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Deutsche Sicherheitspolitik im Spannungsverhältnis von Multilateralismus und Zurückhaltung

Der Einsatz der Bundewehr in Afghanistan

©2007 Masterarbeit 95 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Problemstellung:
Die Bundeswehr beteiligt sich mit über 3.000 Soldaten an der International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan. Während sich die deutschen Einheiten im relativ ruhigen Norden des Landes auf Stabilisierung und Wiederaufbauarbeit konzentrieren, operieren im Süden und Osten Afghanistans amerikanische, britische und kanadische Truppen militärisch gegen Kräfte der Taliban und der mit ihnen verbundenen Milizen. Bisher hat Deutschland alle Anfragen und Bitten der NATO nach Entsendung eigener Kampf-Einheiten in den Süden zur Unterstützung von Sicherheitsoperationen der ISAF negativ beantwortet. Erst kürzlich lehnte Verteidigungsminister Jung die Verlegung von Militärausbildern der Bundeswehr in den Süden ab, die afghanische Infanterieeinheiten ins Kampfgebiet begleiten sollten. Politische Vorgaben aus Berlin schließen das deutsche ISAF-Kontingent bisher von der aktiven Teilnahme an Kampfeinsätzen der NATO aus. Diese Restriktionen, die den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan begrenzen, stehen im Zentrum meines Forschungsinteresses.
Worin liegen die Beschränkungen des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr begründet, die einen Kampfeinsatz deutscher Soldaten effektiv ausschließen?
Diese Beschränkungen verweisen jenseits rein operativ-militärischer Implikationen auf die politische Dimension des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan, der folglich im weiteren Kontext deutscher Sicherheitspolitik zu betrachten ist. In der Diskussion um das Engagement der Bundeswehr am Hindukusch offenbart sich ein Widerspruch zwischen den militärischen Anforderungen des multinationalen Einsatzes im Rahmen der NATO, und der politischen Durchsetzbarkeit und gesellschaftlichen Akzeptanz entsprechender Leistungen in Deutschland. Dies verweist auf tiefergehende, grundsätzliche Einstellungen zur Legitimität, Angemessenheit und Wirksamkeit militärischer Gewalt durch die Bundesrepublik, die für Art und Umfang der Bundeswehreinsätze entscheidende Bedeutung zu haben scheinen.
Die Hypothese, die meiner Forschungsarbeit zu Grunde liegt, lautet, dass die operativen Beschränkungen der Bundeswehr, die von den politischen Eliten in Deutschland erlassen wurden, eine Folge der strategischen Kultur des Landes sind. Angesichts der historischen Erfahrung und der sicherheitspolitischen Entwicklung der letzten fünfzig Jahre, berührt ein Kampfeinsatz deutscher Streitkräfte noch immer tief verwurzelte Tabus in Politik und Gesellschaft, die einen offensiven […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Georg Löfflmann
Deutsche Sicherheitspolitik im Spannungsverhältnis von Multilateralismus und
Zurückhaltung
Der Einsatz der Bundewehr in Afghanistan
ISBN: 978-3-8366-0662-2
Herstellung: Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2008
Zugl. Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland, MA-Thesis / Master, 2007
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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplomica.de, Hamburg 2008

1
Inhaltsverzeichnis
Seite
Abkürzungsverzeichnis... 3
1. Einleitung: Deutschlands Verteidigung am Hindukusch... 4
1.1. Forschungsfrage... 6
1.2. Theorie... 8
1.3. Methodik und Gliederung... 9
2. Der internationale Einsatz in Afghanistan... 11
2.1. Afghanistan und der 11. September 2001... 11
2.2. Operation Enduring Freedom (OEF) und der Ansatz der USA: Vorrang des
Militärischen... 11
2.3. Die International Security Assistance Force (ISAF): Entstehung, Auftrag und Struktur 12
2.4. Die Entwicklung der Sicherheitslage... 15
2.5. Die doppelte Rolle der NATO in Afghanistan: Militärischer Schutz und ziviler
Wiederaufbau... 18
2.6. Der Einsatz der NATO-Partner im Süden und das Einsatzkonzept Kanadas... 23
3. Die Bundeswehr in Afghanistan... 28
3.1. Verteidigung am Hindukusch - Zwischen Peacekeeping und Kampfeinsatz... 28
3.2. Das deutsche PRT-Konzept: Vorrang des Zivilen... 30
3.3. Der Entsendung der TORNADOS und die Operationen des KSK: Deutschland im
Krieg?...34
3.4. Die Einsatzbeschränkungen der Bundeswehr: ... 37
4. Strategische Kultur und deutsche Sicherheitspolitik... 43

2
4.1. Strategische Kultur und nationaler Stil in der Sicherheitspolitik... 43
4.2. Zivilmacht im Wandel - Multilateralismus und Zurückhaltung
als Leitbilder deutscher Sicherheitspolitik... 48
5. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan vor dem Hintergrund deutscher
strategischer Kultur... 52
5.1. Multilateralismus als Leitbild: Orientierung an Bündnissolidarität und die
,,Normalisierung" deutscher Sicherheitspolitik... 54
5.2. Zurückhaltung als Leitbild: Die Grenzen militärischer Einsatzoptionen ... 56
5.3. Humanitäre Begründung als conditio sine qua non für Kampfeinsätze?... 61
5.4. Die Einstellung der Öffentlichkeit... 63
5.5. Die Transformation der Bundeswehr... 64
5.6. Das Fehlen einer sicherheitspolitischen Grundsatzdebatte in Deutschland... 67
6. Fazit: Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan im Spannungsfeld von
Multilateralismus und Zurückhaltung... 70
7. Literatur- und Quellenverzeichnis... 76

3
Abkürzungsverzeichnis
AA
Auswärtiges
Amt
ANA
Afghan National Army
BMI
Bundesministerium des Innern
BMVg
Bundesministerium der Verteidigung
BMZ
Bundesministerium für Entwicklungshilfe und wirtschaftliche
Zusammenarbeit
CIDA
Canadian International Development Agency
CIMIC Civil
Military
Cooperation
DDR
Disarmament, Demobilization, and Reintegration
ERRF
European Rapid Reaction Force
ESVP
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
EU
Europäische
Union
ISAF
International Security Assistance Force
ISI
Inter-Services
Intelligence
NATO
North Atlantic Treaty Organization
NGO
Nongovernmental Organization
NRF
NATO
Response
Force
OEF
Operation
Enduring
Freedom
OMF
Opposing Militant Forces
OSZE
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
PRT
Provincial Reconstruction Team
RC
Regional
Command
ROE
Rules of Engagement
UN
United Nations
USAID
United States Agency for International Development
VPR
Verteidigungspolitische
Richtlinien

4
1. Einleitung: Deutschlands Verteidigung am Hindukusch
Am 19. Mai 2007 starben drei Soldaten der Bundeswehr, bei einem Selbstmordanschlag im
afghanischen Kunduz. Auf der Trauerfeier für die Getöteten erklärte
Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung: ,,Sie sind ums Leben gekommen, weil sie sich
aktiv für eine bessere und friedlichere Zukunft Afghanistans eingesetzt und damit zur Sicherheit
unseres eigenen Landes beigetragen haben."
1
Die deutschen Soldaten in Afghanistan, so der
Minister weiter, leisteten einen wichtigen Beitrag für Sicherheit und Frieden im Auftrag der
internationalen Staatengemeinschaft.
Die getöteten deutschen Soldaten gehörten zum Bundeswehrkontingent der internationalen
Schutztruppe für Afghanistan (ISAF), die unter dem Kommando der NATO operiert und den
Auftrag hat, Sicherheit und Wiederaufbau des Landes mit militärischen Mitteln zu gewährleisten.
Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan wird dabei in Deutschland nicht erst seit dem
Attentat von Kunduz sehr kontrovers diskutiert. Die Beteiligung an der US-geführten Operation
Enduring Freedom zur Terrorismusbekämpfung gilt bei vielen Abgeordneten im Bundestag
schon seit längerer Zeit als militärische Fehlentwicklung und Synonym für die rücksichtlose
Bombardierung von afghanischen Dörfern. Das Engagement der Bundeswehr im Rahmen der
NATO-geführten Schutztruppe, wird im Parlament zwar mit großer Mehrheit unterstützt, doch
auch der noch überwiegend positiv bewertete ISAF-Einsatz wird immer wieder kritisch
hinterfragt. Berichte über Kampfeinsätze der NATO gegen die Taliban, bei denen immer wieder
auch zivile Opfer zu beklagen sind, lösen regelmäßig Debatten aus, ob die Allianz in Afghanistan
grundsätzlich die richtige Strategie verfolgt.
Dabei werden die Anstrengungen der ISAF für den zivilen Wiederaufbau im Allgemeinen mit
Nachdruck unterstützt und immer wieder wird eine Intensivierung der entsprechenden
Maßnahmen gefordert. Den militärischen Operationen der NATO zur Bekämpfung von Al-Qaida,
Taliban und den mit ihnen verbundenen Milizen steht man in Deutschland hingegen sehr viel
zurückhaltender gegenüber. Die Reaktionen auf den ISAF-Einsatz der Bundeswehr fallen in
1
Rede von Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung, 19. Mai 2007, Köln-Wahn. (Zur Zitierweise: Zitate aus
der Sekundärliteratur sind in der Regel im Fließtext belegt. Primärquellen sind generell in den Fußnoten
wiedergegeben, die Internetadressen von Onlinemedien sind gekürzt wiedergegeben).

5
Parlament und Öffentlichkeit besonders kritisch aus, wenn es um die Beteiligung deutscher
Soldaten an NATO-Einsätzen geht, die der Bekämpfung feindlicher Kräfte dienen. Schon
indirekte deutsche Kampfeinsätze am Hindukusch stoßen auf ein weit verbreitetes Unbehagen. So
forderte der Grünen-Politiker Jürgen Trittin jüngst ein Ende der Mission der TORNADO-
Flugzeuge der Luftwaffe, die in Afghanistan auch taktische Aufklärungseinsätze für die NATO
fliegen.
2
Demgegenüber warnte Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan, solche
Rückzugsabsichten gefährdeten die Fundamente der Solidarität in der transatlantischen Allianz
,
3
und CDU-Fraktionschef Volker Kauder erklärte, wer einen Abzug aus Afghanistan fordere,
,,gefährdet massiv unsere Sicherheit".
4
Im Außenministerium wird derweil eine Erhöhung des
deutschen Truppenkontingents für die Ausweitung der Ausbildungsmaßnahmen der afghanischen
Armee diskutiert, und auch der deutsche UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Volker Koenigs
fordert mehr westliche Truppen, um sich der Herausforderung durch die Taliban zu stellen.
5
Welche politischen und militärischen Konsequenzen hat die ,,Verteidigung Deutschlands am
Hindukusch"? Welches Verhältnis zwischen zivilem Wiederaufbau und militärischer
Aufstandsbekämpfung soll die NATO-Strategie bestimmen? Welche militärischen Maßnahmen
Deutschlands sollen im Rahmen der Allianz erfolgen um das Land zu stabilisieren und welche
Leistungen gebietet die Bündnissolidarität? All diese Fragen sind Gegenstand der anhaltenden
Diskussion in Deutschland zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Im Zentrum der
Kontroverse steht dabei letztlich die Frage der Beteiligung deutscher Soldaten an Kampfeinsätzen
der NATO.
In der Vergangenheit wurden deutsche Soldaten vorwiegend zu Wiederaufbau-, Überwachungs-
und Stabilisierungsmissionen herangezogen, die militärische Bekämpfung gegnerischer Kräfte
bildete in den bisherigen Auslandseinsätzen der Streitkräfte eine absolute Ausnahme. Erst
zweimal kam es seit 1945 zu aktiven Kampfeinsätzen deutscher Soldaten, die unter Einsatz
2
,,Trittin fordert Ende des Tornado-Einsatzes", Der Spiegel, 12. August 2007,
http://www.spiegel.de
; 14.08.2007.
3
,,Trittin fordert Ende des Tornado-Einsatzes", Der Spiegel, 12. August 2007,
http://www.spiegel.de
; 14.08.2007.
4
Interview mit Volker Kauder, Der Tagesspiegel, 11. August 2007, in:
http://www.tagesspiegel.de
; 14.08.2007.
5
Interview mit Volker Koenigs, Der Spiegel, 29. Juli 2007, in:
http://www.spiegel.de
; 14.08.2007.

6
eigener Waffen durchgeführt wurden.
6
Auf Grund dieser Entwicklung wurde die Bundeswehr
mitunter auch als ,,bewaffnetes Technisches Hilfswerk" tituliert. Die deutsche Öffentlichkeit ist
an ein ,,ziviles" Bild der Bundeswehr gewöhnt, deren Soldaten als freundliche Helfer der lokalen
Bevölkerung auftreten, Schulen und Krankenhäuser errichten und sich wohltuend vom
martialischen Auftreten anderer Nationen abheben. Tatsächlich trug der überwiegend humanitäre
und ,,zivile" Charakter der bisherigen Auslandseinsätze wesentlich zur Akzeptanz der neuen
Rolle der Bundeswehr in Politik und Gesellschaft bei. Und auch die ISAF-Mission in
Afghanistan wurde unter der Prämisse einer solchen Peacekeeping-Rolle der deutschen
Streitkräfte begonnen. Doch je mehr die militärischen Operationen der NATO in Afghanistan,
Züge einer offensiven Kriegsführung annehmen und je stärker eine deutsche Beteiligung an
diesen Einsätzen diskutiert wird, desto größer scheinen die Zweifel am Engagement der
Bundeswehr zu werden. Verfolgt man die Debatten im Deutschen Bundestag sowie die
Berichterstattung in den Medien, so erscheint eine Entsendung deutscher Truppen zu aktiven
Kampfeinsätzen in Afghanistan mit dem entsprechenden Risiko gefallener und verwundeter
Soldaten praktisch undenkbar. Dies verweist darauf, dass die ,,Normalisierung" deutscher
Sicherheitspolitik bisher noch nicht das volle Spektrum militärischer Einsatzoptionen umfasst.
Der Einsatz von Kampfeinheiten am Boden, mit Ausnahme des weitgehend unter Ausschluss der
Öffentlichkeit operierenden KSK, ist bisher ein Ernstfall, der für Deutschland nicht eingetreten ist
und auf den weder die politischen Eliten des Landes noch die Öffentlichkeit vorbereitet scheinen.
1.1. Forschungsfrage
Die Bundeswehr beteiligt sich mit über 3.000 Soldaten an der International Security Assistance
Force (ISAF) in Afghanistan. Während sich die deutschen Einheiten im relativ ruhigen Norden
des Landes auf Stabilisierung und Wiederaufbauarbeit konzentrieren, operieren im Süden und
Osten Afghanistans amerikanische, britische und kanadische Truppen militärisch gegen Kräfte
der Taliban und der mit ihnen verbundenen Milizen. Bisher hat Deutschland alle Anfragen und
Bitten der NATO nach Entsendung eigener Kampf-Einheiten in den Süden zur Unterstützung von
Sicherheitsoperationen der ISAF negativ beantwortet.
7
Erst kürzlich lehnte Verteidigungsminister
6
Die Teilnahme an Luftschlägen der NATO gegen Serbien (Operation Allied Force), an denen die Luftwaffe mit
ECR-TORNADOS zur Bekämpfung der serbischen Luftabwehr beteiligt war und die Operationen des Kommandos
Spezialkräfte der Bundeswehr in Afghanistan im Rahmen von Operation Enduring Freedom.
7
,,De Hoop Scheffer attackiert Kampf-Verweigerer", 28.November 2006,
http://www.spiegel.de
; 15.08.2007

7
Jung die Verlegung von Militärausbildern der Bundeswehr in den Süden ab, die afghanische
Infanterieeinheiten ins Kampfgebiet begleiten sollten.
8
Politische Vorgaben aus Berlin schließen
das deutsche ISAF-Kontingent bisher von der aktiven Teilnahme an Kampfeinsätzen der NATO
aus. Diese Restriktionen, die den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan begrenzen, stehen im
Zentrum meines Forschungsinteresses.
Worin liegen die Beschränkungen des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr begründet, die einen
Kampfeinsatz deutscher Soldaten effektiv ausschließen?
Diese Beschränkungen verweisen jenseits rein operativ-militärischer Implikationen auf die
politische Dimension des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan, der folglich im weiteren Kontext
deutscher Sicherheitspolitik zu betrachten ist. In der Diskussion um das Engagement der
Bundeswehr am Hindukusch offenbart sich ein Widerspruch zwischen den militärischen
Anforderungen des multinationalen Einsatzes im Rahmen der NATO, und der politischen
Durchsetzbarkeit und gesellschaftlichen Akzeptanz entsprechender Leistungen in Deutschland.
Dies verweist auf tiefergehende, grundsätzliche Einstellungen zur Legitimität, Angemessenheit
und Wirksamkeit militärischer Gewalt durch die Bundesrepublik, die für Art und Umfang der
Bundeswehreinsätze entscheidende Bedeutung zu haben scheinen.
Die Hypothese, die meiner Forschungsarbeit zu Grunde liegt, lautet, dass die operativen
Beschränkungen der Bundeswehr, die von den politischen Eliten in Deutschland erlassen wurden,
eine Folge der strategischen Kultur des Landes sind. Angesichts der historischen Erfahrung und
der sicherheitspolitischen Entwicklung der letzten fünfzig Jahre, berührt ein Kampfeinsatz
deutscher Streitkräfte noch immer tief verwurzelte Tabus in Politik und Gesellschaft, die einen
offensiven Einsatz militärischer Mittel erheblich einschränken. Daher ist die Bundeswehr,
operativen Restriktionen unterworfen, die eine entsprechende militärische Verwendung effektiv
ausschließen. Die politische Grundlage für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ist dabei
8
,,Jung lehnt Verlegung deutscher Soldaten ins Kampfgebiet ab", 4. Mai 2007,
http://www.spiegel.de
;
06.07.2007.

8
das Leitbild der Multilateralismus, das militärische Engagement ist sichtbarer Ausdruck der
internationalen Verantwortung und der aktiven Bündnissolidarität Deutschlands. Gleichzeitig
wird aber versucht, das Einsatzprofil der deutschen Soldaten am Leitbild der militärischen
Zurückhaltung zu orientieren, das für die Sicherheitspolitik Deutschlands auch weiterhin von
großer Bedeutung ist. Zurückhaltung bedeutet dabei nicht mehr die vollständige Abstinenz von
internationalen Einsätzen, aber nach Möglichkeit die Minimierung der klassischen Einsatzrolle
des Militärs als Kampfinstrument. Da nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts beide Leitbilder der
strategischen Kultur Deutschlands nicht mehr kongruent zueinander stehen, aber weiterhin
parallel für die Formulierung sicherheitspolitscher Entscheidungen relevant sind, kommt es zu
Inkonsistenzen und Widersprüchen, wie sie an den Einsatzbeschränkungen der Bundeswehr
deutlich werden.
1.2. Theorie
Strategische Kultur umfasst nach allgemeingültiger Definition die in einem Staat herrschenden,
kollektiv geteilten Ansichten über die sicherheitspolitische Rolle des Staates und die Legitimität,
Angemessenheit und Wirksamkeit des Einsatzes militärsicher Gewalt, sowie Begrenzungen und
Präferenzen für den Einsatz militärischer Mittel zur Abwehr von Bedrohungen.
9
Speziell im
anglo-amerikanischen Raum operieren Forscher mit dem Konzept der strategischen Kultur zur
Analyse der Entwicklung deutscher Sicherheitspolitik seit Ende des Kalten Krieges.
10
Kontinuität
und Wandel der deutschen Sicherheitspolitik werden vor dem Hintergrund der zentralen
Leitbilder des strategischen Denkens der verantwortlichen politischen Eliten untersucht. Diese
Eliten sind zunächst die Mitglieder der strategic community, die in Deutschland neben den
Vertretern der Exekutive in Bundeskanzleramt, Bundesaußenministerium und
Bundesverteidigungsministerium, vor allem die Abgeordneten in den Bundestagsausschüssen für
Außen- und Verteidigungspolitik umfassen. Im weiteren Sinne ist hier der Deutsche Bundestag
als Ganzes gemeint, der über den Einsatz der ,,Parlamentsarmee" Bundeswehr entscheidet (Vgl.
Dalgaard-Nielsen 2006: 15-17).
Aus der Orientierung an bestimmten Leitbildern, die für ihr strategisches Denken konstitutiv sind,
folgen Implikationen für die politischen Entscheidungen der deutschen Eliten zum Einsatz der
9
Vgl. die entsprechenden Definitionen strategischer Kultur bei Johnston (1995b); Lantis (2002b); Longhurst (2004).
10
Vgl. Berger (1998); Dalgaard-Nielsen (2006); Duffield (2001); Longhurst (2004).

9
Streitkräfte. Dabei konzentriert sich die Forschung im Wesentlichen auf zwei Merkmale, die für
den Einsatz des deutschen Militärs spezifischen Charakter haben: Zum einen die multilaterale
Grundorientierung, die in Deutschland für den Einsatz der Bundeswehr bestimmend ist und dem
Wert der Bündnissolidarität ein sehr hohes Maß an Legitimität zuweist. Zum anderen werden,
angesichts einer weit verbreiteten pazifistischen Grundhaltung, die grundsätzliche Bereitschaft in
Deutschland thematisiert die Streitkräfte als Instrument der Sicherheitspolitik einzusetzen, sowie
der Umfang in dem dies geschieht, bzw. die Restriktionen mit denen dies verknüpft ist. Dieser
zweite Komplex kann mit dem Begriff der ,,Kultur der Zurückhaltung" überschrieben werden.
Das von Hans W. Maull entwickelte Konzept der ,,Zivilmacht" ist dabei das grundlegende
Modell zum Verständnis der Rolle Deutschlands in der Außen- und Sicherheitspolitik, das diese
beiden Leitbilder strategischer Kultur in sich vereint. (vgl. Maull 1990; 2000; 2006a/b). Gerade
der relativ neue Aspekt der Pluralisierung und Dynamisierung in der Interpretation der
sicherheitspolitischen Leibilder in Deutschland wird dabei von mir als theoretische Perspektive
aufgegriffen. Die vorliegende Untersuchung operiert auf der Grundlage, dass wir nicht mehr von
einer kohärenten und uniformen strategischen Kultur des Landes ausgehen können, sondern
unterschiedliche Gruppierungen der politischen Eliten einzelne Leitbilder, verschieden stark
akzentuieren, was bei der Analyse deutscher Sicherheitspolitik berücksichtigt werden sollte (Vgl.
Dalgaard-Nielsen 2006: 12-14; Longhurst 2004: 18-19).
1.3. Methodik und Gliederung
Die vorliegende Arbeit stützt sich auf ausgewählte Primär- und Sekundärquellen, sowie die
umfangreiche Forschungsliteratur zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands und
zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Die Untersuchung konzentriert sich auf die
Beteiligung der Bundeswehr an der ISAF, da die operativen Restriktionen für diesen Einsatz
wirksam sind und die Rolle Deutschlands in OEF in diesem Zusammenhang nur illustrierenden
Charakter hat.
Zunächst soll der Einsatz der Bundeswehr in den Kontext der internationalen Militärpräsenz in
Afghanistan eingeordnet werden, um klar zu bestimmen, vor welchem politischen und
militärischen Hintergrund sich das deutsche Engagement vollzieht. Eine kurze Schilderung von

10
OEF und ISAF sind hierin ebenso enthalten wie ein Abriss über die Entwicklung der
Sicherheitslage in Afghanistan, die eine Intensivierung militärischer Operationen erst erforderlich
machte. Insbesondere wird dann auf Struktur, Rolle und Auftrag der NATO in Afghanistan
eingegangen, die den operativen Rahmen des Bundeswehreinsatzes vorgibt und in deren
Strukturen das deutsche ISAF-Kontingent eingebettet ist. Im Zentrum der Arbeit steht dann die
detaillierte empirische Studie des deutschen ISAF-Einsatzes und dessen Analyse auf Grundlage
des theoretischen Modells der strategischen Kultur. Zunächst wird der Einsatz der Bundeswehr
hier anhand dreier, zentraler Indikatoren beschrieben: Die Struktur der deutschen PRTs, die
Beteiligung der Bundeswehr an Sicherheitsoperationen der NATO und die konkreten operativen
Einsatzbeschränkungen des Bundeswehrkontingents. Hierbei wird versucht ein möglichst
umfassendes Bild des deutschen Militäreinsatzes am Hindukusch zu zeichnen.
Um die so erfassten empirischen Indikatoren dann in einen sinnvollen analytischen
Zusammenhang bringen zu können, wird zunächst das theoretische Konzept der strategischen
Kultur vorgestellt, unter besonderer Berücksichtigung der Forschungsliteratur zu Deutschland.
Auf dieser Grundlage erfolgt dann die abschließende Analyse des Afghanistaneinsatzes als
strategischem Dilemma deutscher Sicherheitspolitik. Hierbei wird versucht die widersprüchliche
Bedeutung der Leitbilder von Multilateralismus und Zurückhaltung für die Gestaltung des ISAF-
Einsatzes der Bundeswehr, anhand der Analyse der entsprechenden Entscheidungs- und
Legitimationsprozesse der politischen Eliten nachzuweisen. Dabei wird der Afghanistaneinsatz in
den allgemeinen Kontext deutscher Sicherheitspolitik gestellt, wobei die Einstellungen der
einzelnen Gruppierungen der politischen Eliten zu Kampfeinsätzen der Bundeswehr entscheidend
sind. Weitere Indikatoren wie der Transformationsprozess der Bundeswehr, die öffentliche
Meinung zu Kampfeinsätzen in Deutschland, oder die Bedeutung einer humanitären Legitimation
für militärische Operationen der Bundeswehr, sollen die These von der Wirkung strategischer
Kultur auf die Formulierung der Sicherheitspolitik des Landes zusätzlich bekräftigen. Die
akademische Erörterung des Fehlens einer sicherheitspolitischen Grundsatzdebatte in
Deutschland, mit deren Darstellung die vorliegende Arbeit inhaltlich schließt, ist mit dem
Afghanistaneinsatz eng verknüpft und greift mehrere der zuvor behandelten Punkte noch einmal
auf.

11
2. Der internationale Einsatz in Afghanistan
2.1. Afghanistan und der 11. September 2001
Das aktuelle politische und militärische Engagement der internationalen Staatengemeinschaft in
Afghanistan geht zurück auf die Terroranschläge des 11. Septembers 2001. Die Attentäter von
New York und Washington wurden bereits kurz nach den Anschlägen als Mitglieder des
Terrornetzwerkes Al-Qaida, des aus Saudi-Arabien stammenden Islamistenführers Osama bin
Laden identifiziert.
11
In Afghanistan hatte Al Qaida seit Mitte der 1990er Jahre, Lager
unterhalten, die zur Ausbildung von islamistischen Kämpfern aus der ganzen Welt dienten. Hier
ideologisch geschult und zur Durchführung von Terroranschlägen angeleitet, wurden sie
anschließend zurück in ihre Heimatländer entsandt, um den Dschihad gegen die ,,Feinde des
Islam" weiter zu führen (vgl. Dietel 2004: 209). Die Kämpfer um Bin Laden operierten dabei
unter dem Schutz der radikal-islamischen Taliban die 1996 nach der Eroberung der Hauptstadt
Kabul, die Macht in Afghanistan an sich gerissen hatten und ca. 90% des afghanischen
Territoriums kontrollierten. Al Qaida konnte das Land praktisch uneingeschränkt als
Operationsbasis nutzen und genoss sowohl Schutz als auch logistische Unterstützung durch ihre
Gastgeber (9/11 Commission Report 2004: 65-66). Als die USA nach dem 11. September
Forderungen stellten Bin Laden auszuliefern weigerten sich die Taliban dem Folge zu leisten und
provozierten so den militärischen Angriff auf das Land.
2.2. Operation Enduring Freedom (OEF) und der Ansatz der USA: Vorrang des Militärischen
Die militärische Reaktion der USA auf die Anschläge vom 11. September erfolgte wenige
Wochen später: Am 7. Oktober 2001 begann ,,Operation Enduring Freedom" mit massiven
Luftangriffen auf afghanisches Territorium. Der UN-Sicherheitsrat hatte in seinen Resolutionen
1368 und 1373 die Anschläge von New York und Washington zur Bedrohung des Weltfriedens
erklärt und die USA damit zu Selbstverteidigungsmaßnahmen nach Art. 51 der UN-Charta
ermächtigt.
12
Im Zusammenwirken der totalen Überlegenheit und immensen Feuerkraft der
amerikanischen Luftstreitkräfte mit dem Einsatz von Special Forces und den verbündeten
Truppen der Nordallianz am Boden konnte der Widerstand der Taliban bald gebrochen werden.
Die Kämpfer der Nordallianz konnten bereits am 13. November 2001, Kabul einnehmen; am 7.
11
Für eine detaillierte Übersicht zur Ideologie, Struktur und Entwicklung von Al Qaida, vgl. Hirschmann (2004).
12
United Nations Security Council Resolution 1368, 12. September 2001; 1373, 28.September 2001, UN (2001).

12
Dezember fiel Kandahar, die Taliban-Hochburg im Süden (vgl. Lambeth 2005: xvii-xix). Die
Kämpfe konzentrierten sich fortan auf die unzugängliche Bergregion des afghanisch-
pakistanischen Grenzraumes im Gebiet Tora-Bora, wohin sich die Reste der Taliban und Al
Qaida zurückgezogen hatten.
13
Ende 2001 schien es jedoch als hätten die USA in kürzester Zeit
einen beeindruckenden Sieg errungen.
Nach dem Ende der größeren Bodenoperationen verblieb
nur noch eine kleinere Anzahl von amerikanischen Einheiten (ca. 4.000 Mann) in Afghanistan um
weiterhin gegen die Taliban und Al Qaida vorzugehen. Dabei wurden die USA von einer Reihe
militärischer Spezialeinheiten aus anderen Ländern unterstützt, u.a. dem deutschen Kommando
Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr.
Von Anfang an hatten die US-geführten Operationen in Afghanistan im Rahmen von OEF einen
klar formuliertes militärisches Ziel. Das Aufspüren und Töten mutmaßlicher Terroristen und
sonstiger Aufständischer (vgl. Feickert 2006: Summary). Wiederaufbau und Stabilisierung
Afghanistans nach dem Ende der Taliban-Herrschaft waren ursprünglich nicht Bestandteil des
Auftrages der US-Streitkräfte, die nach dem Willen der Bush-Administration explizit nicht zum
Peacekeeping und Nationbuilding eingesetzt werden sollten (Woodward 2003: 299). Bis heute
operieren die amerikanischen Truppen unter einem primär militärisch orientierten Auftrag, der
die Bekämpfung und Vernichtung feindlicher Kräfte zum obersten Ziel hat. Die enge
Kooperation von Special Forces am Boden mit dem Einsatz von Luftstreitkräften wurde dabei zu
einem Markenzeichen der Militäroperationen der USA in Afghanistan; eine Taktik, die sich als
militärisch sehr effektiv erwies (Lambeth 2005: xxiii), aber auch immer wieder Verluste in der
Zivilbevölkerung zur Folge hatte und deshalb bis heute immer wieder in der Kritik steht.
14
2.3. Die International Security Assistance Force ­ ISAF: Entstehung, Auftrag und Struktur
Auf der Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn (27. November - 5. Dezember
2001) wurde unter Schirmherrschaft der UN und unter Einschluss der Vertreter der verschiedenen
Gruppierungen in Afghanistan, ein Plan zum Wiederaufbau des Landes ausgearbeitet. Eine
Übergangsverwaltung wurde eingesetzt, in einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren sollten
13
Zu den Einzelheiten der militärischen Operationsführung in Afghanistan im Rahmen von OEF, vgl. Lambeth
(2005).
14
,,Jung ruft zur Mäßigung auf", Süddeutsche Zeitung, 27. Juni 2007,
http://www.sueddeutsche.de
; 27.06.2007.

13
Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abgehalten werden sowie eine Verfassung ausgearbeitet
werden. Die internationale Schutztruppe für Afghanistan wurde am 20. Dezember 2001 durch die
Resolution 1386 des UN-Sicherheitsrates ins Leben gerufen. Ihr ursprünglicher Auftrag war es,
der afghanischen Übergangsverwaltung unter dem späteren Präsidenten Harmid Karzai dabei zu
helfen, eine sicheres Umfeld in Kabul und der unmittelbaren Umgebung zu schaffen und eine
stabile Sicherheitslage aufrechtzuerhalten, um den eingeleiteten politischen
Stabilisierungsprozess abzusichern (vgl. van Heyst 2005: 309). Die Beschränkung auf den
Großraum Kabul wurde gerade auch von den USA gefordert, da man im Pentagon keine
Behinderung der OEF-Operationen durch die Präsenz einer internationalen Friedenstruppe
riskieren wollte. Ursprünglich war die ISAF damit eine auf robustes Peacekeeping ausgerichtete
Truppe, die sich in ihrem begrenzten Einsatzraum ganz auf Stabilisierungsoperationen
konzentrierte.
15
Zu den Aufgaben der ISAF zählten hier die Durchführung von Patrouillen im
Stadtgebiet von Kabul, Informationsarbeit zur Aufklärung der lokalen Bevölkerung, die
Beseitigung von Kampfmitteln, die Zusammenarbeit mit afghanischen Regierungsbehörden und
NGOs zur Unterstützung von Entwicklungsprojekten, und die Unterstützung und Ausbildung der
afghanischen Sicherheitskräfte.
16
Im Laufe der Zeit wurde das Mandat der ISAF jedoch kontinuierlich ausgeweitet, wodurch sich
Art und Umfang ihres Auftrages veränderten. Die NATO übernahm im August 2003 die
Kommandoverantwortung für den ISAF-Einsatz. Damit wurde das bis dato bestehende
Rotationsprinzip beendet, nach dem die Führung des Einsatzes alle sechs Monate auf eine andere
Nation überging. Durch Resolution 1510 des UN-Sicherheitsrates vom 13. Oktober 2003 wurde
das Mandat der ISAF über Kabul hinaus auf das gesamte Gebiet Afghanistans erweitert. Auf dem
Gipfeltreffen der NATO in Istanbul (28./29. Juni 2004) wurde vereinbart, das erweiterte Mandat
der UN durch die NATO wahrzunehmen. Gegenwärtig hat die ISAF unter NATO-Kommando
15
Robustes Peacekeeping bezeichnet Einsätze zur Friedenssicherung, die vom Konsensprinzip abweichen und
militärische Erzwingungsmaßnahmen beinhalten können, vgl.
http://www.politikwissen.de/lexikon/peacekeeping.html
; 06.08.2007. Vgl. auch Gareis (2002).
16
Siehe hierzu die Analyse von ISAF III unter deutsch-niederländischer Führung durch den ehemaligen
Kommandeur, Norbert van Heyst ( Heyst 2005).

14
eine Stärke von ca. 35.000 Soldaten.
17
Die größten Truppensteller sind die USA (17.000),
Großbritannien (5.200), Deutschland (3.000), Italien (1.950) und Frankreich (1.000).
18
Die Kommandoübertragung an die Allianz markierte den Beginn eines Erweiterungsprozesses,
der die ISAF operativ vor neue Herausforderungen stellte und sie erstmals auch in den Einsatz
gegen feindliche militante Kräfte führte (Opposing Militant Forces - OMF).
19
Zunächst erhielt
die ISAF im Oktober 2003 die Erlaubnis, auch Provincial Reconstruction Teams (PRTs) zu
integrieren, worauf hin bestehende nationale Wiederaufbauteams in die ISAF überführt wurden.
Ursprünglich hatten die USA das PRT-Konzept ins Leben gerufen und dieses neue Instrument der
CIMIC zum Bestandteil der Sicherheitsstrategie für Afghanistan gemacht.
20
Damit war
Washington der Erkenntnis gefolgt, dass allein ein militärisches Niederkämpfen von Taliban und
Al Qaida nicht ausreichen würde, um in Afghanistan eine dauerhafte Stabilisierung zu erreichen.
Für eine Nationbuilding und Peacekeeping Strategie nach dem Vorbild der Bosnien- und
Kosovoeinsätze fehlten allerdings die erforderlichen Mittel und die entsprechende politische
Bereitschaft der USA und ihrer Verbündeter. Als Reaktion darauf wurde ein Konzept zur
Schaffung von ,,Stabilitätsinseln" in ausgewählten strategischen Knotenpunkten erarbeitet
(Schmunk 2005: 337). Die regionalen Wiederaufbauteams der USA bestanden aus ca. 100 Mann
militärischem (80) und zivilem (20) Personal, die den Auftrag hatten, die Autorität der
Zentralregierung in Kabul zu stärken, die Sicherheitslage zu verbessern und
Wiederaufbauprojekte zu fördern (Perito 2005: 2). Ursprünglich waren sie als Ergänzung zu den
auf Kabul konzentrierten Bemühungen der ISAF gedacht gewesen, doch schon bald übernahmen
weitere Staaten eigene PRTs und drängten darauf diese in die Schutztruppe einzubringen.
17
Hinzu kommen noch ca. 5.500 Soldaten in nationalen Kontingenten, die nicht unter ISAF-Kommando stehen.
18
Fact Sheet: ISAF Key Figures, Stand: 31. Mai 2007, http://www.nato.int/isaf/docu/epub/pdf/isaf_placemat.pdf;
05.08.2007.
19
Unter dieser Bezeichnung werden Taliban, Al-Qaida und weitere Milizen zusammengefasst, die militärisch gegen
die afghanische Zentralregierung in Kabul und die internationalen Truppen operieren, auch die Bezeichnung Neo-
Taliban wird mitunter verwendet (vgl. Paris 2007: 38).
20
Die ersten PRT's der USA entstanden im November 2002 in Gardez und im Frühjahr 2003 in Bamian, Kunduz,
Masar-e-Sharif , Kandahar und Herat (Perito 2005: 2).

15
Im September 2004 wurde Phase I der regionalen Ausweitung abgeschlossen. Die zehn
nördlichen Provinzen und fünf regionalen Wiederaufbauteams waren nun Bestandteil der ISAF
(RC Nord). Verantwortlich für diesen Kommandobereich war die deutsche Bundeswehr, die
bereits seit September 2003 das PRT in Kunduz unterhielt. Im Februar 2005 folgte Phase II, der
Westen Afghanistans mit vier weiteren Provinzen und vier PRTs (RC West) unter dem
Kommando Italiens. Im Juli 2006 kamen die sechs südlichen Provinzen mit ebenfalls vier
Wiederaufbauteams hinzu (RC South). Das Kommando rotiert hier zwischen Großbritannien,
Kanada und den Niederlanden, die auch das Gros der Truppen in den südlichen Provinzen stellen.
Schließlich, im Oktober 2006. erhielt die ISAF mit der Überantwortung der östlichen Provinzen
und den dort stationierten zwölf PRTs und Soldaten unter dem Kommando der USA (RC East),
die operative Gesamtverantwortung für ganz Afghanistan. Der ursprüngliche Einsatzraum in und
um Kabul (RC Central) wird von Frankreich kommandiert. Die Ausweitung des NATO-
Engagements in den Süden und Osten des Landes wird von Seiten der Allianz als entscheidender
Faktor für die Stabilisierung Afghanistans gesehen (NATO Parliamentary Assembly 2006: 6).
Gleichzeitig gilt die ISAF Mission als Testfall für die ,,neue" NATO (Gallis 2006; Walker 2006):
Die politische Relevanz und militärische Durchsetzungskraft der transatlantischen Allianz als
globalem Sicherheitsdienstleister im 21. Jahrhundert wird auch abhängig gemacht von dem
Erfolg des Afghanistaneinsatzes.
21
2.4. Die Entwicklung der Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich seit 2005 erheblich verschlechtert. Fast täglich
werden Anschläge und Überfälle gemeldet, es kommt vermehrt zum Einsatz von
Selbstmordattentätern und Sprengfallen nach irakischem Muster. Die immer wieder
aufflammenden Gefechte zwischen den Aufständischen und Truppen der NATO und der
afghanischen Armee (ANA) sind die heftigsten seit dem Fall der Taliban 2001. Hauptprobleme
sind neben der Bedrohung durch militante Kräfte, die Schwäche der Zentralregierung in Kabul,
insbesondere in den entlegenen Provinzen im Süden und Osten des Landes.
22
Auf Grund des
verschlechterten Sicherheitsumfeldes stagnieren dort zudem die Wiederaufbaubemühungen in
den ländlichen Gebieten. Endemische Korruption und fehlende Infrastruktur unterminieren das
Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung. Im Süden Afghanistans herrscht laut eines Berichts
21
Zur Transformation der NATO zu einer globalen Sicherheitsagentur, vgl. Adam (2007).
22
Vgl. die Analysen zur Sicherheitslage bei Bergen (2007); Gallis (2006); Scott (2007); Smith (2005).

16
des SENLIS Council für Entwicklungs- und Sicherheitspolitik eine humanitäre Krise: Armut und
Hunger machen die verbitterten Afghanen anfällig für die Versprechungen der Taliban, welche
versuchen die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen.
23
Die Reform des Sicherheitssektors, insbesondere der Aufbau der afghanischen Polizei und die
Reform des Justizwesens sind ebenfalls hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Dies trägt zur
negativen Entwicklung im Süden bei (NATO Parliamentary Assembly 2006: 3). Die
Bundesrepublik Deutschland, die ursprünglich die Verantwortung für die Polizeiausbildung inne
hatte, war immer wieder für die unzureichenden Anstrengungen in diesem Bereich kritisiert
worden (vgl. Scott 2007: 9; Sedra 2003: 32-39). Die Situation scheint sich auch nach der
mittlerweile erfolgten Übernahme der Polizei-Mission durch die EU nicht spürbar verbessert zu
haben. In einem offiziellen Bericht an den UN-Sicherheitsrat zur Entwicklung der Lage in
Afghanistan wird der Zusammenhang zwischen diesen Faktoren und der Gewalteskalation klar
erkannt: "The Afghan leadership observed that the growth of the insurgency had been fed by the
failure of the Government of Afghanistan and the international community to provide basic
services, governance and security to rural communities" (UN 2006: 3).
Ein weiterer bedeutender Destabilisierungsfaktor ist der Einfluss der Drogenwirtschaft.
Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt und zugleich der weltgrößte Produzent von
Opium. 2006 kamen 92% des weltweit angebauten Opiums aus Afghanistan. Die Einnahmen aus
dem Drogenanbau und Export belaufen sich auf über 3Mrd. US$ und machen über die Hälfte des
Bruttosozialprodukts des Landes aus (UN 2007: 195-200). Eine Studie der Stiftung Wissenschaft
und Politik kommt zu dem Schluss, dass der Einfluss der Drogenökonomie das politische System
bis in die höchsten Regierungsspitzen korrumpiert und mafiöse Verflechtungen zwischen
Drogenhändlern und grenzüberschreitenden Netzwerken verschiedener Aufstandsgruppen
befördert (Maaß 2007a: 21).
Dennoch haben die Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft auch einige Erfolge
aufzuweisen: Ca. 5 Millionen Flüchtlinge sind seit 2001 nach Afghanistan zurückgekehrt. Es
23
"Hunger Crisis: Extreme Poverty in Afghanistan", SENLIS Council (2006: Kp. II).

17
wurden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abgehalten und eine Verfassung ausgearbeitet.
Damit ist der Petersberg-Prozess zur politischen Transformation formal abgeschlossen. Der sich
anschließende Afghanistan Compact, verabschiedet am 1. Februar 2006 auf einer internationalen
Konferenz in London, nennt die wesentlichen Ziele für die zukünftige Entwicklung des Landes:
Sicherheit, Governance, Rechtstaatlichkeit, wirtschaftliche und soziale Entwicklung und
Drogenbekämpfung.
24
Auch die Reform des Sicherheitssektors macht in Teilen Fortschritte. Der
Aufbau der afghanischen Armee schreitet voran und gegenwärtig kann die Regierung Karzai ca.
35.000 Mann aufbieten, die verhältnismäßig gut ausgerüstet und ausgebildet, in der Lage sind
gemeinsame Operationen mit den internationalen Verbündeten durchzuführen. Bis 2009 wird
eine Aufstockung der Truppen auf fünf Armeecorps mit 70.000 Soldaten angestrebt. Umfragen
vom Dezember 2006 zeigen, dass die afghanische Bevölkerung trotz zahlreicher Rückschläge
und enttäuschter Erwartungen der Präsenz der ausländischen Truppen und dem
Wiederaufbauprozess weiterhin überwiegend positiv gegenübersteht.
25
Gleichzeitig zeigen die Umfragen, dass die Destabilisierung im Süden und Osten als ernste
Bedrohung aller bisherigen Entwicklungserfolge gesehen werden muss. Die Taliban haben sich
neu formiert und profitieren von den Einnahmen aus dem blühenden Drogenhandel, den sicheren
Rückzugsgebieten in Pakistan und den schleppenden Wiederaufbaubemühungen der
internationalen Gemeinschaft, die die Zivilbevölkerung desillusionieren. Finanzielle
Zuwendungen aus dem Nahen Osten und die Einnahmen aus dem Drogenhandel erlauben es
Taliban und Al Qaida ihren Krieg weiterzuführen. So erhält ein durchschnittlicher Milizionär
100$ pro Monat, während ein afghanischer Regierungssoldat nur 70$ verdient (Berger 2007: 22-
23). Die islamistischen Kämpfer nutzen nach wie vor das Territorium des benachbarten Pakistan
als Rückzugsraum und Ausgangspunkt für ihre Vorstöße nach Afghanistan. Dabei scheinen Teile
der pakistanischen Sicherheitskräfte die Taliban und die mit ihnen kooperierenden Milizen
weiterhin zu protegieren.
26
Präsident Pervez Musharraf ist offenbar weder willens noch in der
24
The Afghanistan Compact (2006: 2).
25
,,ABC News/BBC World Service Poll ­ Afghanistan: Where Things stand", in:
http://news.bbc.co.uk/2/shared/bsp/hi/pdfs/07_12_06AfghanistanWhereThingsStand.pdf
; 23.06.2007.
26
Zu diesen Milizen gehören u.a. die bewaffneten Gruppen von Gulbudin Hekmatyar und Jalaluddin Haqqani.

18
Lage, die paschtunischen Siedlungsgebiete im Grenzraum zu Afghanistan effektiv zu
kontrollieren (vgl. Berger 2007: 23-24, Smith 2005: 10-11).
Mehrere Studien unter anderem der International Crisis Group, des Center for Strategic and
International Studies, sowie des Conflict Studies Research Centre sind bisher jedoch zu dem
Schluss gekommen, dass der Einsatz der ISAF für Sicherung und Stabilisierung des Landes
insgesamt Erfolg haben kann, vorausgesetzt die notwendigen politischen, wirtschaftlichen und
militärischen Anstrengungen werden forciert und mit entsprechenden Mitteln ausgestattet (Scott
2007: 2).
27
So muss eine erfolgreiche Bekämpfung des Drogenhandels eine ökonomische
Alternative für die afghanische Bevölkerung in den ländlichen Gebieten beinhalten, statt sich
ausschließlich auf die Zerstörung von Anbauflächen zu konzentrieren. Die
Infrastrukturmaßnahmen müssen verbessert und ausgebaut werden. Der ehemalige Kommandeur
der US-Truppen in Afghanistan, General Karl Eikenberry brachte diesen Zusammenhang auf den
Punkt: ,,Wherever the roads end, that's where the Taliban starts" (Zit. n. Berger 2007: 29).
Diese Anstrengungen zum Wiederaufbau müssen angesichts der Destabilisierungsstrategie der
Taliban begleitet werden durch anhaltende und konzentrierte Bemühungen, ein stabiles
Sicherheitsumfeld zu schaffen. Die jüngste Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Verlängerung
des ISAF-Mandats forderte entsprechend alle Mitgliedsstaaten auf, ihre Anstrengungen für die
Schutztruppe zu erhöhen.
28
Immer wieder wird in offiziellen Statements und den Analysen der
Think Tanks betont, dass eine militärische Lösung allein nicht zum Erfolg führen kann, doch ein
erfolgreicher Wiederaufbau ohne stabile Sicherheitslage ebenso wenig möglich ist.
2.5. Die doppelte Rolle der NATO in Afghanistan: Sicherheit und Wiederaufbau
Die regionale Ausweitung ihres Einsatzraumes machte eine operative Anpassung der ISAF
erforderlich, da die Sicherheitslage im Süden und Osten Afghanistans sehr viel stärker von
militärischen Auseinandersetzungen hoher Intensität geprägt war als im relativ ruhigen Norden
und Westen des Landes. Die Regierung Karzai und ihre Sicherheitskräfte sind weiterhin zu
schwach, um ihr Gewaltmonopol durchzusetzen, so dass für die NATO die Bekämpfung der
27
ICG (2003, 2006); Smith (2005); Cordesman (2006).
28
United Nations Security Council Resolution 1707, 12. September2006, UN (2006).

19
Aufständischen Bestandteil ihrer Unterstützungsleistungen wurde (vgl. Kursave 2006: 7). Die
afghanischen Sicherheitskräfte sollen aber langfristig in die Lage versetzt werden, selbst für
Sicherheit zu sorgen. Der zentrale Auftrag der ISAF lautet nach wie vor, die afghanische
Regierung zu unterstützen und eine stabile Sicherheitslage in Afghanistan zu schaffen und
aufrechtzuerhalten. Im Einzelnen ergeben sich daraus folgende Aufgaben, die im überarbeiteten
Operationsplan der NATO beschrieben werden:
29
,,ISAF's key military tasks include:
·
Assisting the Afghan government in extending its authority across the country;
·
Conducting stability and security operations in co-ordination with the Afghan national
security forces;
·
Assisting the Afghan government with the security sector reform process;
·
Mentoring and supporting the Afghan national army;
·
Supporting Afghan government programmes to disarm illegally armed groups.
ISAF's key supporting tasks include:
·
Supporting Afghan government and internationally-sanctioned counter-narcotics efforts
within limits (NOT participating in poppy eradication or destruction of processing
facilities or taking military action against narcotics producers);
·
On request, providing support to humanitarian assistance operations co-ordinated by
Afghan government organisations;
·
Supporting the Afghan national police, within means and capabilities."
Im Kern bedeutet dies einen doppelten Schwerpunkt des NATO geführten ISAF-Einsatzes, der
zum einen auf Stabilisierung durch Entwicklung und Wiederaufbau abzielt (stability
operations)
30
, zum andern aber ausdrücklich die Durchführung von Sicherheitsoperationen
umfasst, die letzen Endes aktive Kampfeinsätze gegen feindliche Kräfte bedeuten, welche die
29
"Revised operational plan for NATO's expanded mission in Afghanistan", NATO (2006), in:
http://www.nato.int/issues/afghanistan_stage3/index.html
; 23.06.2007.
30
Wiederaufbau umfasst die Reparatur bzw. den Neuaufbau zerstörter Infrastruktur. Entwicklungshilfe zielt auf die
langfristige Verbesserung sozio-ökonomischer Bedingungen, vgl. ,,Canadian Forces in Afghanistan", House of
Commons Canada (2007: 74).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2007
ISBN (eBook)
9783836606622
Dateigröße
685 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin – Politikwissenschaft, Internationale Friedens- und Sicherheitspolitik
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,9
Schlagworte
deutsche sicherheitspolitik bundeswehr auslandseinsatz multilateralismus bündnissolidarität
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Titel: Deutsche Sicherheitspolitik im Spannungsverhältnis von Multilateralismus und Zurückhaltung
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