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Eurythmie im Lichte der Musikwissenschaft

Eine semiotische Analyse der Toneurythmie

©2007 Magisterarbeit 126 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass moderne Wissenschaften bestimmte Themengebiete in zunehmendem Maße detailliert aufgreifen, bildhaft gesprochen sich in bestimmte Wissensfelder immer tiefer hineinbohren. Als Folge dessen erscheinen zahlreiche Studien, die die Gegenstände ihrer Untersuchungen aus vielerlei Perspektiven und Gesichtspunkten heraus betrachten. Durch die Gesamtheit der jeweiligen Darstellungen vermögen diese eine vielseitige Auffassung zu vermitteln. Trotz diesem Umstand bleiben gewisse phänomenologische Bereiche lediglich am Rande oder sogar komplett außerhalb der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit.
Ein solches bisher nur wenig erforschtes Phänomen ist die Kunst der Eurythmie. Die vielfältigen Erscheinungsformen und Anwendungen dieser Bewegungskunst hätten eigentlich das Interesse verschiedenster Wissenschaften erwecken können. Für Sprech-, Sprach- und Literaturwissenschaft wäre z. B. die auf der Visualisierung der künstlerischen Sprache basierte Lauteurythmie ein relevanter Untersuchungsbereich. Die Toneurythmie, welche das musikalische Wesen der Instrumentalmusik durch Körpergebärden und Bewegungsformen im Raum (z. B. auf der Bühne) kunstgerecht darstellt, kann offensichtlich als Untersuchungsgegenstand der Musikwissenschaft aufgefasst werden. Therapeutische Möglichkeiten der Heileurythmie könnten für die medizinische Forschung von Bedeutung sein, genau wie die Anwendung der pädagogisch-didaktischen Eurythmie in der Waldorfpädagogik für die Erziehungswissenschaften. Dass der Begriff der Eurythmie nicht zwingend nur im Zusammenhang mit der menschlichen Körperbewegungskunst gesehen werden muss, zeigt die Existenz der Bühnenbeleuchtungskunst Lichteurythmie. Die Substanz, sowie die geschichtliche Entstehung und Entwicklung der Eurythmie im Allgemeinen dürfte für Studien in der Kunstphilosophie, Theaterwissenschaft, Semiotik, Soziologie, Anthropologie und sogar für die Sportwissenschaft von Interesse sein.
Als einziger nachvollziehbarer Grund für das wissenschaftliche Desinteresse ist hier die Tatsache zu erwähnen, dass die relativ junge eurythmische Kunst im Gesellschaftsleben nicht sonderlich präsent geworden ist. Die künstlerische Bühneneurythmie findet wenig Zuschauer. Eine Integration der therapeutischen Heileurythmie in das bestehende Gesundheitssystem erfolgt nur langsam und in geringem Ausmaß. Beispielsweise können die Kosten für Heileurythmiebehandlungen erst nach einem Urteil des […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Davit Drambyan
Eurythmie im Lichte der Musikwissenschaft
Eine semiotische Analyse der Toneurythmie
ISBN: 978-3-8366-1276-0
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2008
Zugl. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland, Magisterarbeit,
2007
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2008
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung...
1
1.1
Zum Verhältnis der Wissenschaft zur Eurythmie
und zum Ziel der Abhandlung...
1
1.2
Quellen- und Literaturüberblick...
4
2
Allgemeine Fragestellungen...
6
2.1
Was ist Eurythmie?
Eine Kurzbeschreibung der Erscheinungsformen...
6
2.2
Was ist Musiksemiotik?
Zum Verhältnis von Musikwissenschaft und Semiotik...
10
3
99 Jahre Eurythmie: von 1908 bis 2007
Eine Entstehungschronik mit besonderer Berücksichtigung
der toneurythmischen Entwicklung...
15
4
Methodenentwicklung zu einer musiksemiotischen
Analyse der Toneurythmie...
28
5
Das Zeichensystem der Toneurythmie:
Eine musiksemiotische Analyse der Grundelemente...
35
5.1
Eurythmie-Tonskala: Tonleiter und Tonspirale...
35
5.1.1
Die Dur-Skala...
35
5.1.2
Die Moll-Skala...
41
5.1.3
Die Chromatik...
44
5.1.4
Zum Verhältnis der Anzahl der Stufen in einer Tonleiter
und der metrischen Organisation der Musik...
60
5.1.5
Entwicklung einer modalen Gestik...
61
5.2
Intervalle und deren physiologische Grundlage...
66
5.2.1
Intervallerlebnisse...
66
5.2.2
Intervallgebärden...
69
5.2.3
Intervallschritte...
74
5.2.4
Intervallformen...
75

5.2.5
Weitere Aspekte der Intervallgestik
und die chromatische Intervalltabelle...
76
5.2.6
Yin-Yang-Skalen: Versuch einer Übertragung der eurythmischen
Prinzipien in das musiktheoretische Denken...
79
5.2.7
Yin-Yang-Skalen: praktische Anwendbarkeit...
86
5.3
Dur und Moll in der Eurythmie: Akkorde...
91
5.3.1
Dur- und Moll-Eurythmiefiguren: konsonierende Dreiklänge...
91
5.3.2
Umkehrungen der konsonierenden Dreiklänge...
95
5.3.3
Dissonanzgebärde und Septakkorde...
95
5.4
Stimmung in a
1
= 432 Hz und deren eurythmische Grundlage...
98
6
Fazit...
103
Literaturverzeichnis...
109
Abbildungsverzeichnis...
114
Tabellenverzeichnis...
115
Verzeichnis der Notenbeispiele...
116
Danksagung

1
1
Einleitung
1.1
Zum Verhältnis der Wissenschaft zur Eurythmie
und zum Ziel der Abhandlung
Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass moderne Wissenschaften bestimmte
Themengebiete in zunehmendem Maße detailliert aufgreifen, bildhaft gespro-
chen sich in bestimmte Wissensfelder immer tiefer hineinbohren. Als Folge
dessen erscheinen zahlreiche Studien, die die Gegenstände ihrer Untersu-
chungen aus vielerlei Perspektiven und Gesichtspunkten heraus betrachten.
Durch die Gesamtheit der jeweiligen Darstellungen vermögen diese eine viel-
seitige Auffassung zu vermitteln. Trotz diesem Umstand bleiben gewisse phä-
nomenologische Bereiche lediglich am Rande oder sogar komplett außerhalb
der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit.
Ein solches bisher nur wenig erforschtes Phänomen ist die Kunst der Eu-
rythmie. Die vielfältigen Erscheinungsformen und Anwendungen dieser Bewe-
gungskunst hätten eigentlich das Interesse verschiedenster Wissenschaften
erwecken können. Für Sprech-, Sprach- und Literaturwissenschaft wäre z. B.
die auf der Visualisierung der künstlerischen Sprache basierte Lauteurythmie
ein relevanter Untersuchungsbereich. Die Toneurythmie, welche das musikali-
sche Wesen der Instrumentalmusik durch Körpergebärden und Bewe-
gungsformen im Raum (z. B. auf der Bühne) kunstgerecht darstellt, kann offen-
sichtlich als Untersuchungsgegenstand der Musikwissenschaft aufgefasst wer-
den. Therapeutische Möglichkeiten der Heileurythmie könnten für die medizini-
sche Forschung von Bedeutung sein, genau wie die Anwendung der pädago-
gisch-didaktischen Eurythmie in der Waldorfpädagogik für die Erziehungswis-
senschaften. Dass der Begriff der Eurythmie nicht zwingend nur im Zusammen-
hang mit der menschlichen Körperbewegungskunst gesehen werden muss,
zeigt die Existenz der Bühnenbeleuchtungskunst Lichteurythmie. Die Substanz,
sowie die geschichtliche Entstehung und Entwicklung der Eurythmie im Allge-
meinen dürfte für Studien in der Kunstphilosophie, Theaterwissenschaft, Semi-
otik, Soziologie, Anthropologie und sogar für die Sportwissenschaft von Inte-
resse sein.
1
1
Zum Verhältnis von Gymnastik und Eurythmie siehe: Cernohorskà, Matanja. Gymnastik und
Eurythmie: Versuch einer Gegenüberstellung und Begegnung. Rendsburg/BRD: Lohengrin-
Verlag.

2
Als einziger nachvollziehbarer Grund für das wissenschaftliche Desinteresse ist
hier die Tatsache zu erwähnen, dass die relativ junge eurythmische Kunst im
Gesellschaftsleben nicht sonderlich präsent geworden ist. Die künstlerische
Bühneneurythmie findet wenig Zuschauer. Eine Integration der therapeutischen
Heileurythmie in das bestehende Gesundheitssystem erfolgt nur langsam und
in geringem Ausmaß. Beispielsweise können die Kosten für Heileurythmiebe-
handlungen erst nach einem Urteil des Bundessozialgerichtes vom 22.03.2005
(Aktenzeichen B 1 A 1/03 R) in der Bundesrepublik Deutschland durch die ge-
setzlichen Krankenkassen erstattet werden. Somit wurde die Heileurythmie als
ein alternativmedizinisches bewegungstherapeutisches Mittel anerkannt. Zu-
dem existieren Studien, welche die therapeutische Wirksamkeit der Heileuryth-
mie nachweisen.
2
Dass Eurythmie ein Pflichtfach an den Waldorfschulen ist
,
brachte augenscheinlich wenig für die Popularisierung dieser Kunst, führte je-
doch in der breiten Öffentlichkeit zur klischeehaften Vorstellung vom `Waldorf-
tanzen' bzw. von `Kindern, die ihren Namen tanzen'. Bei der Gründung der
ersten Waldorfschule 1919 in Stuttgart integrierte Rudolf Steiner
3
,,die Euryth-
mie als volles, zwölfjähriges Unterrichtsfach [...]" (Parr, 1993: 42) bereits in den
Grundplan. Somit wurde die Eurythmie zum einzigen nur für die Waldorfpäda-
gogik spezifischen obligatorischen Schulfach. Inzwischen bezeichnen viele Ab-
gänger der Waldorfschulen die Eurythmie als ,,Hassfach", das ihnen auf die
Nerven ging ­ ein Spiegelartikel in dem dies behauptet wird ist sogar als
,,Hassfach Eurythmie" betitelt (Holm, 2007). Die Aussage: ,,In der allgemeinen
Kunstrezeption ist die Eurythmie nicht von Bedeutung ­ sie führt ein Schatten-
dasein" (Parr, 1993: 195) kommentiert die Situation insgesamt sehr treffend.
In der vorliegenden Untersuchung wird folglich ein bislang wenig erforschtes
Gebiet betreten. Was das Verhältnis von Musikwissenschaft bzw. Zeichenwis-
senschaft und Eurythmie angeht, so ist sogar von einer Grundlagenforschung
zu sprechen, wie die gegenwärtige Literaturlage deutlich werden lässt. For-
schungsarbeiten, die sich explizit mit Toneurythmie aus musikwissenschaftli-
cher Perspektive auseinandersetzen, sind bis auf eine Untersuchung von
2
Siehe dazu Ursula Langerhorsts Bericht aus der Therapie mit Magersucht-Patientinnen mit
einer gutachterlichen Stellungnahme von Peter Petersen in seiner Eigenschaft als Professor für
Psychotherapie und Fachmann für Psychosomatik: Langerhorst, Ursula S.; Petersen, Peter
(1999). Heileurythmie ­ ihre Wirkung und ihre wissenschaftliche Bewertung. Verlag Urachhaus.
3
Rudolf Steiner (1861-1925) ­ Philosoph, Esoteriker, Begründer der Anthroposophie und
Inaugurator der Waldorfpädagogik, der Eurythmie, der anthroposophischen Medizin und biody-
namischer Landwirtschaft.

3
Kretschmer (2001) derzeit nicht vorhanden. Im Bereich der zeichenwissen-
schaftlichen Untersuchung der Toneurythmie fehlen entsprechende wissen-
schaftliche Auseinandersetzungen gänzlich. Gleichzeitig gilt, dass die Euryth-
mie eine Kunst ist, die bewusst auf geisteswissenschaftlicher Basis entwickelt
wurde!
Um erste Anstöße zu geben, diese Forschungslücke zu schließen, wird im
Rahmen der vorliegenden Abhandlung die Toneurythmie als Teilbereich der
eurythmischen Kunst im musikwissenschaftlichen und semiotischen (zeichen-
wissenschaftlichen) Sinne beleuchtet. Es wird zum einen ein allgemeiner Er-
kenntnisgewinn für diese beiden Disziplinen angestrebt, und zum anderen das
Entwicklungspotenzial toneurythmischer und musikalischer Ausdrucksmittel
aufgezeigt.
Zunächst wird auf die Entwicklungschronik der eurythmischen Kunst mit be-
sonderem Augenmerk auf die toneurythmische Arbeit eingegangen. Ziel ist es,
die Entstehungsgeschichte des toneurythmischen Zeichensystems zu verfol-
gen. Mitunter gilt es noch die von Steiner postulierte Beziehung der Eurythmie
zur griechischen Antike zu überprüfen. Steiners Auffassung nach greift die Eu-
rythmie auf bestimmte antike Traditionen der Mysterientänze zurück und ver-
sucht diese in der Neuzeit adäquat weiterzuentwickeln. Im Weiteren wird das
bestehende, auf die musikalischen Grundelemente bezogene Zeichensystem
der Toneurythmie (Körpergebärden und Körperbewegungsformen) musiksemi-
otisch analysiert. Die Durchführung der Analyse vermag die einzelnen Grund-
elemente der Toneurythmie mit musikalischen Phänomenen einerseits und mit
Zeichenphänomenen anderseits in einen systematischen Zusammenhang zu
bringen. Aus einer geisteswissenschaftlichen Perspektive heraus soll das Ent-
wicklungspotenzial des toneurythmischen Zeichensystems als Resultat der For-
schung sichtbar gemacht werden, sowie Anregungen für das musiktheoretische
Denken und das praktische Musizieren, z. B. in Form eines neuen Skalenmo-
dells, gegeben werden.
Es sei darauf hingewiesen, dass im Rahmen dieser Abhandlung sämtliche
Fragestellungen zur postulierten Willkürlichkeit des Zeichens und die daraus
resultierenden grundsätzlichen Probleme einer zeichenwissenschaftlichen He-
rangehensweise für das `Selbstverständnis' der Eurythmie außer Acht gelassen
werden. Unter dem Selbstverständnis der Eurythmie ist hier die Einstellung
Steiners und vieler Eurythmisten zu verstehen, welche im folgenden Zitat zum

4
Ausdruck kommt:
Für die verschiedenen Lautgebärden fertigte Rudolf Steiner Skizzen an, die dem Eu-
rythmisten als Arbeitsmaterial dienen sollen. Bewegungen können nicht wirklich durch
eine Photographie oder eine Zeichnung wiedergegeben werden, denn es liegt ihnen ein
Prozeß zugrunde, von dem nur ein Bruchteil oder der Schluß festgehalten werden kann.
Die Skizzen Rudolf Steiners zeigen jeweils die Endpositionen einer Bewegung, an der
dann der vorausgegangene Ablauf abzulesen ist. Wenn eine Bewegung in ihre Endstel-
lung hineinfließt, tritt ein Erstarren ein, und es ist nicht leicht, sie in diesem Stadium le-
bendig zu halten. Die dem Laut ,,A" entsprechende Bewegung ist nicht durch äußerlich
geöffnete Arme gegeben, sondern der Prozess des Öffnens ist das Wesenhafte dieses
Lautes. [...] Ebenso zeigt sich das Wesen des Lautes ,,E" durch einen zusammenziehen-
den Bewegungsablauf, nicht erst durch die endgültige zur Kreuzung gekommenen Arme
oder Hände ­ damit wäre nur ein äußeres Zeichen gegeben. Das Eurythmische soll aber
nicht etwas Bestimmtes b e d e u t e n , also einen symbolischen Charakter haben, sondern
sie soll etwas Bestimmtes s e in (Schimmel, 1993: 28-29).
Diese Haltung kann sogar die grundsätzliche Widrigkeit eines zeichenanalyti-
schen Herangehens an die Eurythmie suggerieren. Dem Problem wird dadurch
entgangen, dass vor allem prozessuale Aspekte der Entwicklung von Zeichen-
systemen (Semiose) in den Betrachtungsmittelpunkt gestellt werden, wobei die
Toneurythmie zusam men mit der Musik zur Kategorie eines musikalisch-
eurythmischen ästhetischen Superzeichens erhoben wird. Bei semiotischen
Vorgängen fungieren die Mimesis (Nachahmung) und die Kreativität als Schlüs-
sel zur Schatztruhe der Hervorbringung von genuin Neuem.
1.2
Quellen- und Literaturüberblick
Als Hauptquellen der hier wiedergegebenen Informationen sind zunächst Vor-
träge des Gründers der Eurythmie Rudolf Steiner zu nennen, insbesondere die
acht Vorträge, gehalten in Dornach vom 19. bis 27. Februar 1924, welche zu-
sammen mit einem Aufsatz vom 2. März 1924 und mit dazugehörigen Notiz-
bucheintragungen im Band ,,Eurythmie als sichtbarer Gesang: Ton-Eurythmie-
Kurs" in mehreren Auflagen herausgegeben wurden (Steiner, 1999). Diesen
Band kann man als `die kleine Bibel der Toneurythmie' bezeichnen, da Steiner
in diesen Vorträgen die Quintessenz der Toneurythmie zum damaligen Stand
ausführlich darlegte. Eine weitere Primärquelle bilden Steiners sämtliche Form-
aufzeichnungen für die Toneurythmie (Steiner, 1994b). Als äußerst bedeutsam
erweist sich außerdem der Band ,,Die Entstehung und Entwickelung der Eu-
rythmie" (Steiner, 1982), in dem wichtige Dokumente zusammengestellt sind,
welche die unmittelbaren Anfänge und internen Entwicklungen der Eurythmie

5
betreffen, aus der Zeit vom Dezember 1911 bis hin zu Steiners Tod im März
1925, darunter die durch die erste Eurythmistin Lory Maier-Smits
4
wiedergegebenen ausführlichen Berichte zum ,,dionysischen Kurs" und zum
,,apollinischen Kurs". Letztlich können hier noch Steiners Ansprachen zu Eu-
rythmieaufführungen, sowie weitere Primärquellen, welche die Eurythmie im
Allgemeinen betreffen genannt werden, wie z. B. der bekannte Laut-Eurythmie-
Kurs ,,Eurythmie als sichtbare Sprache" (Steiner, 1994a)
5
oder die Bücher der
`zweiten' Eurythmistin Annemarie Dubach-Donath
6
,,Die Grundelemente der Eu-
rythmie" (Dubach-Donath, 1988) und ,,Die Kunst der Eurythmie: Methodische
Erweiterungen der Grundelemente" (Dubach-Donath, 1983). Diese Quellen
enthalten allerdings wenig für die Toneurythmie explizit relevantes Material.
Dasselbe trifft auch auf die meisten sekundären Quellen zu. Außerordentliche
Wichtigkeit erhält deshalb der bereits erwähnte Band zur Toneurythmie, ge-
schrieben von Hans-Ulrich Kretschmer (2001). Seine Ausführungen haben zwar
durchaus wissenschaftlichen, jedoch ausgesprochen esoterischen Charakter
und setzen die Kenntnis der Anthroposophie voraus. Dagegen ist die Disserta-
tion von Thomas Parr ,,Eurythmie ­ Rudolf Steiners Bühnenkunst" als die bis-
lang wahrscheinlich einzige `im he rkömmlichen Sinne wissenschaftliche'
Untersuchung zur Eurythmie zu erachten. Diese wurde am theaterwissen-
schaftlichen Institut der Universität Erlangen-Nürnberg im Jahr 1992 angenom-
men, und enthält unter anderem zahlreiche Foto-Abbildungen von toneurythmi-
schen Gebärden (Parr, 1993). Fotographische Abbildungen von Eurythmiedar-
stellern sind in den Veröffentlichungen zur Eurythmie generell ungewöhnlich
und scheinen fast unerwünscht zu sein. Trotzdem werden auch im Rahmen der
vorliegenden Abhandlung einige Fotographien nachgedruckt (hauptsächlich aus
Parr, 1993). Diese haben einen rein illustrativen Charakter. Die Arbeit von Parr
ist auch insofern auffallend, dass diese bei der allgemeinen Darstellung der Eu-
rythmie den Schwerpunkt der Ausführung gerade auf die Toneurythmie setzt.
4
Lory Smits, bzw. Lory Maier-Smits (1893-1971) ­ direkte Schülerin von Rudolf Steiner, die
erste Berufseurythmistin der Geschichte (Darstellerin und Lehrerin). Ihr Engagement hatte die
maßgebliche Bedeutung für die Entstehung der Eurythmie.
5
Analog zu dem Toneurythmiekurs kann dieser Band wiederum als `die kleine Bibel der Laut-
Eurythmie' bezeichnet werden.
6
Annemarie Dubach-Donath (1895-1972) kann geschichtlich als die `zweite Eurythmistin'
gesehen werden, da sie sich bereits Mitte März 1913 der Arbeit von Lory Smits anschloss und
schon bald außerordentlich aktiv wurde.

6
2
Allgemeine Fragestellungen
2.1
Was ist Eurythmie?
Eine Kurzbeschreibung der Erscheinungsformen
Die Eurythmie kann als eine expressive Bühnenkunst, deren Aufführung haupt-
sächlich durch Gebärden und fortwährende Körperbewegung der Eurythmie-
darsteller (=Eurythmisten) im Raum erfolgt definiert werden, bzw. im weitesten
Sinne als eine Art Tanz aufgefasst werden. Sie entstand Anfang des 20. Jahr-
hunderts (zwischen 1911 und 1925) in Deutschland und in der Schweiz im
Schaffenskreis von Rudolf Steiner unter seiner Anleitung.
Die Bühneneurythmie wird hauptsächlich als eigenständige darstellende
Kunst betrieben, kann aber auch als eine Komponente in Theaterinszenierun-
gen integriert werden. Bekannt ist z. B. die am anthroposophischen Goethea-
num in Dornach/Schweiz jährlich aufgeführte Bühneninszenierung der unge-
kürzten Fassung von Goethes ,,Faust I und II". In dieser im Wesentlichen thea-
tralischen Inszenierung findet auch die Eurythmie ihre Anwendung. Es können
außerdem noch die Aufführungen von den vier Mysteriendramen Rudolf Stei-
ners, insbesondere ,,Der Hüter der Schwelle" und ,,Der Seelen Erwachen" er-
wähnt werden (vgl. Steiner 1982: 16-17, 47 und Parr, 1993: 105).
Beim Betrachten einer klassischen Bühneneurythmie-Inszenierung zeigen
sich rein äußerlich folgende auffällige Merkmale:
·
schlichtes Bühnenbild ­ es können zwar prinzipiell auch stilisierte Kulisse,
Requisiten und Masken in Erscheinung treten, um die Bühneninterpretation
des zu eurythmiesierenden Werkes zu bereichern, sind aber in der Praxis
äußerst selten;
·
eine wechselnde farbige Bühnenbeleuchtung, welche einen eigenständigen
Zweig der eurythmischen Kunst, nämlich die Lichteurythmie darstellt;
·
lange, ungemusterte farbige Gewänder, in welche Frauen und auch Män-
nern wie in eine `künstlerische Uniform' gekleidet sind;
·
eine aufrechte und doch `geerdete' Körperhaltung (mit kontrolliertem Boden-
kontakt) ohne extreme Körperspannung, eine fließende Bewegungsart der
Eurythmisten ­ kaum Sprünge, keine Akrobatik, die Beine werden nicht
hochgehoben, dafür sehr viel Arbeit aus den Schultern mit den Armen und
Händen. In Kombination mit dem über die Arme und die Schulter getrage-
nen Schleier wirken diese intensiven Armbewegungen zum Teil wie `Flügel
schlagen'.

7
Allgemein betrachtet, ist die Eurythmie von der Bewegungsart in gewisser Hin-
sicht eher mit der chinesischen Bewegungskunst Tai Chi vergleichbar als mit
den meisten verbreiteten Tanzgattungen. Ein wichtiger Unterschied besteht je-
doch zwischen Tai Chi und Eurythmie ­ während in der gängigen Tai-Chi-An-
wendung das Bewegungszentrum in das Dan Tien gesetzt wird (ein Punkt im
Bauchinneren, zwei und einen halben Finger breit unter dem Bauchnabel) hat
die eurythmische Bewegung ihr Zentrum im Brustraum bzw. im Herz. Da aber in
vertiefter Tai-Chi-Praxis und in den verwandten Tai Chi Qi-Gong Arten (insbe-
sondere im Duft Qi-Gong) das energetische Herzzentrum Dan Zhong neben
dem Dan Tien zum Tragen kommt, und da es in der Eurythmiegeschichte auch
schon Überlegungen gab, mehrere Bewegungszentren bewusst zu nutzen,
könnte eine vernünftige Vergleichsstudie die Möglichkeiten einer gegenseitiger
Bereicherung dieser zwei Bewegungskünste aufzeichnen.
In Bezug auf das Ausgangsmaterial sind Lauteurythmie, Toneurythmie und
stumme Eurythmie zu differenzieren. Bei der Lauteurythmie handelt es sich um
eine Darstellung der gesprochenen (rezitierten) Worte, hauptsächlich Dichtun-
gen. Dies geschieht, indem einer oder mehrere Sprecher (zuweilen sogar ein
Sprechchor) eine Dichtung künstlerisch vortragen, und einer oder mehrere Eu-
rythmisten dazu `tanzen'. Im Kontext der modernen Kunstgattungen ist die
Lauteurythmie insofern einzigartig, dass sie die einzelnen Sprachphänomene
und Dichtungsstile mittels einer breiten Palette an Interpretationsregeln in Ges-
tik und Choreographien umsetzt. Solch eine Darbietung kann womöglich Asso-
ziationen mit der Pantomime hervorrufen. Im wesentlichen Unterschied zur
Pantomime ist die Eurythmie jedoch nicht bedeutungsillustrativ. Eurythmische
Darbietung kann unter Umständen auch einen ausgesprochen mystischen, ja
fast gruselig-gespensterhaften Eindruck hinterlassen.
Die Toneurythmie wirkt wiederum weniger geheimnisvoll. Durch die gängige
Kombination von klassischer Musik und Körperbewegung ähnelt sie entfernt
dem klassischen Ballett, wird aber sehr viel weniger körperbetont inszeniert. Für
die Toneurythmie kommen außerdem alle Gattungen der Instrumentalmusik
gleichermaßen in Betracht, ohne die für das klassische Ballet charakteristische
Bevorzugung der Tanzmusik. Sinfonien, Instrumentalkonzerte, Streichquartette,
Klaviersonaten u. a. werden de facto viel häufiger eurythmisiert als Werke der
musikalischen Gattung Ballett, obwohl es keine festgelegte Einschränkung
diesbezüglich gibt. Bei Aufführungen durch mehrere Eurythmisten ist oftmals

8
ein Zusammenhang zwischen den orchestralen Instrumentengruppen und den
Bewegungsformen der einzelnen Gruppen von Eurythmisierenden leicht er-
kennbar.
Die wenigen stummen Eurythmieformen, welche eine `reine' Eurythmie ohne
gesprochene Worte und ohne Musikbegleitung darbieten, können auf den `nicht
eingeweihten' Zuschauer befremdlich wirken. Abgesehen von einem durchaus
möglichen unmittelbaren visuell-ästhetischen Genuss der `puren Bewegung',
kann die stumme Eurythmie gewisse Assoziationen mit einem Zauberkult erwe-
cken. Sachkundige hingegen, die z. B. die festgelegten Verknüpfungen zwi-
schen bestimmten Gebärden und den sieben Planeten sowie den zwölf Tier-
kreiszeichen kennen, können den Inhalt und die Bedeutung der stummen Eu-
rythmie für sich erschließen.
Generell sehen Auftritte von Einzeleurythmisten weniger beeindruckend aus
als eine Gruppendarbietung, welche zuweilen durch Solisten unterstützt wird.
Hierbei kommt auch der soziale Aspekt der Eurythmie zum Vorschein. Aller-
dings gibt es in der Eurythmie keine gegenseitigen Körperberührung ­ so gese-
hen macht jeder Darsteller seine Form und Gebärden für sich, dabei interagie-
ren die Eurythmisten über den Raum in ihrem Umfeld, bzw. über den Raum
zwischen den Darstellern einer Gruppe sowie über die räumlichen Verhältnisse
zwischen einzelnen Gruppen.
Man kann die Eurythmie an verschiedenen anthroposophischen Institutionen
professionell erlernen. Für gewöhnlich erfolgen die mehrjährigen eurythmischen
Berufsausbildungen und Hochschulstudiengänge in Vollzeit. Für Personen,
welche eine künstlerische Bühneneurythmieausbildung erfolgreich absolvieren,
werden ergänzende Weiterbildungskurse bzw. Aufbaustudiengänge für päda-
gogische Eurythmie und Heileurythmie angeboten. Zusätzlich zu der eigentli-
chen eurythmischen Technik sind für praktizierende Künstler auch Kenntnisse
in Anatomie, Sprachgestaltung, Poetik, Musiktheorie, Bühnenbeleuchtung, Far-
benlehre, Geometrie, eurythmischer Choreografie und der philosophisch-esote-
rischen Lehre der Anthroposophie zu erwerben. Von Eurythmielehrern und
Heileurythmisten werden außerdem fachspezifische pädagogische und medizi-
nische Kenntnisse erwartet.

9
Der Name `Eurythmie' wurde von Marie Steiner
7
am 24. September 1912 spon-
tan vorgeschlagen und von Rudolf Steiner sofort und dauerhaft bestätigt (vgl.
Steiner, 1982: 44). Im Übrigen fing Marie Steiner ab 1914 an, sich intensiv mit
der Eurythmie zu befassen und deren Entwicklung zu betreuen. Parr kommen-
tiert diese `Wortschöpfung' folgendermaßen:
Marie Steiner hatte mit diesem Terminus wohl an den Schriftsteller Emil Sigogne und
dessen Werk <Eurythmie> von 1907 angeknüpft ­ sie war mit dem belgischen Autor be-
freundet. Dieses Buch Sigognes befindet sich ebenfalls in der nachgelassenen Bibliothek
Steiners. Der Ausdruck dürfte Steiner jedoch schon lange vor der Erfindung seiner
anthroposophischen Kunst bekannt gewesen sein, da er im Besitz verschiedener Publi-
kationen war, die diesen erwähnen. So findet man im <Lucian> (übersetzt 1860 von Th.
Fischer) eine Erwähnung des Namens <Eurythmie> für einen Bewegungszusammen-
hang bei den Griechen" (Parr, 1993: 118).
In Weiterem zählt Parr die verschiedenen Autoren auf, welche das Wort (auf
Tanzkunst bzw. Körperbewegung bezogen) vor Steiner gebraucht haben: Ru-
dolph Voss in 1869, Albert Czerwinsky in 1879, Emile Jaques-Dalcroze
8
in 1907
(Parr, 1993: 119). Bekannt ist außerdem eine Untersuchung zur altgriechischen
lyrischen Literatur in Bezug auf Versmaß, Metrik, Rhythmus, Melos, Takt und
Pausen, welche J. H. Heinrich Schmidt 1868 vornahm: ,,Die Eurythmie in den
Chorgesängen der Griechen".
Was die Orthographie des Wortes anbelangt, so ist diese an die Aussprache
des Altgriechischen angelehnt, wo die durch das `h' repräsentierte Behauchung
(Aspiration) des `r' von `Rhythmus' ,,entfiel, wenn die Vorsilbe <eu> (=gut, wohl)
hinzutrat" (Parr, 1993: 120). Trotzdem ist die Schreibweise `Eurhythmie' gele-
gentlich aufzufinden, insbesondere im Internet.
Die griechische Vorsilbe eu- (bzw. ev-) kann `gut', `wohl', `richtig', `schön'
oder `gleichmäßig' bedeuten (vgl. z. B. Ev-angelium = die gute Kunde, Eu-gen =
der wohl Schaffende), der Stamm `rythm' kann als `Rhythmus' oder allgemein
als `Bewegung' aufgefasst werden. Daher wäre die Eurythmie dem Namen
nach als `Gleichmaß an Bewegung' oder `Schöne Bewegung' wie auch als
`rhythmische Bewegungskunst' zu interpretieren.
7
Marie Steiner bzw. Marie Steiner-von Sivers (1867-1948) ­ russisch-deutsche Schauspiele-
rin, Theosophin bzw. Anthroposophin und Rudolf Steiners zweite Ehefrau. Sie gründete 1908
den Philosophisch-Theosophischen Verlag in Berlin (Umbenennung in Philosophisch-Anthropo-
sophischer Verlag 1913 und Verlegung ins schweizerische Dornach 1923). Die Gründung der
Sprachgestaltung geht ebenfalls auf Marie Steiner zurück.
8
Emile Jaques-Dalcroze (1865-1959) ­ Schweizer Komponist, Gründer einer rhythmischen
Gymnastik, der sogenannten ,,Dalcroze-Schule". Parr verwendet eine falsche Schreibweise:
,,Jaques-Emil Dalcroze" (vgl. Parr 1993: 9 ff.).

10
2.2
Was ist Musiksemiotik?
Zum Verhältnis von Musikwissenschaft und Semiotik
Da es sich hier um die Absicht handelt, das Kunstphänomen der Toneurythmie
musikwissenschaftlich und semiotisch zu erforschen, stellt sich zunächst die
Frage nach dem Verhältnis zwischen diesen beiden wissenschaftlichen Diszip-
linen. Festzustellen ist, dass sowohl die Musik- als auch die Zeichenwissen-
schaft in der griechischen Antike verwurzelt sind. In Bezug auf die geschichtli-
che Weiterentwicklung hatten beide jedoch ein unterschiedliches Schicksal.
Während das musiktheoretische Denken schon vor Jahrhunderten einen eigen-
ständigen Wissenschaftszweig begründete, gelang der Semiotik erst in der
Neuzeit der wesentliche Schritt zur Emanzipation von der allgemeinen Philoso-
phie und Sprachwissenschaft. Auch heute noch hat die Musikwissenschaft ei-
nen weitaus höheren Bekanntheits- und Popularitätsgrad. Das zeigt sich unter
anderem bei einem Vergleich der Studienmöglichkeiten für diese beiden Wis-
senschaften: so wurde die Musikwissenschaft beispielsweise im Sommerse-
mester 2007 an 44 staatlichen Hochschuleinrichtungen in der BRD als Haupt-
und/oder Nebenfach angeboten, wohingegen die Semiotik (auch unter den ver-
wandten Begriffen Semiologie und Zeichenwissenschaft) als eigenständiges
Studienfach überhaupt nicht existiert.
9
Die Grundlagen einer Musiktheorie wurden bekanntlich im 6 Jh. v. Chr. von
den Pythagoräern
10
ausgeprägt (vgl. Sachs, 1997: 1717-1718). Etwa 150 Jahre
später, in seinem berühmten Dialog ,,Politeia" bezeichnet Platon
11
die Ausbil-
dung des idealen Staatsmannes durch Musik als vorzüglichste, ,,weil am tiefsten
in die Seele Rhythmus und Harmonie eindringen, sie am stärksten ergreifen
und ihr edle Haltung verleihen" (Platon, 1994: 183). Die übrigen Ausbildungsfä-
cher waren Dialektik, Geometrie, Astronomie und Arithmetik. Ab der Zeit Sene-
cas
12
kristallisierte sich eine für das Mittelalter übliche Aufteilung der Studienfä-
9
Auskunft über die Studienberatungsstelle der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
vom April 2007, vgl. auch die Datenbank unter www.hochschulkompass.de.
10
Die philosophisch-religiöse Schule der Pythagoräer entstand um 525 v. Chr. als eine
Gemeinschaft von sechshundert Männern und Frauen im Umkreis des griechischen Philoso-
phen und Mathematikers Pythagoras von Samos (ca. 570­510 v. Chr.).
11
Platon (427-347 v. Chr.) ­ einer der bedeutendsten Philosophen der griechischen Antike,
lebte in Athen. Nach der Hinrichtung seines Lehrers Sokrates in 399 v. Chr. ging er auf Reisen
und besuchte u. a. die Pythagoräer in Unteritalien.
12
Lucius Annaeus Seneca, auch Seneca der Jüngere genannt (1-65 n. Chr.) ­ ein römischer
Philosoph-Stoiker, Dramatiker, Naturforscher und Staatsmann, war einer der meistgelesenen
Schriftsteller seiner Zeit.

11
cher in die Sieben freien Künste (Lat. Septem artes liberales), welche als an-
gemessene Bildung eines freien Mannes galten, sowie als Vorbereitung auf die
`eigentlich wissenschaftlichen' Studienfächer Theologie, Jurisprudenz und Me-
dizin. Dabei gehörte die theoretische Musik wie auch die Arithmetik, Geometrie
und Astronomie zum Quadrivium (`vier Wege') der mathematischen Fächer (vgl.
Sachs, 1997: 1720). Diese vier weiterführenden `artes' waren als Aufbau zum
Trivium (`drei Wege') der sprachlich und argumentativ-logisch ausgerichteten
Fächer der Grammatik, Rhetorik und Dialektik (bzw. Logik) zu praktizieren. Die
hauptsächliche Beschäftigung der Musiktheoretiker bestand zumeist darin, reli-
giöse, mathematische und kosmologische Teilphänomene mit den Tonleitern
und Rhythmen rein begrifflich in einen Zusammenhang zu bringen.
Die Musikgeschichtsschreibung gewann an Bedeutung erst seit dem 18.
Jahrhundert (vgl. Cadenbach, 1997: 1790), und seit dem Ende des 19. Jahr-
hunderts setzte die Musikethnologie ein. Die Aspekte der theoretischen Syste-
matik, Historiographie und Völkerkunde bilden somit die drei `Grundsäulen' der
modernen Musikwissenschaft. Ihre konsequente Entwicklung kann sowohl in
eng spezialisierter Forschung, als auch in der Erweiterung der ursprünglichen
Aufgabenfelder gesehen werden.
Für eine Beschäftigung mit dem Phänomen der Toneurythmie, welche durch
ihre konzeptuelle Verknüpfung der Körpergebärden und Bewegungsformen im
Raum mit bestimmten musikalischen Elementen auffällt, kommt vor allem die
musikwissenschaftliche Systematik in Betracht. Die musikgeschichtliche Kennt-
nis über den Zustand und die wesentlichen Entwicklungszüge der Musik zu
Anfang des 20. Jahrhunderts, welche das Bild der Toneurythmie im Kontext
ihrer Entstehungszeit vervollständigt, muss dabei vorausgesetzt werden. Für
den musikethnologischen Teilbereich hat die sich fast ausschließlich auf die
klassische Musik `spezialisierte' Toneurythmie offenbar wenig Relevanz, es sei
denn, man beschäftigt sich mit spezifischen Fragen zu den Möglichkeiten einer
toneurythmischen Darstellung der Volksmusik.
Da die musikwissenschaftliche Betrachtung aus der Sicht der Systematik
intendiert ist, gilt es an dieser Stelle zu präzisieren, dass hierunter eine kom-
plexe Musiktheorie mit einer Gruppe von Themengebieten wie Melodielehre,
Tonsatz, Kontrapunkt, Harmonielehre, Zwölftonlehre, Formenlehre, Instrumen-
tenkunde, Stimmung, Akustik, Musikpsychologie, Informatik usw. zu verstehen

12
ist. Es bietet sich an, bei der Untersuchung der künstlerischen Sprache der
Toneurythmie diverse relevante Teilbereiche der Systematik aufzugreifen.
Im Vergleich zur Musikwissenschaft hat die Semiotik (oder Semiologie) als ei-
genständige Disziplin keine so lange Tradition. Zwar lieferten die Stoiker bereits
im dritten Jahrhundert vor Chr. die ersten Ansätze einer Lehre über Zeichen,
doch bis zum 17. Jahrhundert blieb die Entwicklung einer umfassenden Zei-
chentheorie eher am Rande der geisteswissenschaftlichen Beschäftigung.
Selbst der Begriff der `Semiotik' kam erstmalig mit John Locke
13
in dem letzten
Kapitel seiner philosophisch-metawissenschaftlichen Abhandlung ,,Versuch
über den menschlichen Verstand" zum Einsatz (Locke, 1988: 438).
Die wesentlichen Entwicklungsimpulse bekam die Zeichenwissenschaft im
Grunde erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts durch Ferdinand de Saussure
14
und Charles Sanders Peirce
15
, die unabhängig von einander unterschiedliche
Zeichentheorien modellierten. Während das dyadische Zeichenkonzept von
Saussure aus sprachwissenschaftlichen Überlegungen hervorgegangen ist,
stellte Peirce mit seinen Triaden ein allgemein philosophisch, dialektisch und
logisch begründetes Modellsystem vor. Die Weiterentwicklungen des modernen
zeichenwissenschaftlichen Denkens sind bis heute wesentlich durch diese zwei
Grundkonzepte bestimmt. Als vielleicht bekanntesten Semiotiker unserer Tage
könnte man Umberto Eco
16
nennen, der aber vor allem durch seine hervorste-
chenden literarischen Werke großes Ansehen als Schriftsteller erlangte. Er
streifte in seinen Arbeiten zur Semiotik unter anderem auch musikalische As-
pekte, allerdings scheinen mir seine musiksemiotischen Auslegungen weniger
einfallsreich zu sein (z. B. Eco, 2002).
Die Anwendung vor allem des triadischen Grundmodells der Semiotik auf
die Phänomene einzelner toneurythmischer und musikalischer Elemente wird in
den Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit gestellt. Dadurch kann die Semiotik den
Platz zwischen den toneurythmischen Darstellungssystemen einerseits und den
musiktheoretischen Auffassungen anderseits einnehmen. Solch eine Handha-
13
John Locke (1632-1704) ­ einflussreicher englischer Philosoph, Erkenntnistheoretiker,
Hauptvertreter des englischen Empirismus.
14
Ferdinand de Saussure (1857-1913) ­ schweizer Sprachwissenschaftler, dessen semiologi-
sche Auffassungen insbesondere im Strukturalismus weiterentwickelt wurden.
15
Charles Sanders Peirce (1839-1914) ­ US-amerikanischer Logiker und Philosoph, der Be-
gründer von Pragmatizismus und einer komplexen Zeichentheorie.
16
Umberto Eco (geb. 1932) ­ italienischer Schriftsteller und Philosoph, der Autor von Roma-
nen ,,Der Name der Rose" und ,,Das Foucaultsche Pendel". Als Semiotiker hat er seit 1971
Professur an der Universität Bologna und besitzt 31 Ehrendoktortitel.

13
bung berechtigt die Stellung der Semiotik als `Grundlagenwissenschaft', da ,,es
keine Wissenschaft ohne Zeichen geben kann" (Walter, 2002: 150).
In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass die Verknüpfungsmög-
lichkeiten zwischen der Semiotik und der Musikwissenschaft, bzw. zwischen
der Semiotik und sonstigen Fachwissenschaften nicht unumstritten sind. Das
folgende Zitat illustriert einen Aspekt der Problematik:
Die Fachwissenschaften fragen oft und mit gutem Recht, welchen Sinn es haben soll,
Sachverhalte [...] der Semiotik zuliebe, mit Vokabeln wie ,,Zeichen" oder ,,Superzeichen"
zu ettiketieren und unter veränderter Bezeichnung wieder aufzugreifen. [...] Was die
Fachwissenschaften an den unstreitbar richtigen Behauptungen der Semiotik, etwa an
dem Basissatz ,,Alles ist Zeichen" stört, ist nicht, daß er nicht zutreffen würde, sondern
gerade das Gegenteil, daß er immer zutrifft und zu trivial ist. Auch die nicht zu leugnende
Behauptung ,,Alles wird durch Zeichen vermittelt" krankt gerade daran, daß sie nicht sagt,
was und wie mit Hilfe von Zeichen vermittelt wird, sondern etwas behauptet, was ohnehin
niemand bestreitet (Faltin, 1985: 40).
Was das konkrete Verhältnis zwischen Semiotik und Musikwissenschaft anbe-
langt, so werden in der Fachliteratur zur Musiksemiotik die Probleme mit der
Definition von Musik als Zeichensystem, der universale Anspruch der Kommu-
nikationstheorie sowie die willkürliche Setzung der Musik als Kommunikations-
system und somit als Zeichensystem thematisiert (vgl. Schneider, 1980: 49).
Hinzu kommt eine ziemlich radikale Diskussion zur 'musikalischen Symbo-
lik'. Der Begriff der musikalischen Symbolik ist mit dem des (musikalischen)
Zeichens verwandt, und somit als Bestandteil der Musiksemiotik aufzufassen.
Man vergleiche folgende zwei Zitate, welche die unterschiedlichsten Stand-
punkte nur all zu deutlich illustrieren:
Jedes Element der Musik, sei es, welches es wolle, ob Rhythmus, Zeitmaß, Dynamik,
Klangfarbe, Tonart, Melodie, Harmonie, kann zum Träger eines Symbolischen erhoben
werden, denn jedes reicht als ein Sinnliches hinab in die Tiefen unseres physischen und
seelischen Lebens und ist infolgedessen einer höheren Deutung zugänglich (Schering,
1990: 39);
versus
Symbol, symbolisch und Symbolik sind Termini und Beiwörter, die das Denken von der
konkreten Realität ablenken. [...] Mir scheint, daß wir recht täten, auf den Begriff «musi-
kalische Symbolik» völlig zu verzichten, weil es in dem beschriebenen Phänomen einfach
nichts Symbolisches gibt (Assafjew, 1990: 48-49).
In der vorliegenden Arbeit wird der gesamten Problematik mit einer konstrukti-
ven Wissenschaftskooperation begegnet, wobei ein angemessenes Verhältnis
zum Phänomen der Toneurythmie angestrebt wird. Der Begriff Symbol wird nur
in seinem engeren Sinne verwendet, welcher diesen Zeichentyp in der semi-
otischen Philosophie von Peirce von den für die entsprechende Triade (Symbol-
Index-Ikone) relevanten übrigen Zeichentypen Index und Ikone unterscheidet.

14
In Hinblick auf das Ziel der Abhandlung muss hinzugefügt werden, dass gerade
der Einsatz der semiotischen Gesichtspunkte im Rahmen einer Untersuchung
zur Toneurythmie die vorgenommene Analyse auch praktisch anwendbar
macht. Denn hier vermag der kreative Aspekt der Semiose zum Vorschein ge-
bracht werden. Die Semiose weist ein schöpferisches Potential auf, da diese
,,die Prozesse einer Entstehung von Bedeutungen" darstellt und über die soziale
und kulturelle ,,Dynamik der Bildung, Funktionierung und Destruktion der Zei-
chensysteme" reflektiert (Karbusicky, 1986: 5-6). In diesem Zusammenhang
spielt die Theorie der Kreativität und Emergenz eine bedeutsame Rolle. Aussa-
gen wie "Semiose ist grundsätzlich kreativ ­ sie ist Kreativität..." (Zeman, 1994:
75) und ,,In der Auffassung der Musik als `Zeichensystem' wirkt sich auch die
Magie der Töne aus" (Karbusicky, 1986: 7) lassen darauf schließen, dass ein
Geisteswissenschaftler durch die Beschäftigung mit der Semiose jenes Feld
betritt, welches üblicherweise einem schaffenden Künstler zusteht, und wo die
ästhetische Begrifflichkeit einer musikalischen `Magie der Töne' zu `magischen
Handlungen der Wissenschaft' umgedacht werden können.
Der Anspruch der Eurythmie auf einen geisteswissenschaftlichen Ursprung
kann daher durchaus mit dem Begriff der Mimesis gerechtfertigt werden. Die
Mimesis (Altgriechisch `
µµ
', heute `
µµ
', `mímisi') bezeichnet das Ver-
mögen bzw. das Prinzip der Nachahmung, im engeren Sinne mittels einer kör-
perlichen Geste (vgl. `Mimik', `Pantomime'), wobei für die Eurythmie eine Mime-
sis der ideellen Realitäten (ikonisierten Vorstellungen) von Relevanz ist. Im Üb-
rigen verglich der antike Philosoph Sokrates die Mimesis mit dem logischen
Schlussverfahren der Induktion, was diesen Prozess wiederum an eine logisch
begründete Semiose anknüpft. Steiners Aussage ,,Was in der Wissenschaft als
Idee erscheint, ist in der Kunst Bild" (Parr, 1993: 78) muss als Basissatz der
eurythmischen Mimesis verstanden werden.
In diesem Kontext ist auch die metawissenschaftliche Diskussion zu sehen,
ob Semiotik eine Wissenschaft oder eine Kunst (ars) sei. Walter (2002) be-
hauptet, dass sich zahlreiche Autoren bei ihrer Einschätzung der Semiotik eini-
gen ­ sie sei ,,sowohl eine Wissenschaft als auch eine Methodenlehre, die man
als Kunst verstehen könnte" (Walter, 2002: 150). Diese Auffassung ist mit der
oben erwähnten mittelalterlichen ars-Stellung des symbolisierenden musiktheo-
retischen Denkens vergleichbar.

15
3
99 Jahre Eurythmie: von 1908 bis 2007
Eine Entstehungschronik mit besonderer Berücksichtigung
der toneurythmischen Entwicklung
Die meisten Kunstgattungen wie Malerei, Musik, Tanz oder Dichtung liegen in
ihrem Ursprung in ferner Vergangenheit der Kulturentwicklung der Menschheit.
Nicht so die Eurythmie ­ diese junge Kunstform kann man bis zu ihrer `Ge-
burtsstunde' zurückverfolgen, vorausgesetzt man hat `das Geburtskriterium'
einer Kunst festgelegt. Es kommen dafür Datierungen in Betracht, welche mit
den bedeutendsten Schritten auf dem Weg der eurythmischen Entwicklung zu-
sammenfallen. Als solche können die folgenden verstanden werden:
·
die Anzeichen erster ersten Überlegungen Steiners, die Tanzkunst zu
modifizieren, in dem diese mit dem gesprochenen Wort in Zusammenhang
gebracht wird (Mai 1908),
·
die erste Äußerung der Absicht, eine neue Bewegungskunst zu gründen mit
den unmittelbar darauf folgenden praktischen Anweisungen (Dezember
1911),
·
der Tag der `Namensgebung' (24. September 1912) oder auch
·
der Tag der ersten öffentlichen Vorführung (28. August 1913).
Steiner hegte die Idee eines `Wort-Tanzes' offenbar bereits seit 1908. Nämlich
am 18. Mai 1908 in Hamburg, nach seinem Vortrag über das Johannes-Evan-
gelium, fragte Steiner die dort anwesende Margarita Woloschina
17
, ob sie die
berühmte biblische Textpassage ,,Im Urbeginne war das Wort..." tanzen könnte
(Steiner, 1982: 10). Woloschina konnte diesem Impuls zum damaligen Zeit-
punkt allerdings nichts entgegenbringen. Dasselbe geschah nochmals im
Herbst 1908, als Steiner sie nach seinem Vortrag über die Entsprechungen der
Rhythmen im Kosmos und im Menschen mit folgenden Worten ansprach:
Der Tanz ist ein selbständiger Rhythmus, eine Bewegung, deren Zentrum außerhalb des
Menschen ist. Der Rhythmus des Tanzes führt zu den Urzeiten der Welt. Die Tänze un-
serer Zeit sind eine Degeneration der uralten Tempeltänze, durch welche die tiefsten
Weltgeheimnisse erkannt wurden (Steiner, 1982: 10).
Für die Verwirklichung seiner Ideen zur Wiederbelebung und Veredelung der
Tanzkunst konnte Steiner erst drei Jahre später den Grundstein legen. Mitte
Dezember 1911 fand das ,,historische" Gespräch zwischen Rudolf Steiner und
17
Margarita Woloschina, bzw. Woloschin (1882-1973) ­ russische Malerin, Dichterin und Eu-
rythmistin. Bekannt ist ihre Autobiographie ,,Die grüne Schlange" (Deutsche Verlagsanstalt,
Stuttgart 1956).

16
Clara Smits
18
in Berlin statt, in dem es unter anderem um die Berufsabsichten
von Claras Tochter Lory ging. In diesem Zusammenhang wurde die Absicht
ausgesprochen ,,eine ganz neue Bewegungskunst [zu] inaugurieren, die auf
geisteswissenschaftlicher Grundlage aufgebaut ist" (Steiner, 1982: 8). Interes-
santerweise schloss Rudolf Steiner das Musikalische aus dem für diese neue
Kunst vorgesehenen Bereich aus: ,,Es wird sich aber um das Wort, nicht um
Musik handeln!" (Steiner, 1982: 9). Folglich kam es dadurch zunächst zur Er-
schaffung der Lauteurythmie.
Diese ersten Entwicklungsphasen der Eurythmie umfassten neben den ein-
zelnen Aufgaben, welche Steiner gelegentlichen Lory Smits gab, auch den
umfangreichen Kurs in Bottmingen/Basel vom 16. bis 24. September 1912 ­
den sogenannten ,,Dionysischen Kurs" (Steiner, 1982: 19-44). Neben einzelnen
Laut- und Diphthonggebärden (A, E, Ä, I, AU, O, U, ÄU, O, U, ÄU, EI, V, B, S,
D, F, G, K, H, L, M, N, P, Q
19
, R, EU, Ö, Ü, T)
20
sowie den
Seelenstimmungsstellungen (lieblich, feierlich, klug, ernst, Trauer, heiter, innig,
Leichtigkeit) wurden u. a. in diesem Kurs die Grundprinzipien der dionysischen
Formbildung festgelegt:
·
krumme Linien
Ausdruck für Wille,
·
gerade Linien und Winkel
Ausdruck für Denken,
·
Verbindung von geraden und krummen Linien
Ausdruck für Fühlen.
Die Anwendung der jeweiligen Linienführung wird aus dem inhaltlichen und sti-
listischen Kontext der zu eurythmisierenden Dichtung erschlossen, während die
Lautgebärden die lautklangliche `Alliteration' hervorheben. Somit wurden die
Grundlagen für zwei Darstellungsebenen festgelegt. Eine Ebene beinhaltet Ge-
bärden und Stellungen ­ diese können im Laufen, im Stehen oder teilweise im
Sitzen gemacht werden. Für die Darstellung der anderen Ebene wird eine cho-
18
Clara Smits-Mess'oud-Bey (1863-1948) ­ war eine Zeit lang Zweigleiterin der theosophi-
schen bzw. anthroposophischen Gesellschaft in Düsseldorf.
19
Interessant ist Steiners Aussage zu Q: ,,man solle es sparsam anwenden, so wie eine
Dissonanz in der Musik" (Steiner, 1982: 23).
20
Anzumerken ist der Umstand, dass Steiner im dionysischen Kurs keine Gebärde für den W-
Laut entwickelte. Auf die Frage von Lory Smits zur W-Gebärde antwortete Steiner: ,,W, das ist
so tief [verborgen], das kann man eigentlich nicht machen!". Er schlug Lory vor, statt W ein
,,ganz langes U" zu machen (Steiner, 1982: 43). Die Tatsache, dass Steiner etwa ein Jahr spä-
ter doch noch eine eurythmische W-Gebärde einführte (eine ausdrucksvolle `wellenartige' Be-
wegung) ist nur ein Beispiel dafür, dass er immer auf der Suche nach adäquaten künstlerischen
Lösungen war und das einmal Gesagte nicht dogmatisierte.

17
reografische Form verwendet, nach der sich der Eurythmist im Raum bewegt.
21
Eine Kombination beider Ebenen ergibt eine der Eurythmie-Form entspre-
chende Ganzkörperbewegung im Raum mit einer gleichzeitigen Abfolge von
Gebärden und Stellungen, welche hauptsächlich mit Armen und Händen aus-
geführt werden. Es muss jedoch angemerkt werden, dass die ersten so ge-
nannten ,,Standardformen" (vollständige Choreografien) von Rudolf Steiner zu
verschiedenen Dichtungen erst in den Jahren 1918-1919 entstanden sind, die
erste Toneurythmie-Form sogar noch später ­ zu Weihnachten 1920. Bis zu
dieser Zeit waren die Eurythmiedarsteller ,,in bezug auf die Bewegungsformen
im Raume gewissermaßen auf [sich] selbst angewiesen" (Steiner, 1982: 108).
Das bedeutet, dass die Eurythmie in den Anfangsjahren ein hohes Maß an
Möglichkeiten der Improvisation und freien Interpretation aufwies.
Die erste öffentliche Eurythmievorführung fand am 28. August 1913 in Mün-
chen statt. Neben verschiedenen Grundelementen wurden der 150. Psalm mit
Halleluja
22
und drei Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe aufgeführt (vgl.
Steiner, 1982: 49).
23
Bereits zur zweiten Eurythmiedarbietung (18. Dezember
1913, Köln) gab es unter anderem den ersten Versuch, ein Musikstück zu eu-
rythmisieren, nämlich das Allegretto aus der 7. Symphonie von L. van Beetho-
ven (mit Zymbeln). Elisabeth Dollfus-Baumann, eine Teilnehmerin der Euryth-
miegruppe, erinnerte sich:
An [das Allegretto] hatten wir uns gewagt, obwohl noch keinerlei Angaben zu einer Ton-
eurythmie gegeben waren; doch lag der Ausarbeitung eine Anregung Dr. Steiners
zugrunde, der einmal zu Lory Smits von dem Gebrauch von Zymbeln beim Aufführen von
Gruppentänzen auf musikalisch-eurythmischer Grundlage gesprochen hatte. Wir hatten
uns nun Zymbeln angeschafft, und zwar nicht die in Europa fabrikmäßig hergestellten
Messingzymbeln [...], sondern die echten chinesischen, handgearbeiteten Bronzebe-
cken, die bei richtigem Anschlag einen vollen, glockenhaft hallenden Klang ergeben. Sie
sind nicht nur für das Ohr ein Genuß, sie bieten auch durch ihre leicht nach außen ge-
wölbte edle Schalenform für das Auge einen schönen Anblick. Wir verwandten sie daher
nicht nur im rhythmischen Ertönenlassen, sondern auch in den sogenannten eurythmi-
schen Stellungen: Feierlich, Innig, Heiter, Evoe, sogar in einzelnen Lautgebärden, und
vermochten so der eigentümlich feierlichen Heiterkeit dieses Allegrettos einen zwar noch
nicht den Tongesätzmäßigkeiten entsprechenden, aber der musikalischen Dramatik ge-
recht werdenden Bewegungsausdruck zu geben (Steiner, 1982: 52-53).
21
Eine festgelegte eurythmische Choreografie wird traditionell als ,,Form" bezeichnet. Da der
Begriff Form zu allgemein ist, wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit der Begriff Eurythmie-
Form (vgl. Tai-Chi-Form) für diese spezielle Nutzung gebraucht, zumal dieser bereits seine
Verwendung fand (vgl. Steiner, 1994b, dort allerdings zusammengezogene Schreibweise).
22
,,Halleluja" war das erste Wort, das je eurythmisch dargestellt wurde; das zweite Wort war
der griechische Ruf und Gruß ,,Evoe" ­ beide am 22. September 1912 (Steiner, 1982: 38-39).
23
Steiners ,,Geschenk" an seinen Lieblingsdichter zu Goethes 164-sten Geburtstag.

18
Bei den dritten und vierten Eurythmiedarstellungen (20. und 21. Januar 1914,
Berlin) standen multilinguale Anwendungen im Vordergrund (Hebräisch, Grie-
chisch, Lateinisch, Altdeutsch, Sanskrit, Russisch und Französisch). Zum einzi-
gen im Programm aufgelisteten Musikstück ,,Ecossaises" (Beethoven) fehlen
jegliche Kommentare (Steiner, 1982: 55).
Vom 18. August bis 11. September 1915 fand in Dornach der zweite um-
fangreiche Eurythmie-Kurs statt ­ der so genannte ,,Apollinischer Kurs" (Steiner,
1982: 62-99). Am 23. August 1915 wurden erste Angaben zur eigentlichen
Toneurythmie gemacht. Diese umfassten:
·
Körperstellungen zur diatonischen Dur- und Moll-Skala,
·
Anweisungen zum Eurythmisieren in verschiedenen Oktavhöhen,
·
Anweisungen zur Pausendarstellung,
·
eine unkommentierte spiralenförmige Anordnung der Diatonik in zwölf
Schritten,
·
Anweisungen zum eurythmischen Darstellen eines Liedes durch drei Perso-
nen.
Ansonsten betraf der Kurs vor allem die Entwicklung der apollinischen Formbil-
dungsprinzipien, welche auf sprachliche Grammatik bezogen und dementspre-
chend für die Lauteurythmie außerordentlich bereichernd sind. Eine weitere Be-
sonderheit der apollinischen Formbildung ist die Tendenz zur geometrischen
Ausgewogenheit der Choreographie und damit zu einer wachsenden Ästhetik
durch Symmetrie.
24
Darüber hinaus gab es eine intensive und vielfältige
Beschäftigung mit esoterischen Motiven. Beispielhaft sind die 'stummen' Auf-
taktsformen, welche dem Eurythmisieren einer Dichtung vorangehen können,
wie auch ,,der kosmische Auftakt" und der ,,Merkurauftakt". Der letzte ist auf der
vereinfachten Form des Merkursiegels basiert (Abb. 1).
Abbildung 1. Links: Der Merkursiegel. Rechts: Die Merkurauftakteurythmieform (aus Steiner, 1982: 80). Beim
Vergleich dieser Formen wird der mimetische Charakter der eurythmischen Formbildung deutlich.
24
Eine Eintragung von Rudolf Steiner in ein Arbeitsheft von Marie Steiner beinhaltet unterstri-
chene Worte ,,Vita eurythmo-geometrio" (Steiner, 1982: 107).

19
Während des Kurses fanden zwei Eurythmieaufführungen ohne Musik statt. Die
vom 29. August 1915 fällt mit der Darstellung von zwei längeren sequenzartigen
Dichtungen Steiners besonders auf. Der auf die sieben Planeten bezogene
,,Planetentanz" und die auf den Tierkreis bezogenen ,,Zwölf Stimmungen" ver-
körperten zusammen mit dem ,,kosmischen Auftakt" offenbar Steiners Vision
vom ,,Makrokosmischen Tanz" (vgl. Steiner, 1982: 67-74).
Bedingt durch die Ereignisse des Ersten Weltkrieges war die künstlerische
Arbeit in den Jahren 1916-1918 in den Hintergrund geraten. Ab 1919 entstan-
den neue Impulse, welche es überhaupt erst möglich machten, die Toneuryth-
mie als eigenständigen Kunstzweig neben der Lauteurythmie zu etablieren
(Steiner, 1982: 119). Leopold van der Pals
25
und Max Schuurman
26
komponier-
ten Musikstücke, welche bei den Eurythmieaufführungen als ,,musikalische Bei-
gabe" und ,,musikalischer Auftakt" dargeboten wurden. Dies ist insofern interes-
sant, dass hier eine Abstimmung der musikalischen Kompositionsregeln mit den
Gesetzmäßigkeiten, welche im Zusammenhang mit der Eurythmie kundgege-
ben worden waren, stattfand. Zu den 1918 im Philosophisch-Anthroposophi-
schen Verlag Berlin veröffentlichten musikalischen Auftakten von Leopold van
der Pals verfasste Steiner ein Vorwort, in welchem er folgendes schrieb: ,,Der
Komponist hat sich den Kunstgesetzen der Eurythmie völlig angepasst" (Stei-
ner, 1982: [160-]-161). Die Praxis des Komponierens nach `eurythmischen Re-
geln' fand ihre Fortsetzung. Es kann an dieser Stelle z. B. eine Komposition zu
den «Zwölf Stimmungen» für kleines Orchester, geschrieben von Jan Stuten
27
im Jahr 1923 erwähnt werden (Steiner, 1982: 161).
Zudem fanden die ersten Grundelemente der Toneurythmie, nämlich die
Grundstellungen für die Stufen der diatonischen Tonleitern (die sogenannten
`Stammtöne') in der musikpädagogischen und sängerischen Praxis ihre Anwen-
dung, was eine beträchtliche Weiterentwicklung der Toneurythmiegestik zur
Folge hatte. Die Musikpädagogin Hendrika Hollenbach berichtete darüber wie
sie 1919 in Dornach einen Kinderchor formte (vgl. Steiner, 1982: 119-121). Sie
plante die toneurythmischen Bewegungen für die Stammtöne (das einzige, was
damals auf diesem Gebiet schon vorhanden war) zu nutzten, um musiktheoreti-
sches Basiswissen ,,und auch kleine Gehörübungen interessant für Kinder zu
25
Leopold van der Pals (1884-1966) ­ Komponist in Berlin und der Schweiz, arbeitete vor al-
lem für Rudolf Steiner.
26
Max Schuurman (1889-1955) ­ Dirigent, Violinist, Komponist.
27
Jan Stuten (1890-1948) ­ holländischer Komponist und Bühnenbildner.

20
machen" (Steiner, 1982: 119). Zur selben Zeit fanden sich aber auch Eu-
rythmisten, die den Rahmen der Lauteurythmie durch die im Jahr 1915 von
Steiner gegebenen Bewegungen für Farben und für Töne erweitern wollten. Die
Teilnehmer des vierten und fünften Eurythmiekurses lernten diese Bewegungen
und eurythmisierten bereits
ein Gedichtchen, wo die Handbewegungen für die Farben angewendet wurden, und ein
kleines Liedlein mit den Tonbewegungen. [...] Die Töne wurden nur stehend gemacht,
mit kleinen Sprüngen bei den Tönen g, a und h, so wie Dr. Steiner es angegeben hatte.
Es waren einige Kompositionen entstanden, wo ­ nach Angaben von Dr. Steiner ­ auf
dem letzten Wort jedes Satzes mehrere Töne kamen, die «gehüpft» werden mussten. So
war die Musik für die Sirenen in «Faust» von Leopold van der Pals und die zu einem Ge-
dicht aus der «Chymischen Hochzeit» von Max Schuurman entstanden, wo in der Auffüh-
rung nicht der gesungene Text, sondern nur die Tonreihen am Ende der Sätze stehend
mitgemacht wurden (Steiner, 1982: 119-120).
Im Jahr 1920 arbeiteten die Eurythmisten schon mit größeren Liedern. So
wurde z. B. ein dreistrophiges Lied in Dur durch drei Kinder vorgeführt, die im
Dreieck hüpften und bei den Übergängen zwischen den Strophen frei liefen. Ein
Lied in Moll wurde in einer etwas anderen Weise dargestellt. Nach den Auffüh-
rungen schickte Marie Steiner sechs der damaligen Eurythmistinen zu Hendrika
Hollenbach, die mit ihnen und mit den sechs am weitesten fortgeschrittenen
Kindern anfing, eine kleine Bach-Komposition einzuüben. Hollenbach merkte
dazu an: ,,Zum ersten Male waren wir von dem Gesanglichen abgegangen, und
die Kinder, vorne im Sechseck stehend, machten die Oberstimme des Klaviers
und die Damen den Baß" (Steiner, 1982: 120). Den Hintergrund für diese Ent-
wicklungen sicherten folgende Angaben Steiners:
·
dass die Töne auch im Gehen gemacht werden können, wobei bei den Tö-
nen G, A, H in Dur
28
im Gehen gehüpft wird;
·
dass in Moll beim Gehen eine anhaltende Bewegung gemacht werden
muss;
·
dass abgeleitete Töne durch Winkelstellungen zwischen Ober- und Unter-
arm, bzw. zwischen Unterarm und Hand dargestellt werden können (vgl.
Steiner, 1982: 120).
Als eine Variation wurde der Tonkreis auch ,,in kleinerem Umfang mit Bewe-
gungen nur mit dem Unterarm, mit Handgelenkwinkel für die abgeleiteten Töne"
gemacht (Steiner, 1982: 120).
28
Unter G, A und H werden hier offensichtlich die fünfte, die sechste und die siebente Stufe
einer natürlichen Dur-Tonleiter verstanden.

21
Ein neuartiger Impuls zur Weiterentwicklung der Toneurythmie kam als Hend-
rika Hollenbach Weihnachten 1920 einen Teil der Hirtenmusik aus J. S. Bachs
Weihnachtsoratorium aufführen wollte und Rudolf Steiner um eine Form gebe-
ten hatte. Sie schrieb über die Entstehungsgeschichte der ersten Ton-Euryth-
mie-Form (Abb. 2):
Ich erinnere mich, wie er mir eine ziemlich frühe Zeit angab, wo er kommen wollte, um
sich die Sache anzuhören. Die Musiker ­ es war für Geige, Cello, Harmonium und Klavier
­ kamen frierend nach oben, denn es war sehr kalt, und als Dr. Steiner noch nicht gleich
kam, fingen sie schon an zu meinen, es sei wohl ein Missverständnis, und ich habe Herrn
Doktor wahrscheinlich falsch verstanden. Dann aber kam Dr. Steiner, und ich musste zu
meiner Beschämung bemerken, daß kein Papier zum Zeichnen da war. Er aber riß ein
großes Stück von dem groben grauen Papier, womit die Bühne vorne verschalt war, ab
und begann darauf zu zeichnen, so daß diese allererste Toneurythmieform ein ganz
merkwürdiges Dokument wurde. (Steiner, 1982: 120-121).
Abbildung 2.
Die erste Toneurythmiestandardform von R. Steiner. Johann Sebastian Bach ­ Sinfonia
pastorale, G-Dur, aus dem Weihnachts-Oratorium (aus Steiner, 1994b: 1).
Im Jahr 1921 suchte Hendrika Hollenbach ein passendes Stück zum Üben vom
Gehen
29
zu einer in Moll geschrieben Musik und wählte den Trauermarsch von
F. Mendelssohn-Bartholdy. Zur selben Zeit gab es eine weitere Anfrage zu ei-
29
Damit ist wahrscheinlich eine Gehübung im für die Eurythmie spezifischen dreiteiligen
Schritt (Heben-Tragen-Stellen) gemeint.

22
ner toneurythmischen Soloform zum «Schmetterling» von E. Grieg. Steiner er-
klärte sich bereit, ,,sich die Sachen anzuhören" (Steiner, 1982: 121) und brachte
am nächsten Tag die Formen. Für den «Schmetterling» gab Steiner zwei ver-
schiedene Formen vor, beide auf demselben Blatt Papier aufgezeichnet. Stei-
ner sagte dazu, dass die obere geeigneter wäre. Für den Trauermarsch, den
Hollenbach als Gruppe einstudieren wollte, ,,hatte Herr Doktor außer der großen
Form unten am Blatt ganz klein die Form dreimal ineinander gezeichnet, um
anzudeuten, wie das mit drei oder mehr Menschen gemacht werden konnte.
«Sie können dann so viele hereinstellen, wie Sie wollen», sagte er" (Steiner,
1982: 121). Die Formen sind nachfolgend abgebildet (Abb. 3).
Abbildung 3.
Toneurythmie-Standardformen von R. Steiner (aus Steiner, 1994b: 2-3).
Links: Felix Mendelssohn-Bartholdy ­ Andante maestoso (Trauermarsch).
Rechts: Edward Grieg ­ «Schmetterling», aus «Lyrische Stücke» Heft III, Op. 43/1.
Grafische Darstellungen der Eurythmie-Formen erfolgen aus der Publikumsper-
spektive. Wenn ein Eurythmist die Form durchlaufen will, muss er die aufge-
zeichnete Form umdrehen, so dass er diese aus der eigenen Perspektive sieht.
Gängig ist deshalb das `auf den Kopf gestellte' Wort Publikum oder dessen Ab-
kürzung P. unterhalb einer Eurythmieformaufzeichnung (auf den Abbildungen 3.
und 4. hinzugefügt durch den Verfasser).

23
Steiner selbst zeichnete in den fünf Jahren bis zu seinem Tod etwa 147 Toneu-
rythmie-Formen
30
, davon 23 zu Stücken von J. S. Bach, 16 zu L. van Beetho-
ven, 12 zu F. Chopin, 12 zu R. Schumann, 11 zu G. F. Händel, 7 zu Mozart, 7
zu J. Brahms, 6 zu E. Grig, 5 zu Giuseppe Tartini, 4 zu Jan Stuten, 3 zu F.
Schubert, 3 zu A. Scriabin, sowie vereinzelt auch zu Werken anderer Kompo-
nisten, darunter M. Reger und S. Rachmaninoff.
Arcangelo Corelli (1653-1713) war der frühste Komponist, dessen Werk
31
Steiner als Grundlage für eine toneurythmische Form nutzte (siehe das Inhalts-
verzeichnis in Steiner, 1994b: V-X). Die zeitgenössischen Komponisten der
1920-er Jahre sind hauptsächlich durch eher unbekannte Namen wie Jan Stu-
ten, Max Schuurman, Vilhelm Rosenberg, Leopold van der Pals, Walter Nie-
mann, Moritz Moczkowsky, Wilhelm Lewerenz, und Fritz Kreisler vertreten. Der
bedeutende Komponist und Pianist Sergej Rachmaninoff (1873-1943) bildet mit
seinem Prélude cis-moll, Op. 3/2 die einzige Ausnahme, wenn man bedenkt,
dass die entsprechend 1915 und 1916 verstorbenen Alexander Scriabin und
Max Reger lediglich unter Vorbehalt zur `zeitgenössischen Musik der 1920-er'
gezählt werden können.
Allein die obige Nennung der Komponisten könnte Steiners musikalischen
Geschmack und Interessenhorizont andeuten. Und obwohl er bei der Erschaf-
fung der Ton-Eurythmie-Formen stets auf die Wünsche der Menschen aus sei-
nem Umkreis einging und somit nicht den eigenen Musikgeschmack zu profilie-
ren versuchte, zeigt sich eine Einschränkung der musikalischen Stilepochen bei
der toneurythmischen künstlerischen Arbeit wie auch in Steiners Vorträgen. Im
Wesentlichen waren die musikalischen Ausdrucksmittel aus den Zeitepochen
der Barockmusik, des Klassizismus und der Romantik eingebunden. Zwar gab
es einige aktiv komponierende Musiker in Steiners Umkreis, jedoch war keiner
von diesen für die musikalischen Entwicklungen der damaligen Zeit maßgeb-
lich.
Die letzten und zugleich außerordentlich bedeutenden Impulse bekam die
Kunst der Eurythmie von ihrem Gründer im Jahr 1924. Vom 19. bis 27. Februar
fand in Dornach der einzige umfangreiche Kurs statt, der explizit der Ton-Eu-
rythmie gewidmet war und unter Steiners persönlicher Anleitung stand. Die
Kursinhalte wurden stenographiert und zusammen mit dem kurzen Aufsatz vom
30
Parr zählte 143 Toneurythmie-Formen (Parr, 1993: 106). Vgl. jedoch das Inhaltsverzeichnis
in Steiner, 1994b: V-X.
31
Sarabande aus der Sonate Nr. 8 für Violine und Basso continuo, e-moll, Op. 5/8.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2007
ISBN (eBook)
9783836612760
DOI
10.3239/9783836612760
Dateigröße
4.5 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg – Musik-, Sport- und Sprechwissenschaft, Musikwissenschaft
Erscheinungsdatum
2008 (Mai)
Note
1,7
Schlagworte
eurythmie musikwissenschaft semiotik komposition esoterik
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