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Sind wir Deutschland?

Die Suche nach kollektiver Identität und ihr vorläufiger Höhepunkt während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006

©2006 Magisterarbeit 109 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Das Thema „Identität in Deutschland“ muss vorsichtig behandelt werden. Wenn von kollektiver Identität gesprochen wird, geht es nicht um die Forderung nach einem neuen Nationalismus, sondern vielmehr um die Suche nach einem Zusammengehörigkeitsgefühl, welches für Stabilität und Integration innerhalb der Gesellschaft sorgen kann. In dieser Arbeit muss deswegen ebenfalls ein Spagat vollzogen werden: einerseits soll die Geschichte Deutschlands ernst genommen werden ohne in indifferente Nationalismus-Propaganda zu verfallen. Andererseits soll sich ohne Scheu mit dem Thema kollektive Identität in der Bundesrepublik auseinander gesetzt werden. In der Arbeit wird zunächst die Suche nach kollektiver Identität in Deutschland seit 1949 erläutert. Danach wird analysiert, warum sich gerade während der Fußball WM im Sommer 2006 ein „weltoffener Patriotismus“ entwickeln konnte, dessen integrative Wirkung über den sportlichen Bereich hinaus der Bundesrepublik Deutschland nutzen würde.
Daher werden folgende Leitfragen an die Arbeit gestellt: Hat es nach der Wiedervereinigung eine politische Entwicklung gegeben, welche die Euphorie während der WM begünstigte? Der Regierungswechsel von 1998 und der Umzug nach Berlin haben die politische Landschaft in der Bundesrepublik sehr verändert. Implizierte der Beginn der „Berliner Republik“ also auch eine neue Symbolpolitik, die eine Auseinandersetzung mit der gesamtdeutschen Geschichte ermöglichte und politisch wie gesellschaftlich zu einem unverkrampfteren Verhältnis zur eigenen Nation führte? Haben in der Folge auch Regierungserklärungen und Ansprachen von führenden Politikern dazu beigetragen, dass sich in der Bundesrepublik langsam ein „Wir-Gefühl“ herausgebildet hat? Im Vorfeld der WM wurde mit verschiedenen Kampagnen für Ideen und Innovationskraft in Deutschland geworben. Haben diese Kampagnen möglicherweise ebenfalls ein verändertes Deutschlandbild an die in- und ausländische Öffentlichkeit vermittelt? Hatte die WM 2006 schließlich auch die Funktion eines Ventils, das zumindest zu einer kurzzeitigen, unverkrampften Identifikation mit dem eigenen Land führte?
Gang der Untersuchung:
Für eine wissenschaftlich fundierte Antwort müssen aber zunächst auf theoretischer Ebene die verschiedenen Begriffe der Nation in der Abgrenzung zu Nationalismus und Identität erläutert werden. Es wird sich zeigen, dass die Begriffe Nation und Identität nur schwer definierbar sind, da sowohl Nation als auch […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Fragestellung
1.2 Methodik und Gliederung
1.3 Forschungsstand

2. Nation und Identität
2.1 Definition Nation
2.1.1 Nation
2.1.2 Nationalismus
2.2 Definition Identität
2.2.1 Kollektive Identität
2.2.2 Politische und kulturelle Identität

3. Identität und Selbstverständnis in zwei deutschen Staaten (1949-1989)
3.1 Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit
3.1.1 Bundesrepublik Deutschland
3.1.2 Deutsche Demokratische Republik
3.2 Umgang mit nationalen Symbolen
3.2.1 Bundesrepublik Deutschland
3.2.2 Deutsche Demokratische Republik
3.3 Zusammenfassung

4. Identität und Selbstverständnis in der Bundesrepublik (1990 – 2006)
4.1 Neupositionierung nach der Vereinigung (1990 – 1998)
4.1.1 Wiedervereinigung 1990
4.1.2 Rechtsnationale Tendenzen
4.1.3 Innenpolitische Kontroversen
4.1.3.1 Debatte um die Hauptstadt
4.1.3.2 Debatte um das Holocaust-Mahnmal
4.1.3.3 Debatte um die Wehrmachtsausstellung
4.1.3.4 Goldhagen Debatte
4.1.4 Außenpolitische Standortbestimmung
4.1.4.1 Golfkrise 1990/91
4.1.4.2 Bundesverfassungsgericht als Entscheidungsträger
4.1.4.3 Supranationale Integration
4.1.5 Zusammenfassung
4.2 Neues Selbstbewusstsein (1998 – 2005)
4.2.1 Innenpolitischer Generationenwechsel
4.2.1.1 Selbstverständnis der „Berliner Republik“
4.2.1.2 Debatte um eine deutsche Leitkultur
4.2.2 Außenpolitische Interessendefinition
4.2.2.1 Deutsche Sicherheitspolitik
4.2.2.2 Internationale Forderungen
4.2.3 Zusammenfassung
4.3 Wir sind Deutschland (2005-2006)
4.3.1 Bundespräsident Horst Köhler
4.3.2 Bundeskanzlerin Angela Merkel
4.3.3 „Du bist Deutschland“ – Kampagne
4.3.4 Initiative: Deutschland – Land der Ideen
4.3.5 Fußball WM 2006
4.3.6 Zusammenfassung

5. Fazit
5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
5.2 Ausblick

Anhang
I. Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen
II. Literaturverzeichnis
III. DANKSAGUNG

Wir sollten die Verschiedenartigkeit der Kulturen, Religionen und Traditionen als Reichtum unseres Planeten verstehen. Wenn wir diese Verschiedenartigkeit akzeptieren und respektieren, können wir die Globalisierung auch als Gewinn für alle Menschen entwickeln. Dies geht allerdings nur, wenn wir unserer eigenen Identität sicher sind. Nur wer sich selbst kennt, kann auch andere akzeptieren. Daraus folgt, dass sich in der globalisierten Welt Patriotismus und Weltoffenheit nicht nur nicht ausschließen, sondern sich tatsächlich glücklich ergänzen.“

Bundespräsident Horst Köhler, 2004[1]

1. Einleitung

1.1 Fragestellung:

Wenige Wochen nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. im April 2005 wurde der deutsche Kardinal Joseph Ratzinger zum neuen Papst gewählt. Die größte deutsche Boulevardzeitung machte am nächsten Tag mit der Schlagzeile „Wir sind Papst“ auf sich aufmerksam. Ein deutscher Staatsbürger war zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt worden und würde man der Zeitung ernsthaft Glauben schenken, dann wären alle Deutschen zum Papst gewählt worden. In der Öffentlichkeit löste die Überschrift kontroverse Diskussionen und zahlreiche mehr oder minder ernst gemeinte Nachahmungen auf Flyern oder T-Shirts aus. Auch wenn diese Schlagzeile zu dem typischen, populistischen Stil der Boulevardzeitung passt, drückte sie zumindest eine kollektive Freude der deutschen Bevölkerung über den Erfolg eines ihrer Landsmänner aus. Die Schlagzeile machte aber auch deutlich, dass andere Ereignisse, über die sich alle Deutschen ähnlich freuen könnten, nur sehr selten vorkommen. Die Wahl von Kardinal Joseph Ratzinger zum Papst erlaubte den Deutschen plötzlich, gemeinsam stolz auf einen Erfolg zu sein. Ohne Bedenken konnte hier die Errungenschaft eines Mitbürgers in der Welt gefeiert werden. Die Überschrift „Wir sind Papst“ drückte eine kollektive Freude aus und verwies auf ein vorher völlig unbekanntes „Wir-Gefühl“. Sie könnte auch als Zeichen für den Wunsch der Bevölkerung in der Bundesrepublik nach Erfolg und Zusammengehörigkeitsgefühl gedeutet werden.

Am 26. September 2005 startete eine groß angelegte Medien-Kampagne mit dem Titel „ Du bist Deutschland “. Mehr als zwei Dutzend führende Medienunternehmen unterstützten die politisch unabhängige und überparteiliche Kampagne mit zahlreichen Anzeigen in Zeitschriften, Zeitungen, Online-Medien sowie einem TV-Spot. Die Aktion sollte zu einer neuen Aufbruchstimmung in Deutschland beitragen und den Einzelnen daran erinnern, dass jeder Beitrag für das Land wichtig sein kann. Sie versuchte nicht nur einen Impuls für mehr Selbstbewusstsein und Motivation zu setzen, sondern wollte mit Anzeigen wie „ Du bist Ludwig Erhard “ oder „ Du bist Johann Wolfgang von Goethe “ auch daran erinnern, was deutschen Vorfahren schon Großes gelungen ist. Die Kampagne zielte einerseits auf Eigeninitiative und Risikobereitschaft sowie andererseits auf eine positive Identifikation mit dem Heimatland. Damit thematisierte die Aktion das gespaltene Verhältnis der Deutschen zu ihrem eigenen Land. Es wurde in Erinnerung gerufen, dass jeder Einzelne Teil eines Kollektivs ist. Kollektive Identität und Nationalbewusstsein spielen für die Stabilität und Kontinuität eines politischen Systems eine besondere Rolle. Die Kampagne verdeutlichte mit dem Slogan „ Du bist Deutschland “, dass ein Nationalbewusstsein in Deutschland nur wenig ausgeprägt ist. Sie war aber ebenso ein Zeichen für ein neues, gesamtdeutsches Selbstverständnis, welches sich erst durch einen längeren politischen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozess nach der Wiedervereinigung herausbilden konnte.

Im Sommer 2006 durfte die Bundesrepublik Deutschland die FIFA– Fußballweltmeisterschaft ausrichten. Unter dem Motto „ Die Welt zu Gast bei Freunden “ kamen zahlreiche Nationalmannschaften zusammen mit ihren begeisterten Anhängern nach Deutschland. Die Spiele der deutschen Nationalmannschaft wurden in den Stadien genauso wie vor zahlreichen Großbildschirmen zu euphorischen Fußballfeiern. Ein ganzes Land hoffte auf ein Weiterkommen der Mannschaft von Bundestrainer Jürgen Klinsmann, die erst im Halbfinale gegen Italien ausschied. Die Deutschen identifizierten sich mit der Fußballmannschaft und selten wurden so viele Deutschland-Fahnen und andere schwarz-rot-gelbe Accessoires verkauft und gezeigt wie während der Fußball WM. Die Bevölkerung feierte ihre Mannschaft mit einem „ weltoffenen Patriotismus[2], der vorher in dieser Form noch nicht zum Ausdruck gekommen ist. Auch im Ausland freute man sich über die Deutschen, die auf einmal ein unverkrampftes Verhältnis zu ihrem Land entwickeln konnten. Plötzlich waren überall Deutschland-Fahnen zu sehen und auch die Nationalhymne wurde von Vielen in den Stadien oder vor den Fernsehern mitgesungen. Die Selbstverständlichkeit, mit der in anderen Ländern mit nationalen Symbolen wie der Fahne oder der Hymne umgegangen wurde, war in Deutschland vorher nicht vorhanden. Auch wenn dieses neuartige Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Bevölkerung in der Bundesrepublik zunächst nur mit dem sportlichen Bereich in Verbindung gebracht werden kann, so symbolisierte die Euphorie während der WM 2006 doch eine vorher unbekannte, gesamtdeutsche kollektive Identität.

Sowohl die Schlagzeile „Wir sind Papst“ als auch die Kampagne „Du bist Deutschland“ verdeutlichen den komplizierten Umgang der deutschen Bevölkerung mit ihrem eigenen Land. Weder ist der Einzelne Papst, noch ist der Einzelne Deutschland. Aber jeder Einzelne ist ein Teil der Bevölkerung und damit Teil eines Kollektivs. Von einem kollektiven „Wir-Gefühl“ sowie einem Bewusstsein für die eigene Kultur und Tradition ist in Deutschland allerdings wenig zu spüren. Mangelnde kollektive Identität und fehlendes Bewusstsein für positive Errungenschaften im eigenen Land können auch der Auslöser für Resignation und Mutlosigkeit sein. Nach den katastrophalen Erfahrungen mit dem deutschen Nationalsozialismus glauben viele, dass sie sich Nationalbewusstsein und Nationalstolz nicht erlauben können. Stattdessen schämen sich manche Bundesbürger sogar, sich offen zu ihrer Nationalität zu bekennen. Oft wird die Geschichte der Bundesrepublik auf die zwölfjährige Nazi-Diktatur reduziert, wodurch eine positive Identifikation mit dem eigenen Land nicht mehr möglich erscheint. In Medien, Politik und Gesellschaft vollzieht sich deswegen ein Spagat zwischen einem ehrlichen und positiven Umgang mit der eigenen Kultur und der Suche nach einem angemessenen Verhältnis zu den Verbrechen des Nationalsozialismus. Während der Fußball WM zeigten die Deutschen der Welt aber plötzlich ein positives und vorbehaltloses Verhältnis zu ihrem eigenen Land. Sowohl im Ausland als auch in der Bundesrepublik freuten sich die Menschen, dass die Deutschen sich selbst feiern konnten.

Das Thema „Identität in Deutschland“ muss vorsichtig behandelt werden. Wenn von kollektiver Identität gesprochen wird, geht es nicht um die Forderung nach einem neuen Nationalismus, sondern vielmehr um die Suche nach einem Zusammengehörigkeitsgefühl, welches für Stabilität und Integration innerhalb der Gesellschaft sorgen kann. In dieser Arbeit muss deswegen ebenfalls ein Spagat vollzogen werden: einerseits soll die Geschichte Deutschlands ernst genommen werden ohne in indifferente Nationalismus-Propaganda zu verfallen. Andererseits soll sich ohne Scheu mit dem Thema kollektive Identität in der Bundesrepublik auseinander gesetzt werden. In der Arbeit wird zunächst die Suche nach kollektiver Identität in Deutschland seit 1949 erläutert. Danach wird analysiert, warum sich gerade während der Fußball WM im Sommer 2006 ein „weltoffener Patriotismus“ entwickeln konnte, dessen integrative Wirkung über den sportlichen Bereich hinaus der Bundesrepublik Deutschland nutzen würde. Daher werden folgende Leitfragen an die Arbeit gestellt: Hat es nach der Wiedervereinigung eine politische Entwicklung gegeben, welche die Euphorie während der WM begünstigte? Der Regierungswechsel von 1998 und der Umzug nach Berlin haben die politische Landschaft in der Bundesrepublik sehr verändert. Implizierte der Beginn der „Berliner Republik“ also auch eine neue Symbolpolitik, die eine Auseinandersetzung mit der gesamtdeutschen Geschichte ermöglichte und politisch wie gesellschaftlich zu einem unverkrampfteren Verhältnis zur eigenen Nation führte? Haben in der Folge auch Regierungserklärungen und Ansprachen von führenden Politikern dazu beigetragen, dass sich in der Bundesrepublik langsam ein „Wir-Gefühl“ herausgebildet hat? Im Vorfeld der WM wurde mit verschiedenen Kampagnen für Ideen und Innovationskraft in Deutschland geworben. Haben diese Kampagnen möglicherweise ebenfalls ein verändertes Deutschlandbild an die in- und ausländische Öffentlichkeit vermittelt? Hatte die WM 2006 schließlich auch die Funktion eines Ventils, das zumindest zu einer kurzzeitigen, unverkrampften Identifikation mit dem eigenen Land führte?

1.2 Methodik und Gliederung:

Für eine wissenschaftlich fundierte Antwort müssen aber zunächst auf theoretischer Ebene die verschiedenen Begriffe der Nation in der Abgrenzung zu Nationalismus und Identität erläutert werden. Es wird sich zeigen, dass die Begriffe Nation und Identität nur schwer definierbar sind, da sowohl Nation als auch Identität unterschiedliche Ebenen enthalten. Trotzdem soll versucht werden, Genese und Funktion von Nation und Identität zu erklären. Die einzelnen Ideen von Nation reichen von einer vorgestellten Gemeinschaft bis hin zu unterschiedlichen kollektiven Verbindungen, bei welchen nur die Intellektuellen Träger und Vermittler einer kollektiven Identität darstellen. Weiterhin kann unterschieden werden zwischen einer Staatsnation, die sich auf dem freien Willen ihrer Mitglieder begründet sowie einer Kulturnation, die sich über die ethnische Abstammung oder die gemeinsame Sprache definiert. Für die Herausbildung einer nationalen Identität ist neben der kollektiven Erinnerung an nationale Ereignisse auch die Symbolsprache wichtig. Im ersten Kapitel werden diese Kontroversen dargestellt, um dann die wichtigen Elemente der beiden Begriffe festzuhalten und im Verlauf der Arbeit weiter zu verwenden.

Im zweiten Kapitel soll in historisch-vergleichender Perspektive die unterschiedliche Entwicklung zweier kollektiver Identitäten in der Bundesrepublik und der DDR heraus gearbeitet werden. Für die Identifikation der Bevölkerung mit dem jeweiligen politischen System sorgten die unterschiedlichen Formen der Vergangenheitsbewältigung sowie die verschiedene Bedeutung politischer und gesellschaftlicher Symbole. Die Herausbildung einer gesamtdeutschen kollektiven Identität ist bis zur Wiedervereinigung 1990 durch die langjährige Teilung Deutschlands in zwei Staaten unmöglich gewesen. Die beiden deutschen Staaten verdeutlichten über 40 Jahre die Gegensätze zwischen der westlichen demokratischen Staatenwelt und dem östlichen sozialistischen Block. Dies bedeutete auch einen unterschiedlichen Umgang mit der eigenen Vergangenheit und damit einhergehend die Herausbildung verschiedener kollektiver Identitäten in der Bundesrepublik und der DDR. Die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte in Ost und West sowie die jeweils verschiedenen Bezugspunkte nationaler Identifikation machen ein gesellschaftliches und politisches Zusammenwachsen nach der Vereinigung bis heute schwierig.

In den beiden folgenden Kapiteln drei und vier wird ebenfalls aus historischer Perspektive argumentiert, wie sich nach der Wiedervereinigung in der Bundesrepublik ein politisches Selbstbewusstsein entwickelt hat, welches sich langsam auf die Gesellschaft und die Medien übertragen hat. Die Wiedervereinigung bedeutete nicht nur das tatsächliche Ende des Ost-West Konfliktes, sondern auch den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte der Bundesrepublik. Erst 1990 erhielt sie ihre uneingeschränkte Souveränität zurück und hatte damit die Folgen der NS-Schreckensherrschaft endgültig überwunden. Nach 1990 musste sich das vereinte Deutschland in der Staatenwelt neu positionieren. Die demokratischen Grundwerte sowie die Einbindung in die westlichen Bündnisse verhinderten das Aufkeimen eines neuen Nationalismus. Dennoch stellten sich nach dem Ende des Kalten Krieges, der in der Bundesrepublik stets für eine kollektive Abgrenzung gegenüber dem sozialistischen Osten gesorgt hatte, Fragen nach dem eigenen Selbstverständnis und neuen, gemeinsamen Identifikationspunkten. Die kontroversen Debatten um die Wehrmachtausstellung, das Holocaust-Mahnmal oder die Hauptstadt Berlin verdeutlichten diese Suche nach nationalen Bezugspunkten. Angesichts des Golfkrieges sowie des Bürgerkrieges in Jugoslawien verlangten die westlichen Bündnispartner mehr als humanitäres und finanzielles Engagement von der vereinten Bundesrepublik. Damit musste sich Deutschland auch außenpolitisch neu positionieren, um den westlichen Systemen kollektiver Sicherheit Loyalität zu erweisen. Das Bundesverfassungsgericht musste schließlich den Weg für ein militärisches Engagement der Bundeswehr im Rahmen der NATO freimachen. Erst mit dem Regierungswechsel 1998 zeigte sich ein selbstbewussteres Auftreten der Bundesrepublik auf politischer Ebene. Der Machtwechsel von Helmut Kohl zu Gerhard Schröder bedeutete einen wichtigen Generationenwechsel. Ab diesem Zeitpunkt war eine Nachkriegsgeneration an der Regierung, die mit den Verbrechen der Nationalsozialisten nichts zu tun hatte und ihre politische Sozialisation im Umfeld der 68er Protestbewegungen erfahren hatte. Die neue Politikergeneration wollte die Geschichte nicht verdrängen, aber sie hatte weniger Scheu, nationale Interessen auszusprechen und durchzusetzen. Zusammen mit der veränderten Symbolik der neuen Hauptstadt Berlin, durch welche die vereinte Bundesrepublik emotional erfahrbar und symbolisch erlebbar gemacht worden war, hatte die politische Führung die Grundlage für eine langsame Herausbildung einer gesamtdeutschen Identifikation gelegt. Dennoch verdeutlichte die von den Christdemokraten angestoßene kontroverse Debatte um eine deutsche Leitkultur die immer noch fortwährende Suche nach kollektiver Identität. Der Begriff „Leitkultur“ ist missverständlich und darf unter keinen Umständen zu einem Ausschluss anderer Kulturen führen. Aus diesem Grund verschwand die Debatte um eine Leitkultur relativ schnell wieder von der politischen Agenda. Insbesondere außenpolitisch verstand es die neue Regierung, ihre Interessen eindeutiger zu definieren. Während die Anfangsjahre nach der Wiedervereinigung noch durch die Erfüllung von Bündnisverpflichtungen geprägt waren, zeigte sich spätestens mit dem ausdrücklichen „Nein“ zu einem möglichen Krieg gegen den Irak ein neues deutsches Selbstbewusstsein. Auch der mehrfach artikulierte Wunsch nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verdeutlichte ein selbstbewusstes außenpolitisches Auftreten. Die Regierungserklärung und Ansprachen von Bundeskanzler Gerhard Schröder oder dem neuen Bundespräsidenten Horst Köhler sowie verschiedene Kampagnen, die im Vorfeld der Fußball WM medienwirksam veröffentlicht wurden, übertrugen langsam ein neues Selbstverständnis auf die Gesellschaft.

Im letzten Teil von Kapitel vier soll die aktuelle politische Lage in der Bundesrepublik erläutert werden, um aus dieser Perspektive heraus die Fußball Weltmeisterschaft als vorläufigen Höhepunkt auf der Suche nach kollektiver Identität analysieren zu können. Der erneute Regierungswechsel 2005 änderte nichts an einem neuen Selbstbewusstsein. Vielmehr konnte erstmalig mit Angela Merkel eine Frau ins Kanzleramt einziehen, was für die gesellschaftliche und politische Reife der Bundesrepublik sprach. Die Tatsache, dass die neue Bundeskanzlerin aus Mecklenburg-Vorpommern kommt, schafft für die ostdeutsche Bevölkerung zusätzliche Identifikationsmöglichkeiten. Für die „innere Einheit“ der Bundesrepublik ist diese Tatsache deswegen positiv zu bewerten. Sowohl die Bundeskanzlerin als auch der Bundespräsident bringen ihre emotionale Verbundenheit mit der Bundesrepublik zum Ausdruck. Beide Spitzenpolitiker zeigen öffentlichkeitswirksam ein unverkrampftes Verhältnis zur eigenen Nation, ohne dabei die notwendige politische Offenheit gegenüber anderen Staaten zu vernachlässigen. Die Kampagne „Du bist Deutschland“ zielte zwar hauptsächlich auf Initiative und Engagement des Einzelnen, versuchte mit ihrem Slogan aber dennoch auf einen selbstverständlicheren Umgang mit dem eigenen Land hinzuwirken. Diese Entwicklung zu mehr politischem Selbstbewusstsein war während der Fußball WM auch auf gesellschaftlicher Ebene sichtbar. Im abschließenden Kapitel fünf sollen die Ergebnisse dieser Arbeit zusammengefasst werden.

1.3 Forschungsstand:

Im Gegensatz zu den meisten Staaten, die im 16. und 17. Jahrhundert durch innerstaatliche Revolutionen, Umstürze oder Kriege gegründet wurden, kam es erst nach dem deutsch-französischen Krieg 1871 zur Gründung des Deutschen Kaiserreiches mit eindeutig definierten territorialen Grenzen. Die Reichsgründung erfolgte nicht durch eine Revolution des Volkes, sondern verschiedene Kriege und geschickte Diplomatie unter der Vorherrschaft Preußens führten zur Vereinigung von mehreren völkerrechtlich selbstständigen Staaten. So ging erst aus dieser späten Reichsgründung mit Bismarck als Reichskanzler das „ Bewusstsein einer geschichtlich zusammengewachsenen nationalen Gemeinschaft[3] hervor, welches seine Integrationskraft auch über den Ersten Weltkrieg hinaus nicht verlor. Diese Tatsache führte dazu, dass sich zahlreiche Historiker, Philosophen oder Politikwissenschaftler immer wieder mit der Identität der Deutschen auseinander gesetzt haben. Dazu gehörten auch Überlegungen, ob die „ verspätete Nation[4] eine der Ursachen für den radikalen Nationalismus während des Dritten Reiches gewesen sei.

Viele Forschungsarbeiten, die sich mit „Identität in Deutschland“ beschäftigen, beziehen sich aus diesem Grund zumeist auf die Zersplitterung der einzelnen Länder während des 19. Jahrhunderts und versuchen einen Bogen zum heutigen Nationalbewusstsein in der Bundesrepublik zu spannen.[5] In dieser Arbeit soll sich aber nur auf die Zeit nach 1949 beschränkt werden. Bis 1990 hatten zwei deutsche Staaten die Herausbildung eines gesamtdeutschen „Wir-Gefühls“ verhindert, so dass über kulturelle Gemeinsamkeiten, welche über die Sprachgemeinschaft und die gemeinsame Geschichte vor 1945 hinausgingen, nur spekuliert werden konnte. In diesem Sinne hat auch Mary Fulbrook versucht, die nationale Identität der Deutschen nach dem Holocaust zu analysieren.[6] Dabei versucht sie auf einer sehr breiten Ebene zu bleiben, wodurch in den einzelnen Kapiteln verschiedene Aspekte der nationalen Identität analysiert werden. Dazu gehören das unterschiedliche Geschichtsbewusstsein in Ost und West, die Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg oder verschiedene Erinnerungsformen an bestimmte historische Ereignisse wie das Kriegsende am 8. Mai 1945 oder der Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953. Diese vielschichtige Analyse nationaler Identität geht aber zu Lasten einer überzeugenden Argumentation.

Werner Weidenfeld ist einer der bekanntesten Politikwissenschaftler, der sich intensiv mit dem Thema „Identität in Deutschland“ auseinander gesetzt hat. Er ist der Herausgeber eines Sammelbandes „ Die Identität der Deutschen[7], welcher sieben Jahre vor der Wiedervereinigung herausgekommen ist. Darin beschreiben verschiedene Autoren im ersten Teil ein historisches Herkunftsbewusstsein der Deutschen, dass sie versuchen bis in das 19. Jahrhundert zurück zu verfolgen. In den beiden folgenden Teilen wird das unterschiedliche Selbstverständnis in zwei deutschen Staaten beschrieben, bevor über eine gemeinsame kulturelle Identität und Nationalbewusstsein in beiden deutschen Staaten diskutiert wird. Neben vielen weiteren Publikationen über das Geschichtsverständnis und Identität in der Bundesrepublik hat Weidenfeld viele Jahre nach der Wiedervereinigung einen Aufsatz über „ Geschichte und Identität[8] veröffentlicht. Darin analysiert der Autor ebenfalls die Debatten um ein gesamtdeutsches Bekenntnis zum Holocaust sowie die außenpolitische Neupositionierung nach 1990. Ein neues politisches Selbstbewusstsein, welches durch den Regierungswechsel 1998 besonders deutlich geworden ist, sowie die Debatte um eine „deutsche Leitkultur“ werden ebenfalls erwähnt, aber nicht weiter analysiert. Die vorliegende Arbeit knüpft an die Beobachtungen von Weidenfeld an, stellt aber die politische Entwicklung nicht nur ausführlicher und in einem anderen Kontext dar, sondern verbindet sie auch mit der theoretischen Ebene. Bei der neuesten Forschungsarbeit „ Identitätsformationen in Deutschland[9] handelt es sich um eine Habilitationsschrift, die sich auf verschiedene Formen der kollektiven Identität nach der Vereinigung konzentriert. Der Autor versucht die These zu belegen, dass sich die Bundesrepublik mit dem Beitritt der DDR nicht nur territorial erweitert habe, sondern dass aus der Vereinigung der beiden deutschen Staaten auch eine veränderte „Berliner Republik“ hervor gegangen sei. Das Thema „Identität in Deutschland“ beschäftigt allerdings nicht nur Wissenschaftler. Im Frühjahr 2006 veröffentlichte Matthias Matussek, Leiter des Kultur-Ressorts von der Wochenzeitschrift „Der SPIEGEL“, sein neuestes Buch „ Wir Deutschen “. Darin warnt der Autor vor den Gefahren, die mit der fehlenden Identifikation der Bevölkerung mit dem eigenen Land entstehen können. Weiterhin möchte er an deutsche Vorfahren wie Karl der Große, Heinreich Heine, Ludwig van Beethoven oder Dietrich Bonhoeffer erinnern, die in der ganzen Welt bewundert würden. Damit setzt er sich für ein unverkrampftes Verhältnis der Deutschen zu ihrer eigenen Nation ein und versucht eine Begründung dafür zu liefern, „ warum uns die anderen gern haben können.“[10] Das Buch von Matussek kann wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen und wird aus diesem Grund nicht weiter berücksichtigt. Es verdeutlicht aber die Suche und den Wunsch nach einem Nationalbewusstsein in der Bundesrepublik.

Aus verschiedenen Gründen kann diese Arbeit den bisherigen Forschungsstand erweitern. Keine der bisherigen Analysen der nationalen Identität in der Bundesrepublik hat die politische Entwicklung auf eine mögliche gesellschaftliche Entwicklung übertragen. Entweder es wurde sich rein politikwissenschaftlich mit dem Selbstverständnis der politischen Elite auseinander gesetzt oder rein soziologisch mit dem gesellschaftlichen Selbstverständnis. Ferner haben die meisten Forschungen versucht, die Thesen mit empirischen Umfrageergebnissen zu belegen[11], während diese Arbeit allein auf der Ebene einer politikwissenschaftlichen Analyse bleibt. Der Forschungsstand wird insbesondere durch die Aktualität dieser Arbeit erweitert. Keine der bisherigen Aufzeichnungen konnte die Fußball WM 2006 in Deutschland in die Analyse mit einbeziehen. Hier zeigte sich nämlich sowohl auf politischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene ein unverkrampftes und selbstverständliches Verhältnis zum eigenen Staat. Der neue Umgang mit nationalen Symbolen während der WM stieß im Inland wie im Ausland auf positive Resonanz, was für die Selbstwahrnehmung der vereinten Bundesrepublik ein Novum bedeutet. Dieses Phänomen spielt für die kollektive Identität in Deutschland eine entscheidende Rolle und wird in dieser Arbeit berücksichtigt.

2. Nation und Identität

Sowohl „Nation“ als auch „Identität“ sind vielschichtige Begriffe, über deren Bedeutung in der Literatur seit Jahrzehnten diskutiert wird. Insbesondere nach den schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs war deutlich, dass mit dem Wunsch nach nationaler Identität und Abgrenzung gegenüber anderen Nationen große Gefahren verbunden sind. Es kann hier nicht die vollständige Diskussion um die Bedeutung von „Nation“ und „Identität“ dargestellt werden. Vielmehr ist eine Eingrenzung der Begriffe wichtig, damit im Verlauf der Arbeit ein Rückbezug auf die theoretische Ebene der kollektiven Identität möglich ist.

2.1 Definition Nation:

2.1.1 Nation:

Das Wort Nation kommt von dem lateinischen Wort natio und bedeutet Geburt, Geschlecht, Art oder Volk.[13] Nation bezeichnet eine Gemeinschaft von Menschen, die sich aus verschiedenen Gründen zusammengehörig fühlt und sich dadurch gleichzeitig von anderen Gemeinschaften abgrenzen kann. Nur in der Abgrenzung zu anderen Gruppen kann eine Nation existieren, denn sonst würde sich „ die Gemeinschaft in ihre internen Differenzierungen auflösen.“[14] So bildet die Gemeinschaft eine nationale Identität heraus, die sich selbst vor allem durch die Abgrenzung zu anderen Nationen definieren kann. Eine Gemeinschaft von Menschen fühlt sich untereinander zugehörig, wenn sie bestimmte Gemeinsamkeiten teilt, die andere Gemeinschaften nicht teilen. Zu den Gemeinsamkeiten zählt vor allem die Sprache, die Grundlage von jeder sozialen Gemeinschaft ist. Weitere Gemeinsamkeiten können die kollektive Erinnerung an nationale Ereignisse, die Pflege bestimmter Rituale und Bräuche sowie nationale Symbole sein. Zu den Symbolen zählen beispielsweise die Flagge, die Nationalhymne oder die Währung. Kollektiv kann sich an bestimmte nationale Leistungen wie Staatsgründungen oder an Erfolge auf sportlicher oder diplomatischer Ebene, genauso wie auch an bittere Niederlagen erinnert werden. Schließlich dienen bestimmte nationale Sitten und Bräuche wie traditionelle Feste, alltägliche Gewohnheiten oder weltweit bekannte Produkte der Wirtschaft der Identifikation der Bevölkerung mit dem eigenen Nationalstaat.

In der Forschung wird hauptsächlich zwischen zwei verschiedenen Auffassungen von Nation unterschieden. Anthony Smith versteht die Nation als „ ethnische Konzeption im Sinne einer Abstammungsgemeinschaft “.[15] Sein Nationenbegriff zählt zu den Ansätzen des Ethnonationalismus, bei dem Sprache, Kultur und Abstammung die Merkmale der Nation darstellen. Außerdem zeichnet sich eine Nation für ihn durch die gleichen subjektiven Rechte und Pflichten für „ihre Staatsbürger“ aus. Smith kommt deshalb zu folgender Definition von Nation:

A nation can therefore be defined as a named human population sharing an historic territory, common myths and historical memories, a mass, public culture, a common economy and common legal rights and duties for all members.”[16]

Der zweite Ansatz ist konstruktivistisch: hier handelt es sich bei der Nation um eine vorgestellte Gemeinschaft. Eine Nation entsteht erst durch das Vorhandensein einer Gemeinschaft auf territorial begrenztem Raum. So versteht Benedict Anderson die Nation als eine „ vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän.“[17] Da sich alle Individuen untereinander weder begegnen noch kennen können, haben sie nur eine Vorstellung von der Gemeinschaft in der sie leben. Die Gemeinschaft lebt innerhalb von festgelegten Grenzen, die wiederum an andere Staaten angrenzen. Unabhängig von der Größe der Gemeinschaft ist eine Nation deswegen auch immer begrenzt.[18] Mit dem Zeitpunkt der französischen Revolution 1789 wird auch der Beginn des modernen Verständnisses von Nation datiert.[19] Die überkommenen Privilegien der Stände wurden überwunden und die Bürger wurden rechtlich wie politisch gleichgestellt. Auch wenn die Rechte zunächst nur für Männer galten, war das eingeführte Wahlrecht dennoch eine Partizipationsmöglichkeit für das Volk, staatliche Entscheidungen mit zu beeinflussen.[20] Deswegen ist der souveräne Staat Symbol und Maßstab der Freiheiten, die durch die französische Revolution erkämpft wurden.[21] Die Revolution von 1789 bedeutete nicht nur eine vorbildhafte Legitimation der politischen Herrschaft durch den demokratischen Willen des Volkes, sondern gleichzeitig auch die Durchsetzung vom „ Prinzip der Volkssouveränität “.[22]

Auf diesem Prinzip der Volkssouveränität beruht auch der Nationenbegriff von Ernest Renan. Für ihn sind nicht die Merkmale der gleichen Sprache oder Rasse, der verbindenden Religionszugehörigkeit oder eines begrenzten Territoriums bestimmend für die Konstituierung einer Nation. Vielmehr ist für Renan die kollektiv erlebte Geschichte entscheidend. Aus vielen Erinnerungen lasse sich der Wunsch ableiten, das gemeinsame menschliche und kulturelle Erbe in der Zukunft hochzuhalten. Deswegen bestimmt er eine Nation nach dem freien Willen ihrer Mitglieder.

Die Existenz einer Nation ist – erlauben Sie mir diese Metapher – ein Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt, so wie die Existenz eines Individuums eine dauernde Bestätigung des Lebensprinzips ist.“[23]

Eine wichtige Unterscheidung wurde ebenfalls von dem deutschen Historiker Friedrich Meinecke getroffen. Auf der Grundlage von den gleichen homogenen Merkmalen, die auch andere Nationsdefinitionen bestimmen, traf Meinecke die Unterscheidung zwischen einer Staats- und Kulturnation.[24] Auch wenn seine Studien primär dazu dienten, die Entwicklung der deutschen Kulturnation in der Abgrenzung zur französischen Staatsnation zu erklären, ist diese Unterscheidung für die Erfassung des Nationenbegriffes weiterhin relevant. Nach Meinecke existiert eine Staatsnation dann, wenn sie sich aus dem „ freien Willen und dem subjektiven Bekenntnis des Individuums zur Nation[25] ableiten lässt. Die Kulturnation dagegen definiert sich aufgrund vorhandener Kriterien wie einer gemeinsamen Sprache und Geschichte, einem begrenzten Siedlungsgebiet oder einer Religion. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in einer Kulturnation entwickelt sich unabhängig von staatlicher Politik, aber mit dem Ziel, den „ Schritt zur Staatsnation zu vollziehen.“[26] Wenn das Individuum durch die Geburt auf dem Territorium des Nationalstaates die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes erhält und dadurch mit eigenen Rechten und Pflichten ausgestattet wird, kann von einer Staatsnation gesprochen werden. Bestimmt dagegen die ethnische oder kulturelle Herkunft die Zugehörigkeit des Individuums zum Nationalstaat, kann von einer Kulturnation gesprochen werden.[27] Das Staatsbürgerschaftsrecht in der Bundesrepublik basierte bis zu einer grundlegenden Reform der rot-grünen Bundesregierung 1999 auf dem Abstammungsprinzip (ius-sanguinis). Demnach konnte die deutsche Staatsangehörigkeit nur durch Geburt (sofern ein Elternteil deutscher Staatsbürger war) oder durch Heirat mit einem Deutschen erworben werden. Die Reform ergänzte das Abstammungsprinzip um das Territorialprinzip (ius-solis), wodurch eine Einbürgerung für in Deutschland geborene Kinder selbstverständlich geworden ist.[28] Nach dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht handelt es sich bei der Bundesrepublik also um eine Mischform von Staats- und Kulturnation.

Wenn die territorialen Grenzen der Nation auch Grenzen der politischen Herrschaftsausübung darstellen, handelt es sich um einen Nationalstaat.[29] Hauptsächlich lassen sich drei historische Entstehungsgründe für den Nationalstaat festlegen. Nationalstaaten entstehen durch innerstaatliche Revolutionen[30] oder durch den Zerfall von Großreichen. Dies hat sich deutlich gezeigt, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zahlreiche, territorial definierte und souveräne Nationalstaaten neu entstanden sind. Außerdem können Nationalstaaten in getrennten territorialen Gebieten entstehen, in denen sich eigene Gemeinschaften herausbilden, „ die sich vor der Staatsgründung durch eine gemeinsame Sprache, Geschichte und Kultur als Nation fühlten.“[31] Damit emanzipieren sich diese Gemeinschaften vom „alten Staat“, um eine eigene Nation zu bilden. Bis heute existieren in vielen Ländern verschiedene Gemeinschaften, die aufgrund eines eigenen kulturellen Hintergrundes Unabhängigkeit anstreben, um einen eigenen Staat zu bilden. Die Entstehungsgründe von Nationalstaaten sowie die Merkmale der Nation lassen sich nicht voneinander trennen.

Das heutige „moderne“ Verständnis der Nation beinhaltet verschiedene Merkmale: eine Nation ist eine soziale Einheit von Menschen auf territorial begrenztem Raum, mit dem Wunsch nach einer eigenen politischen Führung und „ kollektiver Selbstständigkeit “.[32] Durch gemeinsame Sprache, kollektive Erinnerung an nationale Ereignisse und eigene Bräuche und Sitten, definiert sich die Solidaritätsgemeinschaft Nation in der Abgrenzung zu anderen Nationen. Ihre Mitglieder sind politisch wie rechtlich gleichgestellt[33] und können dadurch die politische Entwicklung beeinflussen. Für die Herausbildung eines nationalen „Wir-Gefühls“ spielt heutzutage weniger eine gemeinsame ethnische Herkunft eine Rolle, als vielmehr historische, politische sowie sozioökonomische Identifikationsmuster.

In dieser Arbeit wird Nation nicht als Abstammungsgemeinschaft im Sinne von Smith verstanden, sondern als Staatsnation im Sinne von Renan und Meinecke. Demnach wird auch die Geschichte der Nation von Bedeutung sein, welche innerhalb der bestimmten Gemeinschaft für Erinnerungen gesorgt hat, die sie von anderen Gemeinschaften unterscheidet. Diesem Verständnis folgend ist die Staatsbürgerschaft durch die Geburt auf dem begrenzten, nationalen Territorium zu bestimmen. Neben der Geschichte sind in dieser Arbeit auch gegenwärtige politische Entwicklungen und Ereignisse entscheidend für ein individuelles Zugehörigkeitsgefühl zur nationalen Gemeinschaft.

2.1.2 Nationalismus:

Der Begriff Nationalismus ist zumeist mit negativen Assoziationen besetzt und bedarf aufgrund dessen einer genauen Abgrenzung zum Begriff des Rassismus. Der Rassismus stellt eine Ideologie dar, die aufgrund von biologischen Argumenten den Überlegenheitsanspruch der eigenen Rasse begründet und zu diskriminierendem Verhalten gegenüber anderen ethnischen Gruppen führt.[34] Dagegen ist der Nationalismus eine Ideologie, die auf die Geschichte und Werte des eigenen Staates gerichtet ist und die „ Identifikation mit der nationalen Gemeinschaft voraussetzt.“[35] Nationalismus „ als Ausdruck von Emanzipationsbestrebungen[36] existiert heute überwiegend noch in Ländern der „Dritten Welt“. Dort ist der Nationalismus eine Möglichkeit, nach langer kolonialer Fremdherrschaft einen eigenen Staat zu formen. Nationalismus bezieht sich auf Anerkennung und Unterstützung der eigenen Verfassung und des politischen Systems durch die Bevölkerung im jeweiligen Nationalstaat. Der Einzelne identifiziert sich mit den historischen und kulturellen Wurzeln der Gemeinschaft. Auf diese Weise vermittelt die Nation ein „ Stück Lebenssinn in Gegenwart und Zukunft.“[37]

Dabei ist eine wichtige Unterscheidung zwischen dem „inklusiven“ und dem „exklusiven“ Nationalismus zu treffen. Das politische System wird vom exklusiven Nationalismus als höherrangig zu anderen Systemen betrachtet. Ziel des exklusiven Nationalismus ist die Ausgrenzung anderer politischer, ethnischer oder religiöser Gruppen aus der homogenen Gemeinschaft der Nation. Zumeist handelt es sich dann um antidemokratische Staatsformen, in welcher der Nationalstaat als „ natürliche, organische Form des Zusammenlebens, ähnlich der Familie[38] angesehen wird. Der deutsche Nationalsozialismus ist ein besonders extremes Beispiel für übersteigerten „exklusiven“ Nationalismus. Inklusiver Nationalismus dagegen ist eine moderate Form von Nationalbewusstsein oder Patriotismus. Der inklusive Nationalismus akzeptiert verschiedene kulturelle und ethnische Gruppen innerhalb der eigenen Nation. Er betrachtet sich selbst nicht als höherrangig, sondern als gleichwertiger Partner im internationalen Staatengefüge. Für das „ politische System [bietet er] eine im hohem Maße integrierende und legitimierende Wirkung “.[39] Das Vorhandensein eines inklusiven Nationalismus kann also positive Auswirkungen auf die nationale Identität eines Landes haben.

2.2 Definition Identität:

2.2.1 Kollektive Identität:

Das Wort „Identität“ geht etymologisch auf das lateinische Wort „ identitas “ zurück und bedeutet „ vollkommene Gleichheit “.[40] Identität bestimmt nicht nur das Verhältnis zwischen dem Individuum und einer Gemeinschaft, „ indem sie seine Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit feststellt “, sondern beschreibt gleichzeitig das „ Selbstverständnis der Gemeinschaft.“[41] Identität geht zunächst vom menschlichen Individuum aus.[42] Sobald aber mehrere Personen durch Kommunikation, Sport, Interessen und/oder den Beruf in Verbindung zueinander treten und Gemeinsamkeiten erleben, kann von kollektiver Identität gesprochen werden. Nicht nur in der Familie gibt es deswegen eine kollektive Identität, welche ihre Mitglieder untereinander verbindet, sondern auch in Unternehmen, Sportvereinen, Städten oder Regionen. Da es mehrere Ebenen von Identität gibt, wird in der Literatur auch häufig von „ multiplen Identitäten[43] gesprochen. Kollektive Identität schafft ein „Wir-Gefühl“ innerhalb einer bestimmten Gruppe und stärkt ein gemeinschaftliches Zusammengehörigkeitsgefühl.[44] Wenn auf nationaler Ebene eine kollektive Identität vorhanden ist, so bedeutet dies für den Nationalstaat nicht nur Legitimität, sondern auch Unterstützung und Akzeptanz des politischen Systems. Identität kann aber nicht oktroyiert werden, sondern ist ein jahre- bis jahrzehntelanger Prozess sozialer Kommunikation und Interaktion. Sie bildet sich durch „ innere Homogenisierung “ einer Gruppe sowie durch die „ Distinktion nach außen[45] zu anderen Gruppen. Kollektive Identität bedeutet deswegen immer Abgrenzung einer Gemeinschaft und bedingt damit die Anerkennung des Eigenen sowie die Exklusion des Anderen.[46] Identität birgt insofern auch eine große Gefahr des Missbrauchs. Denn sie kann zum Wahn werden, wenn das Andere nicht mehr anerkannt wird und stattdessen im Namen der eigenen Identität verfolgt und zerstört werden soll. Der schwerste Ausdruck von Identitätswahn war der Holocaust. Dort wurde Identität zur politischen Ideologie, welche zur Verfolgung und Ermordung von mehreren Millionen Juden führte.

Für eine emotionale Erfahrbarkeit des Nationalstaates spielen bei der Herausbildung einer nationalen Identität auch politische Symbole eine besondere Rolle. Obwohl die Nutzung von politischen Symbolen immer auf Skepsis stieß, da die Symbolsprache gerade in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus schwerem Missbrauch unterlag[47], haben sie eine besondere Bedeutung für die Identifikation der Bürger mit dem Staat. Symbole repräsentieren nicht nur die politische Ordnung, sondern können auch zu deren Herstellung und Legitimation beitragen.[48] Die Nationalhymne, die Nationalflagge oder die Hauptstadt sind Beispiele für Symbole, welche der Identifikation mit dem Staat dienen können. Bis heute spielt auch in demokratischen Staaten die symbolische Politik für die „ nationale Integration[49] und Identitätsfindung innerhalb der Bevölkerung eine besondere Rolle. Für die innere und äußere Wahrnehmung des politischen Systems bedarf es einer vernünftigen „ Synthese von Politik und Kultur, von Geist und Macht, von faktischer Macht und kulturell repräsentierter Macht.“[50]

Bei der Herausbildung nationaler Identität spielen ferner drei Zeitdimensionen eine wichtige Rolle:

die Vergangenheit in Form eines kollektiven Gedächtnisses, [...] die Gegenwart in Form eines Orientierungsrahmens [...] sowie die Zukunft in Form einer antizipierten Projektion möglicher politischer Entwicklungen.[51]

Das kollektive Gedächtnis bezieht sich auf nationale Erfolge oder Niederlagen und macht einen Teil nationaler Identität aus. Zum Inhalt eines kollektiven Gedächtnisses gehören verlorene oder gewonnene Kriege, Unabhängigkeits- oder Gründungstage, in Monarchien auch Thronjubiläen oder Geburtstage und in neuerer Zeit auch sportliche Großereignisse wie Weltmeisterschaften oder olympische Spiele. Die Frage, ob Ereignisse dieser Art im kollektiven Gedächtnis bleiben, hängt davon ab, inwieweit innerhalb der Gemeinschaft die Ereignisse zu wichtigen Bezugspunkten in der Gegenwart gemacht werden, die dann wiederum ein historisches Selbstverständnis formen. Wenn auch für zukünftige Generationen bestimmte Erfahrungen im kollektiven Gedächtnis erhalten bleiben sollen, erfolgt diese Weitervermittlung zumeist über symbolische Repräsentationen und Riten in Museen, über Denkmäler oder offizielle Erinnerungstage.[52] In der Gegenwart stellt der Nationalstaat insbesondere durch die Setzung des gesetzlichen Rahmens eine Instanz dar, an welcher sich der Einzelne orientieren kann. Demokratische Staaten können ein Minimum an sozialer Sicherheit durch Wohnsitz, Einkommen und gesundheitlicher Fürsorge gewähren und schaffen auf diese Weise Beständigkeit für ihre Bürger. Schließlich bietet der Nationalstaat auch für die Zukunft ein bestimmtes Maß an Sicherheit und Stabilität, in dem sich politische Entwicklungen bis zu einem bestimmten Grad vorhersagen lassen.

In ähnlicher Weise beschreibt auch Kielmansegg die Herausbildung kollektiver Identität. Nach seinem Verständnis kann sich nationale Identität vor allem dann bilden, wenn sie auf drei verschiedenen Arten von Gemeinschaft basiert: „ Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft.[53] Eine Kommunikationsgemeinschaft herrscht dann vor, wenn sich die Menschen untereinander in einer Sprache verständigen können. Die geographischen Grenzen des Nationalstaates sind zumeist auch Sprachgrenzen, weshalb die Sprache auch ein Merkmal nationaler Identität ist. Die Erinnerungsgemeinschaft bezieht sich auf nationale Ereignisse, an die sich kollektiv erinnert wird. Die Erfahrungsgemeinschaft bezieht sich auf die Gegenwart und die Zukunft. So kann beispielsweise durch eine akute militärische Bedrohung von fremden Staaten eine Gemeinschaft zusammenwachsen, weil sich die Gemeinschaft kollektiv bedroht fühlt und der Wunsch nach einer deutlichen Abgrenzung nach außen dringlicher wird.[54] Damit stellen also die gemeinsame Sprache, die kollektive Erinnerung und prägende Erfahrungen in der Gegenwart Merkmale der nationalen Identität dar.

In der Literatur wird häufig die Meinung vertreten, dass Identität nur ein Konstrukt sei. So wird darüber diskutiert, dass die Intellektuellen einer Nation die Träger und Erfinder nationaler Identität seien, um die Einheit der Gesellschaft zu sichern.[55] Die verschiedenen Ausprägungen des Nationalen würden als objektiv gegeben erscheinen, aber seien „ in Wirklichkeit das arbiträre Produkt konkreter Machtverhältnisse […].“[56] Aber auch sozial konstruierte Identitäten können „ manifeste Wirkungen entfalten[57] und bilden insofern ein nicht zu unterschätzendes Element in jeder Gesellschaft.

Vergleicht man diese Elemente der nationalen Identität mit den oben genannten Merkmalen einer Nation, so fallen die Gemeinsamkeiten auf. Nation und Identität können kaum voneinander getrennt analysiert werden. Das Prinzip der Ex- und Inklusion, die Identifikation mit Symbolen oder die kollektive Erinnerung an nationale Ereignisse sind nicht nur bei der nationalen Identitätsbildung wichtig, sondern stellen auch die inhaltlichen Elemente einer Nation dar. Wenn also eine kollektive Identität nicht vorhanden ist, dann wird auch der Begriff Nation inhaltsleer. Insofern sind Nation und Identität gegenseitige Bedingungen für ihre Existenz und Erfahrbarkeit. Nationale Identität hat ihre Grenzen immer dort, wo andere ethnische und/oder kulturelle Gruppen ausgegrenzt, missachtet und nicht mehr als gleichwertige Gemeinschaften akzeptiert werden. Dann handelt es sich nämlich um eine Form des exklusiven Nationalismus, der von einem demokratischen Staat nicht akzeptiert werden darf. So wichtig ein nationales „Wir-Bewusstsein“ für die Stabilität und Integrität eines politischen Systems ist, so unabdingbar ist auch die Wahrnehmung und Akzeptanz des Anderen.

In dieser Arbeit wird kollektive Identität als ein „Wir-Gefühl“ verstanden, welches sich innerhalb der Gemeinschaft über das kollektive Gedächtnis an bestimmte Ereignisse und Erfahrungen konstituiert und dadurch von anderen Nationen abgrenzt. In der Verbindung zum bereits beschriebenen Nationenverständnis geht es bei der Suche nach einem Zusammengehörigkeitsgefühl nicht um die Ausgrenzung anderer Gruppen, sondern um deren Akzeptanz und Integration in die Gemeinschaft. Als Orientierung dient damit das System des inklusiven Nationalismus.

2.2.2 Politische und kulturelle Identität:

Für die Politikwissenschaft ist neben der nationalen auch die politische Identität von Bedeutung. Politische Identität entsteht durch die Mitgliedschaft einer Gruppe von Menschen in einer politischen Gemeinschaft. Dabei handelt es sich aber meist um „ staatliche Zwangskollektive[58], in welche der einzelne hineingeboren wird und aus welchen er sich nicht befreien kann. Jede Person ist schon durch die Staatsbürgerschaft Mitglied einer politischen Gemeinschaft und damit Bestandteil einer politischen Identität eines Landes. Die Staatsbürger grenzen sich als Mitglieder einer nationalen politischen Gemeinschaft von anderen nationalen Gemeinschaften ab. Im Idealfall identifizieren sie sich mit den politischen und rechtlichen Grundwerten des jeweiligen Landes.[59] Politische Identität kann dabei helfen Identifikationspunkte zu finden, wenn die kulturelle Identität eines Staates nicht für die Herausbildung eines „Wir-Bewusstseins“ ausreicht. In der Bundesrepublik gewannen deswegen der „Wirtschafts-“ und später der „Verfassungspatriotismus“ an Bedeutung.[60] Beide Formen stellen rationale Elemente eines Nationalbewusstseins dar, welches sich nicht auf die eigene Vergangenheit bezieht, sondern auf politische und wirtschaftliche Normen in der Gegenwart. Durch die freiwillige Mitgliedschaft in Parteien oder politischen Verbänden kann das Individuum Teil von weiteren politischen Identitäten werden. Dies ändert aber nichts an einer „übergeordneten politischen Identität“ auf nationaler Ebene. In Demokratien wird politische Identität übersetzt in Möglichkeiten der Einflussnahme auf die politische Entwicklung des Landes. Durch regelmäßige Wahlen oder durch öffentliche Foren und Diskussionsveranstaltungen können die Bürger die Entwicklung des Landes mitbestimmen.[61]

Kulturelle Identität entsteht durch „ Werte, Überlieferungen, Praktiken, Orientierungen, Symbole, Erzählungen, künstlerische Hervorbringung und Formen des Alltagslebens[62] innerhalb einer Gemeinschaft. Diese Faktoren sind für die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung. Wenn alle Mitglieder einer Gruppe die gleichen Werte, Ansichten und Traditionen teilen und sich mit ihnen identifizieren können, kann kulturelle Identität entstehen. Dabei ist insbesondere die Symbolpolitik wichtig für die Herausbildung einer kulturellen Identität. Nicht nur die Nationalhymne oder die Flagge stellen wichtige Identifikationssymbole dar, sondern auch die Hauptstadt mit den wichtigsten Regierungsgebäuden. Sie repräsentieren die politische Ordnung und sind zumeist Zeugnisse der eigenen nationalen Geschichte. Damit können sinnbildlich politische und kulturelle Identität miteinander verbunden und für die Öffentlichkeit sichtbar und erfahrbar gemacht werden. Beide Identitäten sind Teilelemente der nationalen Identität und schaffen zusammen mit den Merkmalen der Nation die Grundlage für die Identifikation der Bürger mit dem eigenen Nationalstaat. In dieser Arbeit wird insbesondere die Symbolpolitik von Bedeutung sein, durch welche ein kollektives Gedächtnis und die politische Ordnung publikumswirksam repräsentiert werden können.

3. Identität und Selbstverständnis in zwei deutschen Staaten (1949-1989)

Die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte im sozialistischen Osten und im demokratischen Westen erschweren auch 16 Jahre nach der Wiedervereinigung die Herausbildung einer gesamtdeutschen kollektiven Identität. Durch fast ein halbes Jahrhundert getrennte Geschichte beider deutscher Staaten und die verschiedenen Werte- und Normvorstellungen haben sich zwei kollektive Identitäten herausgebildet, die sich jeweils über verschiedene Referenzpunkte speisten. Im Sozialismus hat kollektive Identität eine weitaus integrierendere Bedeutung als in einer Demokratie. Aus diesem Grund ist die Funktion politischer Symbole wie der Fahne oder der Hymne viel gewichtiger als bei anderen Staatssystemen. Mit der Wiedervereinigung trafen zwei unterschiedliche kollektive Identitäten aufeinander. Für die Herausbildung eines gesamtdeutschen Nationalgefühls ist deswegen beiderseitiges Verständnis und Geduld für die Erfahrungen der anderen Gruppe nötig. Wie im Theorieteil bereits erwähnt, spielen sowohl das kollektive Gedächtnis als auch politische Symbole für das „Wir-Bewusstsein“ einer Nation eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund sollen in diesem Kapitel Identität und Selbstverständnis, welche sich in beiden deutschen Staaten aus der negativen Abgrenzung zur NS-Zeit sowie dem unterschiedlichen Umgang mit politischen Symbolen entwickelten, analysiert werden.

3.1 Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit:

3.1.1 Bundesrepublik Deutschland:

Die erste Politikergeneration, die ab 1949 die Bundesrepublik regierte, knüpfte an die demokratische Tradition der Weimarer Republik an. Allerdings wandte man sich bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes bewusst gegen die Verfassung der ersten deutschen Demokratie, weil sie die Machtergreifung Hitlers begünstigt hatte. Zu den wichtigsten Veränderungen gehörte die Einführung des Grundrechtskataloges und des föderalen Prinzips. Der Nationalsozialismus wurde als „ Ausrutscher “ oder „ Betriebsunfall[63] der deutschen Geschichte interpretiert und so war der politische Neuanfang nach der Besatzungszeit geprägt von einer vollständigen Abgrenzung gegenüber der NS-Vergangenheit.

[...]


[1] Köhler, Horst: Offen will ich sein – und notfalls unbequem. Ein Gespräch mit Hugo Müller-Vogg, Hamburg, 2004, S. 19.

[2] Der SPIEGEL. Die Deutschland-Party, Deutschland – ein Sommermärchen, Nr. 25, 2006, S. 68 – 81.

[3] Bußmann, Walter: Das deutsche Nationalbewusstsein im 19. Jahrhundert, in: Weidenfeld, Werner (Hrsg.), Die Identität der Deutschen, München, 1983, S. 80 f.

[4] Plessner, Helmuth: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Frankfurt am Main, 1974.

[5] Bialas, Wolfgang (Hrsg.): Die nationale Identität der Deutschen: philosophische Imaginationen und historische Mentalitäten, Frankfurt am Main, 2002.

[6] Fulbrook, Mary: German National Identity after the Holocaust, Cambridge, 1999.

[7] Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Die Identität der Deutschen, München, 1983.

[8] Weidenfeld, Werner: Geschichte und Identität, in: ders. (Hrsg.); Korte, Karl-Rudolf: Deutschland Trendbuch. Fakten und Orientierungen, Bonn, 2001, S. 29 – 58.

[9] Bergem, Wolfgang: Identitätsformationen in Deutschland, Wiesbaden, 2005.

[10] Matussek, Matthias: Wir Deutschen. Warum uns die anderen gern haben können, Frankfurt am Main, 2006.

[11] vgl. dazu: Westle, Bettina: Kollektive Identität im vereinten Deutschland. Nation und Demokratie in der Wahrnehmung der Deutschen, Opladen, 1999, oder: Schneider, Jens: Deutsch sein. Das Eigene, das Fremde und die Vergangenheit im Selbstbild des vereinten Deutschland, Frankfurt am Main, 2001.

[13] Riescher, Gisela: Nation, in: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Kleines Lexikon der Politik, München, 2001, S. 313.

[14] Jurt, Joseph; Mollenhauer, Daniel: Einleitung, in: dies.; Einfalt, Michael; Pelzer, Erich: Konstrukte nationaler Identität. Deutschland, Frankreich und Großbritannien (19. und 20. Jahrhundert), Würzburg, 2002, S. 14.

[15] Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München, 2000, S. 18.

[16] Smith, Anthony D.: National Identity, London, 1991, S. 14.

[17] Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin, 1998, S. 14.

[18] Ebd. S. 14 f.

[19] Bergem, Wolfgang: Nationale Identität – Fatum oder Fiktion?, in: Bialas, Die nationale Identität der Deutschen, S. 19.

[20] Langewiesche, Nation, S. 31 f.

[21] Anderson: Die Erfindung der Nation, S. 15 f.

[22] Estel, Bernd: Nation und nationale Identität. Versuch einer Rekonstruktion, Wiesbaden, 2002, S. 27.

[23] Renan, Ernest: Was ist eine Nation? Vortrag an der Sorbonne, gehalten am 11. März 1882, in: ders., Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften, Bozen, 1995, S. 57.

[24] Meinecke, Friedrich: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, 7. durchgesehene Auflage, München, 1928.

[25] Alter, Peter: Nationalismus, Frankfurt am Main, 1985, S. 19.

[26] Ebd. S. 20.

[27] Wird das Individuum durch die Geburt auf nationalem Territorium zu einem politischen Staatsbürger der Nation, handelt es sich um das ius solis – Prinzip. Bestimmt die ethnische und kulturelle Herkunft des Individuums die Zugehörigkeit zur Nation, handelt es sich um das ius sanguinis – Prinzip. Siehe: Schneider, Deutsch sein, S. 28.

[28] Zimmermann, Klaus F; Hinte, Holger: Zuwanderung und Arbeitsmarkt. Deutschland und Dänemark im Vergleich, Heidelberg, 2005, S. 34.

[29] Riescher, Gisela: Nationalstaat, in: Nohlen, Kleines Lexikon der Politik, S. 316.

[30] Beispiel: Französische Revolution 1789.

[31] Riescher, Nationalstaat, S. 316.

[32] Estel, Nation und nationale Identität, S. 38.

[33] Ebd. S. 67.

[34] Rieger, Günter: Rassismus, in: Nohlen, Kleines Lexikon der Politik, S. 413 f.

[35] Riescher, Gisela: Nationalismus, in: Nohlen, Kleines Lexikon der Politik, S. 314.

[36] Winkler, Heinrich August: Einleitende Bemerkungen, in: ders. (Hrsg.), Nationalismus in der Welt von heute, Göttingen, 1982, S. 7.

[37] Alter, Nationalismus, S. 15.

[38] Backes, Uwe: Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen, 1989, S. 203.

[39] Riescher, Nationalismus, S. 314.

[40] Pfetsch, Frank R: Die Problematik der europäischen Identität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25-26/98, 12. Juni 1998, S. 6.

[41] Schneider, Deutsch sein, S. 18.

[42] Dann handelt es sich um individuelle Identität.

[43] Vgl. dazu: Smith, National Identity, S. 3 ff oder: Pfetsch, Die Problematik der europäischen Identität, S. 3 – 9.

[44] Schwaabe, Christian: Politische Identität und Öffentlichkeit in der EU. Zur Bedeutung des Identitätsdiskurses im post- und abendländischen Europa, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 52, Dezember 2005, S. 425.

[45] Estel, Nation und nationale Identität, S. 46.

[46] Meyer, Thomas: Die Identität Europas. Der EU eine Seele?, Frankfurt am Main, 2004, S. 10.

[47] Die zwei wichtigsten Symbole waren das Hakenkreuz sowie der Hitlergruss. Nicht nur das Hakenkreuz-Symbol diente der Identifikation mit der Ideologie der Nationalsozialisten. Auch durch die gleiche Gestik der Massen beim Hitlergruss entstand schnell ein kollektives „Wir-Gefühl“, welches der Abgrenzung gegenüber Fremden diente und für die Verbreitung der NS-Rassenideologie nützlich war.

[48] Patel, Kiran Klaus: Europas Symbole. Integrationsgeschichte und Identitätssuche seit 1945, in: Internationale Politik, Heft 4, 2004, S. 12.

[49] Beyme, Klaus von: Hauptstadtsuche. Hauptstadtfunktionen im Interessenkonflikt zwischen Bonn und Berlin, Frankfurt am Main, 1991, S. 122.

[50] Ebd. S. 130.

[51] Bergem, Nationale Identität, S. 45.

[52] vgl. dazu: Assmann, Aleida: Das kulturelle Gedächtnis an der Millenniumsschwelle. Krise und Zukunft der Bildung, Konstanz, 2004, S. 5.

[53] Kielmansegg, Peter Graf: Integration und Demokratie, in: Jachtenfuchs, Markus; Kohler-Koch, Beate (Hrsg.): Europäische Integration, Opladen, 1996, S. 55.

[54] Der Kalte Krieg stellte über Jahre eine präsente Gefahr dar. Durch die gemeinsame Bedrohung waren die westlichen Staaten gezwungen, effizienter zusammen zu arbeiten. Auch innerhalb der Gesellschaft sorgte dies für die Herausbildung einer bestimmten kollektiven Identität durch die deutliche Abschottung zum Bedrohungsszenario aus dem Osten. Vgl. dazu: Kielmansegg, Integration und Demokratie, S. 56.

[55] Giesen, Bernhard: Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt am Main, 1993. Seine Darstellung bezieht sich insbesondere auf die Entwicklung der deutschen Nation im 18. und 19. Jahrhundert.

[56] Neisen, Robert: Feindbild, Vorbild, Wunschbild. Eine Untersuchung zum Verhältnis von britischer Identität und französischer Alterität 1814-1860, Würzburg, 2004, S. 25.

[57] Reese-Schäfer, Walter: Einleitung: Identität und Interesse, in: ders. (Hrsg.), Identität und Interesse. Der Diskurs der Identitätsforschung, Opladen, 1999, S. 7.

[58] Meyer, Die Identität Europas, S. 52.

[59] Schwaabe, Politische Identität und Öffentlichkeit in der EU, S. 431.

[60] vgl. dazu Kap. 3.2.1 in dieser Arbeit.

[61] Bergem, Nationale Identität – Fatum oder Fiktion?, S. 45 f.

[62] Meyer, Die Identität Europas, S. 20.

[63] Lutz, Felix Philipp: Geschichtsbewusstsein, in: Weidenfeld, Werner; Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Einheit 1949 – 1989 – 1999, Bonn, 1999, S. 398.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783836606974
Dateigröße
797 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg – Philosophische Fakultät, Wissenschaftliche Politik
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,0
Schlagworte
identität fußball-wm patriotismus geschichte weltmeisterschaft
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