Der Kosovokonflikt unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Beteiligung
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war der Gegensatz zwischen NATO und Warschauer Pakt die bestimmende Determinante der Außen- und Sicherheitspolitik der westlichen Staatengemeinschaft. Das Hauptaugenmerk lag deshalb seit Jahrzehnten darauf, dem potenziellen Aggressor auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs ein kollektives Verteidigungssystem entgegenzustellen und durch eine Strategie der Abschreckung den Frieden in Europa zu sichern. Seit dem Ende des Warschauer Paktes bedrohte aber nicht mehr die Gefahr eines internationalen Krieges globaler Ausprägung den Frieden. Vielmehr waren es nun vor allem innerstaatliche bürgerkriegsähnliche Konflikte, es gab sie freilich auch schon vorher in beträchtlicher Zahl, die durch Destabilisierung die Sicherheit angrenzender Staaten gefährdeten. Eine Vielzahl dieser innerstaatlichen Konflikte, vor allem auf dem Balkan, machte es deshalb notwendig, Strategien zu entwickeln, um solchen bürgerkriegsähnlichen Situationen zu begegnen.
Für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik war die Auflösung des Warschauer Paktes und die tendenzielle Destabilisierung Südosteuropas eine der größten Herausforderungen seit der Gründung der Bundesrepublik. Im Zuge der Wiedervereinigung wurden, vor allem bei den Verbündeten innerhalb der NATO, immer mehr Stimmen laut, die ein stärkeres Engagement Deutschlands bei der internationalen Konfliktbewältigung forderten. Während für die Verbündeten Deutschlands Konfliktmanagement unter dem Einsatz von Streitkräften nämlich schon längst gängige Praxis war, war dies für Deutschland etwas völlig Neues! Konnte man sich etwa im zweiten Golfkrieg noch durch massive Zahlungen an die internationale Koalition aus dem Kampf heraushalten, stellte sich die Situation im Kosovo-Konflikt vollkommen anders dar. Eine aktive Beteiligung an der Beendigung des Kosovo-Konfliktes wurde von den Partnern allgemein erwartet. Die auch militärische Beteiligung Deutschlands war deshalb sowohl ein Ausdruck des Gewichtszuwachses der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung als auch ein Zeichen des gestiegenen Selbstbewusstseins der deutschen Außenpolitik.
Zu fragen ist, was den Kosovo-Konflikt bzw. das westliche Konflikt-management im Kosovo von anderen Interventionen, etwa der im zweiten Golfkrieg, unterscheidet. Ein wesentliches Merkmal der Kosovo-Intervention ist in ihrer problematischen Legitimation zu sehen: Offiziell wurde die Operation Allied Force, also das […]
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
2. Einleitung
3. Die Historie des Kosovo-Konflikts
3.1 Die Ursprünge
3.2 Das Kosovo und das osmanische Reich
3.3 Von 1912 bis 1945
3.4 Die Ära Tito und die Verfassung von 1974
4. Der Beginn des modernen Konflikts
4.1 Die deutsche Kosovopolitik bis Dayton
4.2 Die Kosovopolitik der EU bis Dayton
4.3 Die KSZE
5. Die Konferenz von Dayton
5.1 Der albanische Parallelstaat und die Hoffnungen S. 32 der Albaner für Dayton
5.2 Die Konferenz
6. Die deutsche Außenpolitik nach Dayton
6.1 Wandel der Orientierung
6.2 Die deutsche Vermittlerrolle
6.3 Aufbau einer Drohkulisse
6.4 Der Wandel der Außenpolitik im Schatten S. 51 des Regierungswechsels
6.5 Die Holbrooke-Mission
6.6 Die Bundestagsdebatte vom 16.10.1998
7. Die Kosovo Verification Mission
7.1 Schwächen der KVM
7.2 Das „Massaker“ von Racak
7.3 KVM-Krise und Fazit
8. Die Konferenzen von Rambouillet
8.1 Die erste Konferenz
8.2 Die zweite Konferenz
8.3 Fazit von Rambouillet
9. Die Operation Allied Force
9.1 Die Frage der Legitimierung
9.2 Die Begründung Deutschlands für die Beteiligung am Luftkrieg
9.3 Der deutsche Beitrag zum Luftkrieg
9.4 Der weitere Verlauf des Luftkrieges und der „Fischer-Plan“
9.5 Vom NATO-Gipfel bis zur Einstellung der Kämpfe
10. Fazit
11. Literaturverzeichnis
2. Einleitung
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war der Gegensatz zwischen NATO und Warschauer Pakt die bestimmende Determinante der Außen- und Sicherheitspolitik der westlichen Staatengemeinschaft. Das Hauptaugenmerk lag deshalb seit Jahrzehnten darauf, dem potenziellen Aggressor auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs ein kollektives Verteidigungssystem entgegenzustellen und durch eine Strategie der Abschreckung den Frieden in Europa zu sichern. Seit dem Ende des Warschauer Paktes bedrohte aber nicht mehr die Gefahr eines internationalen Krieges globaler Ausprägung den Frieden. Vielmehr waren es nun vor allem innerstaatliche – bürgerkriegsähnliche – Konflikte, es gab sie freilich auch schon vorher in beträchtlicher Zahl, die durch Destabilisierung die Sicherheit angrenzender Staaten gefährdeten. Eine Vielzahl dieser innerstaatlichen Konflikte, vor allem auf dem Balkan, machte es deshalb notwendig, Strategien zu entwickeln, um solchen bürgerkriegsähnlichen Situationen zu begegnen.
Für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik war die Auflösung des Warschauer Paktes und die tendenzielle Destabilisierung Südosteuropas eine der größten Herausforderungen seit der Gründung der Bundesrepublik. Im Zuge der Wiedervereinigung wurden, vor allem bei den Verbündeten innerhalb der NATO, immer mehr Stimmen laut, die ein stärkeres Engagement Deutschlands bei der internationalen Konfliktbewältigung forderten. Während für die Verbündeten Deutschlands Konfliktmanagement unter dem Einsatz von Streitkräften nämlich schon längst gängige Praxis war, war dies für Deutschland etwas völlig Neues! Konnte man sich etwa im zweiten Golfkrieg noch durch massive Zahlungen an die internationale Koalition aus dem Kampf heraushalten, stellte sich die Situation im Kosovo-Konflikt vollkommen anders dar. Eine aktive Beteiligung an der Beendigung des Kosovo-Konfliktes wurde von den Partnern allgemein erwartet. Die – auch militärische – Beteiligung Deutschlands war deshalb sowohl ein Ausdruck des Gewichtszuwachses der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung als auch ein Zeichen des gestiegenen Selbstbewusstseins der deutschen Außenpolitik.
Zu fragen ist, was den Kosovo-Konflikt bzw. das westliche Konflikt-management im Kosovo von anderen Interventionen, etwa der im zweiten Golfkrieg, unterscheidet. Ein wesentliches Merkmal der Kosovo-Intervention ist in ihrer problematischen Legitimation zu sehen: Offiziell wurde die Operation Allied Force, also das militärische Eingreifen der NATO, mit rein humanitären Argumenten begründet. Die in der westlichen Wahrnehmung dämonisierten Serben unterdrückten mit scheinbar brutaler Gewalt die „offensichtlich“ harmlosen Albaner im Kosovo. Die Rede war von Vertreibungen, Erschießungen, Massenvergewaltigungen etc. Da im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen durch die Verweigerung Russlands zunächst keine klare Resolution für ein militärisches Intervenieren erreicht werden konnte, entschloss sich die NATO dazu, die vermeintlich schutzlosen Albaner ohne Zustimmung der VN, durch ein massives Bombardement aus der Luft, vor den rücksichtslosen serbischen Unterdrückern zu schützen. Interessant ist dabei, dass die Operation Allied Force fast zeitgleich mit dem 50-jährigen Jubiläum der NATO stattfand, in dessen Vorfeld ausgiebig über die grundsätzliche Daseinsberechtigung einer Organisation diskutiert wurde, deren genuine Aufgabe sich mit der Auflösung des Warschauer Paktes erledigt zu haben schien.
Gerade in Deutschland tat sich die Politik in der moralischen Entrüstung über die angeblichen serbischen Untaten besonders hervor. Dramatisierend wurde sowohl von der scheidenden Regierung Kohl als auch von der neuen Regierung unter Kanzler Schröder die Dringlichkeit einer militärischen Intervention vor Parlamentariern und Presse immer wieder betont. Interne Studien des Auswärtigen Amtes (AA) haben aber zeitgleich zu den Aussagen der Bundesregierungen festgestellt, dass sich die Situation im Kosovo bei Weitem nicht so dramatisch darstellte wie behauptet. Es ist zu erkunden, warum gerade die Bundesrepublik so viel offensichtliches Interesse an einer militärischen Lösung mit deutscher Beteiligung zeigte.
Durch die Teilnahme deutscher Soldaten an einem völkerrechtlich nicht legitimierten Krieg ging die Bundesregierung sicherlich ein hohes innen-politisches Risiko ein. Im Kosovo gab es kaum Deutsche, die den Schutz der Bundeswehr benötigt hätten, und die Situation dort war, zumindest nach Einschätzung des AA, relativ stabil.[1] Warum riskierte also die Bundesregierung den Einsatz deutscher Soldaten in einem nicht durch den Sicherheitsrat der VN legitimierten Einsatz, bei dem keine wichtigen Interessen des deutschen Staates geschützt werden würden?
Im Verlauf dieser Arbeit soll vor allem dieser Frage nachgegangen werden. Dazu wird zunächst der historische Kontext der Kosovo-Frage beleuchtet. Weiterhin wird der Beginn des modernen Konfliktes skizziert, der die Grundlage für die spätere Intervention des Westens bildete. Ebenso behandelt werden soll die Konferenz von Dayton als ein wichtiger Meilenstein der westlichen Balkan-Politik. Schwerpunkt wird dabei auf die Analyse der für den Kosovo wichtigen Entscheidungen gelegt werden. Anschließend wird die Kosovo-Verification Mission der OSZE beleuchtet und hinterfragt. Geklärt werden soll, inwieweit die Mission als Ganzes erfolgreich war, wo Probleme, wo Chancen lagen.
Im Anschluss daran werden die Konferenzen von Rambouillet als eine finale Chance auf eine friedliche Lösung in der Kosovo-Frage analysiert und bewertet. Der letzte Punkt vor einem abschließenden Fazit gilt schließlich der Thematisierung der Operation Allied Force: deren Legitimierung, Durchführung und völkerrechtliche bzw. moralische Bewertung.
3. Die Historie des Kosovo-Konflikts
Der Konflikt im Kosovo, wie er sich heute darstellt, hat im Bewusstsein der Hauptbeteiligten seine Wurzeln nicht etwa in den Taten oder Versäumnissen der letzten Jahre oder gar Jahrzehnte, er geht vielmehr auf Ereignisse zurück, die sich bis in das Mittelalter datieren lassen. Grundsätzlich treffen mit den Kosovo-Albanern und den Serben zwei ethnische Gruppen aufeinander, die beide von sich behaupten, ihre historischen Wurzeln im Gebiet des heutigen Kosovos zu haben. Beide Gruppen sehen es als ihr Vorrecht an, hier, in der Geburtsstätte ihrer nationalen Identität, die alleinige Vorherrschaft auszuüben.
Problematisch dabei ist, dass sich beide Ansprüche gegenseitig ausschließen, was die Konsensfindung immens erschwert, wenn nicht sogar unmöglich macht. Die historischen Ansprüche haben sich jeweils so fest im kollektiven Bewusstsein beider Völker verankert, dass es zur Lösung des Konfliktes nur dann kommen kann, wenn die Konfliktparteien zumindest teilweise die Existenzberechtigung des jeweils anderen im Kosovo akzeptieren lernen, ohne auf der totalen Dominanz der eigenen Seite beharren zu wollen.
Es hat sich allerdings gezeigt, dass eine solche Einigung nicht allein aus dem Kosovo selbst kommen kann, da gerade in den letzten Jahrzehnten schlicht zu viel vorgefallen ist, als dass sich beide Gruppen unbelastet an die Lösung des Konfliktes machen könnten. Daraus resultiert die Prämisse, dass zu einer erfolgreichen Konfliktlösung eine behutsame, aber doch nachhaltige Unterstützung von außen absolut notwendig ist. Im Folgenden sollen die Ursprünge und Grundlagen des Konfliktes im Kosovo beleuchtet und analysiert werden. Dabei wird sowohl die Frage nach der ersten Besiedlung wie auch die Frage nach der jeweiligen Staatstradition eine wichtige Rolle spielen. Außerdem werden die Ära Tito sowie die Ereignisse nach dem Zusammenbruch des Staates Jugoslawien bis heute behandelt.
3.1 Die Ursprünge
Der Konflikt zwischen Serben und Albanern im Kosovo ist vor allem auch dadurch gekennzeichnet, dass die Territorialansprüche beider Gruppen darauf fußen, dass das eigene Volk jeweils als erstes den Kosovo besiedelt haben soll. Während sich die Serben auf eine bis ins Mittelalter reichende Staatstradition berufen können, zielen die Argumente der Kosovo-Albaner darauf ab, dass sie von dem Volk der Illyrer abstammen, welche im Gebiet des heutigen Kosovos schon im Altertum siedelten.[2] Die Albaner können also auf eine Siedlungstradition verweisen, die ihre Ursprünge Jahrhunderte vor der ersten serbischen Besiedlung hat. Von albanischer Seite wird zudem ausgeführt, man hätte seit jeher im Kosovo die Bevölkerungsmehrheit gestellt, wenngleich konzediert wird, dass es dort niemals einen albanischen Staat gegeben hat.[3]
Während sich die Mehrheit der Altertums- bzw. Sprachforscher mittlerweile darüber einig ist, dass die Albaner tatsächlich von den Illyrern abstammen und damit bewiesenermaßen länger im Kosovo siedeln als die Serben, ist die These über die ständige Bevölkerungsmehrheit der Albaner wissenschaftlich nicht haltbar.[4] Allein schon durch die sehr genauen türkischen Steuerregister lässt sich nachweisen, dass etwa zum Zeitpunkt der türkischen Okkupation zwischen 1389 und 1455 nicht mehr als vier bis fünf Prozent der Bevölkerung aus Albanern bestand.[5]
Im Laufe der Jahrhunderte war das Kosovo abwechselnd unter byzantinische, bulgarische und serbische Herrschaft geraten, ohne dass die Albaner jemals eine eigene Herrschaft hätten aufbauen können. Gerade aus diesem Grund wird von albanischer Seite aber immer wieder auf die Kontinuität der Besiedlung und auf die Wurzeln im antiken Volk der Illyrer hingewiesen, um den Führungsanspruch in diesem Gebiet heutzutage rechtfertigen zu können. Auch das Faktum, dass die Bevölkerungsmehrheit heute eindeutig auf Seiten der Albaner liegt, wird immer wieder betont und herausgestrichen. Tatsache ist, dass die Illyrer, und die Albaner als ihre Nachfahren, wesentlich länger im Kosovo ansässig gewesen sind als die slawischen Serben. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich die albanischen Bevölkerungsteile immer wieder mit den eindringenden Völkern vermischt, was vor allem im Hinblick auf ihr Verhältnis zu den Osmanen für einen weiteren Konfrontationspunkt mit den Serben sorgt. Während der langen Herrschaft der Osmanen über das Kosovo haben sich die Albaner nämlich in der Mehrzahl islamisieren lassen, was sie automatisch in Opposition zu den Serben gebracht hat, welche vor allem auch aus dem Kampf gegen die „ungläubigen“ Osmanen ihren Nationalstolz nährten.[6]
Während es in der Vergangenheit immer wieder zu Diskussionen um die Herkunft und die erste Besiedelung des Kosovos durch die Albaner gekommen ist, gilt es in der Wissenschaft als unstrittig, dass der Zeitpunkt der ersten Besiedlung durch die Serben auf die Mitte des 6. Jahrhunderts zu datieren ist.[7] Im Zuge der Völkerwanderung brachen slawische Stämme in den Balkan ein und verdrängten für kurze Zeit die Herrschaft des Byzantinischen Reiches, welches seine Vorherrschaft aber schon im 7. Jahr-
hundert wieder stabilisieren konnte. In der Folgezeit wurde das Kosovo zunächst von den bulgarischen Zaren und danach ein letztes Mal für längere Zeit vom Byzantinischen Reich regiert. Im 11. Jahrhundert schließlich gelang es den Serben, unter der Führung der Dynastie der Nemajiden, einen serbischen Staat mit einem serbisch-orthodoxen Königtum und einer serbisch-orthodoxen Kirche zu schaffen.[8]
In den folgenden Jahrhunderten expandierte der noch junge Staat sogar derartig, dass sich die Grenzen des Reiches im 14. Jahrhundert von der Ägäis und dem ionischen Meer im Süden bis zur Donau im Norden erstreckten.[9] Das Kosovo war unter Zar Dušan dem Mächtigen zeitweise sogar der Mittelpunkt des serbischen Reiches, was wiederum heute ein wesentlicher Grund für die Serben ist, das Kosovo als die Wiege ihrer Nation zu bezeichnen.
Hinzu kommt ein weiteres Argument: Der Begründer der Dynastie der Nemajiden, Stefan Nemanja, wurde von den mittelalterlichen Autoren mit dem biblischen Abraham gleichgestellt, wodurch die Serben die Vorstellung entwickelten, ein „auserwähltes Volk“ zu sein.[10] Die zwei letztgenannten Aspekte, die Existenz eines Großserbischen Reiches im Mittelalter und auch die religiöse Überhöhung des eigenen Volkes, sind es, die das moderne Serbien noch immer prägen. Der Verlust der Stellung als Großmacht mag schon Jahrhunderte zurückliegen, aber dennoch wird die einstige Tatsache noch heute als Rechtfertigung für die Ansprüche auf das Kosovo verwendet. Gerade auch in der jüngsten Vergangenheit wurde der Rekurs auf die Geschichte von diversen serbischen Politikern wiederholt dazu benutzt, das eigene Handeln zu rechtfertigen sowie das Volk auf den Kurs der Regierung einzuschwören. Die Menschen reagierten meist unreflektiert auf die Instrumentalisierung der Vergangenheit. Da die historische Größe der Serben niemals aus dem Gedächtnis der Bevölkerung verschwunden war, lässt sich immer noch leicht daran anknüpfen. Die Überschätzung der eigenen Bedeutung und die Verklärung der Vergangenheit sind Phänomene, welche schon kurz nach dem Untergang des serbischen Reiches zum Tragen kamen und sich bis in unsere Zeit gehalten haben.[11]
Dazu mag in den letzten Dekaden insbesondere auch beigetragen haben, dass mit der Krise des Sozialismus und der Auflösung des jugoslawischen Bundesstaates kollektive Orientierungen weggebrochen waren. Vor dem Hintergrund von Unruhe und Unsicherheit waren zugkräftigere Orientierungen gefragt. Da boten sich nur die alten – nationalistischen – als „neue“ an.[12]
3.2 Das Kosovo und das Osmanische Reich
Im Selbstverständnis Serbiens spielt der historische Kampf der serbischen Christen gegen die Osmanen eine zentrale Rolle. In der viel zitierten Schlacht auf dem Amselfeld, oder auch Kosovo polje, unterlag ein serbisches Heer am 28.06.1389 in einer Entscheidungsschlacht den Türken.[13] Aus serbischer Sicht entschied sich hier das Schicksal des Großserbischen Reiches, welches in der verklärenden Geschichtsschreibung praktisch gleichzeitig mit der Niederlage gegen die moslemischen Truppen zu existieren aufhörte. Um diese Schlacht ranken sich deshalb eine Reihe von Mythen, nicht zuletzt jener Mythos, laut dem diese Schlacht die letztlich entscheidende darstellte. Tatsächlich war das serbische Reich bereits lange vorher im Zerfall begriffen gewesen. Der schon erwähnte Zar Dušan starb 1355, ohne für eine stabile Nachfolge gesorgt zu haben. Mit dem Tod des Zaren zerfiel dann demzufolge das Reich in viele kleine Herrschaftsbereiche, die jeweils miteinander um die Vorherrschaft konkurrierten.[14] Als die Schlacht auf dem Amselfeld stattfand, handelte es sich also nicht mehr um ein geschlossenes serbisches Reich, das gegen die Osmanen kämpfte. Vielmehr waren es eine Anzahl kleinerer serbischer Fürstentümer. Einige dieser Fürstentümer existierten dann sogar noch über 70 Jahre nach der Schlacht auf dem Amselfeld, bis die Osmanen 1455 den dann endgültigen Sieg davontragen konnten. Allein dieser Sachverhalt spricht dafür, dass der Schlacht auf dem Amselfeld bei Weitem nicht die Bedeutung beigemessen werden darf, die sie in der serbischen Propaganda bekommt.[15]
Ein weiterer Aspekt der Mystifizierung der Schlacht auf dem Amselfeld ist die These, dass die Niederlage der Serben aus ihrer Sicht nur deshalb möglich war, weil einer der serbischen Fürsten mitten in der Schlacht die Seiten gewechselt habe.[16] Hier wird die Schuld an der serbischen Niederlage also nicht etwa in der eigenen militärischen Schwäche oder dem Mangel an Mut gesehen. Vielmehr werden mangelnde eigene Geschlossenheit und die Niedertracht des Gegners als entscheidende Faktoren betrachtet. Die Serben sehen sich in diesem Kontext als das europäische Märtyrervolk, das sich heldenhaft gegen den islamischen Aggressor gewandt hat und das nur durch üble Machenschaften wie Verrat um den verdienten Lohn gebracht wurde. Die serbischen Ansprüche auf das Kosovo gründen sich deswegen also auch darauf, dass eben dort ein für die serbische Geschichte immens wichtiges Ereignis stattgefunden hat, welches unmissverständlich verdeutlicht, dass nur die Serben, und nicht etwa die Albaner, einen gerechtfertigten Anspruch auf das Gebiet haben. Die Serben brachten im Kosovo ein Opfer, welches sie aus ihrer Sicht dazu berechtigt, das Kosovo gleichsam als eine verdiente Entschädigung zu beherrschen.
Während der Herrschaft der Osmanen waren die Serben im Kosovo eindeutig Bürger zweiter Klasse. Da im Osmanenreich die Zugehörigkeit zur Herrenschicht an das Bekenntnis zum Islam gebunden war und die Serbisch-Orthodoxe Kirche der Rahmen blieb, innerhalb dessen sich das kollektive Bewusstsein des serbischen Volkes ausdrückte, konnten die allermeisten Serben in keinerlei Hinsicht von den Osmanen profitieren.[17] Dazu hätten sie konvertieren müssen, wozu aber kaum ein Serbe bereit gewesen ist. Man sah sich als ein Mitglied der christlichen Gemeinschaft dazu verpflichtet, aktiv für die Überwindung der Herrschaft der Osmanen zu kämpfen.
Im Laufe der Zeit wanderte auch deshalb ein beträchtlicher Teil der serbischen Bevölkerung, teils freiwillig, teils gezwungenermaßen, aus, und die Bewölkungsmehrheit verschob sich immer mehr zu den Albanern, welche im Gegensatz zu den Serben sehr wohl von der Osmanenherrschaft zu profitieren wussten. Bis zum Ende der osmanischen Herrschaft über das Kosovo im Jahre 1912 waren etwa 70 Prozent der albanischen Bevölkerung zum Islam konvertiert.[18] Den Albanern boten sich dadurch eine Reihe von Karrieremöglichkeiten in der Politik, der Wirtschaft oder auch dem Militär, die den Serben verwehrt blieben. Außerdem waren die islamisierten Bewohner des Osmanenreiches von allen Steuern befreit, durften Waffen tragen und waren auch sonst in jeder Hinsicht gegenüber den Nichtkonvertiten bevorzugt.[19] All dies trug naturgemäß dazu bei, dass die Albaner die Osmanen weit positiver sahen, als die Serben es taten. Die albanische Gesellschaft und Wirtschaft florierten sogar während der Besetzung durch die Osmanen. Als Folge dessen hatten es die Albaner auch nicht eilig, den für sie vorteilhaften Schutz durch die Osmanen aufzugeben. Während die Serben als das erste Balkanvolk im Jahre 1804 den Befreiungskampf gegen die Türken aufnahmen, und schließlich 1830 die Eigenexistenz zurückerlangen konnten, brauchten die Albaner dafür bis 1912.[20]
3.3 Von 1912 bis 1945
Die Aufteilung des Osmanischen Reiches unter den entstehenden christlichen Nationalstaaten markierte einen Bruch in der Geschichte des Kosovos. Die Albaner stellten zwar im Jahre 1912 etwa 70 Prozent der Bevölkerung, waren aber noch höchst ungefestigt in ihrer nationalen Identität.[21] Von den Vertretern der europäischen Großmächte oft als „Türken“ bezeichnet, fanden sie deshalb international auch kaum Gehör, als sie gegen die Einverleibung ihres Siedlungsgebietes durch Serbien, Montenegro und Griechenland protestierten. Zwar wurde 1913 ein unabhängiger albanischer Staat gegründet, aber etwa die Hälfte der albanischen Bevölkerung lebte von nun an in Gebieten, die den anderen Staaten zugesprochen worden waren. Die Mehrheit dieser Hälfte der albanischen Bevölkerung war dabei im Kosovo ansässig.[22] Die Serben, nun die neuen Machthaber im Kosovo, behandelten die Albaner im besten Falle als Menschen zweiter Klasse. Man setzte sie den Türken gleich. Ein immer wieder aufflackernder Guerillakrieg zwischen Albanern und Serben war die Folge.
Während des Ersten Weltkriegs lagen die Hoffnungen der Albaner im Kosovo deshalb bei den Mittelmächten, die den Abzug der Serben bzw. Montenegriner auch tatsächlich herbeiführten. Mit dem Ende des Krieges aber, und dem Sieg der Entente, kam es wiederum zu einer Inbesitznahme durch die Serben. Bei den Kämpfen fanden mehr als 10.000 Albaner den Tod.[23]
Der erneut aufflackernde Kleinkrieg der Albaner gegen die Serben endete erst 1927, als die Übermacht der Armee des „Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen“, später Jugoslawien, den Kampf beendete. Das Kosovo blieb ein Teil Serbiens, und die dort lebenden Albaner mussten sich mit einer Diskriminierung in fast allen Bereichen des Lebens abfinden. Die Minderheitenrechte, zu welchen sich das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen gegenüber dem Völkerbund 1919 verpflichtet hatte, blieben den Albanern im Kosovo weitgehend verwehrt.[24]
Schon damals stellte sich im Kosovo also eine Situation dar, die auffällige Parallelen zur dortigen Lage im ausgehenden 20. Jahrhundert aufweist. Im Kosovo lebten zwei ethnische Gruppen, die beide unfähig waren, integrativ mit der jeweils anderen Gruppe zusammenzuleben. Relevant dafür waren Ereignisse in der Vergangenheit und die entsprechenden Legenden, von denen sich weder die eine noch die andere Gruppe zu lösen vermochte. Die weiteren Jahre bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren deshalb dadurch gekennzeichnet, dass die jeweilig stärkere Seite Terror und Willkür gegen die temporär Schwächeren ausübte.
Neben den schon beschriebenen ethnospezifischen Unterschieden war es immer wieder der Revanchegedanke, der Auslöser diverser Bluttaten war. Während es nach dem Ersten Weltkrieg die Serben waren, die Terror gegenüber den Albanern ausübten, lösten die Albaner im Zuge der Besetzung Jugoslawiens durch die Achsenmächte im Zeiten Weltkrieg eine Terrorwelle gegen die Serben aus, bei der mehr als 20.000 Serben vertrieben und eine unbekannte Zahl getötet wurden.[25] Die Albaner kollaborierten mit den Achsenmächten, während die Serben, vor allem unter Tito, einen Guerillakrieg gegen die Besatzer führten.
Zu einer der schrecklichsten Erinnerungen zählt die 21. Gebirgs-Division der Waffen-SS „Skanderbeg“. Sie war mehrheitlich aus albanischen Freiwilligen gebildet worden, um gegen Titos Partisanen zu kämpfen. Zwar war diese Formation vom militärischen Standpunkt aus gesehen beinahe nutzlos. Doch es werden ihr vielerlei Verbrechen gegen Zivilisten, Erschießungen Unschuldiger u.Ä. angelastet.[26] Bis heute wird den Albanern die Existenz der Division „Skanderbeg“, bzw. ihre Beteiligung daran, vorgeworfen, während die albanische Geschichtsschreibung den entsprechenden Sachverhalt bagatellisiert und ignoriert. Abschließend bleibt zu notieren, dass sich beide Seiten eine Reihe von Verbrechen vorzuwerfen haben, ohne dass es eine eindeutige Schuldzuweisung gäbe. Beide Seiten waren wahrscheinlich gleichermaßen schuldig, ohne dies aber einsehen zu wollen oder zu können. Dies ist ein Dilemma, das der Lösung des Kosovo-Problems im Wege steht.
3.4 Die Ära Tito und die Verfassung von 1974
In der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt das Kosovo zwar als „autonome Region Kosovo und Metohija“ weitgehende Autonomie innerhalb der Republik Serbien, tatsächlich aber blieben die Kosovo-Albaner ohne wirklichen Einfluss auf das politische Geschehen.[27] Gerade nach dem Bruch Jugoslawiens mit der Sowjetunion galten die Albaner nämlich als ein unsicheres Element, da der Staat Albanien zumindest zunächst ein weiterhin enges Verhältnis mit der UdSSR pflegte. Unter dem serbischen Innenminister Ranković wurden die Albaner auch deshalb, teils mit brutaler Gewalt, dazu „überredet“, Jugoslawien zu verlassen, ohne die Möglichkeit zur Rückkehr gewährt zu bekommen. Mehr als 100.000 Kosovo-Albaner wichen dem Druck und wanderten in die Türkei aus.[28] Erst mit dem Sturz Rankovićs durch Tito wurde die Welle der Gewalt „von oben“ im Kosovo gestoppt und ein Versuch der Versöhnung, angeregt und gesteuert durch Tito, gestartet. Schrittweise kam es zu einer verfassungsmäßigen Aufwertung des Kosovo, die verhindern sollte, dass die separatistischen Tendenzen innerhalb der albanischen Bevölkerung eine weitere Schwächung des Bundesstaates Jugoslawien verursachten.[29]
Eine bessere Integration der Albaner in den jugoslawischen Staat wurde als Folge der Verfassungsänderung von 1974 erwartet. Kern der Änderung war, dass künftig sowohl die Republiken als auch die Provinzen ihre eigenen Verfassungen verabschieden konnten. Zusätzlich war es von nun an für jede Republik möglich, sich vom Staat Jugoslawien formal zu trennen. Hiermit wurden die Teilrepubliken natürlich immens aufgewertet, da im Großen und Ganzen lediglich die Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Wirtschafts-gesetzgebung weiterhin in der Bundeskompetenz verblieb.[30] Den Provinzen, welche formal in den einzelnen Republiken verbleiben mussten, blieb diese Möglichkeit verwehrt.
Doch beide Seiten waren mit diesem Kompromiss nicht ganz zufrieden. Die Albaner monierten, dass die Provinz Kosovo zwar formal aufgewertet wurde, aber dennoch in der Republik Serbien verbleiben musste. Den Serben dagegen fiel es schwer, sich damit abzufinden, dass die nominelle Unterordnung der Provinz Kosovo unter die Republik Serbien im formalen Teil der Verfassung nun keine konkrete Ausprägung mehr fand.[31]
Bei einem Streit zwischen Republik und Provinz hätten jeweils die Bundesorgane zu vermitteln gehabt. Sprache und Alphabet waren von nun an Angelegenheit der Provinzen, was den albanischen Kindern z.B. Unterricht in der eigenen Sprache ermöglichte. Weiterhin konnte das Parlament des Kosovos von nun an exklusiv über Zusätze zur Provinzverfassung entscheiden sowie eigenständig an Zusätzen zur Bundesverfassung mitarbeiten.
Über die Verfassungsänderung hinaus versuchte Tito außerdem, durch weitgehende Wirtschaftsförderung integrativ auf das Kosovo einzuwirken. Ein Fonds für unterentwickelte Gebiete in Jugoslawien wurde eingerichtet, um als eine Art horizontaler Finanzausgleich zu dienen. Auf diese Weise wurden erhebliche finanzielle Mittel für das Kosovo zur Verfügung gestellt.[32] Dass diese Förderung notwendig war, zeigt sich anhand verschiedener wirtschaftlicher Daten. Zwischen 1953 und 1980 etwa stieg das Bruttosozialprodukt im Kosovo nur halb so schnell wie im Rest Jugoslawiens.[33] Trotz der geleisteten Wirtschaftshilfe konnte der negative Trend aber nicht aufgehalten werden. Das Pro-Kopf-Einkommen im Kosovo erreichte 1979 nur 28 Prozent des Landesdurchschnitts, und die jährlichen Zuflüsse von Kapital aus dem Ausland überstiegen sogar die Wachstums-raten des BSP.[34]
Letztlich war die Reform von 1974 nur zeitlich begrenzt erfolgreich. Während für die Albaner der Provinzstatus nur ein erster Schritt hin zur Republik war, stellte die formale Gleichstellung für die Serben einen Affront dar. Nur die schützende Hand Titos sorgte für einen relativ reibungslosen Verlauf. Die Reform schürte unter den Serben außerdem zunehmend nationalistische Tendenzen, da man glaubte, sich gegen die erstarkenden Albaner zur Wehr setzen zu müssen. Dennoch verbesserten die Reformen die Lebensumstände im Kosovo erheblich. Problematisch war aber, dass für die eine Seite die Reformen nicht weit genug gingen, während für die andere Seite die Reform eine Bedrohung des gewohnten Lebensstils und des Selbstverständnisses darstellte. Grundsätzlich wurde in der Verfassung ungewollt genau das heraufbeschworen, was sich Anfang der 1990er Jahre zum eigentlichen Kosovo-Konflikt ausweiten sollte.
4. Der Beginn des modernen Konfliktes
Schon lange bevor sich der Staat Jugoslawien auflöste, kam es im Kosovo zu Ausschreitungen und Autonomiebestrebungen. Im Jahre 1981 etwa, nur ein Jahr nach dem Tode Titos, brachen Unruhen unter albanischen Studenten aus, die von den Sicherheitskräften unterdrückt wurden.[35] Nicht nur unter den Studenten, sondern auch innerhalb weiter Teile der albanischen Bevölkerung wurden jetzt diejenigen Stimmen laut, die den Status einer selbstständigen Republik innerhalb Jugoslawiens für das Kosovo forderten. Exakt die gleichen Forderungen wie unter Tito wurden also von den Albanern wiederum in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die Reaktion der Serben fiel, ohne die mäßigende Hand Titos, harsch aus. Aufgrund der stärker werdenden serbischen Repressionen kam es in der Folge wiederum zu größeren Unruhen unter der albanischen Bevölkerung, die gegen Ende sogar unter Zuhilfenahme der regulären Armee unterdrückt werden mussten. Ausgelöst durch die albanischen Proteste bzw. den albanischen Widerstand gegen einen Verbleib in der Republik Serbien, wurden außerdem unter den Serben Bestrebungen laut, eine grundsätzliche Revision des föderativen Status des Kosovos zu erwirken. Es sollte ein genereller Schlussstrich unter die Autonomie des Kosovos gesetzt werden.[36]
In den folgenden Jahren bis zum Ende der 1980er Jahre spitzte sich die Frage der Autonomie des Kosovos immer weiter zu. Während die Albaner weiterhin für ein selbstständigeres Kosovo plädierten, setzte sich auf serbischer Seite immer mehr der Gedanke durch, dass die Autonomie des Kosovos schlicht abzuschaffen sei. Der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung wurde 1989 erreicht, als nach einem Generalstreik zunächst die Autonomie des Kosovos und der Vojvodina eingeschränkt und dann sogar völlig aufgehoben wurde.[37]
4.1 Die deutsche Kosovo-Politik bis Dayton
Im Rahmen dieses Unterpunktes soll nun die Entwicklung des Konfliktes bis zur Konferenz von Dayton beleuchtet und analysiert werden, wobei der Schwerpunkt auf die deutsche Außenpolitik gelegt werden wird. Es soll verdeutlicht werden, wo die deutschen Interessen lagen und inwieweit die deutsche Außenpolitik die Entwicklung im Kosovo erkannt und beeinflusst hat.
Die deutsche Außenpolitik im Kosovo-Konflikt wurde in dieser Phase bis Dayton ganz klar von den anderen Geschehnissen auf dem Balkan überdeckt. Während die USA, unter der Präsidentschaft von George Bush Sen., der jugoslawischen Führung schon recht früh mit einem unilateralen Militäreinsatz im Zusammenhang mit einer möglichen Eskalation der Kosovo-Krise drohte, wurde die Aufmerksamkeit Deutschlands erst durch die Kämpfe in Slowenien und Kroatien sowie später durch den Krieg in Bosnien-Herzegowina gefesselt.[38] Die Ereignisse im Kosovo erschienen der Bundesregierung im Vergleich mit den Kämpfen im übrigen Jugoslawien als merklich unbedeutender. Man begriff das Potenzial einer möglichen Eskalation im Gegensatz zu den USA als deutlich geringer, obwohl die andauernden Verletzungen der Menschenrechte im Kosovo durch die Serben, und der damit verbundene Nationalismus, gerade in dieser Phase ein Grund zur politischen Intervention hätte sein müssen. Spätestens mit der Aufhebung der Autonomie des Kosovos bzw. der Vojwodina stellte die serbische Regierung die Verfassung Jugoslawiens nämlich grundsätzlich in Frage und gefährdete damit die Stabilität der gesamten Region.[39]
Die Wahrnehmung der Kosovo-Problematik durch die deutsche Politik war der Brisanz der Situation nicht angemessen, obwohl es durchaus Warnungen im Hinblick auf das Konfliktpotenzial gegeben hatte. Bereits 1989 etwa informierte die deutsche Botschaft in Belgrad die Bundesregierung über eine zunehmende Entfremdung der kosovo-albanischen Bevölkerung von Jugoslawien.[40] Die Analyse der Botschaft verdeutlichte weiterhin, dass der serbische Nationalismus im Kosovo verschärfend auf das slowenisch-serbische bzw. das kroatisch-serbische Verhältnis wirken würde. Eine Reaktion der Bundesregierung aber blieb aus. Man beschränkte sich sowohl in der Belgrader Botschaft als auch in der Regierung selbst auf eine reine Beobachterrolle und versäumte es, frühzeitig auf die Lage zu reagieren.
Erklärt werden kann die passive Rolle Deutschlands mit mehreren Faktoren: Der wichtigste Faktor war wohl, dass man als oberste Priorität die Stabilisierung Jugoslawiens im Sinn hatte. Man glaubte, dass innerer Friede und die Einheit des Staates Jugoslawien am ehesten gewährleistet werden könnten, wenn man die Integrität der einzelnen Republiken so weit wie möglich zu bewahren versuchte. Eine separatistische Bewegung der Albaner in Serbien zu unterstützen oder auch nur zu kommentieren, erschien in diesem Kontext als kontraproduktiv. Unterstützt wurde die Position der Bundesregierung von der EG-Schiedskommission für das ehemalige Jugoslawien. Diese erklärte im Dezember 1991, dass dem Kosovo, ganz entgegen der Teilrepubliken Kroatien, Slowenien und Mazedonien, keine eigene Staatsqualität zukomme.[41] Die verfassungsrechtliche Stellung des Kosovos innerhalb Jugoslawiens als Provinz war es, welche die Kommission zu dieser Entscheidung brachte, der sich letztlich auch die Bundesregierung anschloss und unterordnete.
Eine Sezession des Kosovos aus dem Staatenverband Serbien-Montenegros würde eine einseitige Verletzung internationaler Grenzen darstellen und verstieße damit gegen das Völkerrecht. Mit diesem Spruch legte die Schiedskommission der EU die Linie fest, die auch bis heute noch Bestand hat.[42] Durch die Einnahme dieser Position ignorierte Deutschland, dass das Kosovo im ehemaligen Jugoslawien zwar pro forma nur eine Provinz darstellte, aber de facto mit den übrigen Republiken gleichberechtigt gewesen war. Der bereits dargestellte Kompromiss Titos, nämlich eine sehr weitgehende Autonomie des Kosovos bei gleichzeitigem Verbleib in der Republik Serbien, wurde zumindest in seinem Geiste außer Acht gelassen und die Position der Serben schon in dieser frühen Phase des Konfliktes gestützt.
Als im Mai 1991 der Auswärtige Ausschuss des Bundestages im Rahmen eines Besuches im Kosovo mit Vertretern der albanischen Parteien zusammentraf, wurde erneut bekräftigt, dass die Bundesregierung zwar vehement für die Einhaltung der Menschenrechte im Kosovo eintrete, dies aber definitiv keine Unterstützung von separatistischen Bewegungen bedeuten könne.[43] Der Vorwurf der deutschen Vertreter, dass die Kosovo-Albaner eine generelle Loslösung vom jugoslawischen Staat anstreben würden, wurde dabei vom späteren Präsidenten der Republik Kosova, Ibrahim Rugova, entschieden abgestritten. Das Ziel der Albaner im Kosovo sei eine selbstständige Position innerhalb Jugoslawiens, ohne eine Bevormundung durch die Serben. Erst wenn es zu einem Zerfall Jugoslawiens kommen würde, wäre man bereit, die Unabhängigkeit zu fordern.[44]
Die Serben stellten sich dagegen auf den Standpunkt, dass mit der Beendigung der weitgehenden Autonomie des Kosovos lediglich ein Fehler in der Verfassung von 1974 behoben wurde, da es sich beim Kosovo um einen Staat im Staate gehandelt habe, dessen bessere Integrierung in die Republik Serbien nur zum Besten für den Rest Jugoslawiens sein könne.
Die Unvereinbarkeit der serbischen und der albanischen Positionen wurde von der Bundesregierung zwar zur Kenntnis genommen, aber im Hinblick auf die anderen Vorkommnisse auf dem Balkan zunächst als zweitrangig eingestuft. Man neigte dazu, der serbischen Argumentation zu folgen und die Probleme im Kosovo als eine innerstaatliche Angelegenheit der Serben zu betrachten. Man ging sogar so weit, die im Kosovo massiv vor-kommenden Menschenrechtsverletzungen als tolerabel und im Rahmen kommunistischer Herrschaftsausübung gängiger Praxis zu betrachten.[45] Es ging der Bundesregierung also in erster Linie darum, den Krisenherd Balkan als Ganzes zu stabilisieren. Moralische Bedenken angesichts der serbischen Aggression gegen die Albaner im Kosovo wurden zu diesem Zeitpunkt offensichtlich eher verdrängt.
[...]
[1] vgl. Auswärtiges Amt: Lagebericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Jugoslawien vom 18.11.1998.
In: Jürgen Elsässer: Kriegsverbrechen, Hamburg 2000, S. 181ff.
Im Weiteren zitiert als: Kriegsverbrechen
[2] vgl. Jakob Kreidl: Der Kosovo-Konflikt: Vorgeschichte, Verlauf und Perspektiven zur Stabilisierung
einer Krisenregion, Frankfurt a. M. 2006, S. 34. Im Weiteren zitiert als: Kreidl
[3] vgl. Rafael Biermann: Lehrjahre im Kosovo. Das Scheitern der internationalen Krisenprävention vor Kriegsausbruch, Paderborn, München u.a. 2006, S. 117. Im Weiteren zitiert als: Biermann
[4] vgl. Biermann, S. 118
[5] vgl. vgl. Heinz Ohme: Das Kosovo und die Serbische Orthodoxe Kirche.
In: http://edoc.hu-berlin.de/humboldt-vl/ohme-heinz/PDF/Ohme.pdf, S. 8. Im Weiteren zitiert als: Ohme
[6] vgl. Kreidl, S. 35
[7] vgl. ebd., S. 34
[8] vgl. Ohme, S. 4
[9] vgl. Kreidl, S. 36
[10] vgl. Biermann, S. 112
[11] vgl. ebd., S. 112
[12] vgl. Rainer Bauböck: Der neue Nationalismus. In: FriedensForum, Dez. 1991, S. 9-14
[13] vgl. Kreidl, S. 36
[14] vgl. Biermann, S. 112
[15] vgl. ebd., S. 113
[16] vgl. Kreidl, S. 37
[17] vgl. Ohme, S. 6
[18] vgl. ebd., S. 8
[19] vgl. Ohme, S. 6
[20] vgl. ebd., S. 9
[21] vgl. Robert Pichler: Serben und Albaner im 20. Jahrhundert.
In: Bernhard Chiari u. Agilolf Kesselring (Hrsg.): Wegweiser zur Geschichte – Kosovo,
Paderborn, München u.a. 2006, S.57. Im Weiteren zitiert als: Pichler
[22] vgl. Kreidl, S. 42
[23] vgl. Kreidl, S. 43
[24] vgl. ebd., S. 43
[25] vgl. Pichler, S. 62
[26] vgl. Guido Knopp: Die SS, München 2003, S. 298. Im Weiteren zitiert als: Knopp
[27] vgl. Kreidl, S. 46
[28] vgl. ebd., S. 46
[29] vgl. Pichler, S. 63
[30] vgl. Biermann, S. 158
[31] vgl. ebd., S. 159
[32] vgl. Biermann, S. 156
[33] vgl. ebd., S. 144
[34] vgl. ebd., S. 144
[35] vgl. Michael Dischl: Westliche Demokratien und Humanitäre Militärische Intervention,
Zürich 2002, S. 62. Im Weiteren zitiert als: Dischl
[36] vgl. Dischl, S. 62
[37] vgl. ebd., S. 63
[38] vgl. Roland Friedrich: Die deutsche Außenpolitik im Kosovo-Konflikt, Wiesbaden 2005, S. 25.
Im Weiteren zitiert als: Friedrich
[39] vgl. Biermann, S. 259
[40] vgl. ebd., S. 261
[41] vgl. Friedrich, S. 28
[42] vgl. ebd., S. 28
[43] vgl. Biermann, S. 267
[44] vgl. Biermann, S. 267
[45] vgl. ebd., S. 259
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2007
- ISBN (eBook)
- 9783836609753
- Dateigröße
- 603 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Münster – Sozialwissenschaften, Politikwissenschaft
- Erscheinungsdatum
- 2014 (April)
- Note
- 1,5
- Schlagworte
- kosovokonflikt politikwissenschaft sicherheitspolitik jugoslawien balkan