Lade Inhalt...

Identität, Kontinuität - Reflexivität?

Umgang mit Gedenken in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen am Beispiel des ehemaligen Mädchen Konzentrations- und Vernichtungslagers Uckermark

©2006 Diplomarbeit 76 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Problemstellung:
Wie erklärt sich das Phänomen, dass spezifische Orte und ihre Vergangenheit als Gedenkstätten in den Status offizieller `Kulturdenkmäler´ gehoben werden und andere mitsamt ihrer Vergangenheit in Vergessenheit geraten? Wie entscheidet sich, welchen Orten, Ereignissen und Erfahrungen öffentlich gedacht und somit Bedeutung und Anerkennung verliehen wird? Weshalb werden andere Orte, bzw. Vergangenheit(en) vergessen, verschwiegen und verdrängt, so dass sie in der Gegenwart unsichtbar werden – oder bleiben? Welche Rolle spielt in diesen Zusammenhang die Bildungsarbeit? Kann historischen Ereignissen in der Bildungsarbeit gedacht werden und was gilt es in diesem Kontext hinsichtlich des Umgangs mit der Vergangenheit, als auch hinsichtlich des Umgangs mit den Jugendlichen zu berücksichtigen? Diesen und weiteren Fragen gehe ich am Beispiel des ehemaligen Mädchenkonzentrations- und `Vernichtungslagers´ Uckermark im Rahmen dieser Arbeit nach.
Im ersten Kapitel findet eine grobe Skizzierung der Gedächtnisthematik statt, die das theoretische Fundament dieser Arbeit darstellt. Anhand des Begriffes `Identität´ werde ich die Bedeutung der Vergangenheit zur Konstruktion von Gesellschaft im Gedenken explizieren, da Identitätskonzeptionen meines Erachtens, sowohl für den Kontext `Gedenken´, als auch für die Bildungsarbeit eine zentrale Rolle spielen.
Das zweite Kapitel erläutert anhand der Frage nach den `Kontinuitäten´ die historische Dimension der Konstitution >nationaler Volksgemeinschaft< am Beispiel des ehemaligen Mädchenkonzentrations- und `Vernichtungslagers´ Uckermark, bevor ich mich im dritten Kapitel anhand des Prinzips der `Reflexivität´ der zentralen Fragestellung dieser Arbeit nach einem Umgang mit Gedenken in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen zuwenden und eigene Vorstellungen erörtern möchte.
Ich verstehe diese Arbeit als eine theoretische Auseinandersetzung mit und Annäherung an das Spannungsfeld historisch-politischer Bildungsarbeit an Orten ehemaliger, nationalsozialistischer Konzentrationslager. Sie ist jedoch nicht als konkreter Leitfaden für die pädagogische Praxis am spezifischen Ort des ehemaligen Mädchen-KZ und `Vernichtungslagers´ Uckermark konzipiert, sondern hofft vielmehr allgemein, Reflexions- und Bewusstseinsprozesse anzustoßen und den persönlichen und professionellen Handlungsspielraum zu erweitern.


Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
Einleitung4
1.Konstruktion von Gesellschaft im […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Konstruktion von Gesellschaft im Gedenken
1.1. Kollektives Gedächtnis
1.2. Kommunikatives Gedächtnis
1.3. Kulturelles Gedächtnis
1.3.1. Konnektive Struktur
1.3.2. Kanon
1.4. Identität(en)
1.4.1. Individuelle und personale Identität
1.4.2. Kollektive Identität
1.4.3. Nationale Identität
1.5. Formen der Vergangenheitsbewältigung
1.5.1. Erinnern
1.5.2. Vergessen, Verdrängen
1.6. Zwischenresümee

2. Historischer Exkurs: Das Mädchenkonzentrations- und `Vernichtungslager´ Uckermark
2.1. Die >Volksgemeinschaft< als Norm
2.2. Verfolgung von Menschen als >Asoziale<
2.3. Das System >Jugendschutzlager<
2.4. Das Mädchenkonzentrations- und `Vernichtungslager´ Uckermark – ein Überblick
2.5. Kontinuitäten nach
2.5.1. ...im Umgang mit den als >asozial< Verfolgten
2.5.2. ...im Umgang mit dem Ort des ehemaligen Mädchenkonzentrations- und `Vernichtungslager´ Uckermark
2.6. Zwischenresümee

3. Umgang mit Gedenken in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen
3.1. Annäherung an das Verhältnis von Geschichte, Bildung und Identität
3.2. Anregungen für die Bildungsarbeit
3.2.1. Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse
3.2.1.1. Gesellschaft als Herrschaftssystem
3.2.1.2. Mechanismen gesellschaftlicher Diskriminierung
3.2.2. Reflexivität als Prinzip der Dekonstruktion
3.2.2.1. ...auf der Ebene des Selbstbezugs
3.2.2.2. ...auf der Ebene der Zielsetzung
3.2.2.3. ...auf der Ebene der Methodenwahl
3.3. Umgang in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen
3.3.1. ...mit dem Kanon
3.3.2. ...mit Vorstellungen kollektiver Identität
3.3.3. ...mit Gedenken

4. Resümee

5. Quellenverzeichnis

Einleitung

Im April 2004 besuchte ich zum ersten Mal mit Freundinnen die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, den historischen Ort des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers nördlich von Berlin. Während die historischen Ereignisse des Frauen-KZ, durch Haupt- und Sonderausstellungen, anhand von Erlebnisberichten ehemaliger Häftlinge, durch Gedenktafeln und Gespräche mit Zeitzeuginnen dokumentiert, einen tiefgreifenden Eindruck in mir hinterließen, blieb unsere Suche nach dem am Rande erwähnten Ort des ehemaligen Mädchenkonzentrations- und `Vernichtungslagers´ Uckermark zunächst erfolglos.[1] Obschon das Gelände nur 20 Minuten Fußweg von der Gedenkstätte entfernt liegt, fehlten uns Wegweiser und konkrete Anhaltspunkte, um diesen Ort inmitten des riesigen, zum Großteil unzugänglichen KZ-Areals und der umliegenden Waldgebiete ausfindig zu machen.[2]

Die scheinbare Unerreichbarkeit dieses historischen Ortes einerseits und die Präsenz der Gedenkstätte Ravensbrück andererseits, warfen für mich eine Vielzahl an Fragen auf und weckten mein Interesse, mich mit der Vergangenheit und den Verbindungslinien zwischen den beiden Lagern eingehender zu beschäftigen.

Im Rahmen eines zweimonatigen, studienrelevanten Praktikums in den Pädagogischen Diensten der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück begleitete ich Führungen von Schulklassen und betreute eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern aus der näheren Umgebung im Rahmen eines eigenständigen Projektangebotes über mehrere Wochen. Das Einbezogensein in die gedenkstättenpädagogische Praxis vor Ort, ermöglichte mir eine Vielzahl an Erfahrungen im Umgang mit Gedenken in der Bildungsarbeit.

Während die Pädagogischen Dienste über ein routiniertes Bildungsangebot verfügen, über das im Rahmen von Führungen und Projekttagen die Geschichte des Frauen-KZ pädagogisch vermittelt wird, ist das Mädchen-KZ weder Teil der offiziellen Gedenkstätte, noch werden die historischen Ereignisse dieses Ortes im Gedenkstättenalltag grundlegend berücksichtigt und thematisiert.

Wie erklärt sich das Phänomen, dass spezifische, historische Stätten in den Status offizieller `Kulturdenkmäler´ gehoben werden und andere mitsamt ihrer Vergangenheit in Vergessenheit geraten? Wie entscheidet sich, welchen Orten, Ereignissen und Erfahrungen öffentlich gedacht und somit Bedeutung und Anerkennung verliehen wird? Weshalb werden andere Orte, bzw. Vergangenheit(en)[3] vergessen, verschwiegen und verdrängt, so dass sie in der Gegenwart unsichtbar werden – oder bleiben? Welche Rolle spielt in diesen Zusammenhang die Bildungsarbeit? Kann historischen Ereignissen in der Bildungsarbeit gedacht werden und was gilt es in diesem Kontext hinsichtlich des Umgangs mit der Vergangenheit, als auch hinsichtlich des Umgangs mit den Jugendlichen zu berücksichtigen? Diesen und weiteren Fragen möchte ich anhand meines persönlichen Erfahrungs- und Erkenntnisprozesses im Rahmen dieser Arbeit nachgehen.

Im ersten Kapitel findet eine grobe Skizzierung der Gedächtnisthematik statt, die das theoretische Fundament dieser Arbeit darstellt. Anhand des Begriffes `Identität´ werde ich die Bedeutung der Vergangenheit zur Konstruktion von Gesellschaft im Gedenken explizieren, da Identitätskonzeptionen meines Erachtens, sowohl für den Kontext `Gedenken´, als auch für die Bildungsarbeit eine zentrale Rolle spielen.

Das zweite Kapitel erläutert anhand der Frage nach den `Kontinuitäten´ die historische Dimension der Konstitution >nationaler Volksgemeinschaft< am Beispiel des ehemaligen Mädchenkonzentrations- und `Vernichtungslagers´ Uckermark, bevor ich mich im dritten Kapitel anhand des Prinzips der `Reflexivität´ der zentralen Fragestellung dieser Arbeit nach einem Umgang mit Gedenken in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen zuwenden und eigene Vorstellungen erörtern möchte.

Ich verstehe diese Arbeit als eine theoretische Auseinandersetzung mit und Annäherung an das Spannungsfeld historisch-politischer Bildungsarbeit an Orten ehemaliger, nationalsozialistischer Konzentrationslager. Sie ist jedoch nicht als konkreter Leitfaden für die pädagogische Praxis am spezifischen Ort des ehemaligen Mädchen-KZ und `Vernichtungslagers´ Uckermark konzipiert, sondern hofft vielmehr allgemein, Reflexions- und Bewusstseinsprozesse anzustoßen und den persönlichen und professionellen Handlungsspielraum zu erweitern.

1. Konstruktion von Gesellschaft im Gedenken

„Jede Gruppe, die sich als solche konsolidieren will, ist bestrebt, sich Orte zu schaffen und zu sichern, die nicht nur Schauplätze ihrer Interaktionsformen abgeben, sondern Symbole ihrer Identität und Anhaltspunkte ihrer Erinnerung.“[4]

Ausgehend von den Überlegungen Maurice Halbwachs[5] zum `kollektiven Gedächtnis´ (s.Kap.1.1) werde ich die Funktionsweise des Gedächtnisses im Hinblick auf Prozesse des Gedenkens untersuchen. Die Bedeutung des Vergangenen für Gegenwart und Zukunft und der sich wandelnde Umgang mit der Vergangenheit in der Gegenwart soll anschließend anhand der von Jan[6] und Aleida Assmann[7] in den 1980er Jahren entwickelten Theorien als Übergang vom `kommunikativen´ (s.Kap.1.2) zum `kulturellen Gedächtnis´ (s.Kap.1.3) nachvollzogen werden.[8] Jan Assmanns Überlegungen zum Zusammenhang von Erinnerung, Tradierung und Identitätsbildung, möchte ich anschließend im Kapitel `Identität(en)´ grob skizzieren (s.Kap.1.4).

Vielfältige Mechanismen nehmen Einfluss auf die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Am Beispiel von Erinnern, Vergessen und Verdrängen stelle ich abschließend gesellschaftliche Formen der `Vergangenheitsbewältigung´ dar, die ich in ihrer Bedeutung für den Konstruktionsprozess einer Gesellschaft hin explizieren möchte (s.Kap.1.5).

1.1. Kollektives Gedächtnis

Die Anfänge heutiger Gedächtnistheorien gehen in erster Linie auf Halbwachs zurück. In der von ihm in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichten Studie Les cadres sociaux de la mémoire [9] erbringt er den Nachweis der sozialen Geprägtheit individueller Erinnerung. In seinen Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis, die 1950 posthum unter dem Titel La mémoire collective erschienen sind, wendet Halbwachs sich darüber hinaus dem Bereich kultureller Überlieferung und Traditionsbildung zu.

Halbwachs versteht das kollektive Gedächtnis „als organisches Gedächtnis des Individuums, das sich im Horizont eines soziokulturellen Umfeldes herausbildet“[10] und sich darüber hinaus auf Vergangenes bezieht. In der Hervorhebung der gesellschaftlichen Bedingtheit von Erinnerungen, begründet er die Abkehr von biologistischen Konzeptionen, die das Gedächtnis als vererbbares `Rassegedächtnis´ betrachteten und rückt die `Cadres sociaux´, die `sozialen Rahmen´ des Gedächtnisses, in den Vordergrund seiner Überlegungen.[11]

Die `Cadres sociaux´ bilden den Horizont einer Kultur, in den unsere Wahrnehmung und Erinnerung eingefügt ist. Zu ihnen zählt, sowohl das soziale Umfeld des Menschen, die Personen, die einen umgeben, als auch die `kulturelle Formation´ – der Komplex symbolisch vermittelter Kultur – auf den ich im weiteren Verlauf dieser Arbeit differenzierter eingehen werde. Der Mensch ist als soziales Wesen auf die Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen angewiesen. Interaktion beinhaltet für Halbwachs gemeinschaftliche Handlungen und geteilte Erfahrungen, wobei er Kommunikation als das wiederholte, gemeinschaftliche Vergegenwärtigen der Vergangenheit versteht. In der Interaktion und Kommunikation mit anderen Personen liegt für ihn der Schlüssel für die Vermittlung von Wissen und Werten, gemeinsamen Zeit- und Raumvorstellungen, Denk- und Erfahrungshintergründen.[12]

Die `Cadres sociaux´, die `sozialen Rahmen´, sind dementsprechend als kulturspezifische Denkschemata zu verstehen, die den Vorrat an Erfahrungen und geteiltem Wissen `rahmen´, bzw. begrenzen und unsere Wahrnehmung und Erinnerung in bestimmte Bahnen lenken.[13] Die `Rahmung´ der Erinnerung erfolgt, indem anhand aktueller gesellschaftlicher Bedürfnisse aus einer Fülle an Informationen, Erfahrungen und Erinnerungen die gesellschaftlich relevanten Inhalte des kollektiven Gedächtnisses ausgewählt und vermittelt werden. Ihre Funktion besteht folglich darin, Ordnung und Kontinuität zu stiften, indem sie es dem Individuum ermöglichen, „in jeder neuen Information das bereits Vertraute wiederzuerkennen und so die Situation dem vorhandenen und gesicherten Erfahrungsschatz angleichen zu können.“[14] Diese Systematisierung von Informationen wird als `kognitive Organisation´ bezeichnet. Sie basiert auf Wechselbeziehungen und Aushandlungsprozessen zwischen der `materialen´, `sozialen´ und `mentalen Dimension´ einer Kultur.

Als `materiale Dimension´ bezeichnet Halbwachs die Ebene der Erinnerungskultur, die durch die Kristallisierung von Gedächtnisinhalten in Form von Texten, Monumenten, Riten etc. entsteht. Die vergegenständlichten Erinnerungen werden als `kulturelle Objektivationen´ oder auch als `Erinnerungsfiguren´ bezeichnet.[15] Auch die Gedenkstätte Ravensbrück kann als Bestandteil dieser `materialen Dimension´ der Erinnerungskultur verstanden werden. In Form `kultureller Objektivationen´, wie Ausstellungen, Filmen etc. wird den Ereignissen und Erfahrungen, der an diesem Ort inhaftierten Frauen Ausdruck verliehen und über die Hintergründe, Ziele und Motive der TäterInnen aufgeklärt.

Darüber hinaus können Gedenkstätten als Bestandteil der `sozialen Dimension´ betrachtet werden, zu der alle Personen und gesellschaftlichen Institutionen zählen, die an den Prozessen der Produktion, Speicherung und Vermittlung von Gedächtnisinhalten beteiligt sind. Die `soziale Dimension´ wird als Trägerin des Gedächtnisses bezeichnet.

Die `mentale Dimension´ beinhaltet schließlich „all jene kulturspezifischen Schemata und kollektiven Codes[16], die gemeinsames Erinnern durch symbolische Vermittlung ermöglichen“ und Einfluss auf die „in der Gesellschaft vorherrschenden mentalen Dispositionen – etwa auf Vorstellungen und Ideen, Denkmuster und Empfindungsweisen, Selbst- und Fremdbilder oder Werte und Normen [ausüben, K.W.].“[17]

Die Wechselbeziehungen der verschiedenen Ebenen untereinander konstruieren ein kollektives Gedächtnis bestehend aus gemeinsamen Erinnerungen, das, wie bereits erwähnt, vom Standpunkt der Gegenwart Vergangenes wiederherstellt, so dass es auf aktuelle Bedürfnisse zu antworten vermag.[18]

„[D]ie Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im übrigen durch andere, in früheren Zeiten unternommenen Rekonstruktionen vorbereitet, aus denen das Bild von ehemals schon recht verändert hervorgegangen ist.“[19]

Das `kollektive Gedächtnis´ verfährt somit `selektiv´ und `rekonstruktiv´ und wird „in aller Regel aus der Perspektive der dominierenden Gruppe gebildet.“[20] Es bewirkt eine Verknüpfung zwischen Sozial- und Zeitdimension, d.h. zwischen den Mitgliedern einer Kultur und ihrer spezifischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese Verbindung, im kulturwissenschaftlichen Diskurs als `konnektive Struktur´ bezeichnet, wird im Rahmen dieser Arbeit noch Gegenstand näherer Betrachtungen sein (s.Kap.1.3.1).

Eine zentrale Funktion, des im Rahmen des `kollektiven Gedächtnisses´ vollzogenen Vergangenheitsbezuges, ist die Identitätsbildung. So weist Insa Eschebach[21] darauf hin, dass “Vergangenes mit der Kraft des Normativen versehen [wird, K.W.], um daraus Handlungsprämissen für Gegenwart und Zukunft abzuleiten [...].“[22] Die `kulturelle Formation´, bzw. der „verfügbare Fundus an symbolischen Repräsentationen ist ein Mittel der Verständigung und Selbstverständigung.“[23] Die spezifische Zusammensetzung der Erinnerungen wirkt identitätsstiftend, integrierend und dient der Vergemeinschaftung, indem sie den kollektiven Sinn und somit das Selbstbild der Gruppe repräsentiert.[24] „Die kulturelle Formation ist das Medium, durch das eine kollektive Identität aufgebaut und über Generationen hinweg aufrechterhalten wird.“[25] Das durch sie vermittelte, gesellschaftlich relevante und identitätsichernde Wissen wird als `Kanon´ bezeichnet (s.Kap.1.3.2).

1.2. Kommunikatives Gedächtnis

Das `kommunikative Gedächtnis´ basiert nach Jan Assmann auf Alltagskommunikation. Es beinhaltet die Erfahrungen und Erlebnisse miteinander lebender Zeitgenossen und fällt somit in den Gegenstandsbereich der `Oral History´[26].

Erfahrungen von Menschen sind verschieden und der Blick darauf verändert sich im Laufe des Lebens, so dass sie keiner festen Bedeutungszuschreibung unterliegen. „Jeder gilt [...] als gleich kompetent, die gemeinsame Vergangenheit zu erinnern und zu deuten.“[27] Alltagskommunikation ist dementsprechend durch „ein hohes Maß an Unspezialisiertheit, Rollenreziprozität, thematische Unfestgelegtheit und Unorganisiertheit gekennzeichnet.[28] “ Sie findet zwischen Personen statt, die prinzipiell jederzeit ihre Rollen tauschen können.

Diese Form des Gedächtnisses ist, wie Halbwachs bereits gezeigt hat, sozial vermittelt und gruppenbezogen. Ihr bedeutendstes Charakteristikum ist der begrenzte und mitwandernde Zeithorizont, der in der Regel 3-4 Generationen, bzw. 80-100 Jahre umfasst.

Das `kommunikative Gedächtnis´ kennt keine Fixierung auf spezifische, historische Ereignisse, sondern entfernt sich mit der Generationenfolge kontinuierlich von einer sich ausweitenden Vergangenheit.[29]

1.3. Kulturelles Gedächtnis

In seinem Werk Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen expliziert Jan Assmann die enge Verbindung von Gedächtnis und Kultur. Er schließt sich der Feststellung Halbwachs an, dass die Informationsaufnahme, Organisation und Speicherung von Gedächtnisinhalten keine Frage gehirnphysiologischer, neurologischer oder psychologischer Zusammenhänge, sondern vielmehr das Produkt äußerer, gesellschaftlicher und kultureller Rahmenbedingungen sei. Assmann bezeichnet das `kulturelle Gedächtnis´ als eine Außendimension des menschlichen Gedächtnisses, dessen Erforschung daher im Bereich historischer Kulturwissenschaften angesiedelt ist.[30]

Im Übergang vom `kommunikativen´ zum `kulturellen Gedächtnis´ bricht in der Generationenfolge durch das Aussterben der Vorfahren die biographische, bzw. kommunikative Erinnerung ab. Zwischen Gegenwart und jüngster Vergangenheit entsteht bis zur Auskristallisierung von Erinnerungen eine Lücke, die in der kulturwissenschaftlichen Forschung als `floating gap´ bezeichnet wird.

Eine Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Erinnerungsmodi des `kommunikativen´ und des `kulturellen Gedächtnisses´ sieht Assmann darin, dass beide ähnliche Bindungen an Gruppen und Gruppenidentitäten aufweisen.[31] Während die Inhalte des `kommunikativen Gedächtnis´, wie bereits erwähnt, keiner spezifischen Organisation, bzw. Festlegung unterliegen, sind die entstehenden `Erinnerungsfiguren´ im `kulturellen Gedächtnis´ zeitlich und räumlich fixiert.

Als `kulturelle Objektivationen´ sprachlicher und nicht-sprachlicher Art, konservieren sie schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit als Fixpunkte über Jahrtausende hinweg.[32]

Das `kulturelle Gedächtnis´ setzt sich aus dem...

„jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs- Texten, -Bildern und –Riten zusammen, in deren `Pflege´ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.“[33]

`Identitätskonkretheit´, `Rekonstruktivität´, `Geformtheit´, `Organisiertheit´, `Verbindlichkeit´ und `Reflexivität´ stellen nach Assmann seine zentralen Merkmale dar.[34]

Die Bezeichnung `Identitätskonkretheit´ verweist auf die Gruppenbezogen- und Gruppengebundenheit des `kulturellen Gedächtnisses´, während unter `Rekonstruktivität´ der oben beschriebene Sachverhalt verstanden wird, dass nur spezifische Fragmente der Vergangenheit wiederhergestellt werden, die für Gegenwart und Zukunft von Bedeutung sind. Es ist demnach „zwar fixiert auf unverrückbare Erinnerungsfiguren und Wissensbestände, aber jede Gegenwart setzt sich dazu in aneignende, auseinandersetzende, bewahrende und verändernde Beziehung.“[35]

Die Objektivation und Kristallisation des gesellschaftlich relevanten Wissens und kulturellen Sinns wird als `Geformtheit´ des `kulturellen Gedächtnisses´ bezeichnet. In sprachlicher, ritueller und bildlicher Form wird die Haltbarkeit der Gedächtnisinhalte, bzw. ihre „Vererbbarkeit im kulturell institutionalisierten Erbgang einer Gesellschaft [gesichert, K.W.].“[36]

Der Begriff `Organisiertheit´ beinhaltet nach Assmann den Aspekt der Institutionalisierung von Kommunikation. Zeremonialisierte Kommunikationssituationen dienen der Absicherung des relevanten Wissens und kulturellen Sinns, zu dessen Zirkulation und Interpretation nun Spezialisten ausgebildet werden. „Nicht mehr die Eltern und primären Sozialkonstellationen, sondern Institutionen verwalten und vermitteln das kulturelle Wissen, sein Erwerb ist anstrengend und langwierig.“[37] Eva Borst[38] spricht in diesem Zusammenhang von einer `Institution der Sinnpflege´, auf die ich im Kontext des Kanon (s.Kap.1.3.2.) zurückkehren werde.

`Verbindlichkeit´, als weiteres Merkmal des `kulturellen Gedächtnisses´, spielt eine wichtige Rolle für den Überlieferungsprozess des kulturellen Wissens und dient ebenfalls der Absicherung gesellschaftlicher Traditionslinien.[39]

„Durch den Bezug auf ein normatives Selbstbild der Gruppe ergibt sich eine klare Wertperspektive und ein Relevanzgefälle, das den kulturellen Wissensvorrat und Symbolhaushalt strukturiert. Es gibt wichtige und unwichtige, zentrale und periphere, lokale und interlokale Symbole, je nach der Funktion, die ihnen in der Produktion, Repräsentation und Reproduktion dieses Selbstbildes zukommt.“[40]

Das relevante Wissen ist für die Mitglieder einer Gesellschaft verbindlich und wird über den Aspekt der `Formativität´ und den Aspekt der `Normativität´ aufrechterhalten, auf die ich im folgenden Kapitel eingehen werde.

`Reflexivität´, als letztem Merkmal, misst Assmann auf drei unterschiedlichen Ebenen Bedeutung bei. Erstens verfährt das `kulturelle Gedächtnis´ `praxis-reflexiv´, d.h. es deutet den Alltag, die `gängige Praxis´, in Form von Sprichwörtern, Riten und Regeln. Zweitens nimmt es unter dem Aspekt der `Selbstreflexivität´ „auf sich selbst Bezug im Sinne der Auslegung, Ausgrenzung, Umdeutung, Kritik, Zensur, Kontrolle“ von Wissen, Erfahrungen und Erinnerungen. Drittens agiert das `kulturelle Gedächtnis´ darüber hinaus `selbstbild-reflexiv´, indem es das eigene Selbstbild, bzw. das eigene Gesellschaftssystem reflektiert.[41]

1.3.1. Konnektive Struktur

Die `konnektive Struktur´ schafft, wie bereits erwähnt, eine Verbindung von Sozial- und Zeitdimension. Sie erzeugt einen gemeinsamer Erfahrungs-, Erwartungs- und Handlungsraum, der sich durch eine gemeinsame `symbolische Sinnwelt´ auszeichnet und somit den Individuen Zugehörigkeit und gesellschaftliche Teilhabe vermittelt. Die `konnektive Struktur´ bindet ...

„das Gestern ans Heute, indem sie prägende Erfahrungen und Erinnerungen formt und gegenwärtig hält, indem sie in einem fortschreitenden Gegenwartshorizont Bilder und Geschichten einer anderen Zeit einschließt und dadurch Hoffnung und Erinnerung stiftet.“[42]

Um die Zirkulation und Tradierung gesellschaftlicher Anliegen, z.B. spezifischer Werte und Normen zu gewährleisten, bedarf es der Einübung von Solidarität. Solidarität wird vermittelt durch „ein Wissen um die Vorrangigkeit des Ganzen [...], dem die Wünsche, Triebe und Ziele des Einzelnen unterzuordnen sind.“[43] Diese Funktion übernehmen die bereits genannten Aspekte der `Normativität´ und `Formativität´, deren Bedeutung es im weiteren Verlauf der Arbeit am Beispiel der Ausgrenzung und Vernichtung von Menschen als >Asoziale< zur Konstruktion >nationaler Volksgemeinschaft< exemplarisch nachzuvollziehen gilt.[44]

Der Aspekt der `Formativität´, bzw. der `Aspekt der Erzählung´ zirkuliert in Formen zeremonieller Kommunikation. Er antwortet auf die Frage `Wer sind wir?´ und dient der kollektiven Identitätsvergewisserung und Selbstdefinition, indem er gesellschaftlich relevantes Wissen in Form von Mythen, Heldensagen und Liedern vermittelt, so dass er „gemeinschaftliches Handeln durch das Erzählen gemeinsam bewohnter Geschichten [anregt, K.W.].“[45] Auf diesem Wege nimmt er Einfluss auf die Lebens deutungen innerhalb einer Gemeinschaft und besitzt nach Assmann edukative, zivilisierende und humanisierende Funktionen.[46]

Der `normative Aspekt´, bzw. der `Aspekt der Weisung´, liefert Antworten auf die Fragestellung `Was sollen wir tun?´. Er vermittelt gesellschaftlich akzeptiertes Orientierungswissen und dient der Urteilsfindung und Entscheidung. Der `normative Aspekt´ zirkuliert in Formen alltäglicher Kommunikation und beinhaltet Werte und Normen des alltäglichen Zusammenlebens. In der Festschreibung kulturspezifischer Bräuche und Sitten, übt er Einfluss auf gesellschaftliche Lebens formen aus und hat handlungsleitende Funktion.[47]

Beide Aspekte sind die Grundbedingungen für die Entwicklung von Zugehörigkeit und kollektiver Identität, indem sie die `Normierung´ und `Formierung´ von Individuen zu Kollektivsubjekten bewirken, was wiederum die Voraussetzung für die Konstruktion von Gemeinschaft, bzw. Gesellschaft ist.

Da kultureller Sinn nicht von selbst zirkuliert, bedarf es seiner ständigen Inszenierung und Reproduktion, wodurch die Wiederholung das Grundprinzip der `konnektiven Struktur´ darstellt. Sie „gewährleistet, daß sich die Handlungslinien nicht im Unendlichen verlaufen, sondern zu wiedererkennbaren Mustern ordnen und als Elemente einer gemeinsamen `Kultur´ identifizierbar sind.“[48] Dieses erfolgt in erster Linie durch Rituale und ritualisierte Handlungen. In ihrer Doppelfunktion von Wiederholung und Vergegenwärtigung basieren Rituale auf einem flexiblen Verhältnis von rigider Ordnung und eigener Auslegung, durch die das kanonisierte Wissen ständig aktiviert und eingeübt wird. Die kulturelle Ordnung muss, so Assmann, „rituell in Gang gehalten und reproduziert werden gegenüber der allgegenwärtigen Unordnung, der Tendenz zum Zerfall.“[49] Während Mythen die Inhalte dieser Ordnung liefern, besteht die Funktion von Riten darin, diese einzuüben und aufrechtzuerhalten.[50]

1.3.2. Kanon

Der `Kanon´ bezeichnet nach Borst jenen Bestand an identitätsrelevantem und –sicherndem Wissen einer Kultur, der in der westlichen Welt „das Zusammenleben regelt und durch schriftliche Zeugnisse in Form (heiliger) Bücher, (säkularisierter) Texte, philosophischer Werke, juristischer Abhandlungen überliefert wird.“[51] Die Berufung auf gemeinsame Werte und Normen regelt das Zusammenleben der Individuen untereinander und stiftet `imaginierte Gemeinschaft´. Assmann versteht unter dem Kanon „jene Form von Tradition, in der sie ihre höchste inhaltliche Verbindlichkeit und äußerste formale Festlegung erreicht. Nichts darf hinzugefügt, nichts weggenommen, nichts verändert werden.“[52]

Eschebach weist daraufhin, dass Kanonisierung mit Prozessen der Sakralisierung und Trivialisierung einhergeht. Sakralisierung bezeichnet sie als Vorgang, bei dem „Alltägliches in den Status des Heiligen transportiert“[53], d.h. „mit den Merkmalen letztinstanzlicher Hochverbindlichkeit und Unantastbarkeit versehen [wird, K.W.].“[54]

„Sakralisierungsprozesse sind die Prozesse einer Überführung, einer Transformation realgeschichtlicher Ereignisse in einen `krisenresistenten, stabilen Ordnungsrahmen´ [...] [wobei, K.W.] [d]as Heilige [...] in diesem Prozeß den Ort sanktionierter Fraglosigkeit, den Punkt vollständiger Selbstreferentialität [markiert, K.W.], der durch kritische Reflexion nicht mehr relativiert werden soll.“[55]

`Trivialisierung´ hingegen stellt für sie eine „Antithese zur Normativität `heiliger Stätten´ [dar, K.W.]“[56], die wiederum als `Stütze des Normativen´ fungiert. Am Beispiel von Gedenkstätten kann verdeutlicht werden, dass diese nicht nur als `heilige Stätten´ sakralisiert, sondern auch als `Sehenswürdigkeiten´ trivialisiert werden. Durch den Verkauf z.B. von Souvenirs wird der Erinnerungsort „zu etwas Vertrautem, mit dem man umgehen kann.“[57] Trivialobjekte entdramatisieren den sakralen Ort, indem sie „ihn veralltäglichen, sentimentalisieren und privatisieren.“[58] Hieraus resultiert für Eschebach eine `Entnennung des Politischen´, da durch die Prozesse von Sakralisierung und Trivialisierung die historischen Ereignisse `der Zeit enthoben´ erscheinen.[59]

Um den Kanon gegen potentiellen Wandel zu schützen, ist es Aufgabe der Zensur, die gesellschaftlich erwünschte Auslegung des kulturellen Sinns zu gewährleisten und Störungen der Tradition zu verhindern. Die Zensur „marginalisiert, tabuisiert und unterdrückt das vom Kanon Abweichende. Der Kanon setzt eine Grenze, die Zensur sorgt für die Einhaltung.“[60]

Als kanonisierte Inhalte sind alle identitätssichernden Normen und Werte zu verstehen, zu denen Assmann u.a. Recht, Eigentum und monogame Familie zählt, die über Jahrhunderte und Jahrtausende herauskristallisiert wurden und einschränkende, als auch leitende Funktionen innehaben. Nach Assmann prägt und `züchtet´ das kanonisierte Wissen Einstellungen und Gesinnungen von hohem, exklusiven und selektivem Anspruch, die als Kultur bezeichnet werden.[61] Dieses kulturspezifische Wissen vermittelt einerseits Zugehörigkeit und Stabilität und bewirkt andererseits eine Marginalisierung von Erinnerungen, die bis hin zum sozialen Ausschluss von Personen(gruppen) führen kann.[62] Die auf diese Weise erzeugte Kontinuität sorgt für eine Tradierung des kanonisierten Wissens über Generationen hinweg und erweckt den Eindruck, „dass sich der zeitresistente Kulturhorizont gleichsam von selbst herstellt, und also nicht weiter erklärungsbedürftig ist.“[63]

Als eine besondere Form der Zensur bezeichnet Borst jene, die ...

„sich unbemerkt unter dem Anpassungsdruck des Allgemeinen in das Innere des Individuums einlager[t] und nachträgliche Zensurakte überflüssig mach[t]. [...] Diese ins Unbewusste verlängerte Zensur entsteht im Sozialisationsprozeß und entspricht eher der unreflektierten Übernahme von Alltagswissen, das vermeintlich objektive Bedingungen zur Voraussetzung hat.“[64]

Die Bereitstellung von `Techniken der Auslegung´ im Rahmen staatlicher Institutionen, wie z.B. in Gedenkstätten, bezeichnet Borst, wie bereits erwähnt, als `Institution der Sinnpflege´, die der Überwachung und Vermittlung kanonisierter Inhalte dient.[65]

Michel Foucault[66] hat gezeigt, dass Organisationen für die Durchsetzung von Sinndeutungen und Wirklichkeitskonstruktionen eine wichtige Rolle spielen. Sie sind Bestandteil und Austragungsort gesellschaftlicher Diskurse. Nach Dariuš Zifonun[67] definieren sich ihre Mitglieder „über die organisationalen Diskurse und schaffen sich Auslegungen ihrer selbst im Rahmen von Organisationen [...].“[68] Zifonun weist darauf hin, dass Gedenkstätten nicht nur Orte des Erinnerns und Gedenkens sind, sondern diese gleichzeitig vor `Erinnerungsüberlastung´ schützen, indem sie den Erinnerungsdiskurs „organisatorisch in den Dritten Sektor und räumlich in abgegrenzte Organisationen und Orte auslagern. Sie ermöglichen die Austragung von Deutungskonflikten um die Vergangenheit und begrenzen diese zugleich [...].“[69] Gedenkstätten können somit als `institutionalisierte Problemlösungen´ verstanden werden, die „bestimmte Problemdefinitionen festlegen und Lösungsroutinen, d.h. standardisierte Abläufe für die Problembewältigung prägen [...].“[70]

1.4. Identität(en)

Um den Zusammenhang von Vergangenheitsbezug und Gesellschaftskonstruktion im Hinblick auf die Entwicklung kollektiver Identitätsvorstellungen zu verdeutlichen, möchte ich im Folgenden den Zusammenhang von Gedenken und Identität explizieren. Zum besseren Verständnis halte ich eine Differenzierung des Identitätsbegriffes für sinnvoll, wobei ich zwischen `Ich-´ und `Wir-Identität´ unterscheide. Neben `individueller´ und `personaler Identität´, als zwei unterschiedlichen Aspekten der `Ich-Identität´ (s.Kap.1.4.1), liegt der Fokus, wie bereits erwähnt, auf der Herausbildung `kollektiver Identität´ (s.Kap.1.4.2). Das Konzept `nationaler Identität´ soll darüber hinaus als Sonderform `kollektiver Identität´ gesondert Erwähnung finden, da mir dies im Zusammenhang des NS-Kontextes als eine wichtige Spezifizierung erscheint (s.Kap.1.4.3).

1.4.1. Individuelle und personale Identität

Nach Jan Assmann findet die Entwicklung von Identität immer im Zusammenhang von Kultur und Gesellschaft statt, wobei er diese als unabdingbare `Grundstrukturen´ des Menschseins überhaupt bezeichnet. Identitätsbildung stellt einen „Entwicklungsprozess lebenslanger Selbstdefinition“ dar, der „sich [...] nur im Rahmen interdependenter Beeinflussung zwischen Individuen und ihren jeweiligen Umwelten“[71] vollzieht.

Identität bedeutet nach Assmann das Reflexivwerden eine unbewussten Selbstbildes und entwickelt sich durch Kommunikation und Interaktion. Diesen Vorgang bezeichnet er als `Steigerung der Grundstrukturen´, als „eine Sache von Wissen, Bewußtsein und Reflexion“, wobei der Kultur „die spezifische inhaltliche und formale Ausprägung dieses Wissens“[72] zukommt.

Assmann weist darauf hin, dass alle Formen von Identität, Wir- als „auch Ich-Identität, [...] immer ein gesellschaftliches Konstrukt und als solches kulturelle Identität“[73] sind. `Kulturelle Identität´ ist somit die „reflexiv gewordene Teilhabe an bzw. das Bekenntnis zu einer Kultur.“[74]

Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass „[d]as Zusprechen von kultureller Identität [...] nicht nur eine Deskription von Identität [ist, K.W.], sondern immer auch eine Askription und damit eine konstitutive und performative Zuschreibung von Identität und Status.“[75] Diese internalisierte Form kultureller Dominanz übt, so Birgit Rommelspacher[76], grundlegenden Einfluss auf das Selbstverständnis des Subjekts aus. Sie spricht in diesem Kontext auf Seiten der Dominanten von einer `verleugneten Identität´, die ihnen in ihrer Selbstverständlichkeit selbst unsichtbar ist. Mit `verweigerter´ Identität bezeichnet sie den Sachverhalt, dass auf Seiten der Diskriminierten aufgrund der Marginalisierung und Ausgrenzung ihrer Erfahrungen, diese an einer angemessenen Befriedigung ihrer Bedürfnisse gehindert werden (s.Kap.2).[77]

Die Entwicklung von `Ich-Identität´, auch Individuation genannt, wird durch die kollektiven Grundstrukturen einer Kultur und Epoche beeinflusst und beinhaltet nach Assmann das...

[...]


[1] Obwohl die Originalbezeichnung der Nazis >Jugendschutzlager Uckermark< lautete, verwende ich im Rahmen dieser Arbeit die Bezeichnung `Mädchenkonzentrationslager´ um darauf hinzuweisen, dass nicht die Mädchen im Lager geschützt, sondern deutsche Mädchen außerhalb des Lagers vor den an diesem Ort Inhaftierten geschützt werden sollten. Ich erachte dieses für notwendig, um einer Verschleierung, Tabuisierung und Verharmlosung der Erfahrungen der als >asozial< inhaftierten Mädchen und jungen Frauen entgegenzuwirken.

Die Bezeichnung `Vernichtungslager´, wie sie auf die, sich auf polnischem Staatsgebiet befundenen Vernichtungslager Anwendung findet, wurde von mir im Rahmen dieser Arbeit in Anführungszeichen gesetzt, da aktuelle Forschungsergebnisse die Legitimation der Bezeichnung in Frage stellen (s. Erpel, S. (2005): Zwischen Vernichtung und Befreiung. Das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück in der letzten Kriegsphase).

[2] Auf dem Gelände, bzw. in unmittelbarer Nähe des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück befanden sich während des NS sowohl Produktionsstätten der Firma Siemens, ein Männerlager für Häftlinge des KZ Sachsenhausen, die in Ravensbrück zu Außenarbeiten eingesetzt wurden, eine Siedlung für SS-Aufseherinnen, die in Ravensbrück ausgebildet wurden, ein SS-Kinderheim, als auch das Mädchen-KZ Uckermark. Außer dem Männerlager, das sich als abgezäunter Bereich direkt auf dem Lagergelände befindet, gehören alle weiteren Gebäude und Gelände nicht zur offiziellen Gedenkstätte und finden, mit Ausnahme der Zwangsarbeit durch die Firma Siemens, im Rahmen von Ausstellungen bisher kaum Erwähnung.

[3] Mit der in Klammern angedeuteten Pluralität eines Begriffes, wie Vergangenheit(en), Identität(en), weise ich darauf hin, dass es nicht die Vergangenheit, oder die Identität gibt, sondern diese sich aufgrund einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven, aus vielfältigen und oftmals widersprüchlichen Bestandteilen zusammensetzen.

[4] Assmann, 1992, 39 (zit. nach Zifonun, 2004, 117)

[5] Ehemaliger frz. Soziologe und Philosoph (1877-1945)

[6] Dt. Ägyptologe

[7] Dt. Anglistin, Ägyptologin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin

[8] Die Theorien stellen eine Weiterentwicklung der Theorie des `kollektiven Gedächtnisses´ nach Halbwachs dar, indem Jan Assmann das `kommunikative´ und das `kulturelle Gedächtnis´ als zwei unterschiedliche Register des `kollektiven Gedächtnisses´ spezifiziert.

[9] Titel der deutschen Ausgabe: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen

[10] Erll, 2005, 15

[11] vgl. Assmann/Hölscher, 1988, 9

[12] vgl. Erll, 2005, 16

[13] vgl. ebd. 15

[14] Grossmann, 2002, 107, in: Echterhoff/Saar, 2002

[15] Der Prozess der Materialisierung von Gedächtnisinhalten wird im Zusammenhang des kulturellen Gedächtnisses noch detaillierter dargestellt werden (s.Kap.1.3).

[16] Codes, bzw. Kodierungsprozesse haben Orientierungsfunktion. Indem sie bestimmten Gegenständen, Gesten, Orten etc. über ihre originäre Bestimmung hinaus positive oder negative Zuschreibungen verleihen, transportieren sie kulturspezifische Bedeutungen, die der kollektiven Selbstvergewisserung dienen (Anm. d. Verf.).

[17] Erll, 2005, 102

[18] vgl. Halbwachs, 1967, Geleitwort VII

[19] ebd. 55f

[20] Leiprecht, 2005, 97, in: Lutz/Gawarecki, 2005

[21] Religionswissenschaftlerin, seit 2005 Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück

[22] Eschebach, 2005, 10f

[23] Leiprecht, 2005, 105, in: Lutz/Gawarecki, 2005

[24] vgl. Faulenbach, 2002, 83, in: Lenz/Schmidt/von Wrochem, 2002

[25] Assmann, 2002, 139

[26] `Oral history´ bezeichnet die Überlieferung von Erfahrung und Erinnerung noch lebender Zeitgenossen, z.B. durch Interviews oder Tonbandaufnahmen (vgl. Nünning, 2005, 158).

[27] Erll, 2005, 28

[28] Assmann/Hölscher, 1988, 10

[29] vgl. Assmann/Hölscher, 1988, 10f

Da das `kommunikative Gedächtnis´ im Rahmen dieser Arbeit lediglich als `Abgrenzungsfolie´ gegenüber dem `kulturellen Gedächtnis´ dient, findet an dieser Stelle nur eine grobe Skizzierung seiner Bedeutung statt.

[30] vgl. Assmann, 2002, 19f

[31] vgl. ebd. 11

[32] vgl. Assmann/Hölscher, 1988, 12

[33] Assmann/Hölscher, 1988, 15 (Herv. im Orig.; Anm. d. Verf.)

[34] vgl. ebd. 13ff

[35] ebd. 13

[36] ebd. 14 (Herv. im Orig.; Anm. d. Verf.)

[37] Assmann, 2002, 145

[38] Hochschuldozentin am Pädagogischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Schwerpunkt: Erziehungs- und Bildungstheorie, Sozialisationstheorie, Geschichte der Pädagogik, Geschlechtertheorie

[39] Der Aspekt der Verhinderung von Störungen durch die Erzeugung von Verbindlichkeit wird im Kontext des Kanons (s.Kap.1.3.2) näher erläutert.

[40] Assmann/Hölscher, 1988, 14 (Herv. im Orig.; Anm. d. Verf.)

[41] vgl. ebd. 15

Der Begriff der `Reflexivität´, der hier als `formierendes´ und `konstruierendes´ Element des `kulturellen Gedächtnisses´ auftaucht, soll im Rahmen des dritten Kapitels auf seine `destruierenden´ Anteile und Möglichkeiten genauer untersucht werden.

[42] Assmann, 2002, 16

[43] ebd. 140

[44] Die Verwendung nationalsozialistischer Originalbezeichnungen wurde von mir durch > Klammern < gekennzeichnet.

[45] ebd.

[46] vgl. Assmann/Hölscher, 1988, 15

[47] vgl. Assmann, 2002, 142

[48] Assmann, 2002, 17

[49] ebd. 143

[50] vgl. ebd.

[51] Borst, 2003, 209 (Herv. im Orig.; Anm. d. Verf.)

[52] Assmann, 2002, 103

[53] Eschebach, 2005, 11

[54] Assmann, 2002, 159

[55] Eschebach, 2005, 51

[56] ebd. 58

[57] ebd.

[58] ebd.

[59] vgl. ebd. 59

[60] Borst, 2003, 205f

[61] vgl. Assmann, 2002, 145

[62] Im Rahmen des zweiten Kapitels gilt es aufzuzeigen, in wie weit „soziale Bindung [...] auch soziale Kontrolle [heißt, K.W.]. Und weltanschauliche Wertesysteme [...] genauso für stabile Orientierungen [stehen, K.W.] wie für ideologisch legitimierte Verfolgung, Mord und Genozid“ (vgl. Rommelspacher, 1998, 11).

[63] zit. n. Borst, 2003, 205

[64] Borst, 2003, 206

[65] ebd.

[66] Ehemaliger frz. Philosoph (1926-1984)

[67] Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Koblenz

[68] Zifonun, 2004, 111f

[69] ebd. 117

[70] ebd. 112

[71] Reinhold/Pollack/Heim, 1999, 269

[72] Assmann, 2002, 144

[73] ebd. 132

[74] ebd. 134

[75] Saar, 2002, 273f, in: Echterhoff/Saar, 2002

[76] Sozialwissenschaftlerin und Professorin an der Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Berlin

[77] vgl. Rommelspacher, 1998, 180-184

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783836602754
ISBN (Paperback)
9783836652759
DOI
10.3239/9783836602754
Dateigröße
782 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Bremen – Sozialwesen, Studiengang Soziale Arbeit
Erscheinungsdatum
2007 (April)
Note
1,0
Schlagworte
gedenkstättenpädagogik jugendarbeit bildungsarbeit konzentrationslager nationalsozialismus
Zurück

Titel: Identität, Kontinuität - Reflexivität?
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
76 Seiten
Cookie-Einstellungen