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Der Philosoph als Staatsmann?

Vita activa und vita contemplativa im ersten Buch von Thomas Morus’ Utopia

©2005 Magisterarbeit 122 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Das Thema der vorliegenden Arbeit hat eine geistesgeschichtliche Tradition, die sich auf zweieinhalb Jahrtausende beläuft. Die auf den ersten Blick einfach erscheinende antithetische Gegenüberstellung von vita activa und vita contemplativa umfasst eine Vielzahl grundsätzlicher Fragen sowohl ethischer als auch politischer Art. Denn das Begriffspaar, verstanden als qualitative Unterscheidung zwischen einander ausschließenden und sich doch komplementär ergänzenden Lebensentwürfen, beinhaltet weitere begriffliche Dualismen, so etwa die Gegenüberstellung von Einsamkeit und Gesellschaft, von Arbeit und Muße, von Denken und Handeln und von Theorie und Praxis. Insofern bildet der stilisierte Dualismus vita activa / vita contemplativa ein wesentliches Modell zur Erfassung menschlichen Daseins, das ein Thema von zeitloser Relevanz ist.
Francesco Petrarcas Schrift De vita solitaria (1346–1356) kann als erstes humanistisches Prosatraktat zum Problem vita activa / vita contemplativa gelten. Als erstes Werk der Renaissance spiegelt es die Legitimierungsprobleme der humanistischen Lebensweise wider. Dabei kann Petrarca (1304–1374) als Vorreiter der neuen „frei schwebenden” Intellektuellen gelten, wie sie in Europa in den kommenden Jahrzehnten vermehrt in Erscheinung treten sollten.
Thomas Morus (1478–1535) und seine Zeitgenossen stehen zwar nicht mehr unter einem derartigen Legitimierungszwang, denn die humanistische Lebensweise hat sich im Europa des frühen 16. Jahrhunderts etabliert und bildet nicht mehr die Ausnahme. Dennoch verliert die Diskussion um vita activa und vita contemplativa keinesfalls an Relevanz; im Gegenteil, die Beziehung zwischen Theorie und Praxis und die Frage, welcher der beiden der Vorrang zukommt, beschäftigt die Humanisten sehr, und für viele manifestiert sich der Dualismus in der Differenz zwischen humanistischer Theorie und politischer Praxis. Ein Standardthema der humanistischen Literatur bildet dabei die Fragestellung, ob die neue Bildungselite ihre Gelehrsamkeit in den Dienst eines Fürsten stellen sollte. Genau diese Frage behandelt auch Thomas Morus im ersten Buch seiner Utopia (1516). Von besonderem Interesse ist sein Beitrag deshalb, weil es ihm gelingt, das tradierte Problem vita activa / vita contemplativa differenziert und in seiner ganzen Bandbreite zu diskutieren, ohne je in eine gemeinplätzliche Behandlung des Themas zu verfallen. Den Konflikt zwischen politischer Aktion und gelehrter […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Ingrun Wenge
Der Philosoph als Staatsmann?
Vita activa und vita contemplativa im ersten Buch von Thomas Morus' Utopia
ISBN: 978-3-8366-0222-8
Druck Diplomica® GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland, Magisterarbeit, 2005
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© Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung ... 1
2
Thomas Morus und der englische Humanismus ... 8
2.1
Zum Begriff des Humanismus: Schwierigkeiten einer Definition ... 8
2.2
Der englische Humanismus im europäischen Kontext ... 11
2.3
Thomas Morus: ,,The king's good servant, but God's first"... 19
3
Zur Geistesgeschichte von vita activa und vita contemplativa ... 32
3.1
Platon: Die Untrennbarkeit von Theorie und Praxis ... 33
3.2
Aristoteles: Das Primat der Kontemplation... 38
3.3
Cicero: Philosophie als Bildungsgut ... 40
3.4
Augustinus: Handeln als Notwendigkeit ... 46
4
Vita activa und vita contemplativa im ersten Buch von Thomas Morus' Utopia.. 51
4.1
Die Utopie der Neuzeit: Kritik und Gegenbild ... 52
4.2
Die Figuren Thomas Morus und Petrus Aegidius... 59
4.3
Die Figur Raphael Hythlodaeus ... 64
4.4
Der Dialogue of Counsel als Problematisierung des Konflikts zwischen
vita activa und vita contemplativa... 78
4.4.1
Im Dienste des Königs: These und Antithese... 80
4.4.2
Die Morton-Episode: Ein zweifelhaftes Exemplum... 83
4.4.3
Der Philosoph als Staatsmann: Platon versus Platon ... 86
4.4.4
Die rhetorische Strategie der Dialogpartner ... 90
4.4.5
Die Fremdheit des Philosophen in der Welt ... 94
4.4.6
Die Unvereinbarkeit von vita activa und vita contemplativa ... 102
5
Schlussfolgerungen... 106
6
Literaturverzeichnis ... 109

1
1
Einleitung
Das Thema der vorliegenden Arbeit hat eine geistesgeschichtliche Tradition,
die sich auf zweieinhalb Jahrtausende beläuft. Die auf den ersten Blick einfach
erscheinende antithetische Gegenüberstellung von vita activa und vita
contemplativa umfasst eine Vielzahl grundsätzlicher Fragen sowohl ethischer als
auch politischer Art. Denn das Begriffspaar, verstanden als qualitative Unter-
scheidung zwischen einander ausschließenden und sich doch komplementär
ergänzenden Lebensentwürfen, beinhaltet weitere begriffliche Dualismen, so
etwa die Gegenüberstellung von Einsamkeit und Gesellschaft, von Arbeit und
Muße, von Denken und Handeln und von Theorie und Praxis. Insofern bildet der
stilisierte Dualismus vita activa / vita contemplativa ein wesentliches Modell zur
Erfassung menschlichen Daseins, das ein Thema von zeitloser Relevanz ist. Die
Fragen, die sich aus diesem Modell ergeben, benennt Karl Enenkel wie folgt:
Welchen Lebensweg soll der Mensch wählen, welches Tätigkeits-
oder Daseinsfeld, welchen ,,Beruf"; inwieweit hat er sich dem Dienst
am Mitmenschen zu widmen, inwieweit soll er an der Gesellschaft
teilnehmen, und inwieweit soll er sich von ihr, aus moralisch-
spirituellen Gründen, distanzieren? Welchen räumlichen Aufent-
haltsort (Stadt:Land) soll das Individuum aufsuchen, und welchen
geistigen? Welche Wertponderation fällt der Arbeit zu und welche
der freien Zeit? Auf welche Weise kann der Intellektuelle seine Posi-
tion (seinen ,,Beruf") innerhalb des Ganzen der Gesellschaft verteidi-
gen? Welchen Wert besitzt die Bildung, in welchem Grad soll man
sich diese zu eigen machen, und wie soll man mit ihr umgehen?
Darf man sie z.B. zu Erwerbszwecken verwenden? Welche Rolle
fällt der religiösen Komponente in der Lebensgestaltung zu und in-
wieweit affiziert sie die Wahl zwischen vita activa und vita con-
templativa?
1
Enenkel bezieht sich hierbei auf Francesco Petrarcas Schrift De vita solitaria
(1346­1356), die das erste humanistische Prosatraktat zum Problem vita activa /
vita contemplativa darstellt und damit als erstes Werk der Renaissance die Legi-
timierungsprobleme der humanistischen Lebensweise widerspiegelt.
2
Dabei
1
Francesco Petrarca, De vita solitaria, Buch I: Kritische Textausgabe und ideengeschichtlicher
Kommentar (Leiden u.a. 1990). Siehe Einleitung von Karl Enenkel, Seite XIX
.
2
Karl Enenkel, ,,Die humanistische vita activa/vita contemplativa/Diskussion: Francesco
Petrarcas De vita solitaria", in: Rhoda Schnur (Hg.): Acta Conventus Neo-Latini Hafniensis
(Binghamton 1994), S. 249-257, hier S. 249. ­ Petrarca stellt dabei die unglückliche, gehetzte

2
kann Petrarca (1304­1374) als Vorreiter der neuen ,,frei schwebenden" Intellek-
tuellen gelten, wie sie in Europa in den kommenden Jahrzehnten vermehrt in
Erscheinung treten sollten.
Thomas Morus (1478­1535) und seine Zeitgenossen stehen zwar nicht
mehr unter einem derartigen Legitimierungszwang, denn die humanistische
Lebensweise hat sich im Europa des frühen 16. Jahrhunderts etabliert und bildet
nicht mehr die Ausnahme. Dennoch verliert die Diskussion um vita activa und
vita contemplativa keinesfalls an Relevanz; im Gegenteil, die Beziehung
zwischen Theorie und Praxis und die Frage, welcher der beiden der Vorrang
zukommt, beschäftigt die Humanisten sehr, und für viele manifestiert sich der
Dualismus in der Differenz zwischen humanistischer Theorie und politischer
Praxis. Ein Standardthema der humanistischen Literatur bildet dabei die Frage-
stellung, ob die neue Bildungselite ihre Gelehrsamkeit in den Dienst eines
Fürsten stellen sollte. Genau diese Frage behandelt auch Thomas Morus im
ersten Buch seiner Utopia (1516). Von besonderem Interesse ist sein Beitrag
deshalb, weil es ihm gelingt, das tradierte Problem vita activa / vita
contemplativa differenziert und in seiner ganzen Bandbreite zu diskutieren, ohne
je in eine gemeinplätzliche Behandlung des Themas zu verfallen. Den Konflikt
zwischen politischer Aktion und gelehrter Kontemplation dramatisiert Morus da-
bei anhand der Morus-Persona und der Figur Raphael Hythlodaeus.
Die in der europäischen Renaissance eifrig geführte Auseinandersetzung
mit dem Thema reflektiert zunächst das homozentrische Weltbild der Humanis-
ten. Das binäre Modell entwickelt sich in der Renaissance zu einer exklusiven
und von gegenseitigem Unverständnis geprägten Opposition. Dabei wird, an
tradierte Denkmuster anknüpfend, die vita contemplativa vielfach als müßig und
nutzlos stigmatisiert, während umgekehrt die vita activa als unrein, profan und
eitel gebrandmarkt wird.
3
Die wichtigste Quelle der Befürworter einer politischen
vita activa stellt Ciceros De officiis dar, und wie im Folgenden aufzuzeigen ist,
spielt dieses Werk auch in der Argumentationsstruktur der Morus-Persona eine
vita aulica des Höflings der in sich ruhenden und glücklichen vita solitaria des Gelehrten
gegenüber. De vita solitaria galt für die europäischen Gelehrten des 14. bis 16. Jahrhunderts als
unumgängliche Lektüre, vgl. hierzu Einleitung von Karl Enenkel zu De vita solitaria, S. XVII.
3
Vgl. Brian Vickers, Arbeit, Muße, Meditation: Betrachtungen zur Vita activa und Vita
contemplativa (Zürich 1985), S. 6.

3
wichtige Rolle. Andere Humanisten wiederum berufen sich auf Platons Postulat,
nach dem die Freiheit von öffentlichen Ämtern unabkömmlich für die Erlangung
höchster Glückseligkeit ist.
Ausgehend von der Hypothese, dass Morus im ersten Buch der Utopia den
zeitlosen Widerstreit zwischen vita activa und vita contemplativa problematisiert,
ergibt sich die zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit: Zu welchem
Schluss gelangt Morus mit seinem Dialogue of Counsel hinsichtlich der Frage,
ob und warum Philosophen in den Staatsdienst treten bzw. aus welchen
Gründen sie dies unterlassen sollten? Zu welchem Ergebnis kommt Morus in der
Behandlung des Problems vita activa / vita contemplativa; welche Lebensform
wird als höherwertig dargestellt und mit welcher Begründung erfolgt dies? Von
besonderem Interesse ist hierbei auch, welches Bild vom Philosophen mit dem
ersten Buch der Utopia vermittelt wird. Dabei wird die These vertreten, dass
Morus angesichts der Unvereinbarkeit von Philosophie und Realpolitik die
Dialogpartner bewusst keine Einigung erlangen lässt und im Dialogue of
Counsel keine endgültige Stellung bezieht, sondern vielmehr ein Dilemma
konstatiert.
Um die oben skizzierte Relevanz und Tragweite des Themas aus humanis-
tischer Sicht aufzuzeigen, muss jedoch zunächst eine begriffliche Klärung
erfolgen (Kapitel 2.1), damit in einem nächsten Schritt die Besonderheiten des
englischen Humanismus untersucht werden können (Kapitel 2.2). Dabei wird
sich zeigen, dass die Diskussion des Themas vita activa / vita contemplativa
immer auch ein Indiz für ein im Wandel begriffenes Verhältnis zwischen Macht
und Geist darstellt. In Kapitel 2.3 wird untersucht, inwiefern der Konflikt zwischen
Aktion und Kontemplation für Morus' eigene Lebenswelt bedeutsam war;
schließlich hatte er mehr als nur ein akademisches Interesse an dem im
Dialogue of Counsel behandelten Problem. Da es sich bei dem Thema dieser
Arbeit um ein ideengeschichtlich voraussetzungsvolles Thema handelt, erscheint
es angebracht, in Kapitel 3 zunächst einen Überblick über die Geistesgeschichte
des dualistischen Modells zu liefern. Mit Platon (Kapitel 3.1) und Aristoteles
(Kapitel 3.2) werden die antiken Quellen des Modells aufgezeigt, wobei gerade
Platon bei der Analyse des ersten Buches der Utopia zentrale Bedeutung
erlangt. Schon Platon zeigt das ambivalente Verhältnis des Philosophen zur

4
Politik auf. Aber erst mit Aristoteles' Unterscheidung zwischen bios theoretikos
und
bios praktikos beginnt die ­ bis heute anhaltende ­ wertende Gegenüber-
stellung von Geistes- und Tatmensch. In der römischen Republik findet dann ein
Paradigmenwechsel statt; das kontemplative Lebensmodell des Philosophen
verliert seine Daseinsberechtigung fast gänzlich. Inwieweit Cicero dieser
Entwicklung gegensteuert, zeigt Kapitel 3.3 dieser Arbeit. Mit Augustinus
schließlich (Kapitel 3.4) wird ein kurzer Blick auf einen Theoretiker geworfen, der
die Übernahme des antiken Denkmodells in die christliche Ethik markiert. Dabei
wird deutlich, dass die Gegenüberstellung von vita activa und vita contemplativa
dem christlichen Weltverständnis de facto zuwiderläuft. Mit Platon, Aristoteles,
Cicero und Augustinus sind zugleich auch die wichtigsten Quellen der Renais-
sance-Humanisten benannt.
4
Vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund wird in Kapitel 4 untersucht,
welche Haltung Thomas Morus hinsichtlich des tradierten Widerstreits der
beiden konkurrierenden Lebensentwürfe einnimmt. Bevor jedoch die Dialogpart-
ner und ihre jeweilige Argumentationsstruktur untersucht werden, wird in Kapitel
4.1 ein kurzer Blick auf das von Morus begründete literarische Subgenre der
Utopie geworfen. Hierbei zeigt sich, dass die neuzeitliche Utopie ein intellektua-
listisches Konstrukt ist, das den verborgenen Wunsch des Theoretikers nach
einer aktiven Wirklichkeitsgestaltung reflektiert. In Kapitel 4.2 werden die semi-
fiktionalen Dialogpartner Morus und Aegidius untersucht; Kapitel 4.3 beleuchtet
mit Raphael Hythlodaeus die zentrale Figur der Utopia. Dabei wird deutlich, dass
Raphael vom Autor als idealtypischer Philosoph angelegt ist, der als solcher die
ursprünglichste Form der vita contemplativa repräsentiert. Auch zeigt sich, dass
die Figuren bereits die Grundzüge des sich erst zur Mitte des 16. Jahrhunderts
vollständig entfaltenden Gentleman-Ideals aufweisen. Da der Gentleman sich
durch eine weltläufige und lebenspraktische Grundhaltung auszeichnet, ergibt
sich ein starker Kontrast zwischen den Dialogpartnern, der eine wirkungsvolle
Inszenierung des Konflikts zwischen vita activa und vita contemplativa ermög-
licht. In Kapitel 4.4. wird schließlich untersucht, inwieweit Morus im Dialogue of
4
Bezüglich der gesamten Geistesgeschichte des Begriffspaares, die an dieser Stelle nicht
aufgearbeitet werden kann, ist anzumerken, dass nicht zufällig die meisten Autoren die kontem-
plative Lebensweise höher bewerten, da sie schlichtweg pro domo sprechen.

5
Counsel eine Bewertung der konkurrierenden Lebensmodelle vornimmt. Hier
wird die These vertreten, dass Morus eine ambivalente Haltung zur diskutierten
Frage der politischen Beratung hat und dass er sich einer verbindlichen Aussage
bewusst enthält. Damit attestiert Morus im Dialogue of Counsel zugleich die
Fremdheit des Philosophen in der Welt, die schon Platon im Gorgias und im
Theaitetos behandelt.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema vita activa / vita
contemplativa hat eine lange Tradition. Die Hauptarbeit wurde dabei von den
Altphilologen, Historikern und Theologen geleistet; entsprechend ist auch die
Mehrzahl der Beiträge auf die griechisch-römische Antike und auf die Kirchen-
väter bezogen. In der Anglistik liegen bislang keine grundlegenden Arbeiten zum
Thema vor. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass in der literaturwissenschaft-
lichen Forschung vielfach einzelne inhaltliche bzw. formale Aspekte eines
Werkes untersucht werden, geistes- und kulturgeschichtliche Analysen jedoch
eher die Ausnahme bilden. Speziell zur humanistischen Sichtweise fehlt es,
auch in den anderen Fakultäten, an Untersuchungen.
5
Dies mag verwundern,
denn wie bereits angedeutet wurde, handelt es sich bei dem Dualismus vita
activa / vita contemplativa um einen literarischen bzw. moralistischen Topos, der
für die Renaissance-Humanisten von großem Interesse war, weil er mit ihrer
gesellschaftlichen Selbstverortung verknüpft war. Tiefer gehende Studien zu
einzelnen Autoren bleiben dennoch die Ausnahme.
6
In Brian Vickers'
5
Hinsichtlich des englischen Humanismus sei auf C.A.L. Jarrott verwiesen, The English
Humanists' Use of Cicero's `De officiis' in their Evaluation of the Active and the Contemplative
Life (Stanford 1954). Zu nennen ist auch Brian Vickers' Aufsatz ,,Public and Private Life in
Seventeenth-Century England: The Mackenzie-Evelyn Debate", in: ders., Arbeit, Muße,
Meditation (Zürich 1985), der im Kern jedoch ein spezialisiertes Interesse verfolgt. Einen
Überblick liefert Paul Oskar Kristeller mit seinem Aufsatz ,,The Active and the Contemplative Life
in Renaissance Humanism", beschränkt sich hierbei allerdings auf die italienische Renaissance.
Vgl. Paul Oskar Kristeller, ,,The Active and the Contemplative Life in Renaissance Humanism",
in: Brian Vickers (Hg.): Arbeit, Muße, Meditation.
6
Die humanistische Debatte um vita activa et contemplativa erreicht in England mit Thomas
Starkeys A Dialogue between Reginald Pole & Thomas Lupset (1536) einen weiteren Höhe-
punkt. Aber auch hierzu fehlt es immer noch an grundlegenden Untersuchungen. Zu nennen ist
lediglich Thomas Mayers Thomas Starkey and the Commonweal: Humanist Politics and Religion
in the Reign of Henry VIII (Cambridge 1989). Zur ­ wesentlich besser erforschten ­ italienischen
Renaissance sei auf die relativ knappe, aber sehr präzise Untersuchung Karl Enenkels verwie-
sen (siehe Fußnote 2). An umfassenden Studien zu nennen ist Ursula Rombach, Vita activa und
Vita contemplativa bei Cristoforo Landino (Stuttgart 1991) sowie, aus kunstgeschichtlicher

6
chronologisch geordneter Aufsatzkompilation Arbeit, Muße, Meditation
7
werden
einzelne Phasen der geistesgeschichtlichen Entwicklung des Themas nachge-
zeichnet, tiefer gehende Untersuchungen können jedoch auch dort aufgrund des
enormen zeitlichen Rahmens nicht geleistet werden. Eine umfassende Arbeit
zum Thema vita activa / vita contemplativa bzw. zum Theorie-Praxis-Problem
liefert Nicholas Lobkovicz mit seinem Standardwerk Theory and Practice.
8
In
jüngerer Zeit ist zudem Wolfgang Vogls Aktion und Kontemplation in der Antike
9
zu nennen, das jedoch trotz der recht ausführlichen Behandlung des Themas
hauptsächlich Origenes untersucht.
Für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit von Bedeutung ist der 1978
erschienene Aufsatz von Jack H. Hexter, Thomas More and the Problem of
Counsel
10
, in dem die Utopia erstmalig hinsichtlich des Problems der politischen
Beratung untersucht wird. Dabei liegt der Fokus des Essays auf der Erkenntnis,
dass Morus mit seinem Dialog ein moralisches Dilemma konstatiert; auf das
Spannungsverhältnis zwischen den beiden dem Konflikt zugrunde liegenden
Lebensmodellen wird jedoch nicht eingegangen.
Quentin Skinner deutet in dem Aufsatz Sir Thomas More's `Utopia' and the
Language of Renaissance Humanism
11
den Dialogue of Counsel zwar als
Gegenüberstellung zweier konkurrierender Lebensauffassungen, kommt aber zu
wesentlich anderen Schlüssen als die vorliegende Arbeit. Zudem analysiert er
den Dialog primär unter rhetorischen Gesichtspunkten und geht auf den Konflikt
zwischen vita activa und vita contemplativa nur am Rande ein.
Perspektive, Florian Matzner, Vita activa et Vita contemplativa: Formen und Funktionen eines
antiken Denkmodells in der Staatsikonographie der italienischen Renaissance (Frankfurt a. M.
1994).
7
Brian Vickers (Hg.): Arbeit, Muße, Meditation (Zürich 1985).
8
Nicholas Lobkovicz, Theory and Practice: History of a Concept from Aristotle to Marx (Notre
Dame 1967). Zur Begrifflichkeit siehe auch Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben
(München 2002), S. 22-27.
9
Wolfgang Vogl: Aktion und Kontemplation in der Antike: Die geschichtliche Entwicklung der
praktischen und theoretischen Lebensauffassung bis Origenes (Frankfurt a. M. u.a. 2002).
10
Jack H. Hexter, ,,Thomas More and the Problem of Counsel", in: Michael J. Moore (Hg.):
Quincentennial Essays on St. Thomas More (Albany 1978), S. 55-66.
11
Quentin Skinner, ,,Sir Thomas More's Utopia and the Language of Renaissance Humanism",
in: Anthony Pagden (Hg.): The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe,
S. 123-157.

7
Die Sekundärliteratur zu Thomas Morus' Utopia ist nahezu unüberschaubar
geworden, was nicht zuletzt daran liegt, dass die Utopia ein Schlüsselwerk
sowohl der Literaturgeschichte Englands als auch der politischen Ideenge-
schichte ist. Jedoch ist festzustellen, dass das erste Buch von der Forschung
vergleichsweise wenig beachtet worden ist. Die Beobachtung Russell Ames',
,,the `Utopian' second part seems to dominate the mind whenever Utopia is men-
tioned"
12
, hat insofern ­ auch in Bezug auf die Sekundärliteratur ­ immer noch
ihre Gültigkeit. Romuald Lakowski geht in seiner Dissertation
13
von 1993 davon
aus, dass nicht mehr als zehn Prozent der Literatur sich ganz oder vorwiegend
mit dem ersten Buch befasst. Insbesondere das hier zur Untersuchung an-
stehende Thema, also die Behandlung des Problems vita activa / vita
contemplativa bei Thomas Morus, wurde bislang noch nicht umfassend unter-
sucht. Der Grund für die anhaltende Vernachlässigung des ersten Buches mag
darin liegen, dass es vielfach nur als narrativer Rahmen und nicht immer in
seinem Eigenwert als literarisches und philosophisches Werk gesehen wurde.
Für die vorliegende Arbeit wurde die von Jack H. Hexter und Edward Surtz
besorgte kritische Ausgabe von 1965 benutzt, die auf der Baseler Edition von
März 1518 basiert und bei Yale University Press als vierter Band der Complete
Works of St. Thomas More erschien.
14
Die Yale-Ausgabe bildet nach wie vor die
Standardausgabe der Utopia-Forschung, zugunsten einer besseren Lesbarkeit
wird jedoch nicht der lateinische Originaltext zitiert, sondern die englische Über-
setzung von Hexter und Surtz.
12
Russell Ames, Citizen Thomas More and his Utopia (Princeton 1949), S. 4.
13
Vgl. Romuald Ian Lakowski, The Dialogue in Book I of Utopia, http://www.shu.ac.uk/
emls/iemls/work/chapters/lakowski.html, S. 9, Abruf am 12.10.2005. Tatsächlich kann Lakowski
als der erste gelten, der den Dialog des ersten Buches einer detaillierten Analyse unterzieht.
14
Thomas Morus, The Complete Works of St. Thomas More, Band 4: Utopia, J.H. Hexter und
Edward Surtz (Hg.) (Yale 1965).

8
2
Thomas Morus und der englische Humanismus
2.1
Zum Begriff des Humanismus: Schwierigkeiten einer
Definition
Mit dem Begriff des Humanismus wird auf eine Geisteshaltung oder geistige
Bewegung verwiesen, die die Epoche der europäischen Renaissance kenn-
zeichnet. Während es sich bei dem Begriff ,,Humanismus" um eine Prägung des
19. Jahrhunderts handelt, wird die Bezeichnung ,,Humanist" bereits im Italien des
14. Jahrhunderts verwendet, und zwar
als Bezeichnung für die akademischen
Lehrer, die den Stellenwert der Rhetorik und Grammatik im universitären
Curriculum erhöhten.
Obwohl der Humanismus das Denken der europäischen Intellektuellen des
15. und 16. Jahrhunderts nachhaltig prägte, fällt es noch immer schwer, eine
tragfähige Definition dessen zu liefern, was Humanismus im Einzelnen beinhal-
tet, weist er doch in verschiedenen Phasen und verschiedenen Regionen unter-
schiedliche Ausprägungen auf. Eine übergreifende normative Ausrichtung kann
aus heutiger Sicht nicht festgestellt werden. Jonathan Woolfson beschreibt die
Problematik folgendermaßen:
Whilst areas of disagreement continue to exist, the dominant
historiographical consensus now rarely considers Renaissance
humanists to have espoused [...] a particular moral, philosophical or
religious message: the classical world as it came to be available to
the Renaissance was simply too capacious and wide-ranging for that
[...]. Humanism as a whole, then, was an educational and rhetorical
programme, a vision about learning and what learning should be, a
method for intellectual and scholarly exploration and discovery, a
powerful and immensely flexible vehicle for the expression of many
things, all of this predicated on a partially recoverable ancient
world.
15
Über regionale und zeitliche Grenzen hinweg lässt sich als Gemeinsamkeit
vor allem ein gewisser Kulturoptimismus ausmachen, der sich in der Grundan-
nahme manifestiert, dass sich der Mensch, mit dem richtigen Bildungsprogramm
versehen, zu etwas Gutem formen lasse. Dabei werden ,,Sprache und Sprach-
15
Jonathan Woolfson, Reassessing Tudor Humanism (New York u.a. 2002), S. 2f.

9
lichkeit [...] als wesentliche Kennzeichen des Menschen sowie als Konstitutiva
des Denkens und Weltbezugs thematisiert."
16
Inhaltlich zeichnet sich der
Renaissance-Humanismus ­ neben dem neuen Blick auf den Menschen als
vernunftbegabtes und gestaltendes Wesen ­ durch den Rekurs auf die Literatur
und Philosophie der klassischen Antike aus. So besteht die humanistische
Betätigung im Sammeln, Übersetzen, Herausgeben, Kommentieren und Weiter-
entwickeln griechischer und römischer Texte und Ideen. An die Stelle der mittel-
alterlich-scholastischen Konvention der an Logik orientierten Kommentare
setzten die Humanisten die antiken Texte selbst. Die unter dem Begriff des new
learning zusammengefasste Methodik beinhaltete zudem ,,neue" rhetorische
Literaturformen wie den Dialog, den Brief oder die essayistische Abhandlung.
17
Die Humanisten der frühen Neuzeit trugen durch ihre Übersetzungen
wesentlich zur Ausbildung der nationalen Sprachen und Literaturen bei. Paul
Johnson spricht diesbezüglich vom
zentralen Paradox der Renaissance: So war ihr Anliegen die
Wiederentdeckung und das Verstehen der alten griechischen und
lateinischen Texte sowie das Schreiben eines eleganten Latein.
Gleichzeitig ging es aber auch um das Reifen, das Ordnen und das
Verwenden der Volkssprachen [...].
18
Als Begründer und geistiger Mittelpunkt des Humanismus wird häufig
Francesco Petrarca genannt. Ihm ging es primär um die Wiederentdeckung der
antiken Autoren, vor allem Ciceros, und wenn er auch nicht als erster dafür
eintrat, so doch auf entschiedene und nachhaltige Weise. Schon ein bis zwei
Generationen später empfand man, dass mit ihm ein neues Zeitalter begonnen
hatte, das direkt an die Antike anknüpfte.
19
Italien, insbesondere Florenz, Padua
und Bologna, war das Zentrum der humanistischen Bildung. Mit einiger Ver-
zögerung entfaltete sich der Geist des Humanismus in weiteren Staaten
16
Herfried Münkler und Marina Münkler, Lexikon der Renaissance (München 2000), Eintrag
,,Humanismus/Humanisten", S. 153-171, hier S. 153.
17
,,Den nicht zu leugnenden Verlust an theoretischer Systematik und Stringenz sahen die
Humanisten mehr als wettgemacht durch eine den Menschen zur Zustimmung und zum rechten
Handeln bewegende Eloquenz", siehe: Hans Fenske et al. (Hg.), Geschichte der politischen
Ideen (Frankfurt a. M. 2004), S. 168.
18
Paul Johnson, Die Renaissance (Berlin 2002), S. 35.
19
Eckhard Kessler, Das Problem des frühen Humanismus: Seine philosophische Bedeutung bei
Coluccio Salutati (München 1968), S. 12-13.

10
Europas. Gelehrte aus ganz Europa reisten nach Italien, um sich dort unterrich-
ten und inspirieren zu lassen. Als zentrale Figur des Humanismus nördlich der
Alpen gilt Erasmus von Rotterdam (1469­1536), den mit Thomas Morus eine
lebenslange Freundschaft verband.
Durch die neuen Möglichkeiten des seriellen Buchdrucks entstand eine
intellektuelle Streitkultur, in der Diskussionen über theologische, ethische und
politische Fragen erstmals über den engen Kreis der Gelehrten hinaus öffent-
liche Beachtung fanden. Dennoch blieb der Renaissance-Humanismus im Kern
eine elitäre Bewegung. So schreibt Douglas Bush in seiner grundlegenden
Monographie über den englischen Humanismus: ,,Humanism has a bond of
union with scholasticism, for both originated in anti-democratic and anti-heretical
impulse."
20
Die auf Petrarca zurückgehende und noch heute verbreitete
Wahrnehmung der frühen Neuzeit als eine Zeit des Erwachens aus den be-
drückenden dark ages ist deshalb zu hinterfragen. Bereits 1939 kritisierte Bush
die Inszenierung einer Polarität von Mittelalter und Renaissance: ,,[But] the more
serious fault of serious historians has been the drawing of picturesque contrasts
between the religiosity of the Middle Ages and the paganism of the
Renaissance."
21
Dass diese Gegenüberstellung stark überzeichnet ist, zeigt sich
am Beispiel Englands, denn gerade dort präsentierte sich der Humanismus als
eine Synthese aus griechisch-römischer Ethik und katholischer Glaubenslehre.
Zudem entwickelte sich das humanistische new learning parallel zur mittelalter-
lichen Scholastik und innerhalb der traditionellen Institutionen, also der Universi-
täten und kirchlichen Institutionen. Thomas Morus' Utopia (1516) wird generell
als das beste Beispiel für den christlichen Humanismus englischer Prägung
empfunden.
20
Douglas Bush, The Renaissance and English Humanism (Toronto 1939), S. 24 ­ Ähnlich
verweist auch Ralph Keen auf den elitären Charakter der Bewegung: ,,The Renaissance return to
classical antiquity was a movement away from particular vernacular cultures; it was an attempt to
create an international elite community, intellectually independent of the more mundane world in
which its participants existed." Siehe Ralph Keen, ,,Humanism and the Reformation in
Controversy", in: Uwe Baumann und Hermann Boventer (Hg.): Europa: Wiege des Humanismus
und der Reformation (Frankfurt a.M. 1997), S. 11-28, hier S. 13.
21
Bush, The Renaissance and English Humanism, S. 28.

11
2.2
Der englische Humanismus im europäischen Kontext
Der Lebensweg des Thomas Morus (1478­1535) vollzog sich vor dem Hin-
tergrund einer sich konsolidierenden Tudor-Monarchie. Als Morus sieben Jahre
alt war, starb Richard III., den er später in seinem biographischen Werk The
History of King Richard the Thirde als Verkörperung eines grausamen Tyrannen
darstellte.
22
Die darauf folgende Thronbesteigung Henry Tudors (1491­1547)
markierte das Ende der Rosenkriege und begründete die Herrschaft des Hauses
Tudor. Als Henry VII. nach 24-jähriger Regierungszeit starb, wurde sein zweitäl-
tester Sohn 1509 als Henry VIII. zum neuen König gekrönt.
Mit ihm gelangte ein theologisch und humanistisch gebildeter Thronfolger an
die Macht. Als er knapp achtzehnjährig den englischen Thron bestieg, wurde er
von den Humanisten als einer der ihren bejubelt.
23
Zu Beginn seiner Regent-
schaft stellte die gebildete Öffentlichkeit hohe Erwartungen an ihn. So rühmte
ihn John Fisher, Kanzler der Universität Cambridge, als den ,,Retter der Bildung
in England", und noch 1517 schrieb Erasmus an Heinrich VIII.: ,,Scarcely a day
passes in which you do not devote some portion of your time to reading books,
enjoying the society of those philosophers of old who flatter least of all men."
24
In
seiner 1998 erschienenen Monographie über Thomas Morus schreibt Peter
Ackroyd:
Not much older than the century itself, Henry might be considered to
be the king for a new age of restored piety and scholarship. There
seemed every reason to believe he would patronise the new learning
and, more importantly, maintain the peace and stability in which
such learning could flourish. It is hard to think of any other century,
or reign, in England which opened with such hopes.
25
22
Shakespeares Darstellung Richards III. im gleichnamigen Königsdrama basiert weitgehend auf
Morus' Darstellung. Morus hat somit maßgeblich dazu beigetragen, dass Richard von der Nach-
welt als Inbegriff des skrupellosen Tyrannen wahrgenommen wurde.
23
Vgl. Münkler, Lexikon der Renaissance, Eintrag ,,Heinrich VIII.", S. 144-147, hier S. 144.
24
Erasmus, ,,Letter No. 657", in: Collected Works of Erasmus, Band 5: The Correspondence of
Erasmus ­ Letters 594 to 841, 1517 to 1518 (Toronto u.a. 1979), S. 109.
25
Peter Ackroyd, The Life of Thomas More (London 1999), S. 127. ­ Verständlich wird diese
Erwartungshaltung, wenn man sich vergegenwärtigt, wie unzufrieden das englische Volk zuletzt
mit Heinrich VII. war. In seiner Biographie Heinrichs VIII. schreibt Jasper Ridley über dessen
Vorgänger: ,,Heinrich VII. wurde immer unbeliebter [...]. Heinrichs Regierung wurde gegen Ende
noch straffer. Die Bevölkerung klagte bitter über die hohen Steuern. Noch unbeliebter war die
Angewohnheit Heinrichs und seiner Minister, wohlhabende Untertanen eines Vergehens zu be-
schuldigen und ihnen dann als Sicherheitsleistung oder Bürgschaft für ihr gutes Benehmen einen

12
Heinrich VIII. wurde als Befreier des englischen Volkes aus der Unter-
drückung gefeiert. Auch Thomas Morus teilte die Hoffnungen, die seine Zeit-
genossen in den neuen König setzten, wie der Anfang seines fast 200 Zeilen
umfassenden coronation poem veranschaulicht:
If ever there was a day, England, if ever there was a time for you to
give thanks to those above, this is that happy day, one to be marked
with a pure white stone and put in your calendar. This day is the limit
of our slavery, the beginning of our freedom, the end of sadness, the
source of joy, for this day consecrates a young man who is the
everlasting glory of our time and makes him your king ­ a king who
is worthy not merely to govern a single people but singly to rule the
whole world ­ such a king as will wipe the tears from every eye and
put joy in the place of our long distress. Every heart smiles to see its
cares dispelled, as the day shines bright when clouds are scattered.
Now the people, freed, run before their king with bright faces. Their
joy is almost beyond their own comprehension. They rejoice, they
exult, they leap for joy and celebrate their having such a king. ,,The
King" is all that any mouth can say.
26
Und so war Heinrich VIII. in der Tat anfänglich ein entschiedener Förderer
des Humanismus und des mit diesem einhergehenden gesellschaftlichen Wan-
dels.
27
In seiner Bildungsgeschichte des europäischen Humanismus schreibt
Günther Böhme, der ,,etwas rührend anmutende Glaube der Humanisten, der
tatsächlich hochgebildete Heinrich VIII. könnte so etwas wie eine humanistische
Renaissance und einen Humanistenhof nach florentinischem Muster in England
einbürgern", sei ,,utopisch, doch offensichtlich nicht ganz grundlos" gewesen.
28
hohen Geldbetrag abzuverlangen." Siehe Jasper Ridley, Heinrich VIII.: Eine Biographie (Zürich
1990), S. 33.
26
Thomas Morus, ,,Latin Poem Nr. 19", in: The Complete Works of St. Thomas More, Band 3,
Teil 2: Latin Poems, S. 100-111, hier S. 101. Morus' Krönungsgedicht unterscheidet sich insofern
von den konventionellen Elogen als er darin deutliche Kritik am verstorbenen Heinrich VII.
äußert. Dass Morus Heinrich VIII. als Heilsbringer darstellt, erklärt sich auch dadurch, dass
Heinrich VII. ihm keine große Wertschätzung entgegengebracht hatte ­ im Gegenteil: ,,For some
reason, the circle of younger humanist scholars including More, Linacre, Erasmus, Ammonio,
and Colet had been distinctly `out' during Henry VII's reign." Siehe Alistair Fox, Politics and
Literature in the Reigns of Henry VII and Henry VIII (Oxford 1989), S. 18 ­ Zur Situation der
humanistischen Bildungselite schreibt Morus in Zeile 104ff.: ,,He now gives to good men the
honors of public offices which used to be sold to evil men. By a happy reversal of circumstances,
learned men now have the prerogatives which ignoramuses carried off in the past."
27
Günther Böhme, Bildungsgeschichte des europäischen Humanismus (Darmstadt 1986),
S. 182.
28
Böhme, Bildungsgeschichte, S. 182 ­ Über Heinrichs geistigen Fähigkeiten befindet Lacey
Baldwin Smith: ,,Henry may have gone the whole way in his emotional commitments, but
intellectually he rarely got more than half-way. In spite of his expertise, his extraordinary mastery
of detail and his encyclopedic memory, he was not an intellectual. His mind was quick and its

13
Im Laufe seiner fast vierzigjährigen Herrschaft entsprach Heinrich VIII. dem
humanistischen Ideal des ,,Gelehrten an der Macht" jedoch immer weniger. Er
wurde bekannt für seine Eifersucht und seinen Jähzorn, und schon der geringste
Verdacht der Untreue reichte ihm aus, um ein Todesurteil auszusprechen und
vollstrecken zu lassen.
29
Mit seinen Kriegen gegen Frankreich und Schottland
orientierte er sich schon bald nach Beginn seiner Regentschaft nicht mehr am
humanistischen Ideal des Pazifismus,
30
so dass die großen Hoffnungen der Hu-
manisten rasch enttäuscht wurden:
It is not coincidental that, at this time, the men who espoused
learning and piety condemned war as the greatest of all social evils;
Colet and Warham delivered sermons in praise of the pleasures of
peace, while Erasmus's lamentations could also be heard in Moriae
encomium [Praise of Folly]. But the twenty-one-year-old king was
more enamoured of conquest than of learning; in the space of two or
three years, he had disappointed the extravagant hopes that the
humanists had placed in him.
31
Gleichwohl bildeten die ersten Regierungsjahre Heinrichs die Blütezeit des
englischen Humanismus. Der Beginn des Renaissance-Humanismus in England
wird oft auf das Jahr 1490 datiert. In diesem Jahr hielt der Kleriker William
Grocyn (1449­1519), von einem dreijährigen Aufenthalt in Italien zurückgekehrt,
erstmals öffentliche Vorlesungen über die griechische Sprache und Literatur an
der Universität Oxford.
32
Zu seinen Schülern zählten Thomas Morus, John Colet
(1467­1519) und später auch Erasmus. 1499 reiste Erasmus auf Einladung
Colets nach Oxford und schrieb wenig später an einen Freund: ,,It is marvellous
filing system neat and efficient, but compilation and cataloguing were largely substitutes for
thinking." Siehe Lacey Baldwin Smith, Henry VIII: The Mask of Royalty (London 1971), S. 93.
29
Vgl. Münkler, Lexikon der Renaissance, Eintrag ,,Heinrich VIII.", S. 144.
30
Jedoch hat Uwe Baumann gezeigt, dass die englischen Humanisten zwar pazifistisch einge-
stellt waren, aber viele von ihnen durchaus der klassisch-römischen Vorstellung des bellum
iustum anhingen, die bspw. auch in Mores Utopia zum Tragen kommt. Von einer klaren Dicho-
tomie von humanistischer Theorie und politischer Praxis kann hier also nicht die Rede sein. Vgl.
Uwe Baumann, ,,Krieg und Frieden in der humanistischen Theorie und der politischen Praxis der
frühen Tudorzeit", in: ders. et al. (Hg.): Europa: Wiege des Humanismus und der Reformation,
S. 49-81.
31
Ackroyd, The Life of Thomas More, S. 154.
32
Vgl. Hans Ulrich Seeber (Hg.): Englische Literaturgeschichte (Stuttgart u.a. 1993), S. 63.

14
to see what an extensive and rich crop of ancient learning is springing up here in
England [...]."
33
Zu dem Personenkreis, auf den Erasmus sich mit dieser Aussage bezog,
zählten neben William Grocyn auch John Colet, der durch seine Neuinterpre-
tation der Korinther-Briefe Berühmtheit erlangte. Zusammen mit Thomas Linacre
(1460­1524), angesehen unter anderem wegen seiner lateinischen
Grammatiken, und William Lily (1468­1522), der die St. Paul's School zu einer
der einflussreichsten humanistischen Lehrstätten Englands machte,
34
waren
dies die zentralen Figuren für die Herausbildung des Humanismus in England.
35
Zu diesem Gelehrtenkreis, der sich Ende des 15. Jahrhunderts in London
bildete, zählte bald auch Thomas Morus. Peter Ackroyd bemerkt dazu:
Two salient characteristics of his friends are [...] relevant; they all
took religious orders and all had spent some years in Italy or Greece
as part of their scholarly training. So Thomas More was the
exception among them; he was much younger, a student of the law
and a layman apparently dedicated to a lay career.
36
Neben ihrer religiösen Grundhaltung zeichneten sich die englischen Huma-
nisten durch ihren dezidiert pädagogischen Anspruch aus. Charakteristisch für
den Tudor Humanism, wie ihn Morus und sein Kreis repräsentierten, war eine
pragmatische Grundhaltung. Mehr noch als beim kontinentaleuropäischen
Humanismus stand hier die praktische Anwendung des antiken Wissens im
Mittelpunkt; ging es in England doch vor allem darum, die geistigen Errungen-
schaften der Antike für die zeitgenössische Gesellschaft nutzbar zu machen.
Auch Douglas Bush betont die utilitaristische Ausrichtung Morus' und seiner
Zeitgenossen, wenn er schreibt:
The broad aim of Tudor humanism was training in virtue and good
letters; the practical aim was training for the active Christian life,
especially public life. Erasmus and More and their followers did not
33
Erasmus, ,,Letter No. 118/To Robert Fisher", in: Collected Works of Erasmus, Band 1: The
Correspondence of Erasmus ­ Letters 1 to 141, 1484 to 1500 (Toronto
u.a. 1974), S. 235f., hier
S. 236.
34
Vgl. Charles G. Nauert, Humanism and the Culture of Renaissance Europe (Cambridge 1995),
S. 116.
35
Zu einer weiteren zentralen Figur des englischen Humanismus wurde später Thomas Elyot
(1490­1546), der mit seinem Boke Named the Governour (1531) Maßstäbe für die Erziehung an
den englischen public schools setzte.
36
Ackroyd, The Life of Thomas More, S. 69.

15
investigate the coinage or the grammar of the ancients, they sought
to make the rational wisdom of antiquity supplement the teaching of
Christ. The Praise of Folly and Utopia, The Governour and The
Scholemaster remain living books. All the English humanists, like the
majority of continental ones, regarded classical learning as a means,
not an end, and their energies were given to education. They wished
to produce citizens and statesmen, not scholars [...]. From More to
Milton the writings of English humanists were chiefly on public
affairs, education, and religion [...]. Classical scholars pure and
simple have always been rare accidents in England.
37
Der Glaube stand diesem Vorhaben keinesfalls im Wege ­ die Ethik der
Antike wurde von Thomas Morus und seinen humanistischen Mitstreitern viel-
mehr als gleichberechtigte Ergänzung zur christlichen Lehre verstanden. Die von
Morus und seinem Kreis vollzogene Verbindung von Katholizismus und
griechisch-römischer Ethik war insofern außergewöhnlich als die Mehrheit der
Katholiken an der mittelalterlichen Scholastik festhielt und sich dem new learning
nur wenig aufgeschlossen zeigte.
38
Dass die humanistische Bildung im Europa des fünfzehnten und sechzehn-
ten Jahrhunderts derart florierte, lag nicht zuletzt auch am Wohlwollen der
Fürsten,
39
wobei die Beziehungen zwischen Fürsten und Intellektuellen jedoch
reziprok waren, denn ,,die Humanisten bedurften ebenso der Patronage durch
die Herrscher, wie die Herrscher den Rat der Humanisten benötigten, wie
Erasmus und Budé in zwei Abhandlungen über die Fürstenerziehung ausführ-
ten."
40
37
Bush, The Renaissance, S. 78f. ­ Die Tatsache, dass Morus seinen Töchtern die gleiche
klassische Bildung angedeihen ließ wie seinem Sohn, machte ihn zu einem der progressivsten
Bildungsreformer seiner Zeit. Seine Überzeugung, dass Bildung kein Selbstzweck ist und ihre
eigentliche Vollendung erst in der Lebenspraxis findet, äußert Morus in einem etwa 1518
verfassten Brief an William Gonell, den Tutor seiner Kinder: ,,Among all the benefits that learning
bestows on men, there is none more excellent than this, that by the study of books we are taught
in that very study to seek not praise, but utility. Such has been the teaching of the most learned
men, especially of philosophers, who are the guides of human life [...]." Siehe
www.thomasmorestudies.org, Abruf am 12.10.2005. Für den lateinischen Originaltext siehe
Thomas Morus, ,,To William Gonell", in: The Correspondence of Sir Thomas More (Freeport,
New York 1970), S. 120-123.
38
Vgl. Bush, The Renaissance, S. 83.
39
Sei es aus Eitelkeit oder Interesse: Nicht nur in Italien konkurrierten die Fürstenhöfe in der
Förderung von Künstlern und Intellektuellen.
40
Peter Burke: Die europäische Renaissance: Zentren und Peripherien, S. 115. Zu dem unter
der Regentschaft Heinrichs VIII. fest installierten System des Mäzenatentums schreibt Alistair
Fox: ,,Patronage, because of the very way it was procured and bestowed, had a profound
influence on early Tudor writing. Patrons were not primarily altruistic in their motivation: they
expected certain services in return; the conventionality of much early Tudor literature can be

16
Heinrich VIII., wie zuvor schon sein Vater, war sich der Vorteile bewusst,
gebildete Männer in Lohn und Brot zu stellen, die in ihren Werken die Tudor-
Dynastie feierten und, wenn nötig, die königliche Position in außenpolitischen
Angelegenheiten mündlich oder schriftlich darlegten. Für diese Aufgaben boten
sich die in Rhetorik sorgfältig geschulten Humanisten in besonderer Weise an.
Zu den humanistischen Gelehrten, die sich am Hof des jungen Heinrich beweg-
ten, zählten John Colet, Thomas Linacre, William Lily, Cuthbert Tunstall, Richard
Pace und, ab 1517, Thomas Morus. Überhaupt waren die englischen Humanis-
ten eher am Hof als an den Universitäten anzutreffen, worauf unter anderem
auch Erasmus hinwies.
41
Der Gedanke, dass ein Herrscher nur mit Hilfe guter Beratung seine Aufga-
ben und Pflichten erfüllen könne, lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen.
Dem platonischen Ideal des Philosophenkönigs folgend, sahen die Humanisten,
allen voran Erasmus, die Notwendigkeit, die zum Regieren bestimmten Mitglie-
der der Gesellschaft durch eine Synthese aus christlicher Ethik und klassischer
Gelehrsamkeit moralisch zu verbessern. ,,Statt selbst Könige zu werden, werden
die Philosophen Lehrer und Ratgeber von Königen und hoffen, so durch ihren
Einfluß indirekt das zu erreichen, was Platon unmittelbar erreichen wollte."
42
In
seiner Biographie über Morus schreibt Richard Marius:
Both More and Erasmus believed that a good education disciplined
life and led to virtue. Humanist reform aimed at spreading education
to rulers of both the church and the secular government in hopes
that the good effects of sound learning would trickle down to the rest
of the society and purify the whole. It was an authoritarian concept,
suitable for an authoritarian age: make the people at the top good,
and they will force or cajole or inspire others to be good, too.
43
Die englischen Humanisten übernahmen die erasmischen Ideen weitgehend
und passten sie dem englischen Kontext an, was in ihren Bemühungen resultier-
explained in terms of the functions writers had to perform. Needing to consolidate and legitimize
his new dynasty, Henry VII mounted a major campaign to amplify the magnificence of his rule by
using artists and men of letters." Siehe Alistair Fox, Politics and Literature in the Reigns of Henry
VII and Henry VIII (Oxford 1989), S. 17.
41
Vgl. etwa Erasmus, ,,Letter No. 999/To Ulrich von Hutten", in: Collected Works of Erasmus,
Band 7: The Correspondence of Erasmus ­ Letters 993 to 1121, 1519 to 1520 (Toronto 1987),
S. 15-25, hier S. 24.
42
Fritz Caspari, Humanismus und Gesellschaftsordnung (Bern 1988), S. 69.
43
Richard Marius, Thomas More: A Biography (New York 1985), S. 235.

17
te, einen konkreten Bildungsplan für die Jugend auszuarbeiten. Auch wurde auf
Betreiben der Humanisten Bildung zunehmend zu einer zentralen Voraus-
setzung für Amtsinhaber und Thronanwärter. Demnach musste der Fürst zum
guten Herrscher erst erzogen werden, und die Erziehung der Fürsten oblag den
Humanisten ­ so arbeitete beispielsweise Thomas Linacre als Lateinlehrer der
jungen Mary Tudor und John Skelton (1460?­1529), poeta laureatus der Univer-
sität Oxford, als Erzieher des späteren Heinrich VIII.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die antike Tradition der
Fürstenspiegel in der frühen Neuzeit neue Relevanz erlangte. Im Fürstenspiegel
(speculum principis), dessen literarische Form vielgestaltig ist, werden Grund-
sätze und Regeln für die Erziehung und das tugendhafte Verhalten angehender
Herrscher niedergelegt. Vielfach wird neben dem Idealbild eines Herrschers
auch das Bild einer idealen Staatsverfassung gezeichnet. Mit seiner Utopia
knüpfte auch Morus an diese literarische Tradition an.
In den Fürstenspiegeln des frühen 16. Jahrhunderts manifestiert sich der
humanistische Grundgedanke, dass ,,eine Umgestaltung der Gesellschaft und
der staatlichen Verwaltung eine Erziehung derer verlangte, die dafür Verantwor-
tung zu tragen haben."
44
Dabei können besonders die Fürstenspiegel der
Renaissance als
eine mehr oder weniger subtile Strategie der Intellektuellen begriffen
werden, vermittels derer sie auf die Herrscher Einfluß zu gewinnen
suchen, worin sie mit den Juristen und Beratern des Beamtenstaa-
tes, den Adligen der Hofgesellschaft und nicht zuletzt mit den Theo-
logen, die als Beichtväter der Fürsten fungierten, konkurrierten.
45
Am Ende seiner Blütezeit bringt der englische Humanismus ein spezifisch
englisches Phänomen hervor, nämlich die Gestalt des Gentleman ,,in der unver-
wechselbaren Mischung von Weltläufigkeit und Bildung, von Distanz zur Umwelt
und Wirklichkeitssinn, diese speziell englische Prägung des `Hofmannes' durch
die Mitwirkung in öffentlichen Geschäften und den kühlen Abstand im Individu-
ellen."
46
Paradigmatisch für dieses neue englische Selbstverständnis und Selbst-
bewusstsein wird Thomas Elyots Traktat The Boke Named the Governour
44
Böhme, Bildungsgeschichte, S. 182.
45
Münkler, Lexikon der Renaissance, Eintrag ,,Fürstenspiegel", S. 129-131, hier S. 130.
46
Böhme, Bildungsgeschichte, S. 180.

18
(1531). Im Boke findet die ,,entschiedene Wendung vom schieren Buchgelehrten
zu der Bildung weltoffener Herren"
47
ihren Ausdruck. Elyot trägt damit maß-
geblich zur Herausbildung des Gentleman-Ideals bei. Die Lebensform des
Gentleman ist ,,das Produkt eines Humanismus, der lebenspraktisch wird und
die Gelehrsamkeit der Universitäten nicht mehr zum Selbstzweck werden läßt."
48
Obwohl zu Morus' Lebzeiten nur eine kleine Elite überhaupt an der humanisti-
schen Bewegung beteiligt war, wurde humanistisches Gedankengut auf diese
Weise ,,zu einem wirkungskräftigen Bestandteil im gesellschaftlichen Denken der
Tudorzeit"
49
, was in künstlerischer Hinsicht jedoch erst im elisabethanischen
Zeitalter voll zum Tragen kommen sollte.
50
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass sich der englische Humanismus vor
allem durch seinen utilitaristischen Ansatz und seinen christlichen Impetus aus-
zeichnet. Dabei waren die englischen Humanisten vergleichsweise wenig radikal
in ihren Ideen, wie bereits Bush herausstellt:
,,Nearly all the Englishmen who went to Italy to study or had
connections with Italian humanists were churchmen, and the
increasing strength of the classical revival did not fundamentally alter
their religious habits of life and thought [...]. Whatever neo-paganism
flourished in Italy, these men did not seek it or acquire it."
51
Diese Beobachtung gilt insbesondere auch für Thomas Morus, der sein
Leben lang gleichermaßen überzeugter Humanist und überzeugter Katholik war.
Es ist Dietmar Herz darin zuzustimmen, dass das Denken Thomas Morus' ,,ohne
Kenntnis seiner Biographie kaum zu erschließen" ist.
52
Zwar müssen literarische
47
Böhme, ebd., S. 92.
48
Böhme, ebd. ­ Dabei vertrat Elyot jedoch im Gegensatz zu den bürgerlich orientierten Huma-
nisten um Morus einen ,,dezidiert pro-aristokratische[n] Standpunkt", wie Gerd Dose gezeigt hat.
Elyot ist demnach ,,der erste englische Humanist, der das Gemeinwesen ganz entschieden aus
der Position einer Klasse, der Gentry betrachtet und ein ausschließlich von den Interessen der
Gentry bestimmtes neues Adligenideal zu begründen sucht." Siehe Gerd Dose, Adel und Ge-
meinwesen (Frankfurt a. M. 1977), S. 191f.
49
Caspari, Humanismus und Gesellschaftsordung, S. 13.
50
Während der Regierungszeit Heinrichs VIII. wurden diesbezüglich die Grundlagen für das
elisabethanische Zeitalter gelegt, in dem ,,humanistische Bildung praktisch zur Voraussetzung für
politschen und gesellschaftlichen Aufstieg geworden [war] und [...] ein Grundbestandteil der
erstaunlichen literarischen Schöpferkraft der Zeit [war]". Siehe Caspari, Humanismus und
Gesellschaftsordnung, S. 22f.
51
Bush, The Renaissance, S. 70.
52
Dietmar Herz, Thomas Morus: Eine Einführung (Hamburg 1999), S. 10.

19
Werke grundsätzlich für sich selbst stehen; der biographische Hintergrund darf
für die Deutung eines Werkes zunächst keine Rolle spielen. Eine Ausnahme von
dieser Regel kann jedoch für Utopia gelten, denn bei Morus sind Leben und
Werk eng miteinander verknüpft.
2.3
Thomas Morus: ,,The king's good servant, but God's first"
,,An acquaintance with More's life and an understanding of his stance in
controversy is not something extraneous to an intelligent reading of Utopia: it is
essential to its correct interpretation."
53
Bezogen auf den Dialogue of Counsel
des ersten Buches der Utopia offenbart sich diese Erkenntnis darin, dass
Thomas Morus hier ein ihn unmittelbar bedrängendes Problem literarisch um-
setzte: die Frage, ob ein humanistischer Gelehrter als Berater an einen Fürsten-
hof gehen sollte. Diese Frage stellte sich für Morus konkret etwa ab 1515, als
ein Eintreten in den königlichen Dienst aufgrund seiner erfolgreichen öffentlichen
Laufbahn zunehmend wahrscheinlich wurde. Morus war aber nicht der einzige,
dem sich diese Frage stellte. Denn wie bereits deutlich wurde, traten im Europa
des frühen 16. Jahrhunderts viele Humanisten in den Dienst eines Fürsten ­
einerseits, weil den Humanisten an einer grundlegenden Erneuerung der Politik
und Gesellschaft gelegen war, andererseits aber auch aus der schlichten Not-
wendigkeit, ihren Lebensunterhalt und ihre studia humanitas zu finanzieren.
Kurzum, die Macht hatte eine ungemein attraktive Wirkung auf den Geist.
Obwohl Morus selbst kein Buchgelehrter wie etwa Erasmus war, benennt er
doch deutlich den der Renaissance inhärenten Grundkonflikt zwischen Huma-
nismus und Realpolitik, zwischen Theorie und Praxis, wenn er 1516 an Erasmus
schreibt: ,,I feel as though I had lost one-half of myself in Pace, and the other half
in you."
54
Hier spielt Morus auf die beiden gegensätzlichen Ausprägungen
humanistischen Daseins an, die er auch in seiner Person erkennt: einerseits die
Lebensform des königlichen Sekretärs Richard Pace (ca. 1482­1536), anderer-
seits die des ungebundenen scholar Erasmus. Aber auch in anderer Hinsicht tritt
53
Anthony Kenny, ,,Thomas More", in: Thomas Keith (Hg.), Renaissance Thinkers (Oxford u.a.
1993), S. 210.
54
Erasmus, ,,Letter No. 388/From Thomas More", in: The Correspondence of Erasmus, Band 3
(Toronto u.a. 1976), S. 229-237, hier S. 230.

20
der Konflikt zwischen vita activa und vita contemplativa in Morus' Biographie
hervor, denn er kann sich lange Zeit nicht zwischen der priesterlichen und der
weltlichen Daseinsform entscheiden.
55
Thomas Morus wuchs in einer wohlhabenden und einflussreichen Londoner
Juristenfamilie auf. Er besuchte die renommierte St Anthony's Grammar School
und übte sich schon früh in Rhetorik, war es doch fester Bestandteil des Lehr-
plans, dass die Schüler vorgegebene Themen sowohl mündlich als auch schrift-
lich kontrovers diskutierten.
56
Im Alter von zwölf Jahren wurde er als Page in den
Haushalt von John Morton, dem Erzbischof von Canterbury und Lordkanzler von
England, geschickt.
57
Im Herbst 1492 verschaffte Kardinal Morton ihm ein
Stipendium für das Canterbury College der Universität Oxford. Das College
wurde von Benediktinern geleitet und galt allgemein als eine gute Vorbereitung
für eine kirchliche Laufbahn.
58
Morus war vierzehn Jahre alt, seinerzeit ein nor-
males Eintrittsalter für die Universität. Warum er Oxford nach nur zwei Jahren
des Studiums verließ, bleibt unklar: ,,[...] it has been suggested that he was the
unfortunate object of his father's ambition; according to this theory John More
insisted upon his son following a legal career like his own, thereby foresaking the
academic delights of the college library and the dangerous `new learning'".
59
Ob
er nun aus eigenem Willen oder auf Wunsch John Mores wechselte, sei dahin-
gestellt, jedenfalls betrat Morus 1494 das angesehene Londoner New Inn und
studierte Rechtswissenschaften, wie einst sein Vater.
55
Stephen Greenblatt bemerkt hierzu: ,,There is always, it seems, a `real' self ­ humanistic
scholar or monk ­ buried or neglected, and More's nature is such that one suspects that, had he
pursued wholeheartedly one of these other identities, he would have continued to feel the same
way." Siehe Stephen Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning: From More to Shakespeare
(Chicago u.a. 1980), S. 32.
56
Ackroyd, The Life of Thomas More, S. 22f.
57
Seit mehreren Jahrhunderten war es in England üblich, Kinder höherer Geburt zur weiteren
Erziehung in einen angesehenen Haushalt zu schicken; im Spätmittelalter war dies bereits zu
einer fest verankerten Konvention geworden.
58
Herz, Thomas Morus zur Einführung, S. 17.
59
Ackroyd, The Life of Thomas More, S. 35. ­ Es war seinerzeit nicht unüblich, einige Semester
zu studieren und ohne Abschluss die Universität zu verlassen.

21
Von 1499 bis 1503, während seiner praktischen juristischen Ausbildung, leb-
te Morus als Gast in einem Kloster der Kartäuser nahe London.
60
Richard Marius
geht in seiner Biographie davon aus, dass Morus in den Jahren zwischen 1501
und 1505 von einer Krise heimgesucht wurde, die Marius unter dem Titel
,,Priesthood or Marriage" subsumiert.
61
Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass
Morus seinerzeit ein Leben als Mönch in Betracht zog und sich bei den Kartäu-
sern im Lebenswandel des Mönches übte. In seinem Lyfe of Sir Thomas Moore,
Knighte berichtet Morus' Schwiegersohn und erster Biograph William Roper:
,,[More] gave himself to prayer and devotion in the Charterhouse of London,
religiously living there, without vow, about four years [...]."
62
Erasmus schreibt
diesbezüglich: ,,And all the time he applied his whole mind to the pursuit of piety,
with vigils and fasts and prayer and similar exercises preparing himself for the
priesthood."
63
Vieles deutet also darauf hin, dass Morus während dieser Zeit die
kontemplative Lebensweise des Priesters für sich in Betracht zog, ,,and nor did
anything stand in the way of his devoting himself to this kind of life, except that
he could not shake off the desire to get married."
64
Richard J. Schoeck konsta-
tiert die ,,schizophrenic nature" dieser Lebensphase:
Yet it is remarkable that More possessed the energy to continue his
life of the law together with the spiritual living of the Charterhouse.
But as if that were not enough, ­ the energy and schizophrenic
nature of those years ­ More also worked hard at Latin studies [...]
and he deepened his Greek studies under the direction of his friend
Linacre. He was moving further and more deeply into the textual
community of the humanists.
65
Erst 1505 entschied Morus sich gegen das klösterliche Dasein und für ein
bürgerliches Leben; er heiratete Jane Colt und ließ sich als Anwalt in London
nieder. Gleichwohl wurde das asketische Leben des Kartäuser-Ordens für Mo-
60
Der Kartäuser-Orden wurde seit seiner Gründung im 11. Jahrhundert nicht reformiert, er galt
als besonders asketisch und streng. Die Ordensregel verband das eremitische Ideal mit dem
klösterlichen Gemeinschaftsideal.
61
Vgl. dazu Marius, Thomas More: A Biography, Kapitel 3 ,,Priesthood or Marriage", S. 34-43.
62
William Roper, The Life of Sir Thomas More, c. 1556, www.thomasmorestudies.org/
downloads/Roper.pdf, S. 3, Abruf am 12.10.2005.
63
Erasmus, ,,Letter No. 999/To Ulrich von Hutten", S. 21.
64
Erasmus, ,,Letter No. 999/To Ulrich von Hutten", S. 21.
65
Richard J. Schoeck, ,,Thomas More and the Printing Press", in: Baumann u.a. (Hg.): Europa:
Wiege des Humanismus und der Reformation, S. 211-228, hier S. 218.

22
rus zu einem Modell, an dem er sich in seinem weiteren Leben orientierte und
das sich auch in der Utopia widerspiegelt. Auch Dietmar Herz erkennt in der
Utopia den Versuch,
ein Morus beschäftigendes Grundproblem wenn nicht zu lösen, so
doch zu diskutieren: den Widerspruch zwischen einem Leben der
Kontemplation und der (notwendigen) Vorbereitung auf die nach
dem Tode zu erwartende wahre Existenz auf der einen Seite und
dem aktiven politischen Leben im Dienst eines Fürsten und um der
Wohlfahrt der Mitmenschen willen auf der anderen Seite [...]. Das
Buch ist Teil einer langen Diskussion um die Stellung des gläubigen
Christen in der Welt.
66
Morus' vita contemplativa ist also nicht primär die des Gelehrten, sondern
vielmehr die des Priesters. In seiner lebenslangen Affinität zur mönchisch-
asketischen Lebensform gleicht er seinem Vorbild Giovanni Pico della Mirandola
(1463­1494). Zu diesem Aspekt schreibt Jack H.Hexter:
Rejecting the slack rein with which the Church guided the lives of
worldlings, many laymen imposed on themselves a stern control and
discipline. Such were Pico and More ­ Pico who scourged himself,
giving "alms of his own body", who sold his principality and gave
most of the proceeds to the poor, and who held earthly things in
contempt; More, who, as a chancellor of England wore a hair shirt.
Both were strongly drawn to what the Roman Church held to be the
highest calling for men disposed as they were ­ the monastic life.
67
Zu dem einflussreichen, aber umstrittenen florentinischen Humanisten emp-
fand Morus eine besondere Geistesverwandschaft. Während seiner Zeit im
Kartäuser-Kloster übersetzte er die Biographie Picos ins Englische und ver-
öffentlichte den Text, zusammen mit einigen Briefen und erbaulichen Texten
Picos, unter dem Titel Lyfe of Johan Picus Erle of Myrandula. Morus hatte den
lateinischen Originaltext jedoch an verschienenen Stellen geändert, so dass der
Schwerpunkt seiner Übersetzung auf Picos christlicher Bekehrung lag. Das
Werk, das erst 1510 publiziert wurde, erlangte große Bedeutung für die Entwick-
lung der Biographik in England.
Seine ersten Begegnungen mit dem new learning verdankt Morus seinen
freundschaftlich gesinnten Mentoren Grocyn, Linacre und Colet. So hatte Morus
seinen ersten öffentlicher Auftritt als scholar, als er gegen Ende seiner juristi-
66
Herz, Thomas Morus zur Einführung, S. 41.
67
Thomas Morus, The Complete Works of St.Thomas More, Band 4, siehe Einleitung von Jack
H. Hexter, S. XCVIII.

23
schen Ausbildung auf Einladung William Grocyns, der seinerzeit Rektor der
Kirche war, in der Church of Saint Lawrence eine Reihe von Vorträgen über
Augustinus' De civitate Dei hielt. Der Inhalt der Vorträge ist nicht überliefert, es
ist lediglich bekannt, dass seine Vorlesungen wohl auf große Anerkennung stie-
ßen. Zusammen mit Linacre und Grocyn betrieb Morus zudem gräzistische Stu-
dien; mit seinem Freund William Lily übersetzte er Epigramme aus der
Anthologia Planudea. Zu seinem wichtigsten Gesprächspartner aber wurde
Erasmus, den Morus 1499 während dessen ersten Englandaufenthalts kennen
gelernt
hatte. Aus der Begegnung entwickelte sich eine enge Freundschaft und eine
fruchtbare Zusammenarbeit.
68
Während seines zweiten längeren England-
besuches (1505­1506) wohnte Erasmus in Morus' Haus in Chelsea. Gemein-
sam übersetzten sie einige Dialoge Lukians (120­180) ins Lateinische. Die
Übersetzungen wurden ein großer publizistischer Erfolg; allein zu Morus' Lebzei-
ten wurden sie dreizehn Mal aufgelegt: ,,By the time that he was twenty-five he
was, though a lawyer by profession, one of the most accomplished classical
scholars of his generation."
69
In dieser Zeit begann auch die ,,bemerkenswerte und erstaunliche Karriere
des Politikers Thomas Morus."
70
1504 wurde er, noch unter Heinrich VII.,
Mitglied des Parlaments, das erstmals nach sieben Jahren einberufen worden
war. Morus erwies sich als konsequenter Vertreter der parlamentarischen
Interessen. Er zog alsbald den Zorn des Königs auf sich, weil er gegen dessen
Geldforderungen opponierte. Daraufhin ließ Heinrich unter einem Vorwand sei-
nen Vater John More für mehrere Tage in den Tower werfen. Morus hat somit
schon in jungen Jahren einen Eindruck königlicher Willkür erhalten. Bis zum Tod
Heinrichs VII. blieb er dem Hofe fern.
68
Erasmus' Praise of Folly entstand während eines Aufenthaltes in Morus' Haus, und auch als
Morus im Sommer 1516 das erste Buch der Utopia verfasste, war Erasmus Gast in dessen
Haus. Es ist bekannt, dass Erasmus das Werk bis zur Veröffentlichung kritisch begleitete, also
das Manuskript las und kommentierte. Ein Indiz für die enge Zusammenarbeit ist sicherlich auch
die Tatsache, dass Morus sich in seinen Briefen an Erasmus stets auf ,,our Nusquama" bezieht.
69
Kenny, ,,Thomas More", S. 214.
70
Hans Joachim Meyer, ,,Möglichkeiten und Grenzen des Kompromisses in der Politik", in:
Baumann et al. (Hg.): Europa: Wiege des Humanismus und der Reformation, S. 413.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2005
ISBN (eBook)
9783956362149
ISBN (Paperback)
9783836602228
Dateigröße
1007 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Hamburg – Geisteswissenschaften, Anglistik und Amerikanistik
Erscheinungsdatum
2007 (März)
Note
1,0
Schlagworte
neuzeit renaissance philosophie humanismus thomas morus
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