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Die 'objektiven' Toten

Leichenfotografie als Spiegel des Umgangs mit den Toten

©2007 Diplomarbeit 100 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die Leichenfotografie ist ein in Europa weitgehend unbeachteter Forschungsgegenstand. Martin Schulz bringt das in seinem Artikel „Die Thanatologie des photographischen Bildes. Bemerkungen zur Photographie“ besonders gut zum Ausdruck, wenn er sagt, dass sie „zwar von den meisten Historikern als Phänomen anerkannt, aber dennoch nur marginal und flüchtig behandelt wird.“ Schulz merkt auch an, dass es gerade in Europa nur wenige Totenfotografien gibt, die publiziert wurden und spekuliert über die möglichen Gründe: „[...] als wolle man damit ein Unbehagen, eine merkwürdige Unanständigkeit und ein anstößiges, gar ungesundes Verhalten verdecken.“ Oft findet die Totenfotografie eine kleine Erwähnung in Texten, die zu verwandten Themen verfasst wurden.
Im ersten Kapitel der Arbeit wird soviel als möglich von diesen Aussagen zusammengetragen und präsentiert. Wichtig zu erwähnen ist hierbei, dass die Begriffe Toten-, Leichen-, Post-Mortem- und posthume Fotografie gleichberechtigt nebeneinander verwendet werden.
Während die Leichenfotografie wissenschaftlich gesehen eher ein Nischendasein fristet, stellt sich die Situation bei den Themenkomplexen Tod, Trauer und Friedhofsgeschichte anders dar. Das Standardwerk zum Thema Tod ist Philippe Ariès' „Geschichte des Todes“, welches 1978 im französischen Original erschien. Er schaut sich in seinem Werk nicht nur die Entwicklungen eines bestimmten Jahrhunderts an, sondern ist bestrebt, den Umgang der Menschen mit ihren Toten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert darzustellen. Alles schriftlich Fixierte oder auch mündlich Überlieferte dient ihm als Quelle: Inschriften, Prosatexte, Testamente, wissenschaftliche Betrachtungen aus verschiedenen Jahrhunderten, Sinnsprüche und Redewendungen.
Auf der Ebene der Fotografie erweisen sich die Schriften von Gisèle Freund und Susan Sontag als unentbehrlich. Gisèle Freund analysiert in ihrem Buch „Photographie und Gesellschaft“ die Entwicklung der Fotografie. Susan Sontags wegweisende Essays in ihrem Werk „Über Fotografie“ haben bis heute nichts von ihrer Prägnanz eingebüßt. Sie geht der Fotografie nicht wie Freund chronologisch auf den Grund, sondern eher strukturell. Sie widmet sich Fragen, wie zum Beispiel: Welche Bedeutung geben wir der Fotografie Warum berühren uns einige Fotografien mehr als andere? Wie ändert sich unser Blick auf die Welt durch die Fotografie?
Parallel zu meiner Arbeit hat sich Thomas Macho mit seiner Mitautorin Kristin Marek […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I Die Entdeckung der Fotografie
1 Vom Stellvertreter zum Abbild eines Menschen: Der Bildhunger wächst
Das Bild als Stellvertreter
Technische Hilfsmittel in der Bildherstellung
2 Der Tod und die Fotografie
Die Bedeutung der Porträtfotografie
Die Bedeutung des letzten Gesichtsausdrucks
Die Totenfotografie
Totenfotografie im Zwielicht

II Die Veränderung der Einstellung zum Tod
1 Medikalisierung – Die Veränderung der Einstellung zum Sterben
Die Neudefiniton des menschlichen Körpers seit der Aufklärung
Das Streben nach einem „sauberen Tod“
Die Medikalisierung des Lebens und die Ausblendung des Todes
Die Mentalität des Vorbeugens
Der Zeitpunkt des Todes
2 Trauerkultur – Die Einstellung zu den Toten ändert sich
Die Macht der Toten über die Lebenden
Der Umgang mit den Toten
Ausprägung der Trauer
Der Wandel der Friedhofskultur
Trotz allem: Die Macht der Toten über die Lebenden
Der Tod als Projektionsfläche

III Die Rückkehr der Leichen- und Totenfotografie in die Öffentlichkeit
1 Künstler des 20. Jahrhunderts und ihr Blick ins Leichenschauhaus
Andres Serrano: „The Morgue“
Jeffrey Silverthorne: „Morgue Work“
Rudolf Schäfer: „Der Ewige Schlaf. Visages de morts“
Resümee
2 Neues Interesse am Thema Tod in den Medien
Pathologie: Der Tote als Träger von Zeichen
Fiktion und Realität: Der Tote im Kontext von familiär betriebenen Bestattungsinstituten
Kontroverse: Das Thema Sterbehilfe in Kinoproduktionen
Nachleben: Das „Post-Mortem-Zeitalter“ im Kino
Die einsamen Toten: Eingehendere Berichterstattung
Vermenschlichung: Bestattung von Tieren
3 Zurück zu den Wurzeln der Totenfotografie?
Elizabeth Heyert: „The Travelers“
Beate Lakotta und Walter Schels: „Noch mal leben vor dem Tod. Wenn Menschen sterben“
Resümee
4 Private Totenfotografie im halböffentlichen Raum

Fazit

Anhang

Abstract

Bibliographie

Bildnachweis

EIGENSTÄNDIGKEITSERKLÄRUNG

Einleitung

Ich sitze im Kino und schaue „The Others“: Die Handlung des Films (2001) spielt kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf der Kanalinsel Jersey. Alles ist nebelumwabert, die Menschen sind blass. Grace Stewart, gespielt von Nicole Kidman, versucht, ihre Kinder Anne und Nicolas während der Abwesenheit des Vaters, der noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist, allein zu erziehen. Ihre Kinder reagieren allergisch auf Licht. Daher achtet sie penibel darauf, dass die Vorhänge zugezogen und die Türen abgeschlossen sind, wenn ihre Kinder einen Raum betreten. Der Film setzt mit dem Erscheinen des neuen Dienstpersonals ein, da das alte Grace ohne Begründung eine Woche zuvor im Stich gelassen hat. Es stellt sich dann sogar heraus, dass die Wirtschafterin Mrs. Mills, der alte Gärtner und das junge, stumme Dienstmädchen schon einmal bei einem früheren Hausherrn angestellt waren und sich bereits in dem großen Haus auskennen. Es passieren seltsame Dinge: Anne sieht Menschen, Türen öffnen sich ohne Grund, Vorhänge werden aufgezogen, im Obergeschoss bewegen sich Menschen und Mrs. Mills erwähnt oft „die neue Situation“. Die Spannung baut sich leise auf und hinter jedem Bild könnte das Grauen warten. Auf der Suche nach den Eindringlingen findet Grace eines Tages ein Album, öffnet es und wundert sich, dass in diesem nur Fotografien zu finden sind, auf denen die Menschen schlafen. Ihre Wirtschafterin kommt, meldet, dass niemand im Haus gefunden wurde, und Grace fragt sie, ob sie wisse, was es mit diesem Album auf sich habe. Mrs. Mills klärt sie darüber auf, dass es sich bei diesen Menschen nicht um Schlafende, sondern um Tote handelt. Grace ist schockiert. Mrs. Mills erklärt, dass sie meint zu wissen, dass man im 19. Jahrhundert Fotografien von Toten gemacht hat, „weil man hoffte, ihre Seelen würden durch die Porträts weiterleben.“ Grace ist entsetzt über soviel Aberglauben und weist Mrs. Mills an, das Album wegzuwerfen. Eines Tages sind alle Vorhänge verschwunden. Da die Angestellten sich weigern, bei der Suche nach diesen zu helfen, wirft Grace sie aus dem Haus. Daraufhin türmen die Kinder in der Nacht, um ihren Vater zu suchen, welcher kurz aus dem Krieg zurückgekehrt war, doch dann wieder gegangen ist. Sie finden im Garten unter Gestrüpp drei Grabsteine und Grace entdeckt auf ihrer Suche nach den Vorhängen in der Kammer der beiden weiblichen Angestellten eine Fotografie. Grace, die durch Mrs. Mills' Erklärungen von Totenfotografien erfahren hat, erkennt nun sofort, dass sie eine solche in der Hand hält. Die drei Hausangestellten sind darauf abgebildet, sitzend auf einer Holzbank. Datiert ist das Bild auf das Jahr 1891. Die Kinder stehen im Garten vor den Grabsteinen der drei Diener und wissen nun, dass sie es mit Geistern zu tun haben. Die Geschichte löst sich schließlich folgendermaßen auf: Grace hatte aus Verzweiflung über ihre Situation erst ihre Kinder und dann sich selbst umgebracht. Als sie ihre Kinder unversehrt im Kinderzimmer vorfand, glaubte sie an eine zweite Chance. Die drei anderen Geister tauchten auf, um ihr dabei zu helfen, diese „neue Situation“ zu erkennen. Der Film dreht also die klassische Perspektive der Spukgeschichte um. Es werden nicht Lebende porträtiert, die mit einem Spuk im Haus umgehen müssen, sondern Geister, die zunächst einmal ihren Zustand erkennen und dann die neuen Besitzer des Hauses akzeptieren müssen – wogegen sich Grace am Ende allerdings wehrt.

Doch es gibt diese Bilder im Film, die faszinieren und fesseln: die Totenfotografien. Zumindest von einer Fotografie weiß man, dass die Menschen darauf Schauspieler sind, die noch leben und sich für eine Fotografie tot gestellt haben. Doch was ist mit dem Album? Sind die Fotografien darin auch gestellt? Fragen tun sich auf: Ist dies eine Erfindung, die man in die Vergangenheit projiziert, da man sie sich, wenn überhaupt, nur dort vorstellen kann? Ist es ein Stilmittel, das man erfunden hat, um dem Verlauf der Geschichte ein weiteres dramatisches Moment hinzuzufügen – immerhin ist es die Szene, in der Grace erkennt, dass ihre drei Angestellten nicht mehr unter den Lebenden weilen. Begreifbar wird es für sie und den Zuschauer jedoch nur mit der vorangestellten Erklärung über das Buch der Toten. Oder gab es wirklich den Brauch, tote Menschen zu fotografieren? Wenn ja, wussten alle davon oder wurden diese Bilder heimlich gemacht?

Nach einer anfänglichen Beschäftigung mit dem Thema ergeben sich verschiedene Anhaltspunkte. In der Gerichtsmedizin und Polizeiarbeit werden Fotografien von Leichen erstellt, die dazu beitragen sollen, den Tod der betreffenden Person zu dokumentieren und gegebenenfalls aufzuklären. Diese Fotografien unterscheiden sich jedoch von der in „The Others“ dargestellten Totenfotografie.

Eine weitere Recherche zeigt, dass diese Art der Leichenfotografie tatsächlich keine Erfindung des Drehbuchschreibers ist, sondern dass es sie wirklich gegeben hat. Viele Menschen, die über dieses Thema etwas erfahren, fragen oft reflexartig, wann diese Tradition ein Ende gefunden habe. Die Totenfotografie ist offenbar aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Gleichzeitig wird deutlich, dass es weiterhin Menschen gibt, die ihre Toten fotografieren. Sie zeigen diese Bilder allerdings nicht außerhalb eines Kreises von Vertrauten. Die Gefahr, man könne sie wegen dieser Bilder für morbide halten, ist anscheinend zu groß.

Es fällt weiterhin auf, dass es in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts Künstler gab, die Tote auf pietätvolle Art und Weise fotografiert haben, wie es zum Beispiel Walter Schels in dem Buch „Noch mal leben vor dem Tod. Wenn Menschen sterben“ getan hat. Die Künstler nehmen in ihren Statements zu ihren Arbeiten sogar Bezug auf die Totenfotografien aus dem 19. Jahrhundert. Ausgehend von diesen Aspekten ist die vorliegende Arbeit in drei Teile unterteilt.

Im ersten Teil wird darauf eingegangen, wie sich das menschliche Bedürfnis nach Bildern entwickelt und im Lauf der Jahrhunderte immer wieder verändert hat. Es folgt eine Beschreibung über die Erscheinungsform und Ausprägungen der Totenfotografie im 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Der zweite Teil widmet sich der Frage, in welcher Weise sich die Einstellung der Menschen in den westlichen Ländern zum Tod geändert hat. Welche Rolle nahmen Aufklärung, Technisierung und Medizin ein, um ein neues Bild vom Menschen zu entwerfen? Wie änderte sich in der Folge der Umgang der Menschen mit dem Tod und den Toten?

Der dritte Teil geht der Frage nach, inwieweit der Tod in die Mitte der Gesellschaft zurückgeholt wurde. Dies wird anhand von zeitgenössischen Fotografien getan, die im Leichenschauhaus aufgenommen wurden; einem Blick auf Kino und Fernsehen, in dem der Pathologiesaal immer wieder prominent in Szene gesetzt wird, aber auch andere Schicksale erzählt werden; und schließlich anhand der bereits erwähnten Bilder aus den Anfängen des 21. Jahrhunderts, die uneingeschränkt schön anmutende Tote zeigen und an die traditionelle Leichenfotografie erinnern. Inwieweit haben diese Bilder etwas mit den Totenfotografien zu tun, die im ersten Teil der Arbeit vorgestellt werden?

Die Arbeit nutzt Erkenntnisse aus der Soziologie des Todes, um die Entwicklung der der Mediengeschichte zugehörigen Totenfotografie besser nachvollziehen zu können. Die Totenfotografie stellt eine Schnittstelle dar, da der Umgang mit ihr, aufgrund ihres Motivs, Hinweise auf die Einstellung der Menschen zu den Themen Sterben, Tod und Trauer liefert.

Forschungsstand

Die Leichenfotografie ist ein in Europa weitgehend unbeachteter Forschungsgegenstand. Martin Schulz bringt das in seinem Artikel „Die Thanatologie des photographischen Bildes. Bemerkungen zur Photographie“ besonders gut zum Ausdruck, wenn er sagt, dass sie „zwar von den meisten Historikern als Phänomen anerkannt, aber dennoch nur marginal und flüchtig behandelt wird.“[1] Schulz merkt auch an, dass es gerade in Europa nur wenige Totenfotografien gibt, die publiziert wurden und spekuliert über die möglichen Gründe: „[...] als wolle man damit ein Unbehagen, eine merkwürdige Unanständigkeit und ein anstößiges, gar ungesundes Verhalten verdecken.“[2] Oft findet die Totenfotografie eine kleine Erwähnung in Texten, die zu verwandten Themen verfasst wurden. Im ersten Kapitel der Arbeit wird soviel als möglich von diesen Aussagen zusammengetragen und präsentiert. Wichtig zu erwähnen ist hierbei, dass die Begriffe Toten-, Leichen-, Post-Mortem- und posthume Fotografie gleichberechtigt nebeneinander verwendet werden.

In Nordamerika hat sich Jay Ruby eingehend der Leichenfotografie angenommen und hat in seiner Studie „Secure the Shadow. Death and Photography in America“ bereits 1995 die Bedingungen und Formen der Leichenfotografie in den USA untersucht.

Hans Belting hat sich 2001 in seiner „Bild-Anthropologie“ in dem Kapitel „Bild und Tod. Verkörperung in frühen Kulturen“ in einem „Epilog zur Photographie“ auch zur Fotografie selbst und deren Bezug zum Tod geäußert. Er erwähnt an dieser Stelle auch die Post-Mortem-Fotografie, macht jedoch darauf aufmerksam, dass Menschen, die auf Bildern aus dem 19. Jahrhundert langsam verblassen, quasi den zweiten, den medialen, Tod sterben.

Jens Guthmann setzte sich im Jahre 2002 auf der achten Jahrestagung der Europäischen Totentanzvereinigung in seinem Vortrag „Dem Tod ins Gesicht sehen – Bilder aus dem Leichenschauhaus in der zeitgenössischen Fotografie“ mit drei Künstlern auseinander, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tote Menschen in Leichenschauhäusern als Motiv für ihre Arbeiten gewählt haben. Diese Bilder von Toten, die dezidiert als Kunst erschaffen wurden und für die Öffentlichkeit bestimmt sind, stellen den Gegenpol zu jenen Bildern aus dem 19. Jahrhundert dar.

Während die Leichenfotografie wissenschaftlich gesehen eher ein Nischendasein fristet, stellt sich die Situation bei den Themenkomplexen Tod, Trauer und Friedhofsgeschichte anders dar. Das Standardwerk zum Thema Tod ist Philippe Ariès' „Geschichte des Todes“, welches 1978 im französischen Original erschien. Er schaut sich in seinem Werk nicht nur die Entwicklungen eines bestimmten Jahrhunderts an, sondern ist bestrebt, den Umgang der Menschen mit ihren Toten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert darzustellen. Alles schriftlich Fixierte oder auch mündlich Überlieferte dient ihm als Quelle: Inschriften, Prosatexte, Testamente, wissenschaftliche Betrachtungen aus verschiedenen Jahrhunderten, Sinnsprüche und Redewendungen.

Nigel Barley widmet sich in seinem Buch „Tanz ums Grab“ verschiedenen Aspekten des Todes. Er greift dabei auf seine Erfahrungen als Ethnologe zurück und stellt diese auch immer in Gegensatz zu eigenen Erlebnissen und Beobachtungen in der westlichen Welt.

Norbert Fischer hat die Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland untersucht. Seine „Geschichte des Todes in der Neuzeit“, erschienen 2001, erläutert ausgehend vom späten Mittelalter die Wandlungen, die das Totengedenken und der Umgang mit den Toten genommen haben. Er weist nach, dass vor allem technische Neuerungen dabei immer wieder einen Wandel vorangetrieben haben: sei es der Bau von Krematorien im 19. Jahrhundert, die Möglichkeiten der Massenvernichtung im 20. Jahrhundert oder die Ermöglichung des virtuellen Gedenkens durch das Internet im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert.

Ivan Illich hat sich mit dem beschäftigt, was in modernen Zeiten dem Tod meist vorangeht: mit der ärztlichen Versorgung der Menschen und wie diese das Leben eines jeden Einzelnen beeinflusst. Er nennt diesen Prozess Medikalisierung des Lebens, da für jeden Altersabschnitt eine gesundheitliche Norm vorgegeben wird und der Mensch letzten Endes so lange nicht als gesund gilt, bis dies von einem Arzt bestätigt würde. Illich analysiert und kritisiert diese Zustände in seinem Buch „Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens“ und plädiert für einen selbstbestimmteren Umgang mit Krankheit und Schmerz. Der Begriff der Medikalisierung wird in Kapitel zwei der vorliegenden Arbeit übernommen und als bekannt vorausgesetzt.

Anna Bergmann hat sich eingehend mit der Geschichte des Sterbens, der Entstehung der modernen Medizin und der daraus resultierenden Veränderung des Blickes auf den Menschen in ihrem 2004 erschienen Buch „Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod“ auseinander gesetzt. Durch den Blick in die Archive, so zum Beispiel in das Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, das Bundesarchiv und das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, und das Aufzeigen neuer Zusammenhänge gelingt ihr ein beeindruckendes Porträt einer Wissenschaft, die sich erst mühsam durch das Abstreifen und Brechen alter Gewohnheiten in der heutigen Form etablieren konnte.

Auf der Ebene der Fotografie erweisen sich die Schriften von Gisèle Freund und Susan Sontag als unentbehrlich. Gisèle Freund analysiert in ihrem Buch „Photographie und Gesellschaft“, 1974 in Frankreich erschienen, die Entwicklung der Fotografie. Susan Sontags wegweisende Essays in ihrem Werk „Über Fotografie“, welches 1977 im amerikanischen Original erschien, haben bis heute nichts von ihrer Prägnanz eingebüßt. Sie geht der Fotografie nicht wie Freund chronologisch auf den Grund, sondern eher strukturell. Sie widmet sich Fragen, wie zum Beispiel: Welche Bedeutung geben wir der Fotografie Warum berühren uns einige Fotografien mehr als andere? Wie ändert sich unser Blick auf die Welt durch die Fotografie?

Volker Nölle hat nach einem Studium der Soziologie und Theologie über drei Jahre hinweg ein Bestattungsinstitut in Frankfurt/Main geleitet. Im Jahre 1997 wurde seine Dissertation „Vom Umgang mit Verstorbenen. Eine mikrosoziologische Erklärung des Bestattungs­verhaltens“ veröffentlicht, in der er zunächst einmal genau beschreibt, was eigentlich geschieht, wenn ein Mensch gestorben ist, welche Abläufe in den Bestattungsinstituten und auf den Friedhöfen in Gang gesetzt werden.

Norbert Stefenelli fungierte 1998 als Herausgeber für ein über 900 Seiten starkes Kompendium mit dem Titel „Körper ohne Leben. Begegnung und Umgang mit Toten“. In diesem Buch sind Texte von Menschen vereint, die auf die eine oder andere Weise etwas mit Verstorbenen zu tun haben. Darin wird so gut wie jeder Aspekt im Umgang mit den Toten beleuchtet, wenn auch teilweise nur kurz.

Thomas Macho hat sich in „Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung“ mit den Metaphern auseinander gesetzt, die Menschen für den Tod gebrauchen. Eingangs stellt er fest, dass es keine menschliche Erfahrung gibt, die uns annähernd vermitteln könnte, was es bedeutet, tot zu sein. Trotz allem wird über den Tod gesprochen. Macho analysiert, wie dies im Einzelnen geschieht.

Parallel zu meiner Arbeit hat sich Thomas Macho mit seiner Mitautorin Kristin Marek über „Die neue Sichtbarkeit des Todes“ Gedanken gemacht. Das Buch erschien im August 2007 und führt Beispiele aus Kunst, Literatur, Fotografie, Fernsehserien, wie „Six Feet Under“ oder „CSI“, und neu aufgeflammte Debatten, beispielsweise über Sterbehilfe und Transplantationsmedizin an, um ein neues Interesse und eine neue Sichtbarkeit des Todes zu beweisen. Angesichts der Tatsache, dass ich zu Beginn meiner Recherchen nichts von diesem Projekt wusste, wird deutlich, dass der Aspekt, dem ich mich im dritten Teil meiner Arbeit zuwende, wissenschaftliche Aktualität und Dringlichkeit besitzt „Die Photographie diente als Medium nicht allein dazu,

den Lebenden als Bild zu konservieren, sondern überdies

noch von der Leiche ein letztes Bild zu machen,

bevor sie der endgültigen Auflösung preisgegeben wurde.“ [3]

I Die Entdeckung der Fotografie

1 Vom Stellvertreter zum Abbild eines Menschen: Der Bildhunger wächst

Das Bild als Stellvertreter

Der hier folgende kleine Abriss der Bildgeschichte soll im Folgenden als Grundlage für die Analyse der Fotografie und ihrer Beziehung zum Tod dienen.

Hans Belting beschreibt in seiner „Bild-Anthropologie“ im Kapitel „Bild und Tod“, wie die Menschen von Anfang an versucht haben, die Leerstelle, welche ein Toter hinterlässt, durch die Erschaffung eines „Bildes“, eines Stellvertreters, zu füllen. Dieses Bild musste jedoch durch einen „Akt der Animation“[4] belebt werden, um auch als Verkörperung des Toten anerkannt zu werden. Dabei konnte es sich um Schädelfiguren, Holzfiguren, kleine Statuetten oder auch Mumien handeln. Nach der Animation fungierte das „Bild“ als rechtlicher Stellvertreter des Toten.[5] Doch schon die Sumerer besaßen mehr als zweitausend Jahre vor Christus eine Vorstellung vom „Bild“, die über die Ersatzfunktion für einen toten Menschen hinausging. So ließ ein Fürst eine Statue von sich anfertigen und übertrug seinem Bild die Aufgabe, in seinem Namen mit der Gottheit zu kommunizieren.[6] Der Stellvertretergedanke kommt bei dieser Nutzung eines „Bildes“ noch zum Tragen, aber nur bezogen auf eine Tätigkeit, die das „Original“ auf direktem Wege nicht selbst bewerkstelligen kann, nämlich die Kommunikation mit einem göttlichen Wesen. Etwas mehr als anderthalb Jahrtausende später hatte sich der Gebrauch der Bilder weiter gewandelt. Den Griechen ging es vor allem um die wirklichkeitsgetreue Darstellung des Menschen. Der erlittene Verlust wiederholt sich noch einmal an diesem Bild, das dem Menschen so ähnlich ist. „Deswegen füllt es keine Lücke mehr, sondern wird zur Metapher des Todes selbst.“[7] Platon kritisierte diese Art der Nutzung der Bilder, da sie den Weg zur einzig wahren Erinnerung, die allein im Gedächtnis menschlicher Wesen stattfinden sollte, verstellten.[8]

Der Drang nach Bildern wurde trotz dieser Kritik jedoch nicht geschmälert und, neben Mosaiken und der Bildhauerei, zunehmend von der Malerei bedient. Biblische Szenen, mythische Schlachten und Legenden, Allegorien, geistliche sowie weltliche Herrscher und deren Familien, Stillleben – dies waren Sujets, deren sich die europäisch-christlichen Maler annahmen. Der Künstler war keinem „realen Vorbild“ verpflichtet. Daher konnte zum Beispiel Pieter Brueghel d. Ä. (1568-1625) seinen „Bethlemitischen Kindermord“ in eine niederländische Szenerie verwandeln und gleichzeitig den Provinzstatthalter Herzog von Alba der Gewalt anklagen, die dieser auf Wunsch des spanischen Königs über die niederländischen Kolonien gebracht hatte.[9] Auf diese Weise erfüllte die Malerei zweierlei Funktionen: Einem Geschehen konnte nach Vorstellung des Malers Gestalt gegeben und in das Bild selbst konnten aktuelle politische Bezüge oder Ansichten eingebaut werden. Porträtbilder wurden vom Maler geschönt, wobei nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob dies von den Auftraggebern ausdrücklich verlangt wurde oder ob dies in einer Art vorauseilendem Gehorsam vom Maler getätigt wurde. Es ist ungewiss, ob diese Praktik zu den Konventionen der Zeit gehörte oder ob die Unterschiede zwischen Mensch und Porträt überhaupt wahrgenommen wurden. Das einfache Volk konnte sich solche Porträts nicht leisten. Dessen Darstellung diente den Malern zur Verdeutlichung einer besonderen Stimmung: die Bauern als Bestandteil der ländlichen, namenlose Frauen als Beispiel für die häusliche Idylle.

Mit dem Entstehen und dem wirtschaftlichen Aufschwung der bürgerlichen Klasse strebte auch diese nach Porträtdarstellungen, die bisher dem Adel vorbehalten waren. Ein Porträt würde den Einzelnen auch in Bezug auf das gesellschaftliche Ansehen ein Stück näher an den Adel heranführen. Diese ständig steigende Nachfrage nach Porträts läutete den Prozess der immer umfassenderen Mechanisierungen des Abbildungsprozesses[10] ein, der auch mit der steigenden Nachfrage nach Konsumgütern und der damit einsetzenden Massenproduktion von Gütern korreliert. Der Prozess ist logisch nachvollziehbar: Das Bedürfnis nach Gütern, die ob der hohen Herstellungskosten dem Adel vorbehalten sind, steigt rapide, da die Bürger sich einen höheren Lebensstandard wünschen und ihren wachsenden Wohlstand zur Schau stellen möchten. Sie wollen in jeder Hinsicht mit dem Adel gleichziehen. Da ihnen jedoch nicht die gleichen Summen Geldes zur Verfügung stehen, benötigen sie Dinge, die so aussehen oder die gleiche Funktion erfüllen wie die Besitztümer des Adels, aber billiger in der Herstellung sind. Es entstehen Manufakturen, die mit ihrem raschen Produktionszyklus in der Lage sind, die Bedürfnisse der Bürger zu stillen. Die gefertigten Produkte waren Waren, die den Bauern und Handwerkern zu teuer und dem Adel zu vulgär waren. Die Bürger konnten jedoch ihren Traum vom Luxus leben, der sie den Adligen auch äußerlich angleichen sollte.[11] Dies betrifft viele Gebiete des konsumorientierten und gesellschaftlichen Lebens, wie zum Beispiel Mode, Einrichtungsgegenstände, Kulturgenuss[12] und letztendlich auch die Möglichkeit, ein Porträt von sich anfertigen zu lassen. Gisèle Freund konstatiert diese Entwicklung bereits für die aufstrebenden französischen Bürger des späten 18. Jahr­hunderts.[13] Golo Mann setzt diese Entwicklung in Deutschland für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts an. Er beschreibt, wie die Industrialisierung die Menschen in hierarchische Stufen presst, die dem Einzelnen das Gefühl des Vorwärtskommens vermitteln. Der gelernte Arbeiter steht über dem ungelernten und hat meist sogar ein höheres Einkommen als ein unabhängiger Handwerksmeister:

„Dann die Vormänner und Aufseher, die Verwalter und Speditoren, die Laboranten und Ingenieure, die Einkäufer und Verkäufer und Abteilungsleiter, die immer wachsende Masse der Büroarbeiter aller Garde in der Industrie, im Handel, wie in den Riesenbetrieben des Staates, Eisenbahn und Post und Zollverwaltung – überall entstehen Stufenleitern von Einkommen, Verantwortung, Rang. [...] Unzählbar die neuen Berufe und neuen Titel; unzählbar die kleinen, persönlichen Befriedigungen, welche das Vorwärtskommen im Berufe bedeutet.“[14]

Man orientiert sich nach oben und grenzt sich nach unten ab. Golo Mann schließt daraus, dass auf diese Weise Revolutionsbestrebungen im Keim erstickt werden, da es von fast jeder Position aus jemanden gibt, der noch weniger hat als man selbst. Dies schafft innere Befriedigung und jeder hat das Bedürfnis, seine jeweils erreichte Position angemessen zu repräsentieren. So entsteht ein Markt für Produkte, die den Luxusgütern des Adels ähneln, jedoch billiger in der Herstellung und demzufolge auch im Erwerb sind.

Bezogen auf das Bedürfnis nach Abbildungen ihrer selbst imitierten die Bürger also die Porträts der Adligen, da sie noch keine eigene Abbildungsform gefunden hatten. Dem Wunsch nach hellen, leichten Farben entsprachen im adligen Milieu zum Beispiel die Miniaturporträts. Auf Puderdosen, Anhängern oder als kleine Bildchen ließen sich die geliebten Menschen stets bei sich tragen[15] – eine Mode, die sich auch heute noch in Gestalt von Fotos, die in der Brieftasche mitgeführt werden, beobachten lässt. Diese Bilder sind ein Indiz für den zunehmenden Kult um das Individuelle an einer Person.[16] Die Bürger strebten nun ebenfalls danach, solche Miniaturporträts von sich selbst und ihren Angehörigen zu besitzen. Die Maler stellten sich auf die Bedürfnisse der neuen Kunden ein und die Miniaturmalerei erlangte den Status eines äußerst erfolgreichen sowie lukrativen Kunst­handwerks. Erst die Fotografie sollte ihr im 19. Jahrhundert endgültig die wirtschaftliche Existenzgrundlage entziehen.

Technische Hilfsmittel in der Bildherstellung

Im 18. Jahrhundert wurde in Frankreich zur Zeit der Herrschaft von Ludwig XV. (1715-1774) eine neuartige Porträtform erfunden. Das Profil eines Gesichtes wurde in schwarzem Glanzpapier nachgeschnitten. Auf Bällen und Jahrmärkten wurde diese schnelle Form der Porträtherstellung angeboten. Ihren Namen verdankt sie dem Finanzminister Etienne de Silhouette.[17] Bei dieser Form der Darstellung liegt der Wiedererkennungseffekt allein in der Ausdruckskraft der Umrisslinie. Jegliche persönliche Note des Gesichts geht verloren. Die Silhouette ist eine „abstrakte Darstellungsform“, die jedoch wegen ihrer schnellen Herstellung und ihres billigen Preises beim Publikum sehr beliebt war.[18]

Die Silhouette bildete die Grundlage für eine weitere Entwicklung im mechanischen Abbildungsprozess. Der Physionotrace war in Frankreich zwischen 1786 und 1830 überaus populär. Der Erfinder dieser neuen Technik war der 1754 als Sohn eines höfischen Kammermusikers geborene Gilles-Louis Chrétien, der durch die Berufswahl des Kupfer­stechers hoffte, mehr Geld zu verdienen als sein Vater. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Arbeit mühselig, die Konkurrenz groß und die Anzahl der Porträtaufträge des Publikums spärlich waren, da die Kosten für ein solches Porträt hoch waren.

Im Jahre 1786 erfand er eine Apparatur, die das Verfahren des Gravierens mechanisierte. Diese Mechanik verband er mit der Kunst der Silhouette und schuf so eine neue Art der Porträtkunst: Das Schattenbild des zu Porträtierenden wurde auf eine Leinwand geworfen, konnte durch Parallelogramme verkleinert werden, wurde abgezeichnet und dann auf eine Metallplatte übertragen und graviert. Das Publikum nahm die neue Erfindung begeistert auf und die Erwerbsmöglichkeiten für Miniaturmaler und Kupferstecher wurden weiter eingeschränkt, weswegen sie sich dem neuen Handwerk zuwandten.[19] Die Ausstellung einer Vielzahl von Porträts im „Salon“, dem Organ für die jeweils offiziell akzeptierten Kunst­richtungen in Frankreich, verdeutlichen die große Beliebtheit der neuen Porträtkunst. Freund sieht allein im dokumentarischen Charakter der Bilder den Vorteil des Physionotrace'. Die einzigartige Verbindung zwischen Miniaturmaler und Porträtiertem, die es dem Maler erlaubte, nicht nur die Dinge zu malen, die er sieht, sondern auch einen bestimmten Charakterzug herauszuarbeiten, sei hier vollständig abhanden gekommen. Der Physionotrace sei damit der Vorgänger des fotografischen Apparats, obwohl er technisch gesehen nichts mit diesem zu tun hat.[20]

Nicht unerwähnt bleiben dürfen in diesem Zusammenhang die Camera Obscura sowie die Camera Lucida. Das Prinzip der Camera Obscura, bei der man ein Bild generieren kann, indem man Licht durch eine kleine Öffnung in einen dunklen Raum fallen lässt, war seit langem bekannt. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde dieses Prinzip für die Maler nutzbar gemacht, indem man ein Loch in einen 60 Zentimeter langen Kasten machte, welches man mit einer Linse versah. Ein Spiegel half, das auf dem Kopf stehende Bild richtig herum auf die darüber montierte Scheibe zu werfen, wo es dann abgemalt werden konnte. Die Maler des 18. Jahrhunderts nutzten dieses Hilfsmittel, um ihre naturgetreuen Bilder herzustellen.[21] Die Camera Lucida wurde 1807 vom englischen Naturwissenschaftler William Hyde Wollaston erfunden. Newhall beschreibt ihre Funktionsweise:

„Auf eine Zeichenunterlage legte man ein Stück Papier. Darüber wurde mit einem Messinghalter in Augenhöhe ein Glasprisma angebracht. Wenn der Zeichner durch ein Guckloch genau über der Kante des Prismas blickte, so konnte er gleichzeitig sein Motiv und das Zeichenpapier sehen; auf diese Weise lenkte das virtuelle Bild seinen Stift.“[22]

Dieses Instrument war leicht zu transportieren und deshalb auch bei Reisenden beliebt. Zeichnerische Begabung war allerdings eine Voraussetzung für die Handhabung der Camera Lucida.

Der Hunger der Bürger nach dem eigenen Porträt und das Streben, endlich dem Zeichenstift, dessen Handhabung einiges an Talent verlangte, zu entkommen, mündete schließlich in den 1820er Jahren in der Entdeckung der Fotografie durch Nicéphore Niépce (1765-1833)[23]. Die frühesten erhaltenen fixierten Bilder, so genannte Heliographien, stammen aus dem Jahr 1827. Niépce tat sich mit dem Maler Louis Jacques Mandé Daguerre (1787-1851) zusammen, der Besitzer eines Dioramas in Paris war und sich selbst auch, aufgrund seiner Vertrautheit mit der Camera Obscura, mit fotografischen Experimenten beschäftigte. Im Jahr 1829 unterzeichneten sie einen Partnerschaftsvertrag über zehn Jahre, doch Niépce starb bereits vier Jahre später. Daguerre experimentierte allein weiter. Im Jahr 1837 konnte er mit seinem „Stilleben“ ein Bild vorweisen, das auf einer versilberten polierten Kupferplatte mit Hilfe der chemischen Verbindungen Jodsilber, Quecksilber und Kochsalzlösung entstanden war und später als Daguerreotypie bezeichnet werden würde.[24]

In den 1830er Jahren hatte William Fox Talbot (1800-1877) in England unabhängig von Daguerre ein Negativ-Positiv-Verfahren entwickelt. Im Unterschied zu den Daguerreotypien, die Unikate sind, zeichnet sich dieses Verfahren durch die Möglichkeit der Vervielfältigung eines Bildes aus. Er selbst nannte seine Ergebnisse fotogenische Zeichnungen. Neben Talbot befasste sich auch der Astronom John F. W. Herschel (1792-1871) mit dem Problem der Fixierung von Bildern auf lichtempfindlichem Papier. Er fand eine Lösung, die Talbot mit seinem Einverständnis veröffentlichte. Daguerre übernahm diese Lösung für seinen Prozess der Fixierung der Bilder. Herschel prägte den Begriff der „Fotografie“ anstelle des „fotogenischen Verfahrens“ von Talbot.[25]

Der französische Staat kaufte die Rechte an der Erfindung der Daguerreotypie. Im August 1839 wurde das Verfahren der Öffentlichkeit in einer Sitzung der französischen Akademie der Wissenschaften präsentiert. Bereits 1840 erschien eine Karikatur von Théodore Maurisset, die den Titel „LA DAGUERREOTYPOMANIE“[26] trägt und die eine Masse von Menschen zeigt, von denen sich die einen fotografieren lassen wollen und die anderen die nötige Apparatur kaufen, um selbst Daguerreotypien anfertigen zu können. Diese Karikatur belegt die Begeisterung, die diese Erfindung sofort nach ihrer Veröffentlichung bei den Bürgern auslöste.

2 Der Tod und die Fotografie

Die Bedeutung der Porträtfotografie

Die Daguerreotypie beziehungsweise Fotografie setzte sich schnell durch und verdrängte die anderen Arten der Porträtherstellung, Ölmalerei, Miniatur oder Kupferstich, fast vollständig vom Markt.[27] Anfangs war eine Belichtungszeit von fünfzehn Minuten im prallen Sonnenschein vonnöten, um das Bild auf der vorbereiteten Platte zum Vorschein zu bringen. Ein Jahr später waren es, dank verbesserter Objektive, nur noch dreizehn Minuten und zwar im Schatten. Von Jahr zu Jahr nahm die benötigte Belichtungszeit ab, was den Weg für die Porträtfotografie ebnete.[28] Trotz allem ist es eine Leistung, auch nur eine Minute still zu sitzen, so dass zu diesem Zwecke Kopfstützen erfunden wurden, die verhindern sollten, dass der Abzubildende seine starre Position verlassen könnte.[29]

Es wurde in diesem Zusammenhang in der Literatur spekuliert, ob man hierin nicht die Vorliebe für die Totenfotografie finden könne – immerhin hätten Tote nicht mehr die Möglichkeit, eine Fotografie durch Bewegungen zu verderben. Diese Vermutung darf wohl getrost in das Reich der Legenden verwiesen werden. Die Menschen wollten ja gerade ein Bild von sich, mit dem sie ihren Stand, ihren Erfolg und ihre Individualität bezeugen konnten. Hart Nibbrig meinte jedoch in der Pose des Erstarrens, die dem Leben dienen soll, indem die Kamera einen „Augenblick“ einfängt, die Verbrüderung mit dem Tod zu erkennen. Denn das Leben muss eingefroren werden, um am Ende ein Zeugnis von ihm zu haben. Nur die absolute Bewegungslosigkeit, wie der Tod allein sie hervorruft, ist der Weg zum Abbild und zur Repräsentation seiner selbst.[30] Die Porträtherstellung avancierte also zum Motor der fotografischen Entwicklung, ganz im Gegensatz zur ursprünglich vorgestellten Verwendung als Hilfsmittel der Wissenschaften, zum Beispiel in der archäologischen Forschung zur Dokumentation mehrerer Tausend Hieroglyphen.[31] Newhall schreibt dazu:

„Die gewaltige Nachfrage nach Familienbildern hing auch mit dem Wissen um die Sterblichkeit des Menschen zusammen, von dem das 19. Jahrhundert mit seiner hohen Sterberate, vor allem bei Kindern, noch sehr viel stärker erfüllt war als unser Jahrhundert. Die Verse ‚Secure the shadow 'ere the substance fade / Let Nature imitate what Nature made‘ (Bewahr den Schatten, wo der Stoff verfliegt / Natur laß imitieren, was die Natur gefügt) diente als Werbespruch, und fast jeder Daguerreotypist bekundete seine Bereitschaft, posthume Portraits aufzunehmen.“[32]

Wenn die Daguerreotypisten bereit waren, Bilder von toten Menschen aufzunehmen, so ist davon auszugehen, dass es eine Nachfrage nach dieser Art von Porträts gab.

Die Bedeutung des letzten Gesichtsausdrucks

Die Menschen schrieben dem letzten Gesichtsausdruck eine besondere Bedeutung zu: „[...] im Anblick des Sterbenden sollte sich die Summe seines ganzen Lebens sammeln.“[33] Der letzte Gesichtsausdruck sollte zudem der wahrhaftige sein, da nun der Wille dem Gesicht keinen Ausdruck mehr diktieren konnte.

Totenmasken, die recht bald nach Eintritt des Todes mit Gips abgenommen werden, sollten ab dem 18. Jahrhundert diesen Augenblick, diesen Ausdruck im Gesicht des Verstorbenen einfangen. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden diese Masken nur abgenommen, um mit ihrer Hilfe Porträts, Büsten oder Statuetten herzustellen oder um als Vorlage für die Wachsbildnerei zu dienen.[34] Sie waren vor allem in adligen Kreisen verbreitet. Weil sich die Physiognomie im 18./19. Jahrhundert als wissenschaftliche Disziplin etablierte, wurden nun auch die Totenmasken der untersten Mitglieder der Gesellschaft, der zum Tode verurteilten Verbrecher, abgenommen. Mit ihrer Hilfe suchten Wissenschaftler zu beweisen, dass man einem Menschen das kriminelle Element bereits im Gesicht ansehen kann. Kriminologen sollten an ihnen lernen, Menschen allein ob ihres Aussehens als Straftäter zu identifizieren, wie es ab 1893 im Hamburger Kriminalmuseum gehandhabt wurde.[35] Zwischen diesen Polen von „oben“ und „unten“ etablierte sich in Deutschland die Tradition der Fertigung von Totenmasken als Selbstzweck unter den Bürgerlichen im Februar 1781: Die Freunde von Gotthold Ephraim Lessing fertigten an dessen Sterbetag eine Totenmaske von ihm an.[36] Bevor diese Entwicklung einsetzte, wurden die Masken oft stark verändert und angemalt, so dass man sagen kann, dass sie, neben ihrer Funktion als Vorlage für andere Gestaltungskünste, eher als Leinwand denn als eigenständiges Kunstwerk angesehen wurden. Dies änderte sich jedoch im 18. Jahrhundert.

Die Fotografie brachte unvermeidlich auch in diesem Bereich eine Demokratisierung mit sich: „Im vergangen Jahrhundert wurden durch das Aufkommen der Photographie Totenbildnisse für sämtliche Gesellschaftsschichten verfügbar.“[37] Der vergleichsweise geringe Aufwand und die vergleichsweise geringen Kosten machten die Totenfotografie bei den „normalen“ Menschen so beliebt. Regener schreibt: „Fotografische Totenporträts sind die populäre Form des Erinnerungskultes für die weniger Berühmten.“[38]

Es lässt sich nun darüber diskutieren, ob die Leichenfotografie in der Tradition der Totenmasken steht oder ob sie eine neue Form des Erinnerungskultes darstellt. Sollte eine Totenfotografie den letzten Gesichtsausdruck bewahren, den letzten, entscheidenden, der alles über das Leben des toten Menschen enthüllt? Oder stellte sie nur eine Notlösung für all jene Menschen dar, die zu Lebzeiten kein Bild, zum Beispiel von ihrem Kind, hatten anfertigen lassen und nun die letzte Gelegenheit ergriffen, die Herstellung einer Fotografie in Auftrag zu geben? Für die erste These spricht, dass die Totenfotografien teurer waren als die Fotografien von lebenden Menschen und den Hinterbliebenen besonders viel bedeuteten:

„A postmortem photograph, which represented the loss of an individual, had a value beyond that of an ordinary portrait. That value was reflected in its cost. [...] Photographers, no less astute than other business people, were charging an extraordinary fee for a product desired with extraordinary fervor by their customers.“[39]

Warum sollte man wissentlich mit der Herstellung einer Fotografie bis zum Tode eines Menschen warten, wenn man weiß, dass dieses zu Lebzeiten günstiger zu erstehen ist? Für die zweite Annahme spricht, dass es, wie die weiteren Auführungen zeigen werden, Bemühungen gab, Tote auf den Bildern wie Lebende aussehen zu lassen. Warum sollte man sich diese Mühe machen, wenn es lediglich darum geht, den Menschen als Toten festzuhalten? Bei Stefenelli steht das Folgende zwar in Bezug auf Gemälde von Toten, aber auf die Totenfotografien trifft diese Erkenntnis genau so zu:

„In solchen Bildern der Erinnerung und des Andenkens erscheint der Aufgebahrte in seiner mehr oder weniger vollständigen Gestalt oder vertreten durch sein totes Gesicht. Die Übergänge zwischen den Darstellungen des ,lebensnah‘ hergerichteten oder des wirklich tot erscheinenden Gesichtes sind fließend.“[40]

Ein Totenbild, das als Erinnerungsbild fungieren soll, ist – da es das Einzige bleiben wird, das man von diesem Menschen besitzt – etwas strukturell anderes als ein Bild, das man macht, um den Tod eines Menschen in einer chronologischen Reihe von Fotografien zu belegen. Ein einziges Bild muss gleichermaßen als Dokumentation des Lebens einer Person sowie als Erinnerungsbild dienen und nimmt somit die klassische Stellvertreterposition ein, wie sie eingangs beschrieben wurde. Der Tod muss auf diesen Bildern so gut als möglich verschleiert werden, da er nicht die Aussage der Fotografie bestimmen soll, sondern nur Anlass gibt, die Fotografie anfertigen zu lassen.

Eine Totenfotografie in einer langen Reihe von Fotografien bezeugt vor allem das Ende des Lebens einer Person. Man begleitet diese auf den Bildern quasi durch die Höhepunkte ihres Lebens und darf sie am Ende auch als Toten, erkennbar hergerichtet als Leiche, betrachten. Wenn dies nicht der Fall ist, so darf man doch eine Fotografie von der Beerdigung erwarten, so dass man den Abschluss dieses Lebens klar vor Augen hat. Falls kein Bild des Leichnams oder der Beerdigung gemacht wird, so wird vielleicht dieses eine individuelle Leben im Album nicht zu Ende gebracht. Allein die Tatsache, dass es diese Bilder gibt, belegt die Existenz eines Menschen und auch der Tod ist von dieser Existenz nicht ausgeschlossen. Früher oder später wird die Person auf den Bildern gestorben sein oder sterben, wenn sie noch am Leben ist. So viel steht fest. Jede Fotografie zeigt somit im Grunde einen Noch- oder Nicht-mehr-Lebenden.

Diese Gewissheit wird inzwischen von den neuen Bildbearbeitungstechnologien unterlaufen, die es ermöglichen, das Bildnis einer virtuellen Person zu erschaffen, die nicht geboren wurde und nicht sterben muss.[41] Ohne Original in der wirklichen Welt stellt solch ein Bildnis die reinste Existenzform dar – eine Existenz ohne Alterung, ohne Tod, die realen Menschen nicht vergönnt ist, auch wenn einige manchmal davon träumen mögen.

Die Totenfotografie

Im 19. Jahrhundert versuchten die Menschen, mit Hilfe von Fotografien der Finalität des Todes beizukommen und nachgewiesenermaßen stellte der Totenbett-Auftrag eine der Haupteinnahmequellen des kommerziellen Fotografen im 19. Jahrhundert dar.[42] Tote Kinder wurden besonders häufig fotografiert, da oft „[...] hier die letzte Möglichkeit bestand, ein erstes Bild zu machen.“[43] Die Arbeit musste schnell von statten gehen, da die Beerdigung innerhalb eines Tages organisiert werden musste, was vor allem bedeutete, beim Schreiner einen Sarg in Auftrag zu geben. Ruby beschreibt, wie normal es in den USA war, dass in den Zeitungen für die Post-Mortem-Fotografie geworben wurde[44]. Und so wie heute die Bestattungsunternehmer damit werben, Tag und Nacht erreichbar zu sein, so warben die Fotografen damit, innerhalb einer Stunde nach Eintritt des Todesfalles im Haus des Verstorbenen zu sein.[45] Zum Verkauf stehende Fotografenateliers wurden damit angepriesen, dass allein der Verkauf von Totenfotografien die Finanzierung sicherstellen würde.[46] Auch Diskussionen über das korrekte Vorgehen bei der Anfertigung einer solchen Fotografie wurden in den fotografischen Fachjournalen geführt.

Dies alles darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass es durchaus auch Fotografen gab, die nur wenig Verständnis für die Wünsche ihrer Kunden nach einer Totenfotografie aufbrachten. Der französische Fotograf Disdéri (1819-1889), der Erfinder des überaus beliebten carte-de-visiste-Verfahrens, das nun endlich Abzüge auf Papier erlaubte und damit die Kosten weiter senkte, hatte Folgendes zur Praktik der Totenfotografie zu sagen:

„Wir haben eine Vielzahl von Porträts nach dem Tod angefertigt; aber, ganz offen gesagt, nicht ohne Widerwillen. Wozu auch – wenn man das Porträt eines Verwandten, eines Freundes oder eines Kindes will – abwarten, bis der Tod ihn unserer Zuneigung entreißt. Ruhen unsere Augen nicht viel lieber auf Zügen, die von Geist und Leben strotzen, als auf von den Zuckungen des Todeskrampfes verkrampften Zügen.“[47]

Spricht hier der Geschäftsmann aus Disdéri, der das größere Potenzial in der Herstellung von Lebendfotografien sieht oder der Ästhet, dem es um die lebendigen Züge bei den Porträtsitzenden geht?

Obwohl einige Fotografen, wie eben gezeigt, vom Zweck der Bilder nicht überzeugt waren, führten sie ihre Aufträge in professioneller Weise aus. Andere hatten Verständnis für den Wunsch der Hinterbliebenen nach einer Totenfotografie: „Some express sympathy for their bereaved patrons; others feel the task to be a very unpleasant one indeed.“[48]

Die Menschen im 19. Jahrhundert waren jedoch nicht allen Fotografien gegenüber so aufgeschlossen, die etwas mit dem Tod zu tun hatten. Es gab ein Bild, das die damaligen Grenzen des guten Geschmacks übertrat; es heißt „Fading Away“ und wurde von Henry Peach Robinson 1858 aus fünf Negativen zusammengesetzt. Es zeigt ein sterbendes Mädchen mit ihren tief traurigen Eltern.[49] Das abgebildete Mädchen hatte ihre Rolle als Todkranke nur gespielt und trotzdem waren die Menschen entrüstet über diese Fotografie: „Das Publikum war von dem Thema schockiert; man hielt es für geschmacklos, eine so schmerzliche Szene im Bild festzuhalten.“[50]

Newhall sieht das Ressentiment gegen dieses Bild im Glauben der Menschen an die Wahrhaftigkeit der Fotografie begründet. Eine Fotografie vermittelt immer den Eindruck, dass sie Wahrheit verbreitet, weil sie unmittelbar auf den Menschen einwirkt und reale Menschen in realen Umgebungen zeigt. Da es selbst heute vielen Menschen schwer fällt, nicht jede Fotografie für bare Münze zu nehmen, obgleich sowohl die Möglichkeiten und das Ausmaß der Bildbearbeitung als auch das Wissen darum heute ungleich größer sind, kann man sich gut vorstellen, dass die Menschen des 19. Jahrhunderts, für die die Fotografie etwas komplett Neues war, erst recht mit diesem Wahrnehmungsproblem zu kämpfen hatten. Die Tatsache, dass eine Fotografie von einem Toten eher akzeptiert wurde als die von einem Menschen, der im Sterben liegt, macht bereits einen Wandel in der Trauerkultur deutlich, auf den im zweiten Kapitel ausführlich eingegangen wird. Das Sterbezimmer war immer der Öffentlichkeit zugänglich gewesen.[51] Nun wurde es zu einem privaten Ort, in den auch keine fotografische Kamera eindringen durfte.

Was den Aufbewahrungsort der Totenfotografien betrifft, so beschreibt Ruby folgendes Szenario: Die Bilder wurden unter anderem in Schlaf- und Wohnzimmern aufgehängt, auf Kaminsimsen aufgestellt, in Alben geklebt, an Verwandte geschickt oder in Brieftaschen getragen.[52] Die Bilder wurden nicht versteckt. Jeder, der Zutritt zum Haus hatte, konnte die Totenbilder sehen, wenn diese zum Beispiel auf dem Kaminsims standen.

Kommen wir nun auf die Totenfotografien selbst zu sprechen. Welche Arten der Post-Mortem-Fotografien gibt es? Jay Ruby benennt drei verschiedene Formen der Toten- und Erinnerungsfotografie, die hier im Folgenden aufgeführt werden sollen. Einige dieser Ansichten und Blickwinkel auf den toten Menschen sind uns auch heute noch vertraut.

Eine Art, die Toten in Szene zu setzen, war, so zu tun, als ob sie noch leben würden. Man kannte diese Vorgehensweise bereits von Gemälden, auf denen tote Menschen lebendig gezeigt wurden. Wie oben bereits erwähnt, waren den Malern keine Grenzen durch die Wirklichkeit gesetzt und so konnten Verstorbene für die Hinterbliebenen auf den Bildern wieder lebendig gemacht werden. In vielen Fällen wurden in diesen Gemälden Hinweise auf den Tod der abgebildeten Person untergebracht, wie zum Beispiel eine Uhr, die entweder die Geburts- oder die Sterbestunde des Abgebildeten anzeigte.[53] Es kam auch zur Zusammen­arbeit von Fotografen und Malern: Die Maler nutzten dann eine Totenfotografie, um den Menschen auf einem Gemälde lebend darzustellen.[54]

Da ein Fotograf die Toten nicht einfach wieder lebendig machen konnte, ließ man sich andere Methoden einfallen, mit deren Hilfe man die Menschen wieder lebendig erscheinen lassen konnte. Es gab die Methode der Kolorierung, die Meinwald mit den Methoden des Schminkens und Herrichtens der heutigen Bestatter vergleicht.[55] Beides dient dazu, den toten Menschen lebendig erscheinen zu lassen. Andere Methoden waren: das Übermalen der Augen, damit diese offen erscheinen, das Drehen des Bildes um 90 Grad, so dass aus einer liegenden Person anscheinend eine sitzende wird, sowie die Platzierung der Toten auf einem Stuhl oder in einem Sessel.[56]

Im häufigsten Fall wurden die Toten jedoch als Schlafende inszeniert. Diese Pose wird
„Last Sleep“, also „der letzte Schlaf“, genannt. Im Deutschen kennt man auch den Begriff des „ewigen Schlafes“. Dafür wurden die Toten auf ihrem eigenen bzw. einem Sofa der Angehörigen drapiert, welches wiederum mit einer Decke belegt war.[57] Der Fokus lag bei diesen Fotografien auf den Gesichtszügen oder dem Oberkörper der Verstorbenen. Für die Fotografien der „schlafenden“ Toten wurden oft keine Requisiten verwendet, aber den meisten Bildern sieht man an, dass man sich große Mühe gab, den Verstorbenen liebevoll und sorgsam herzurichten. Nur vereinzelt versuchte man, die Szenerie durch das Hinzufügen individueller Gegenstände des Verstorbenen zu personalisieren. Gelegentlich wurde ein Kind mit seinem Spielzeug aufgenommen.[58] Sehr junge Kinder wurden manchmal in ihrem Kinderwagen abgebildet und sehr wenige in einem Sarg, der, wie oben erwähnt, eine einfache Holzkiste war, die immer dann angefertigt wurde, wenn sie gebraucht wurde[59].

Gegen Ende des Jahrhunderts spiegelten sich die Veränderungen in der amerikanischen Beerdigungskultur in den Fotografien wider, die nun hergestellt wurden.[60] Im Ameri­kanischen Bürgerkrieg zwischen 1861 und 1865 wurde es Usus, tote Soldaten einzubal­samieren. Dabei wird das Blut durch eine Ersatzflüssigkeit ersetzt. Die Soldaten sollten nach dem Rücktransport an ihre jeweiligen Heimatorte ohne fortgeschrittene Verwesungs­erscheinungen von den Angehörigen angeschaut werden können. Diese Technik gefiel den Menschen so gut, dass die sich entwickelnde Branche der Bestatter in den USA sie als Standardbehandlung für alle Leichen übernahm. Auch weit entfernt lebende Verwandte erhielten nun die Chance, nach ihrer langen Reise noch einen Blick auf den Toten werfen zu können.[61]

Zusätzlich zu dieser Neuerung entwickelte sich die Sargherstellungsindustrie. Diese produzierte Särge in verschiedenen Formen und Farben, reich verziert; Särge, die mehr waren als nur eine Holzkiste. Im amerikanischen Englisch ist dieser Übergang auch sprachlich markiert: die Holzkiste, coffin, wurde nun dem Schmuckkasten, casket, gegenübergestellt.[62] Außerdem spielten Blumen eine immer größere Rolle bei Beerdigungen.

So nahmen die Bilder, die im Stil des „letzten Schlafes“ gemacht wurden, im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich ab. Ganzkörperaufnahmen im Sarg wurden üblich; der Schlaf konnte auf diese Weise nicht mehr vorgetäuscht werden. Es ist nicht verwunderlich, dass die Menschen nun nichts mehr dagegen hatten, den Sarg auf den Bildern verewigt zu sehen. Immerhin war dieser hübscher als in früheren Tagen und auf diese Weise konnte gleich noch die Stellung in der Gesellschaft bezeugt werden, wenn das Budget für einen besonders teuren Sarg gereicht hatte.

Einige Tote wurden zwar immer noch zu Hause aufgebahrt, aber es wurde eher zur Regel, dass die Särge in den Bestattungsinstituten aufgestellt wurden. Die Fotografen mussten also in die Institute gehen, um ein Bild des Toten anzufertigen. Ruby gibt zu Bedenken, dass sie auf diese Weise von den Bestattern, die jetzt bestimmten, was wann mit der Leiche zu geschehen hatte, in ihren Aktivitäten eingeschränkt worden sind, was wiederum einer der Gründe für den Triumph der Sargfotografien gewesen sein könnte.[63]

Ungefähr zur selben Zeit hörte auch die Werbung für die Post-Mortem-Fotografien auf. Es darf darüber gemutmaßt,werden, ob dieser Dienst der Fotografen inzwischen so weitläufig bekannt war, dass die Werbeanzeigen dafür überflüssig geworden waren.[64] Vielleicht gliederte sich der Dienst des Fotografen auch in die Dienstleistungen des Bestatters ein, so dass dieser sich um die Formalien kümmerte, wenn die Angehörigen ein Foto verlangten.

[...]


[1] Schulz, Martin: Die Thanatologie des photographischen Bildes. Bemerkungen zur Photographie. In: Assmann/Trauzettel (Hg.): Tod, Jenseits und Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie, Freiburg/München 2002, S. 755.

[2] Ebd., S. 756.

[3] Schulz in Assmann/Trauzettel 2002, S. 755.

[4] Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 143.

[5] Dieser Stellvertretergedanke begegnet einem auch noch in modernen Zeiten, wenn zum Beispiel Strohpuppen als Platzhalter für echte Menschen oder eine Jahreszeit benutzt und symbolisch angezündet werden.

[6] Belting 2001, S. 166.

[7] Ebd., S. 173.

[8] Vgl. ebd., S. 174 f.

[9] Wößner, Wiltrud: Pieter Brueghels „Bethlehemitischer Kindermord“
: Bildinterpretation. 1994 URL: http://www.swin.de/kuku/kammerchor-sw/brueghel.htm Stand: 15.08.2007.

[10] Vgl. Freund, Gisèle: Photographie und Gesellschaft. Reinbek 1979, 31.-33. Tausend 1997, S. 13.

[11] Ebd., S. 19.

[12] Vgl. North, Michael: Konsumgeschichte und Kulturkonsum im 18. Jahrhundert. In: GWU, Jg. 58, Heft 9 (Konsumgeschichte), S. 484-501, Seelze September 2007.

[13] Vgl. Freund 1979, S. 13.

[14] Mann, Golo: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. 1958, Sonderausgabe Frankfurt/Main 1992, S. 409.

[15] Freund 1979, S. 14.

[16] Vgl. ebd.; Dan Meinwald macht auch darauf aufmerksam, dass in kleineren Familienverbänden, wie sie sich im 19. Jahrhundert zu konstituieren beginnen, die einzelnen Mitglieder wichtiger werden und ein Verlust eines solchen ungleich schwieriger zu verkraften ist als ein Todesfall in einer Großfamilie. Vgl. Meinwald, Dan: Memento mori: Death and Photography in Nineteenth Century America. CMP Bulletin, Bd. 9, Nr. 4, 1990. URL: http://vv.arts.ucla.edu/terminals/t1/ucr/memento_mori/default.html Stand: 08.10.2007, Kapitel „The Body“, Absatz 9.

[17] Freund erzählt eine andere Begriffsgeschichte (S. 15 f.) als das Etymologische Wörterbuch des Dudens, weswegen hier keine der beiden Versionen wiedergegeben wird.

[18] Freund 1997, S. 16.

[19] Vgl. ebd, S. 17.

[20] Physionotrace bei Freund 1997, S. 16 ff.

[21] Newhall, Beaumont: Geschichte der Photographie. München 1989, Sonderausgabe 1998, S. 9.

[22] Ebd., S. 12.

[23] Der Nachname wird bei Newhall „Niepce“ und bei Freund „Niépce“ geschrieben. Ich folge in meiner Schreibweise Gisèle Freund.

[24] Vgl. Newhall 1998, S. 18 f.

[25] Vgl. ebd., S. 20 ff.

[26] Freund 1997, S. 24.

[27] Ebd., S. 41.

[28] Vgl. ebd., S. 33.

[29] Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/Main 1985, S. 21 f.

[30] Vgl. Hart Nibbrig, Christiaan L.: Ästhetik des Todes. Frankfurt/Main /Leipzig 1995, S. 193.

[31] Vgl. Freund 1997, S. 31.

[32] Newhall 1998, S. 33. Die Existenz der Leichenfotografien wird in diesem Satz anerkannt; Newhall geht jedoch nicht weiter auf dieses Thema ein.

[33] Regener, Susanne: Physiognomie des Todes. Über Totenabbildungen. In: Dorle Dracklé (Hg.): Bilder vom Tod. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (Interethnische Beziehungen und Kulturwandel, 44), Münster u. a. 2001, S. 58.

[34] Vgl. ebd., S. 52 f, sowie Schmölders in Assmann/Trauzettel 2002, S. 177.

[35] Vgl. Regener in Dracklé 2001, S. 60.

[36] Vgl. Schmölders in Assmann/Trauzettel 2002, S. 176 f.

[37] O. A.: Erinnerungsbild des Toten für einen Kreis nahestehender Hinterbliebener. In: Norbert Stefenelli (Hg.): Körper ohne Leben. Begegnung und Umgang mit Toten. Wien u. a. 2001, S. 832.

[38] Regener in Dracklé 2001, S. 55.

[39] Meinwald 1990, Kapitel „The Body“, Absatz 3 f.

[40] O. A. in Stefenelli 2001, S. 832.

[41] Vgl. Schulz in Assmann/Trauzettel 2002, S. 760 f.

[42] Vgl. Krauss, Rosalind: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998, S. 29.

[43] Schulz in Assmann/Trauzettel 2002, S. 756.

[44] Vgl. Ruby Jay: Secure the Shadow. Death and Photography in America. Cambridge/Mass. & London/Engl. 1995, S. 55.

[45] Vgl. ebd., S. 71.

[46] „Daguerran Gallery for sale – The only establishment in a city of 20'000 inhabitants and where pictures of deceased persons alone will pay all expenses.“ In „Humphrey's Journal“ vom 15. Januar 1854, S. 302. Bei Ruby 1995, S. 54.

[47] Bei: Dubois, Philipp: Der fotografische Akt. Versuch eines theoretischen Dispositivs. Amsterdam/Dresden 1998, S. 165.

[48] Vgl Ruby, 1995, S. 55.

[49] Vgl. Newhall 1998, S. 77.

[50] Ebd.

[51] Vgl. Ariès, Philippe: Geschichte des Todes. 11. Auflage, München 2005, S. 30.

[52] Vgl. Ruby, 1995, S. 159.

[53] Vgl. ebd., S. 37.

[54] Vgl. ebd., S. 43.

[55] Vgl. Meinwald 1990, Kapitel „The Body“, Absatz Nr. 12.

[56] Vgl. Regener in Dracklé 2001, S. 57. Prinzipiell lässt sich sagen, dass es erstaunlich ist, dass die Menschen, die anfangs so begeistert von der Genauigkeit der Fotografie waren, diese später anfingen zu verbannen, indem sie das Verfahren der Retusche begeistert aufnahmen; denn nicht nur tote Menschen wurden im Bilde verändert, sondern auch lebende von ihren vermeintlichen Makeln befreit. Es scheint, als ob die Fotografen die Praxis der Maler übernahmen, nicht das zu zeigen, was man gesehen hatte, sondern das, was man gerne sehen wollte. Oder von dem man glaubte, der Kunde würde es gerne sehen.

[57] Vgl. Ruby 1995, S. 66.

[58] Vgl. ebd., S. 69.

[59] Vgl. ebd.

[60] Vgl. ebd. S. 75.

[61] Vgl. ebd.

[62] Vgl. ebd., S. 75 f.

[63] Vgl. ebd.

[64] Vgl. ebd., S. 59.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2007
ISBN (eBook)
9783836610988
Dateigröße
791 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) – Kulturwissenschaften
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,3
Schlagworte
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Titel: Die 'objektiven' Toten
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