus, in den sich auch Fremdenfeindlichkeit mischte, fand sich ebenfalls in Ernst Moritz Arndts (1769-1860) und Friedrich Ludwig Jahns (1778-1852) Schriften.

Als Kleist 1808 begann seine Hermannsschlacht zu schreiben, beabsichtigte er ausdrücklich eine aktualisierende Interpretation der Germanen- und Römerbilder, um die nationale Erhebung gegen die napoleonische Herrschaft zu unterstützen. Napoleon war für Kleist gleichbedeutend mit den völkerunterjochenden Römern.[67] Die Cherusker verkörpern die Preußen und die Sueben stehen für Österreich, von dem man sich 1809 den ersten entscheidenden Schritt gegen Frankreich erwartete. Die unter sich uneinigen Germanenfürsten sind mit den deutschen Rheinbundfürsten gleichzusetzen.

Kleists Werk ist ein politisches Tendenzstück, das nicht nur zum Freiheitskampf aufrufen, sondern auch Hass und Leidenschaft wecken will. Dafür ist seinem Hermann jedes Mittel recht. Er trägt machiavellistische Züge und beherrscht die Techniken der Erringung und Ausübung von Macht. Sein taktisches Spiel treibt er nicht nur mit den Römern, sondern auch mit den germanischen Fürsten, mit Thusnelda und mit seinem Volk, um diese konsequent zum Hass gegen die Römer zu erziehen. Dazu verstellt er sich sowohl den Germanen als auch den Römern gegenüber. Den Römern gaukelt er vor, der naive, einfältige und ehrliche Wilde zu sein, wie diese ihn sich vorstellen.[68]

Von moralischer Integrität kann bei Kleist keine Rede mehr sein. Als einziger Wert gilt die Freiheit. Sein Hermann verkörpert keine der germanisch-heroischen Eigenschaften. Auch in der Schlacht gegen die Römer spielt er keine maßgebliche Rolle und kann daher nicht als kriegerisch-martialischer Held überzeugen. Das war für Kleists Intention aber auch nicht nötig. Die aktualisierte Darstellung seines Hermanns war nicht auf das Militär, sondern auf die Politik seiner Zeit gemünzt. Nach dem Frieden von Tilsit 1807 entwickelten die preußischen Reformer politische Pläne für einen gesamtdeutschen Aufstand. In einem Geheimbrief des Freiherrn vom und zum Stein vom 15. August 1808 heißt es: „ Die Erbitterung nimmt in Deutschland täglich zu, und es ist ratsam, sie zu nähren und auf die Menschen zu wirken.[69] Genau das tut Kleists Hermann. Er ist ein skrupelloser Machtpolitiker, der die Hinterhältigkeit gutheißt und Grausamkeiten bewusst inszeniert, um seine Ziele zu erreichen[70]: Die Einigung der deutschen Fürsten gegen den gemeinsamen Feind, dessen Verdrängung aus Germanien und die Bildung eines großen germanischen Reiches, das in der Lage wäre, Rom anzugreifen. Die Hermannsschlacht ist Propaganda für den Befreiungskampf; sein Hermann ist ein Gegenbild zum zögerlichen preußischen König Friedrich Wilhelm III., dem es an Entschlossenheit mangelt.[71]

Das Arminiusbild erfährt damit bei Kleist einen großen Wandel. Während die Aufklärung Arminius` unmoralisches Verhalten zu beschönigen versucht hatte, rechtfertigt Kleist seinen Verrat aus dem Freiheitskampf.[72]

Kleist ging es nicht um die Darstellung der historischen Hermanngeschichte, sie diente ihm nur als Kulisse für die Mobilmachung seiner Zeitgenossen gegen Frankreich. Der Hermannmythos eignete sich aber besonders gut für Kleists politische Agitationsversuche aufgrund der historischen Parallelen.

Ein ganz anderes, von der Romantik geprägtes Bild, vermittelt August von Kotzebue (1761 – 1819) mit seinem Drama Hermann und Thusnelde aus dem Jahre 1813. Hier wird die Hermannsschlacht völlig entproblematisiert dargestellt. Hermann ist wieder der strahlende Held, moralisch integer; die Römer sind die Schurken. Die Germanen führen einen gerechten Freiheitskampf, Hermann und Marbod schließen Freundschaft. Die Treue zwischen Fürsten und Volk wird zu einem zentralen Motiv. Kotzebue rechtfertigte damit den status quo und unterstützte die reaktionären Kräfte, die durch den Wiener Kongress an Auftrieb gewannen.

1818 schrieb Friedrich de la Motte Fouqué (1777-1843) sein Drama Hermann, ein Heldenspiel in 4 Abenteuern, das allerdings nie aufgeführt wurde. Die Handlung des Stückes beginnt sechs Jahre nach der Varusschlacht. Das Drama thematisiert den Krieg gegen Germanicus und die Kämpfe zwischen Hermann und Marbod sowie zwischen Hermann und seinem Bruder Flavius. Auch hier wird Hermann am Ende als mächtigster Herr in Germanien von Segestes umgebracht. Die innere Zerrissenheit Deutschlands, die Kurzsichtigkeit und der Egoismus der germanischen Fürsten sind die Hauptmotive bei Fouqué. Am Ende fügt er ein in der literarischen Rezeption des Arminius-Stoffes bisher unbekanntes Element ein: den triumphalen Aufstieg des Christentums.[73] Thusnelda und ihre Kinder sind in Rom konvertiert. Auf dem Sterbebett bittet sie auch Hermann zum Christentum überzutreten. Fouqué formuliert hier die Vision eines neuen Zeitalters, in dem Christentum und Germanentum das Römische Reich erobern und verfeindete Völker versöhnt werden.[74]

Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts konnte sich die Figur des Fürsten Arminius, „ [...] der als militärischer Führer und geschickter Politiker die Deutschen zusammenbrachte und zum Sieg über den gemeinsamen Feind führte [...][75], als Nationalmythos durchsetzen. Die zeitgeschichtliche, aktuelle politische Situation bedurfte eines Symbols für ein vereintes Deutschland und die Verteidigung der Freiheit nach außen. In Arminius und den Ereignissen um die Varusschlacht fand man den historischen Hintergrund des Mythos.

Neben der bis dahin üblichen Aristie gab es nun auch Volksfeste, bei denen die Taten der Vorfahren verherrlicht wurden. Besonders Arndt und Jahn sowie die Burschenschaften organisierten solche Feiern. Daneben fertigten zahlreiche Künstler Entwürfe für ein Hermannsdenkmal an, darunter Schinkel, Rauch und Schadow, die jedoch bis auf das Denkmal von Ernst von Bandel (1800-1876) in Detmold nie verwirklicht wurden.[76] Dieses Denkmal (s. Abb. 2) wurde schließlich unter Bismarck zum Mahnmal für die Erhaltung der Einheit gegen den Erzfeind Frankreich, weshalb Hermanns Schwert nicht südlich gegen Rom, sondern westlich gegen Frankreich zeigt. Bei der Neuerrichtung der Walhalla von 1830 bis 1842, von König Ludwig I. gestiftet, wurde die Hermannsschlacht auf dem nördlichen Giebelrelief dargestellt (s. Abb. 3).

„man mohte michel wunder von Sîvride sagen.“

Nibelungenlied, Str. 22

1.2. Der Nibelungenmythos

1.2.1. Der Nibelungenstoff in den nordischen Heldenliedern

Das Nibelungenlied wurde schon früh in seiner Rezeptionsgeschichte zum ‚deutschen Nationalepos’ stilisiert. Erst in der neueren Forschung wird auf die „ historische Fremdheit[77] des Nibelungenliedes hingewiesen, woher sich auch die vielen verschiedenen, inhaltlich nicht immer übereinstimmenden Motivgruppen des Nibelungenstoffes ableiten. Das mittelalterliche Epos ist bereits der Anfang einer schriftlichen Nibelungenrezeption, die Adaption eines älteren Stoffkreises.

Dieser ältere Stoffkreis ist in den Heldenliedern der Edda[78] dokumentiert. Die Lieder entstanden in der Zeit zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert. Den Nibelungenstoff behandeln 15 Eddalieder, die Völsungasaga (Mitte 13. Jahrhundert) und die kurz vorher entstandene Thiðrekssaga.[79]

In den nordischen Liedern wird Siegfried meist Sigurd genannt, Kriemhild trägt den Namen Gudrun, Högni, der mittelalterliche Hagen, tritt als Bruder Gunnars (= Gunther) auf, ein weiterer Bruder heißt Guttorm (= Giselher). Die Burgunder werden auch hier schon ‚Nibelungen’ genannt.

Das Alte Sigurdlied (Brot af Sigurðarkviðu) berichtet von Sigurds Ritt durch die Brünhild schützende Waberlohe. Er wirbt in Gunnars Gestalt um sie. Brünhild sieht in Sigurd ihren ersten Gatten und fühlt sich nach dessen Heirat mit Gudrun betrogen. Sie stiftet daher den Mord an Sigurd an. Ausgeführt wird dieser von Guttorm, doch Högni nimmt die Schuld auf sich. Am Ende prophezeit Brünhild den Untergang der Nibelungen wegen deren Treuebruch gegenüber Sigurd.

Im Jüngeren Sigurdlied (Sigurðakviða in skamma) wird die Verbindung zwischen Sigurd, Gunnar und Högni durch Eide besiegelt. Die Werbung um Brünhild verläuft wie im Älteren Sigurdlied. Högni rät von einem Mord an Sigurd ab, doch Guttorm wird angestiftet, Sigurd zu töten, da er nicht eidgebunden ist. Brünhild ist hier Atlis Schwester und war ursprünglich mit Sigurd verlobt. Am Ende ersticht sie sich mit dem Schwert und prophezeit Gunnar sterbend seinen Untergang und Gudruns Rache an Atli.

Das Alte Atlilied (Atlakviða) handelt vom Burgunderuntergang an Atlis (= Etzel) Hof. Atli hat Gudruns Brüder aus Habgier eingeladen. Trotz Gudruns Warnung nehmen sie die Einladung an. Sie werden gefangengenommen und getötet. Högni lacht, während man ihm das Herz herausschneidet. Gunnar, der sich weigert den Hort auszuliefern, wird in eine Schlangengrube geworfen, wo er harfespielend stirbt. Gudrun tötet aus Rache Atlis Söhne, ihn selbst und brennt seine Halle nieder.

Das Lied vom Drachenhort erzählt von dem verfluchten Gold und der Verwandlung des Riesen Fafnir in einen Drachen. Regin, Fafnirs Bruder, schmiedet das Schwert Gram für Sigurd, der bei ihm aufwächst. Damit erschlägt Sigurd den Drachen. Als er von dessen Blut trinkt, versteht er die Vogelsprache. Diese raten ihm, Regin zu töten, bevor der sich für den Bruder rächen kann. So erwirbt Sigurd den Drachenhort für sich allein.

In der Fáfnismál und der Reginsmál berichten die Vögel Sigurd auch von Gudrun und Brünhild, die hier als schlafende Walküre geschildert wird.

Die Völsungasaga bringt die Stoffe der einzelnen Eddalieder in einen zusammenhängenden, chronologisch angeordneten Text. Hinzu kommt eine weit ausholende Vorgeschichte über Sigurds Familie, die direkt von Odin abstammt. Sigurd erhält in der Saga das Schwert Gram von seiner Mutter Hjördis. Es ist in zwei Teile gespalten. Sein Vater Sigmund hatte damit gegen Odin gekämpft, an dessen Speer Gram zerschellt ist. Sigurd wächst am dänischen Hof auf, wo Regin sein Schwert wieder zusammenschweißt. Wie in der Edda kommt es dann zum Drachenkampf und zur Erweckung Brünhilds, die erst als Walküre und dann als Atlis Schwester erscheint.

Am Burgunderhof vergisst Sigurd aufgrund eines Zaubertrankes seine Verlobte Brünhild und heiratet Gudrun. Er schließt Blutsbrüderschaft mit Gunnar und Högni und hilft Gunnar bei der Werbung um Brünhild. In einem Gespräch zwischen Sigurd und Brünhild werden sich beide ihres baldigen Todes bewusst und nehmen ihr vorbestimmtes Schicksal an. Entgegen Högnis Rat stiftet Gunnar Guttorm zum Mord an Sigurd an. Nach dieser Tat sagt Brünhild den Burgunderuntergang vorher und lässt sich mit Sigurd verbrennen.

Jahre später gelingt es Gudruns Brüdern, diese mittels eines weiteren Vergessenstranks zu versöhnen und zur Heirat mit Atli zu bewegen. Auch hier lädt Atli die Burgunder aus Habgier an seinen Hof. Trotz Gudruns Warnung kommt es zum Kampf und ihre Brüder sterben heldenhaft. Es folgen Gudruns Rache und schließlich ihr eigener Tod.

Die Thiðrekssaga fügt den Stoffkreis um Dietrich von Bern ein. Der Nibelungenuntergang wird nach Soest verlegt. Zusätzlich erfährt man mehr über Högnis Geburt und Tod sowie der Rache seines Sohnes an Atli. Högni ist ein Halbbruder der Nibelungen, sein Vater ist ein Albe, daher sein grauenerregendes Äußeres.

Sigurd wurde als Kind von seiner Mutter auf einem Fluss ausgesetzt und von einer Hindin aufgezogen. Im Wald trifft er auf den Schmied Mime (= Regin), von dem er später ein Schwert erhält. Sigurd erschlägt dort auch einen Drachen namens Regin (= Fafnir) mit einem Baumstamm. Durch dessen Blut wird er unverwundbar. Ein Hort wird nicht erwähnt. Auch gibt es keine Feuerlohe um Brünhild. Sie lebt in einer normalen Burg, wo sie sich mit Sigurd verlobt. Später heiratet er dann aber Grimhild (= Gudrun) und schlägt Gunnar vor, Brünhild zu heiraten. Sigurd und Thiðrek gelingt es, Brünhild zu überzeugen, der Ehe zuzustimmen. Die Hochzeitsnacht wird aber wie im Nibelungenlied zur Katastrophe, weshalb Sigurd in Gunnars Kleidung und mit dessen Einverständnis Brünhild entjungfert und ihr so ihre übermenschliche Kraft raubt. Högni selbst ermordet Sigurd dann mit der Begründung, dass dieser zu mächtig geworden sei.

Ohne Bedenken heiratet Grimhild später Atli. Sie ist es auch, die erstmals den Nibelungenhort erwähnt, um damit den goldgierigen Atli zu überreden, ihre Brüder einzuladen. Die Schlacht zwischen Burgundern und Hunnen verläuft wie im Nibelungenlied. Gunnar stirbt schließlich im Schlangenturm. Grimhild wird von Thiðrek erschlagen, da diese für den Tod ihres jüngsten Bruders verantwortlich ist. Der schwerverletzte Högni zeugt, bevor er stirbt, noch einen Sohn, Adrian, dem er das Versteck des Hortes verrät. Adrian lockt Atli in den Berg, wo der Schatz liegt, und lässt ihn dort verhungern.

Viele Motive, die im weiteren Verlauf der Rezeption des Nibelungenstoffes fortgeführt werden, haben ihren Ursprung in diesen nordischen Liedern. Dazu gehören die mythischen ‚Requisiten’, wie die Waberlohe, Gestaltwandlung, die Hornhaut und der verfluchte Goldhort. Durch Sigurds göttliche Abstammung und die Charakterisierung Brünhilds als Walküre müssen diese ebenfalls der mythischen Vorzeit zugerechnet werden. In der Thiðrekssaga werden sie dieser Konnotation zwar beraubt, aber Högni erscheint dort als Albensohn.

Auch das Konfliktpotenzial ist in den Liedern vorgegeben: Täuschung, Verrat, Eid- und Treuebruch, Gier nach Gold und Macht und vor allem Rache.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Schicksalsbegriff. Die Personen des Nibelungenstoffes und ihre Taten werden im Verlauf der Mythisierung entindividualisiert und in exemplarische Heroen, beziehungsweise Archetypen umgewandelt. Der Zeitpunkt ihres Todes ist durch das Schicksal determiniert, daher nehmen sie es auch bewusst an. Wichtig ist dabei nur, als ‚Held’ zu sterben. Sigurd und die Burgunder wissen durch Prophezeiungen um ihr Schicksal. Doch Gunnar und Högni ignorieren die Warnungen und gehen lachend und musizierend in den Tod. Ihr Verhalten wird durch die ständisch gebundenen Konventionen bedingt, so dass ihr Schicksal zwar nicht unbedingt unentrinnbar sein muss, doch die herrschenden Normen ihren Handlungsspielraum einschränken.[80] Die Burgunder verletzen die Konventionen bewusst, als sie Sigurd ermorden, der durch Eide an sie gebunden ist. In diesem Treuebruch liegt ihre eigentliche Schuld. Wie hoch der Treuebegriff in den nordischen Heldenliedern bewertet wird, sieht man daran, dass Gudrun ihren Brüdern treu bleibt und ihren Tod rächt, obwohl diese Mitschuld an Sigurds Ermordung tragen.

Erst in der Thiðrekssaga ändert sich dies. Diese Saga nimmt eine Zwischenstellung zwischen dem Stoff der Edda und dem Nibelungenepos ein. Es fehlen zwar noch die christlichen Elemente des Liedes, doch wird das Geschehen schon in die höfische Welt des Mittelalters verlagert.[81] Auch wird Högni erst hier zum Mörder Sigurds. In den früheren Heldenliedern rät er stets vom Mord ab. Sigurds Ermordung wird nun auch nicht mehr wegen des Verrates an Brünhild, sondern machtpolitisch motiviert.

1.2.2. Das mittelhochdeutsche Nibelungenlied

Das mittelalterliche Nibelungenlied liegt uns in 35, teilweise fragmentarischen Handschriften vor. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es verschiedene Theorien darüber, welcher Text dem hypothetischen Original am nächsten kommt.[82] Vielleicht gab es überhaupt keinen Originaltext im Sinne einer Vorlage; auch ist uns kein Autor namentlich bekannt. Der Nibelungenstoff wurde vermutlich von Generation zu Generation als oral poetry weitergegeben, bevor er um 1210 im süddeutschen Raum in Form des Nibelungenliedes aufgeschrieben wurde.

Das Nibelungenlied ist in 39 Aventiuren von unterschiedlicher Länge eingeteilt. Insgesamt besteht es aus 2379 Strophen von je vier Langzeilen. Die Gliederung ist inhaltlich motiviert. Die Aventiuren 1-19 erzählen die Geschichte von Siegfried und Kriemhild, die Aventiuren 20-39 von Kriemhilds Rache an den Nibelungen.

Das Epos beginnt mit der Vorstellung der Burgundin Kriemhild. Gemeinsam mit ihrer Mutter Ute, ihrem Vater Dankrat und ihren Brüdern Gunther, Gernot und Giselher lebt sie in Worms. Hagen von Tronje ist im Epos ein Vasall und der Oheim Gunthers. Er berichtet seinem König anlässlich der Werbung Siegfrieds um Kriemhild von dessen Heldentaten, durch die er den Hort Nibelungs, die Tarnkappe von dem Zwerg Alberich und die unverletzliche Hornhaut vom Blut des Lindwurms erhielt. Nach Siegfrieds Ankunft in Worms kämpft er auf Anraten Hagens für die Burgunder gegen die Sachsen und Dänen.

Gunther verspricht Siegfried Kriemhild zur Frau, wenn dieser ihm hilft, Königin Brünhild von Island zu freien. Brünhild wird hier nicht als Walküre bezeichnet, aber doch als ungewöhnlich schön und stark.[83] Sie will nur den stärksten Helden heiraten, der sie im Speerwurf, Steinstoß und Sprung überwindet. Als die Burgunder in der Feste Isenstein eintreffen, begrüßt Brünhild als erstes Siegfried, der ihr aber bedeutet, dass er nur Gunthers Vasall sei. Bei der Prüfung gelingt es Gunther und Siegfried, dank der Tarnkappe, Brünhild zu überwinden.

In der Hochzeitsnacht verweigert sich Brünhild Gunther, fesselt ihn und hängt ihn an einen Nagel. Erst als Siegfried mit Hilfe der Tarnkappe und Gunthers Einverständnis den Widerstand der Königin bricht, lässt diese ihren Mann gewähren. Siegfried stiehlt Brünhild dabei ihren Ring und ihren Gürtel und schenkt beides seiner Frau Kriemhild.

Nach einigen Jahren geraten die beiden Königinnen in Streit. Brünhild behauptet, Siegfried sei nur ein eigenman Gunthers und Kriemhild daher nur eine unfreie Magd. Kriemhild bezeichnet Brünhild als Kebsweib Siegfrieds und präsentiert ihr als Beweis den Ring und den Gürtel.

Hagen will die Schmach Brünhilds rächen und schwört, Siegfried bei der nächsten Jagd zu töten. Obwohl Kriemhild ihren Mann aufgrund eines Traumes warnt, bricht er mit den anderen zur Jagd auf. Im Wald ermordet Hagen Siegfried hinterrücks. Sterbend beklagt er die Untreue der Burgunder und prophezeit ihnen ihren Untergang. Kriemhild ahnt, dass Hagen der Mörder ist und schwört Rache. Sie lässt den Nibelungenhort nach Worms holen. Seitdem werden die Burgunder auch Nibelungen genannt. Besorgt, sie könne mit dem Gold eine Streitmacht gewinnen, stiehlt Hagen den Hort und versenkt ihn im Rhein. So endet der erste Teil des Epos.

Im zweiten Teil wirbt der König der Hunnen, Etzel, um Kriemhild. Sie willigt in die Ehe ein und gebiert einen Sohn, der Ortlieb getauft wird.

Etzel lädt auf Wunsch seiner Frau, die Rache an Siegfrieds Mördern üben will, die Nibelungen an seinen Hof. Auf der Reise prophezeien Hagen zwei Meerweiber, dass keiner der Nibelungen diese Fahrt überleben wird. Auch Dietrich von Bern warnt die Burgunderkönige vor Kriemhilds Racheplänen, dennoch ziehen sie weiter und gelangen nach Etzelburg. Dort werden sie schon bald von den Hunnen angegriffen. Hagen[84] erwidert die Feindseligkeiten, indem er Ortlieb erschlägt. Kriemhild fordert die Auslieferung Hagens, doch die Burgunder weigern sich gemäß ihrer lehensrechtlichen Treuepflicht. Daraufhin lässt die Königin die Halle, in der die Nibelungen sich verschanzen, anzünden. Dietrich nimmt Gunther und Hagen gefangen und übergibt sie Kriemhild. Um von Hagen das Versteck des Nibelungenhortes zu erfahren, lässt sie Gunther töten. Als Hagen ihr danach immer noch nicht das Versteck verraten will, köpft Kriemhild ihn mit Siegfrieds Schwert Balmung. Das kann der alte Hildebrand nicht dulden und erschlägt Kriemhild:

„hie hât daz maere ein ende: daz ist der Nibelunge nôt.“[85]

Der Dichter des Nibelungenliedes versuchte, den germanischen Helden Siegfried in einen höfischen Ritter umzuwandeln, um ihn so den Vorstellungen und Erfahrungen seiner Zeitgenossen anzupassen. Das Epos sollte sowohl die Gültigkeit der christlichen Morallehre als auch die der Regeln der Ständegesellschaft beweisen.[86] Siegfried ist daher kein Nachfahre Odins mehr, sondern ein Königssohn mit höfischer Erziehung (z.B. die Schwertleite, 2. Aventiure). Er ist ein Ideal adliger, männlicher Tugenden: scóene, wáetlîch, kuen, stark und édel. Der Dichter gibt sich alle Mühe ihn zu rühmen und berichtet von seiner Würde und Schönheit, seinen Erfolgen in der Minne, seiner Unerschrockenheit und Kampfkraft. Doch hat diese schillernde Gestalt Siegfrieds auch Schattenseiten. Siegfried weiß nicht mâze zu halten; er ist übermüete. Wenn er Brünhilds Gürtel und Ring stiehlt, hat dies weder Zweck noch Sinn. Auch als er diese später Kriemhild schenkt, handelt er unüberlegt. Seine Herausforderung an Gunther bei Siegfrieds Einzug in Worms entspringt ebenfalls seinem Übermut.

Sein Verhalten wird bestimmt durch sein Verständnis von Herrschaft. Sobald Siegfried in eine neue Situation gerät, will er sich zunächst kämpferisch beweisen (bei seiner Ankunft in Worms und im Land der Nibelungen, bei der Überwindung Brünhilds, bei der Jagd). Sein Machtanspruch beruht auf seiner physischen Überlegenheit. So gesehen handelt er eher wie ein germanischer Krieger als ein höfischer Ritter.[87] Einzig in der Hoffnung auf schnelleren Erfolg bei seiner Werbung um Kriemhild nimmt er die Rolle eines Vasallen an. Er zieht für die Burgunder in den Krieg gegen die Sachsen und übernimmt auf Hagens Anraten Führer- und Botenrollen. Der Konflikt entwickelt sich hier aus Siegfrieds vorgetäuschtem Vasallentum, also dem Verstoß gegen die Ständeordnung, nicht aus einem gebrochenen Eheversprechen Brünhild gegenüber oder einem Gestaltwandel wie im Alten Sigurdlied.

1.2.3. Die Rezeption des Nibelungenstoffes im Humanismus und Barock

Im weiteren Verlauf des Mittelalters entstanden viele, oft redigierte Abschriften des Nibelungenliedes. Auch die mündliche Überlieferung setzte sich fort. In der Weltchronik Heinrichs von München (Mitte 14. Jahrhundert) galt das Epos sogar als Geschichtsquelle.[88]

Doch bald darauf drohte das Nibelungenlied in Vergessenheit zu geraten. Erst nach der Wiederentdeckung der Germania Tacitus` und ihrer Verbreitung durch die Humanisten erwachte Interesse an der deutschen Vergangenheit und damit auch am Nibelungenstoff. Der ursprüngliche Text verlor dabei an Bedeutung, stattdessen traten Einzelmomente des Stoffes in ideologisierter Form in den Vordergrund.[89]

Aus dem 16. Jahrhundert stammt das Lied vom Hürnen Seyfried (gedruckt zwischen 1527 und 1538). Der Verfasser ist namentlich nicht bekannt. In 179 Strophen werden Seyfrieds Jugendabenteuer erzählt. Der niederländische Königssohn erschlägt gleich mehrere Drachen. Den ersten im Wald; der flüssige Drachenhorn macht ihn unverwundbar. Dann dient er König Gybich, dessen Tochter von einem Drachen entführt wurde. Seyfried wird als raubeiniger Prinz vorgestellt, der aus Übermut Löwen fängt und über Bäume hängt. Er ist Herr über 5000 Zwerge, die er einst von einem Drachen erlöste. Zufällig begegnet er auch dem Drachen, der Gybichs Tochter Krimhilt gefangen hält. Dank der Tarnkappe des Zwergs Euglein gelingt es Seyfried, den Drachen zu besiegen und Krimhilt zu befreien. Euglein sagt dem Helden seinen vorzeitigen Tod und Krimhilts Rache voraus. Seinen Schatz versenkt Seyfried im Rhein. In Worms mausert er sich zu einem gerechten Herrscher, was den Unwillen der Brüder Krimhilts, darunter Hagen, erregt. Man beschließt seinen Tod, der von Hagen ausgeführt wird.[90]

Seyfried erscheint zunächst als übermütiger Haudegen, der sich später zu einem guten Herrscher entwickelt, der aus Eifersucht von seinen Mitregenten ermordet wird. Der Stoffkreis um Brünhild spielt hier keine Rolle.

Dieses Lied dürfte die Quelle für die erste deutsche Dramatisierung des Nibelungenstoffes sein: Die Tragedia Der Hörnen Sewfriedt, ein Son König Sigmunds Im Niderlandt (1557) von Hans Sachs (1494-1576). Der Nürnberger Meistersinger war der erste Autor, der sich von den humanistischen Bemühungen um die Erneuerung des antiken Dramas zu eigenen Tragödien und Komödien in deutscher Sprache anregen ließ. Neben religiösen Inhalten behandeln seine Dramen vorwiegend Stoffe aus antiker und mittelalterlicher Geschichte und Sage, wie die oben erwähnte Tragedia. Das in Knittelversen verfasste Stück handelt vom Neid der Schwäger Siegfrieds, der gleich zwei Drachen erschlägt. Gunther, Hagen und Gernot fürchten um ihre Macht. Hagen ersticht deshalb Siegfried im Schlaf.

Das Lied vom Hürnen Seyfried wurde vermutlich bis ins 17. Jahrhundert hinein weiterhin gedruckt.[91] Erst im nächsten Jahrhundert wandelte man die Verse in Prosa um. Der Nibelungenstoff wurde in Form von Volksbüchern tradiert. Der älteste erhaltene Druck stammt von 1726: Eine Wunderschöne Historie von dem gehörnten Siegfried, Was wunderlicher Ebentheur dieser theure Ritter ausgestanden. Sehr denkwürdig und mit Lust zu lesen. Dieser spätbarocke Text ist eine „ Parodie auf die zeitgenössischen Kavaliersreisen des Adels und dessen modischen Gestus der Melancholie.“[92] Siegfried rettet nach seiner Schmiedelehre und dem Drachenkampf die ebenfalls von einem Drachen entführte Prinzessin Florigunda, die Schwester des melancholischen Königs Gibaldus. Er heiratet sie, doch schon bald beneiden ihn seine Schwäger Ehrenbertus, Hagenwald und Walbertus um seine vielen Turniersiege, weshalb ihn Hagenwald auf der Jagd erdolcht. Florigundas Rache übernimmt ihr Schwiegervater Sieghardus. Hagenwald wird von einem niederländischen Soldaten im Schlaf getötet. Über Siegfrieds Sohn, Löwhardus, wird eine Fortsetzung angekündigt.[93]

Vom mittelalterlichen Nibelungenlied blieb nicht viel übrig, da die Jungsiegfried-Abenteuer auf den nordischen Heldenliedern basieren. Einige Motive konnten sich allerdings durchsetzen: der Drachenkampf, Neid und Rache sowie Siegfrieds hinterhältige Ermordung. Mit dem vorherrschenden Interesse an seiner Jugend wurde die Gestalt Siegfrieds in dieser ersten Rezeptionsphase als der Protagonist und Held des Nibelungenstoffes etabliert.

1.2.4. Die Wiederentdeckung der Nibelungenhandschriften im 18. Jahrhundert

Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts entwickelte sich der Held aus dem Volksbuch zu einem Nationalhelden. Seit dem Bekannt werden der Germania galt allein Arminius als der Vertreter der typischen urdeutschen Tugenden und als völkisches Idol. Als Jakob Hermann Obereit (1725-1798) am 28. Juni 1755 in der Gräflichen Bibliothek in Hohenems, Vorarlberg, eine Handschrift des Nibelungenliedes fand, trat der mittelalterliche Siegfried an die Seite Arminius`. Von nun an fand neben der früheren „ ungelehrten “ Rezeption des Stoffes in Form von Volksbüchern eine „ gelehrte “ Rezeption statt.[94] Innerhalb weniger Jahre erschienen zwei Ausgaben des Epos, Johann Jakob Bodmers (1698-1783) Teildruck von 1757 und Christoph Heinrich Myllers (1740-1807) Gesamtausgabe von 1782. Bodmer untersuchte das Nibelungenlied nicht aus historischem oder nationalem Interesse, sondern in Hinblick auf seine Epentheorie. Er weist auf die überlieferte deutsche Dichtung hin und beschreibt das Epos als „ eine Art Ilias, von Norwegischen Sagen entsprungen und mit einheimischen Romanzen verwebet.“[95] Bodmer lobte die Schlichtheit und Natürlichkeit, die Naivität des Liedes. Er formte den Schlussteil des Liedes in Hexameter um, damit er der Ilias ähnlicher wurde. Seine Charakterisierung des Epos als eine Art ‚naive Ilias der Deutschen’ gab dem Werk schon früh „ den Stellenwert eines in die vorgeschichtlich-germanische Zeit hinübergreifenden Dokuments “.[96]

Diesen Ansatz führte Christoph Heinrich Myller fort. Um den Adel als potentiellen Geldgeber zu gewinnen, pries er das Nibelungenlied als einen Ahnenspiegel[97], ähnlich wie Lohenstein es mit seinem Arminius-Roman tat.

Die Idee einer Genealogie des deutschen Adels fand Interesse am Hof von Hessen-Kassel. Patriotisch motiviert schrieb der Historiker Johannes von Müller (1752-1809) 1786 in seinem Werk Die Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft, dass das Nibelungenlied eine „ teutsche Ilias werden könne[98].

1.2.5. Der Nibelungenmythos nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation

Während der Napoleonischen Kriege zwischen Preußen und Frankreich nahm eine patriotisch motivierte Rezeption des Nibelungenepos zu. Man sah darin den „ Beweis eigenvölkischer Heldenstärke, ein[en] Grund zur Absage an das Fremde, nicht Artgemäße, [...] eine Manifestation des deutschen ‚Volksgeistes’.“[99]

Nach der Niederlage Preußens 1806 war man vor allem darauf bedacht, den französischen Einfluss in Sprache und Kultur einzudämmen. Dies führte zu einer verstärkten Rezeption des Nibelungenliedes als genuinem Nationalepos. Bereits 1801 begann August Wilhelm von Schlegel (1767-1845) literaturhistorische Vorlesungen zu halten, in denen er auch die Nibelungen besprach. Laut Schlegel spiegelt das Epos den deutschen Nationalcharakter wider.[100] Man besäße „ eine deutsche Ilias und Odyssee..., worin unsere Herkules und Theseus besungen werden. Sie seien sogar weit wundervoller und riesenhafter, überhaupt poetischer...als selbst der große Hermann. “ In Siegfried sah er eine Lichtgestalt, „ die Blüte des Schönen, den nordischen Achill[101], womit er das Klischee des archaischen Helden bediente. Auch sieht er die übermüete als die zum Untergang treibende Kraft an. Das Lied sei aber seinem Geiste nach christlich und die zauberischen, mythischen Elemente stürzten die Helden schließlich ins Verderben.

Wegen seines „ vaterländischen Ursprungs[102] sollte das Nibelungenlied Schlegel als Instrument dienen, um die verwelschten Adligen und das Volk im Sinne der bürgerlich-republikanischen Vormärzbewegung zu entzweien. Auch plante Schlegel zur Erneuerung der Nationalmythologie eine Umformung des Epos in Einzeldramen.

Für eine poetische Bearbeitung des Nibelungenstoffes konnte Schlegel seinen Freund Friedrich de la Motte Fouqué begeistern. Seine Trilogie Der Held des Nordens von 1810 basiert auf den nordischen Heldenliedern, welche er mit großem Enthusiasmus studierte[103], statt auf dem mittelalterlichen Nibelungenlied, da ihm dieses nicht ‚(alt-) deutsch’ genug und zu christlich[104] erschien. Fouqué unterwarf sein Werk daher einer national-germanischen Ästhetik in Klopstockscher Manier.

In Schlegelscher Tradition steht auch der Germanist Friedrich Heinrich von der Hagen (1780-1856). Er erhielt 1810 bei der Gründung der Universität Berlin eine Professur für deutsche Sprache und Literatur.[105] 1804 hatte er sich durch die Vorlesungen A. W. Schlegels zur Neuausgabe des Nibelungenliedes anregen lassen. Sein Ziel war eine Erneuerung des Epos, um es ‚lesbar’ zu machen und von allem ‚Fremden’ zu reinigen. Dabei ging es ihm um eine Erneuerung der Sprache in der Tradition der protestantischen Bibelübersetzung, im Gegensatz zu den Grimms oder Lachmann, die in den altdeutschen Texten Sprachdenkmäler sahen, die es wieder herzustellen galt.

1807 erschien v. d. Hagens Nibelungenausgabe. In der Vorrede spielt er auf die Napoleonischen Kriege an und fordert die Erneuerung der Nation. Das Epos sollte die vaterländische Gesinnung stärken, daher präsentierte er einen Tugendkatalog, „ den die Humanisten seinerzeit dem juristisch-ökonomisch orientierten Intellekt des Römers entgegengestellt hatten[106], darunter Gastlichkeit, Treue und Freundschaft bis in den Tod, Menschlichkeit, Heldensinn, Tapferkeit und willige Opferung für Ehre, Pflicht und Recht. Hatte Schlegel im Übermut der Helden eine Teilschuld an ihrem Untergang gesehen, so entwarf v. d. Hagen ein ausschließlich positives Bild der Nibelungen. Im Vorwort seiner Nibelungenausgabe von 1810 definiert er schließlich das Nibelungenlied als „ Deutsches Nationalepos “.[107]

Während der Befreiungskriege diente das Nibelungenlied August Zeune (1778-1853) als Instrument, um patriotische Gefühle und Kampfbereitschaft zu wecken. 1815 gab er eine ‚Feld- und Zeltausgabe’ des von ihm übersetzten Epos heraus. Er aktualisierte das Nibelungenlied mit nationalistischem und antifranzösischem Pathos in Bezug auf den Krieg gegen Napoleon. Siegfried verkörpert bei ihm das gesamte deutsche Reich, das sich gegen das „ fremde Gewürme[108] zur Wehr setzt. Der Nibelungenheld wird zum Vaterlandsbefreier.

Der Kotzebüe-Mörder Karl Ludwig Sand (1795-1820) bringt es kurz vor seiner Hinrichtung auf den Punkt: Er verlangte die „ Darstellung des erhabenen Begriffs von Freiheit..., Hermann, den Erretter des Vaterlandes..., wie ihn das Nibelungenlied unter dem Namen Siegfried nennt, der kein anderer als Hermann ist.[109]. Es ist das erste Mal, dass Siegfried und Arminius in ihrer Funktion als Freiheitskämpfer als dieselbe Person gedeutet werden. Mit der patriotischen Instrumentalisierung wollte man Identifikationsangebote schaffen, auch wenn sich diese, wie in Siegfrieds Fall, nicht mit dem Text deckten. Daher funktionalisierte man einzelne Motive des Nibelungenliedes, ohne dabei Rücksicht auf die Komplexität des gesamten Epos zu nehmen. Noch während des Krieges, spätestens aber nach den Karlsbader Beschlüssen von 1820, flaute die nationale Euphorie wieder ab. Die unreflektierte und emotionale Rezeption wurde abgelehnt und teilweise sogar verspottet.[110]

In der germanistischen Philologie dagegen nahm man sich des Nibelungenstoffes an. Karl Lachmann (1793-1851) entwickelte die Theorie, dass das Nibelungenepos ein Zusammenwuchs aus Einzelliedern sei. Georg Gottfried Gervinus (1805-1871), der von einem geschichtlichen Ursprung der Siegfriedsage ausging, rechnete mit einem kontinuierlichen Volkscharakter von der Sage bis in die Gegenwart. Im jungen Siegfried meinte er eine „ arglose, harmlose Ehrlichkeit[111] zu erkennen.

Seit Schlegel auf den dramatischen Charakter des Liedes hingewiesen hatte, verband sich nun das stoffliche Interesse mit der Tradition des klassischen Dramas und damit mit der Psychologisierung der Gestalten. Besonders Ludwig Uhland (1787-1862) rühmte die psychologische Motivierung der Kriemhild. 1817 verfasste er das Dramenfragment Die Nibelungen. Nachhaltiger als dieses wirkte die Übersetzung des Epos (1827) von Karl Simrock (1802-1876), der einerseits eine Modernisierung des Textes anstrebte, anderseits das altdeutsche Heroische und Germanische beibehalten wollte.[112]

Seit der französischen Julirevolution (1830) verbanden sich die bürgerlichen Forderungen nach staatlicher Einheit Deutschlands mit demokratisch-republikanischen Vorstellungen, die ihren Höhepunkt im Hambacher Fest (1832) erfuhren. Auf diese Strömung ging Ernst Raupach (1784-1852) mit seinem Drama Der Nibelungen-Hort von 1834 sehr erfolgreich ein.

Um 1840 kam es zu einer neuen Welle von Übersetzungen und Nachdichtungen, darunter viele Dramen und epische Bearbeitungen. Nach der 48er Revolution gab es zunächst keine eindeutige Tendenz mehr in der Nibelungenrezeption. Der Adel ließ Wände mit Nibelungenszenen ausmalen, doch bei Dichtern und Denkern schien der Stoff aus der Mode gekommen zu sein. Trotzdem war Siegfried, laut Friedrich Engels (1820-1895), der „ Repräsentant der deutschen Jugend[113] und Hagen galt vielen als Urbild deutscher Treue.

[...]


[1] Ansgar Graw: Roland Koch fordert neue Patriotismus-Debatte. In: Die Welt, 4.3.2005.

[2] Giovanni di Lorenzo: Man muss gar nichts. In: Die Zeit, 9.12.2004.

[3] Beate Tenfelde: Einstieg mit Römermaske. In: Neue Osnabrücker Zeitung, 12.6.2006.

[4] Ralf Döring: Held im Vakuum. In: Meppener Tagespost, 31.7.2006, S. 24.

[5] Reinhard Westendorf: Tapferer Trottel auf Schatzsuche. In: Osnabrücker Nachrichten, 30.7.2006, S. 38.

[6] Uli Edel spielt in seinem Film auf diese Hypothese an, indem er Kriemhilds Falken Arminius nennt.

[7] Da die Namen Arminius und Hermann in der Rezeption synonym für den Cherusker gebraucht werden, orientiert sich diese Arbeit an der Namensgebung des jeweilig untersuchten Werkes.

[8] Die Darstellung ist jedoch unvollständig; die Regierungszeit des Tiberius, des Claudius und des Nero sind nur teilweise, die des Caligula gar nicht erhalten.

[9] Vgl. Tacitus: Germania, VII, XI, XIII – XV.

[10] Vgl. ebd. VI, VII, XI, XXXIII.

[11] Vgl. Tacitus: Annalen, I, 55.

[12] Vgl. Tacitus: Annalen I, 63-65.

[13] Vgl. ebd. II,17, 44.

[14] Ebd. II, 88: „ durch die Arglistseiner Verwandten.“ Die im folgenden zitierten deutschen Übersetzungen sind alle dieser Ausgabe entnommen.

[15] Ebd. II, 88: „ unstreitig der Befreier Germaniens, der das römische Volk nicht in den ersten Anfängen der Macht, wie andere Könige und Heerführer, sondern in der höchsten Blüte des Reiches herausgefordert hat.

[16] Vgl. ebd. II, 46: Hier bezeichnet Marbod Arminius als wahnsinnig und treulos.

[17] Vgl. Gesa von Essen 1998, S. 21-31.

[18] Mythos im Sinne einer Sage oder Dichtung von Göttern und Helden der Urzeit, bzw. einer legendär gewordenen Gestalt.

[19] Im 9. Jahrhundert gibt Rudolf von Fulda (*vor 800, † 865) in seinem Werk TranslatioAlexandri den Römer als Autorität für eine antike Bezeichnung der Weser an. Vgl. Ludwig Krapf 1979, S. 4.

[20] 1470 wurde die Germania erstmalig in Venedig gedruckt, 1473 in Nürnberg. Vgl. Hans Tiedemann 1913, S. 3.

[21] Mair warf der Kurie vor, das Reich mit ihren Finanzforderungen ruiniert und die ehemals glanzvolle deutsche Nation unterjocht zu haben. Vgl. ebd. S. 5.

[22] Ulrich Paul 1936, S. 34.

[23] Der Titel der Rede lautete: Oratio in conventu Ratisponensi dicta ad exhortandos principes Germanorum contra Turcos et (de) laudibus eorum.

[24] Vgl. Ludwig Krapf 1979, S. 57 f.

[25] Vgl. Hans Tiedemann 1913, S. 7.

[26] Vgl. Herfried Münkler 1989, S. 71 f.

[27] Irenicus: Exegesis Germaniae. Hanau 1728, zit. n. Hans Tiedemann 1913, S. 9.

[28] Vgl. ebd., S. 119 f.

[29] In der mittelalterlichen Überlieferung hatte Varus entweder überhaupt keinen namentlich genannten Gegenspieler, oder es wurde ein sagenhafter Königssohn namens Avar genannt. Vgl. Dieter Mertens 2004, S. 97.

[30] Ulrich von Hutten 1970, S. 191.

[31] Vgl. Klaus Bemmann 2002, S. 117.

[32] Vgl. Dieter Mertens 2004, S. 100. Die lateinische Fassung von Her-mann (= Kriegsmann) hätte zur Zeit Arminius` allerdings Chariomannus lauten müssen. Vgl. Bemmann 2002, S. 103.

[33] Er ließ den Dialog viermal in Wittenberg zusammen mit der Germania drucken: zweimal 1538, dann 1551 und 1557.

[34] Vgl. Dieter Mertens 2004, S. 100.

[35] Vgl. Wilhelm Gössmann 1977, S. 79.

[36] Unter dem Alamodebegriff verstand Moscherosch das Kopieren welscher Mode, sowie die nationale Entartung überhaupt und die Verderbnis der eigenen Sprache.

[37] Vgl. Hans Michael Moscherosch 1974, S. 137 f.

[38] Z.B. in Kapitel 38 der Germania, wo von der Haartracht der Sueben berichtet wird.

[39] Als Vorlage diente die Cleopatre von La Calprenede.

[40] Vgl. Bernhard Asmuth: Daniel Casper von Lohenstein. 1971, S. 62 f.

[41] Vgl. Daniel Casper von Lohenstein 1973, Nachdr. von 1689, S. 5 b.

[42] Vgl. Bernhard Asmuth: Lohenstein und Tacitus. 1971, S. 169.

[43] Vgl. Luise Laporte 1927, S. 41-49.

[44] Vgl. Bernhard Asmuth: Lohenstein und Tacitus. 1971, S. 171.

[45] Zit. n. Bernhard Asmuth: Daniel Casper von Lohenstein. 1971, S. 63.

[46] J. E. Schlegel: Werke I, „Vorbericht“ 1971, Nachdruck v. 1764-1773, S. 285, zit. n. Gesa von Essen 1998, S. 58. Dieses Nationaltheaterkonzept übertrug er auch auf andere Nationen. Im Canut behandelt er einen Stoff aus der nordischen Geschichte für das dänische Publikum.

[47] Vgl. Gesa von Essen 1998, S. 61, 64 f.

[48] Vgl. ebd. S. 74.

[49] Roland Krebs 1995, S. 303.

[50] Vgl. ebd. S. 301.

[51] Der Begriff Barde leitet sich von barditus ab, der bei Tacitus (Germania, III) erscheint und den Schlachtgesang der Germanen bezeichnet. Im 17. Jahrhundert wurde das Wort auf keltische Barden (Sänger und Dichter) bezogen und mit den Skalden der Edda gleichgesetzt.

[52] James Macpherson: Fragments of ancient poetry, collected in the Highlands of Scotland, 1760.

[53] Vgl. Klaus Düwel 1986, S. 362.

[54] Zit. n. ebd. 1986, S. 363.

[55] Vgl. Gesa von Essen 1998, S. 100 und Klaus Düwel 1986, S. 368 f.

[56] Klaus Düwel 1986, S. 358.

[57] Vgl. Gesa von Essen 1998, S. 101, 109.

[58] Vgl. ebd. S. 126-129.

[59] Vgl. ebd. S. 113 f.

[60] Vgl. Klaus Bemmann 2002, S. 168.

[61] Zit. n. Klaus Düwel 1986, S. 374 f.

[62] Wilhelm Gössmann 1977, S. 82.

[63] Friedrich Schiller 2005, S. 298.

[64] Hinrich C. Seeba 1995, S. 356.

[65] Ebd., S. 355.

[66] Heinrich von Kleist 1989, S. 480.

[67] Vgl. Gesa von Essen 1998, S. 145.

[68] Heinrich von Kleist: Die Hermannsschlacht, V, 9, S. 82: „ Hermann! So kann man blondes Haar und blaue Augen haben, und doch so falsch sein, wie ein Punier ?“

[69] Zit. n. Jochen Schmidt 2003, S. 144. In wieweit Kleist direkte Kenntnisse von den Plänen zur Entfesselung des Befreiungskampfes hatte, lässt sich nicht feststellen, doch die Übereinstimmungen mit Hermanns Strategie im Stück sind eklatant.

[70] Vgl. Gesa von Essen 1998, S. 182 f.

[71] Vgl. Jochen Schmidt 2003, S. 145 f.

[72] Vgl. Elisabeth Frenzel 1998, S. 63.

[73] Das Motiv rührt von Fouqués ständigem Bestreben her, die germanische Mythologie mit der christlichen Religion in Einklang zu bringen. Vgl. dazu auch Kap. 1.2.5. und Frank Rainer Max 1980, S. 78.

[74] Richard Kuehnemund 1966, S. 97-99.

[75] Gerhard Schulz 1989, S. 137.

[76] 1819 entwarf Bandel erste Pläne für das Denkmal, doch konnte es erst 1875 fertig gestellt werden.

[77] Bernhard R. Martin 1992, S. 2.

[78] Gemeint ist damit sowohl die Jüngere Edda des Isländers Snorri Sturluson (1179-1241), sowie die Ältere Edda des „Codex Regius” (Ende 13. Jahrhundert).

[79] Die folgende Darstellung der nordischen Heldenlieder bezieht sich gänzlich auf Bernhard R. Martin 1992, S. 46-56.

[80] Vgl. Bernhard R. Martin 1992, S. 60-63.

[81] Vgl. ebd., S. 64-66.

[82] Die Theorien Karl Lachmanns, Adolf Holzmanns, Karl Bartschs und Wilhelm Braunes können hier nicht weiter ausgeführt werden. Vgl. dazu Bernhard R. Martin 1992, S. 68-73.

[83] Vgl. Das Nibelungenlied. 6. Aventiure, Vers 326, S. 104: „ diu was unmâzen scoene, vil michel was ir kraft.“

[84] Hagen ist bei den Hunnen hochangesehen. Er wuchs am hunnischen Hof auf, nachdem sein Vater Aldrian Untertan Etzels geworden war. Vgl. Das Nibelungenlied. 28. Aventiure, Vers 1755 f., S. 528.

[85] Ebd. 39. Aventiure, Vers 2379, S. 714.

[86] Vgl. Bernhard R. Martin 1992, S. 124.

[87] Vgl. ebd., S. 88 f.

[88] Vgl. Lutz Mackensen 1984, S. 200.

[89] Vgl. Bernhard R. Martin 1992, S. 3.

[90] Vgl. Lutz Mackensen 1984, S. 206-209.

[91] Der letzte bekannte Druck stammt aus dem Jahr 1611.

[92] Otfrid Ehrismann 2002, S. 23.

[93] Vgl. Lutz Mackensen 1984, S. 212.

[94] Vgl. Otfrid Ehrismann 2002, S. 169.

[95] J. J. Bodmer: Epopöe, 4, zit. n. Otfrid Ehrismann 1975, S. 34.

[96] Bernhard R. Martin 1992, S. 5.

[97] Vgl. ebd. S. 6.

[98] Johannes v. Müller: Die Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft. Bd. 2. Leipzig 1825, S. 121, zit. n. Bernhard R. Martin 1992, S. 7.

[99] Lutz Mackensen 1984, S. 219 f.

[100] Lutz Mackensen 1984, S. 221.

[101] A. W. Schlegel: Geschichte der romantischen Literatur. Kritische Schriften und Briefe. Bd. 4. Hrsg. von E. Lohner, Stuttgart 1965, S. 30, 111, zit. n. Otfrid Ehrismann 1975, S. 56, 59.

[102] A. W. Schlegel: Aus einer noch ungedruckten historischen Untersuchung über das Lied der Nibelungen. Deutsches Museum. Hrsg. von F. Schlegel, Bd. I, 1812, S. 24, zit. n. Bernhard R. Martin 1992, S. 10.

[103] In seiner Autobiografie von 1840 schreibt Fouqué hierzu: „ All diese Wundergebilde [der Edda] walteten fortan im Geiste des Knaben vor, und sein liebstes Ringen, Forschen und Singen bezog er fortan auf sie, und diese geheimnißreiche Liebe und Sehnsucht hält noch vor in demselben nun 63 Jahre lang im irdischen Leibe wallendem Geiste. “, zit. n. Frank Rainer Max 1980, S. 78.

[104] Fouqués Werk ist stets geprägt vom Versuch der Vereinbarkeit der christlichen und germanischen Religion. Die Bilder des „ düster-unheimlichen Germanentums “ faszinierten ihn aber mehr als die „ scheinheilig-beruhigenden Gegenbilder des Christentums “, vgl. ebd., S. 82.

[105] Es war nach der Göttinger Professur G. F. Beneckes die erste für das Fach Germanistik, das damit fest im Wissenschaftssystem verankert wurde.

[106] Klaus von See 1994, S. 99.

[107] F. H. v. d. Hagen (Hrsg.): Der Nibelungen Lied. Berlin: Dümmler 180, zit. n. Bernhard R. Martin 1992, S. 13.

[108] August Zeune 1814, zit. n. Ursula Schulze 1997, S. 283.

[109] Lutz Mackensen 1984, S. 229.

[110] Vgl. Otfrid Ehrismann 1975, S. 96 f.

[111] Zit. n. ebd., S. 127.

[112] Ebd., S. 244 f.

[113] Zit. n. Lutz Mackensen 1984, S. 234.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783836614412
DOI
10.3239/9783836614412
Dateigröße
1.7 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Osnabrück – Sprach- und Literaturwissenschaften
Erscheinungsdatum
2008 (Juni)
Note
1,7
Schlagworte
germanenmythos hermannsschlacht nibelungen grabbe hebbel
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Titel: Der Germanenmythos im Drama des 19. Jahrhunderts
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