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Was ist mit der Umsetzung der Jungenarbeit in die Praxis?

Hintergründe und Beweggründe. Eine theoretische Reflexion

©2006 Magisterarbeit 73 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die ersten Konzepte geschlechtsbewusster Jungenarbeit entstanden in Anlehnung an die Arbeit mit Mädchen in den Achtziger Jahren. Unter dem Einfluss der Frauenbewegung dachten auch Männer verstärkt über ihre traditionelle Geschlechterrolle nach und entdeckten sie als ein wichtiges Thema in der Arbeit mit Jungen. In den Neunziger Jahren entwickelten sich dann eine Reihe von Konzepten, Methoden und Sichtweisen. Zunehmend wurde deutlich, dass die Jungen nicht nur die Gewinner des Geschlechterkampfes sind, sondern selbst Opfer und Verlierer in der Auseinandersetzung mit traditionellen Männlichkeitsvorstellungen.
Das Thema Geschlechterverhältnisse wird im fachwissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs nicht mehr nur in Bezug auf die Benachteiligung von Mädchen und Frauen interessant. Seit geraumer Zeit wird auch der Situation von Jungen und Männern Aufmerksamkeit geschenkt. Im Mittelpunkt des Interesses stehen die Probleme der männlichen Identitätsbildung angesichts des Wandels der gesellschaftlichen Geschlechterordnung und der Infragestellung veralteter Leitbilder. Traditionelle Formen von Männlichkeit haben an Legitimität eingebüßt, ohne dass gleichzeitig ein klares und positives Bild zeitgemäßer Männlichkeit zur Verfügung gestellt wird, an dem sich Jungen und Männer orientieren können.
Ursprünglich wollte ich mich in dieser Magisterarbeit mit den unterschiedlichen Konzepten in der Jungenarbeit auseinandersetzen, diese miteinander vergleichen und auf ihre Praxistauglichkeit überprüfen. Während der Beschäftigung mit diesem Thema stellte sich mir dann aber die Frage: Wo gibt es Jungenarbeit überhaupt in der Praxis? Warum wird sie so wenig umgesetzt? Worin liegen die Gründe und Schwierigkeiten? Diese Fragen stellten sich mir während der gesamten Literatursuche immer wieder. Im Laufe meines Studiums und verschiedener Praktika in der Jugendarbeit und Jugendhilfe begegnete mir geschlechtsspezifische Erziehungsarbeit leider nie. Aus diesem Grund ist die Generalfragestellung meiner Magisterarbeit: Was ist mit der Umsetzung der Jungenarbeit in die Praxis? Hintergründe und Beweggründe. Eine theoretische Reflexion.
Empirische Forschungen belegen, dass bestimmte Gesichtspunkte der Lebenssituation Jugendlicher wie Freizeit, Lebensstil und Handlungsmuster sowie Gewaltbereitschaft und Kriminalität ohne Rücksichtnahme auf das Geschlecht nicht angemessen erfasst werden können. Somit muss in Theorie und Praxis die allgemeine Rede von Jugend […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Julia Schedel
Was ist mit der Umsetzung der Jungenarbeit in die Praxis?
Hintergründe und Beweggründe. Eine theoretische Reflexion
ISBN-13: 978-3-8366-0021-7
Druck Diplomica® GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland, Magisterarbeit, 2006
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© Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1
2 Ausgangssituation ­ Die Notwendigkeit von Jungenarbeit
4
2.1
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . .
4
2.2
Die männliche Geschlechterrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
2.3
Jungen als problematische Klientel . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
3 Jungenarbeit in der Praxis
8
3.1
Was ist Jungenarbeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
3.2
Entwicklung und Stand der Jungenarbeit . . . . . . . . . . . . . .
9
3.3
Vorstellung und Verortung der gängigen Konzepte . . . . . . . . .
12
3.4
Aufgaben und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
3.5
Wer leistet Jungenarbeit? Die Rolle des männlichen Pädagogen . .
18
3.6
Gegengeschlechtliche Anforderungen an die Arbeit von Frauen mit
Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
4 Träger von Jungenarbeit
23
4.1
Jungenarbeit in der Jugendarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
4.2
Jungenarbeit in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
4.3
Jungenarbeit in Beratungsstellen und Therapie
. . . . . . . . . .
27
4.4
Jungenarbeit in der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
4.5
Bedeutung der Trägerstruktur für die Arbeit mit Jungen . . . . .
29
5 Gründe für die fehlende Etablierung und Lösungsansätze
30
5.1
Gesellschaftliche Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
5.2
Institutionelle Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
5.3
Mangel an männlichen Fachkräften in der Sozialen Arbeit . . . . .
34
5.4
Fehlende Ausbildung der Fachkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
5.5
Hindernisse bei den Männern
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
5.5.1
Männliche Ängste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
5.5.2
Homophobie ­ Die Angst der Männer vor den Männern . .
41
I

Inhaltsverzeichnis
5.5.3
Angst vor Festschreibung von Stereotypen . . . . . . . . .
43
5.5.4
Ermutigungen für Männer auf dem Weg zu Jungenarbeit .
44
5.6
Hindernisse bei den Jungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
6 Perspektiven geschlechtsbezogener Jungenarbeit
48
6.1
Das Konzept der ,,balancierten Männlichkeit" . . . . . . . . . . . .
48
6.2
Jungenarbeit im Kontext von Gender Mainstreaming . . . . . . .
51
6.3
Erarbeitung fachlicher Standards und Qualitätskriterien . . . . . .
53
6.4
Kooperation und Abstimmung mit der Mädchenarbeit . . . . . . .
55
7 Fazit
57
Literaturverzeichnis
61
II

1 Einleitung
Die ersten Konzepte geschlechtsbewusster Jungenarbeit entstanden in Anlehnung
an die Arbeit mit Mädchen in den Achtziger Jahren. Unter dem Einfluss der
Frauenbewegung dachten auch Männer verstärkt über ihre traditionelle Geschlech-
terrolle nach und entdeckten sie als ein wichtiges Thema in der Arbeit mit Jungen.
In den Neunziger Jahren entwickelten sich dann eine Reihe von Konzepten, Me-
thoden und Sichtweisen. Zunehmend wurde deutlich, dass die Jungen nicht nur
die Gewinner des Geschlechterkampfes sind, sondern selbst Opfer und Verlierer
in der Auseinandersetzung mit traditionellen Männlichkeitsvorstellungen. Das
Thema Geschlechterverhältnisse wird im fachwissenschaftlichen und öffentlichen
Diskurs nicht mehr nur in Bezug auf die Benachteiligung von Mädchen und Frauen
interessant. Seit geraumer Zeit wird auch der Situation von Jungen und Männern
Aufmerksamkeit geschenkt. Im Mittelpunkt des Interesses stehen die Probleme
der männlichen Identitätsbildung angesichts des Wandels der gesellschaftlichen
Geschlechterordnung und der Infragestellung veralteter Leitbilder. Traditionelle
Formen von Männlichkeit haben an Legitimität eingebüßt, ohne dass gleichzeitig
ein klares und positives Bild zeitgemäßer Männlichkeit zur Verfügung gestellt
wird, an dem sich Jungen und Männer orientieren können.
Ursprünglich wollte ich mich in dieser Magisterarbeit mit den unterschiedlichen
Konzepten in der Jungenarbeit auseinandersetzen, diese miteinander vergleichen
und auf ihre Praxistauglichkeit überprüfen. Während der Beschäftigung mit
diesem Thema stellte sich mir dann aber die Frage: Wo gibt es Jungenarbeit
überhaupt in der Praxis? Warum wird sie so wenig umgesetzt? Worin liegen die
Gründe und Schwierigkeiten? Diese Fragen stellten sich mir während der gesamten
Literatursuche immer wieder. Im Laufe meines Studiums und verscheidener Prak-
tika in der Jugendarbeit und Jugendhilfe begegnete mir geschlechtsspezifische
1
1
Geschlechts
spezifisch meint Sachverhalte, Eigenschaften und Verhaltensweisen, die für Männer
und Frauen kennzeichnend sind, sich also direkt aus dem biologischen Geschlecht ableiten lassen.
Geschlechts
typisch hingegen meint Sachverhalte, Eigenschaften und Verhaltensweisen, die für
die Geschlechter entweder charakteristisch sind, also im Sinne empirisch überprüfbarerem
häufigeren Auftreten, oder die ihnen typischerweise zugeordnet werden. Geschlechtsspezifische
Arbeitsformen trennen grundsätzlich zwischen Mädchen und Jungen (vgl. LJS 2004, S. 14-16).
1

1. Einleitung
Erziehungsarbeit leider nie. Aus diesem Grund ist die Generalfragestellung mei-
ner Magisterarbeit: Was ist mit der Umsetzung der Jungenarbeit in die Praxis?
Hintergründe und Beweggründe. Eine theoretische Reflexion.
Empirische Forschungen belegen, dass bestimmte Gesichtspunkte der Lebens-
situation Jugendlicher wie Freizeit, Lebensstil und Handlungsmuster sowie Ge-
waltbereitschaft und Kriminalität ohne Rücksichtnahme auf das Geschlecht nicht
angemessen erfasst werden können. Somit muss in Theorie und Praxis die all-
gemeine Rede von Jugend durch eine differenzierte Betrachtung von Mädchen
und Jungen ersetzt werden. Parallel dazu wird häufig die Meinung vertreten,
geschlechtsspezifische Pädagogik sei überflüssig geworden, weil sich Jungen und
Mädchen frei und unabhängig von geschlechtsspezifischen Rollenbildern entfalten
könnten. Geschlechtsdifferenzierte Pädagogik würde die traditionellen Männer-
und Frauenrollen nur festschreiben und schließlich verhärten. Bildungsinstitutio-
nen, Einrichtungen der Jugendarbeit und Jugendhilfe, Vereine, Verbände und
Schulen haben dieses Thema aufgegriffen. Während sich die Mädchenarbeit flä-
chendeckend etabliert hat, wurde die Notwendigkeit von Jungenarbeit bereits
festgestellt, mancherorts umgesetzt und meistens immerhin für wichtig gehalten.
Einrichtungen, die Angebote ausschließlich für Jungen anbieten, gibt es nur wenige
und diese sind sehr unterschiedlich verteilt. Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen,
Niedersachsen und Baden-Württemberg verfügen bereits über ganze ,,Netzwerke
Jungenarbeit". In den neuen Bundesländern gibt es jedoch kaum Adressen.
Eine mit der Mädchenarbeit vergleichbare Umsetzung hat also nicht stattge-
funden trotz der längst etablierten Forschung zur männlichen Sozialisation und
den zahlreichen theoretisch-konzeptionellen Begründungen. Geschlechtsspezifische
Jungenarbeit als Querschnittsaufgabe der Jugendarbeit und Jugendhilfe ist bisher
nicht genügend anerkannt und in der Praxis umgesetzt worden. Warum das so ist,
will diese Arbeit versuchen zu beantworten.
Auf den folgenden Seiten werden Ergebnisse meiner umfangreichen Literatur-
recherche vorgestellt. Die Auswahl der einzelnen Punkte orientiert sich an der
jeweiligen Relevanz zur Beantwortung der Ausgangsfrage. Bei der Literatur- und
Forschungsstudie stand besonders die Suche nach Informationen über die Um-
setzung der Jungenarbeit in der Praxis im Vordergrund. Ziel war es, aus den
zahlreichen Veröffentlichungen genau die wenigen Punkte zu ermitteln, die sich
mit Problemen bei der Etablierung, möglichen Lösungsansätzen und Perspektiven
der praktischen Jungenarbeit beschäftigen.
2

1. Einleitung
Im Anschluss an diese Einführung wird im zweiten Abschnitt in die Thema-
tik eingeführt, indem die Notwendigkeit von geschlechtsbezogener Jungenarbeit
2
deutlich gemacht wird. Ausgehend von verschiedenen Problemfeldern wird der
Bedarf ermittelt. Im dritten Teil gebe ich einen kurzen Überblick über Defini-
tion, Entwicklung und Stand der Jungenarbeit und gehe auf die theoretischen
Konzepte einschließlich ihrer Ziele, Aufgaben und methodischen Arbeitsprinzipien
ein. Anschließend wird die Rolle der Pädagogen/innen in der praktischen Arbeit
diskutiert. Der vierte Abschnitt zeigt auf, wo überhaupt Jungenarbeit stattfindet
und stattfinden kann. Im Anschluss daran versucht der fünfte Teil, die Gründe für
die fehlende Etablierung in der praktischen Arbeit mit Jugendlichen aufzuzeigen.
Anhand verschiedener struktureller und persönlicher Problemfelder werden die
Hindernisse und Schwierigkeiten dargestellt, ein Versuch also zu verstehen, was die
Umsetzung von Jungenarbeit verhindert. Gleichzeitig biete ich Empfehlungen zur
Stärkung und Lösungsansätze an. Dabei bemühe ich mich verschiedene Blickwin-
kel einzunehmen, um Grenzen und Chancen verdeutlichen zu können. Schließlich
werden im sechsten Teil Perspektiven aufgedeckt, die eine Etablierung und Durch-
setzung von Jungenarbeit in der Praxis ermöglichen könnten. Im Schlussteil werde
ich ein Fazit ziehen und versuchen einen positiven Ausblick für die Jungenarbeit
zu geben.
Am Ende dieser Einleitung möchte ich noch verdeutlichen, dass sich alle Proble-
me und Perspektiven, die hier vorgestellt werden, nicht auf ein bestimmtes Konzept
von Jungenarbeit beziehen. Ich habe stattdessen versucht durch intensive Ausein-
andersetzung mit verschiedenen Sichtweisen und Methoden, mögliche gemeinsame
Schwierigkeiten bei der Umsetzung in die Praxis aufzuzeigen und Perspektiven
vorzustellen, die in allen Konzeptionen und Ausrichtungen der Jungenarbeit greifen
können.
2
Geschlechtsbezogene/geschlechtsbewusste Jungenarbeit wird als eine Haltung der Aufmerk-
samkeit gegenüber der Bedeutung von Geschlechtsunterschieden, Geschlechtsstereotypen, der
eigenen Geschlechtszugehörigkeit und anderer Aspekten verstanden. Die Begriffe geschlechts-
bewusst und geschlechtsbezogen werden alternativ verwendet (vgl. LJS 2004, S. 14-16).
3

2 Ausgangssituation ­ Die
Notwendigkeit von Jungenarbeit
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) fordert in § 9 Abs. 3, dass ,,bei
der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben (. . . ), die
unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen, Be-
nachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen
zu fördern" seien. Aufgrund eines veränderten Rollenverständnisses von Mädchen
und Frauen wird neben einer geschlechtsbezogenen Mädchenarbeit auch eine spe-
zifische Jungenarbeit notwendig. Auch Jungen sollen für einen bewussteren Weg
in Freundschaften, Partnerschaften, Beruf und Familie bestärkt werden.
2.1 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
Besonders in der frühen Sozialisation fehlen den Jungen männliche Erwachsene,
die sie auf ihrem Entwicklungsweg begleiten. Männliche Leitbilder werden den
Jungen zwar angeboten, finden sich aber in ihrem Alltag nicht wieder, weil sie
nicht greifbar oder erfahrbar sind. Väter sind oft zu beschäftigt, um die Nöte
und Wünsche ihrer Söhne wahrzunehmen und Mütter fühlen sich mit den Jungen
überfordert. Gleichzeitig fehlen in Kindergärten und Grundschulen männliche
Pädagogen fast völlig. Das bedeutet, je jünger die Jungen sind, desto weniger
Männer begegnen ihnen im Alltag. Deshalb werden die fehlenden Männer durch
fiktive Männerbilder aus der Vielzahl an Medien ersetzt (vgl. Jantz 2004, S. 1f).
Hinzu kommt, dass vielen Jungen in der heutigen Zeit von Zukunftsangst und So-
zialabbau eine glaubhafte Perspektive fehlt. Das, was ihnen vorgelebt wird, erweist
sich als höchst widersprüchlich und bedrohlich verwirrend. So werden auf dem
Arbeitsmarkt von Männern einerseits ,,weiche" Eigenschaften wie Teamfähigkeit
und Einfühlungsvermögen verlangt, andererseits gelten alte Männlichkeitsanforde-
rungen wie Durchsetzungskraft und Dominanz. Das hat unter anderem zur Folge,
dass Jungen scheinbar unvereinbare Gegensätze in sich vereinen sollen: hart/weich,
einfühlsam/durchsetzungsstark, empathisch/egoistisch, offensiv/defensiv, beruflich
4

2.2 Die männliche Geschlechterrolle
erfolgreich/verantwortlich in der Familie usw. Aus diesen Anforderungen heraus
wird deutlich, warum Jungenarbeit so notwendig ist. Die männlichen Jugendlichen
müssen im Alltag angemessen unterstützt werden. Pädagogen haben die Aufgabe,
ihnen bei der Bewältigung der vielfältigen Anforderungen hilfreich und angemessen
zur Seite stehen.
2.2 Die männliche Geschlechterrolle
In dem Bereich Jungenarbeit ist zunächst eine grundsätzliche Unterscheidung
zwischen dem gelebten Junge-Sein/Mann-Sein und dem kulturellen Stereotyp
Männlichkeit notwendig. Unter Junge-Sein/Mann-Sein werden die subjektiven
und handlungsbezogenen Seiten gefasst (männliche Praxis, Handeln, Selbstbild
von Männern als Menschen), die gelebte Ausgestaltung der sozialen männlichen
Geschlechtlichkeit (Gender
3
), der männliche Alltag und das Selbstgefühl zu sich als
Mann (vgl. BZgA 1998, S. 23). Es stellt die Realität dar, wie Jungen und Männer
tatsächlich fühlen, erleben, wahrnehmen und handeln. Männlichkeit hingegen
meint die kulturell und traditionell überlieferten ideologischen Ausprägungen, wie
sie durch verschiedene Medien vermittelt werden, und wie sie in gesellschaftlichen
patriarchalen Strukturen nach wie vor verfestigt sind. Solche Steretype sind Eigen-
schaften und Verhaltensweisen, die in unserer Gesellschaft als ,,charakteristisch"
bezeichnet werden, unabhängig von den tatsächlichen Eigenschaften konkreter Per-
sonen. Geschlechtsstereotype haben auch Aussagen über Gegenstände, Interessen,
Tätigkeiten, Systeme, Institutionen usw. zur Folge. Männlichkeit und Weiblichkeit
sind solche kulturell vorgegebenen und traditionell überlieferten Ideale, Normen,
Bilder und Mythen(vgl. LJS 2004, S. 15f).
Die Problematik der Jungen besteht in ihrer Sozialisation, die für die Mannwer-
dung des Einzelnen und die Folgen von Männlichkeit als wichtig erscheinen. Im
Folgenden sollen in Anlehnung an Ottemeier-Glücks (vgl. ausführlich 1994a) die
Brüche in der männlichen Sozialisation und Identität benannt werden, die Jun-
genarbeit notwendig machen, um diesen Jungen Orientierung und Unterstützung
anzubieten.
Neben den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sich wandelnder Rollenbilder
und fehlender Männer in der Sozialisation sind Jungen von der Angst gefangen, als
3
Gender ist ein Sammelbegriff für alle mit dem Geschlechtsunterschied verbundenen Eigen-
schaften, Verhaltensweisen, sozialen Konstrukte usw., die nicht biologisch vorgegeben sind.
Gender wird meist als ,,soziales" im Gegensatz zum ,,biologischen Geschlecht" (sex) übersetzt
(vgl. LJS 2004, S. 14f).
5

2.3 Jungen als problematische Klientel
weiblich zu gelten. Sie lernen schnell, alles Weibliche gering zu schätzen und sich
davon abzugrenzen. Hierin liegt die Ursache vielfältigen Verhaltens von Jungen.
Sie versuchen immer ihre Männlichkeit zu beweisen, indem sie demonstrieren,
dass sie keine weiblichen Eigenschaften haben. Weiterhin leben Jungen mit dem
Zwang, ständig besser sein zu müssen. Sie versuchen nicht nur zu beweisen,
dass sie besser sind als alles Weibliche, sondern verfallen auch dem Zwang zur
ständigen Überlegenheit. Zusätzlich haben Jungen und Männer einen Hang zum
Konkurrenzverhalten. Es ist Teil ihrer männlichen Selbstdarstellung und zielt
darauf ab, die eigene Überlegenheit und Besonderheit zu demonstrieren. Diese
Konkurrenz geschieht aus Prinzip, also nicht aufgrund eines Wettstreits, sondern
allein, um gut/besser/toll dazustehen. Jungen werden auch nicht besonders in ihren
Fähigkeiten gefördert, Konflikte auf verschiedene und vor allem sozial verträgliche
Art und Weise zu lösen. Jungen lernen eher, Konflikte durch die Demonstration
von Macht zu beenden (vgl. Ottemeier-Glücks 1994a, S. 85).
Jungen erhalten somit auch keine Förderung ihrer sozialen Fähigkeiten. Männ-
liche Eigenschaften wie Selbstbeherrschung, Gelassenheit, Sachlichkeit, Stärke,
Klarheit usw. erfordern ein Unterdrücken des Gefühlslebens und des Körpers.
Deshalb leben Jungen in Distanz zu ihren durchaus vorhandenen differenzierten
Gefühlen, weil sie etwas Bedrohliches oder Unbeherrschbares darstellen. Sie be-
achten kaum ihre eigenen oder fremde Gefühle, weswegen ihnen auch weniger
Verantwortlichkeit für sich selber und für Beziehungen zugetraut wird. Auch
soziale Rücksichtnahme wird von ihnen weniger erwartet und eingefordert als von
Mädchen, weil ,,Jungen eben so sind". Wer aber keine Rücksicht nehmen muss, der
lernt auch nicht die Grenzen Anderer wahrzunehmen. Jungenarbeit ist deshalb
so notwendig, weil Jungen für zwischenmenschliche Grenzen sensibilisiert werden
müssen. Sie müssen darin unterstützt werden, sowohl die eigenen Grenzen als
auch die Anderer zu achten und einzuhalten.
2.3 Jungen als problematische Klientel
Wer verlangt nach geschlechtsbezogener Arbeit mit Jungen? Die Jungen selbst,
die Pädagogen oder Lehrer, die Mütter oder Väter, die Lehrerinnern oder Mäd-
chenarbeiterinnen? Das Thema der Jungenarbeit hat in den letzten Jahren an
Popularität zugelegt. Grund hierfür ist aber nicht der Wunsch oder die Erkenntnis,
Jungen verstärkt soziale Kompetenzen zu vermitteln, sie zu fördern und ihre
Probleme wahrzunehmen. Es gibt eher negative Begründungen, weil die Jungen
an Schulen und im außerschulischen Bereich auffällig sind. Gewalt wird immer
6

2.3 Jungen als problematische Klientel
häufiger im Zusammenhang mit männlichen Jugendlichen betrachtet.
Erwachsene, Erziehende und Eltern fordern Jungenarbeit vor allem dann, wenn
ein offensichtlicher Bedarf besteht, etwas mit den auffälligen Jungen zu tun und
sich die bis dahin erprobten pädagogischen Maßnahmen als ungenügend erwiesen
haben. Die Anforderung an Jungenarbeit, vor allem gegen männliche Gewalt zu
wirken, ist aber unzureichend und problematisch. So werden die Jungen als Täter
reduziert und nicht in ihrer Gesamtpersönlichkeit mit ihren Ängsten, Wünschen
und Unsicherheiten betrachtet (vgl. Drogand-Strud/Ottemeier-Glücks 2003, S.
33f).
Jungenarbeit wird von den Jungen selbst meist nur gefordert, wenn es bereits
Mädchenarbeit gibt und die Jungen sich benachteiligt fühlen. Jungen haben selbst
Probleme mit ihrer Männlichkeit und verursachen Schwierigkeiten in ihrem Selbst-
findungsprozess und mit der Art und Weise wie sie ihre Männlichkeit ausleben.
Leider werden solche Probleme häufig nicht in Verbindung mit dem Geschlecht
gesehen, sondern als allgemeine Problemstellungen verstanden. Jungen dürfen also
nicht länger als ,,Gewinner" gelten, sondern eher als ,,Sorgenkinder" der Gesell-
schaft. Sie sind von frühester Kindheit an mit der Aufgabe konfrontiert, eine den
Erwartungen der Umwelt angemessene männliche Identität
4
auszubilden. Dies ist
eine Aufgabe, an der sie oft genug zu scheitern drohen. Das betrifft natürlich nicht
alle Jungen, sondern ist zumeist die Folge unterschiedlicher Faktoren wie Erfolglo-
sigkeit in der Schule, mangelnde berufliche Perspektive, geringe Fähigkeiten im
sportlichen oder künstlerischen Bereich, instabile soziale und emotionale Beziehun-
gen, mangelnde soziale Kompetenzen und ,,selbstempfundenes nicht angemessenes
Äußeres (fehlende Markenkleidung etc.)" (Michels/Moorkamp 2004, S. 142).
4
Suche nach sexueller Identität bzw. Geschlechtsidentität ist im engeren Sinne die Suche nach
Erkenntnis und zunehmender Sicherheit über die eigene Geschlechtlichkeit und die eindeutige
und unveränderbare Zugehörigkeit zu einer Geschlechtsgruppe (vgl. LJS 2004, S. 14f).
7

3 Jungenarbeit in der Praxis
An verschiedenen Stellen der Jugendbildung, Jugendarbeit und Jugendhilfe wird
bereits versucht, jungenspezifisch zu wirken. Langsam steigen das Interesse und
die Nachfrage nach Jungenarbeit. Nachdem die Notwendigkeit dargelegt worden
ist, soll im Folgenden auf die Grundlagen der Jungenarbeit eingegangen werden.
Was ist überhaupt Jungenarbeit? Was soll damit erreicht werden, wie soll es
erreicht werden und von wem? Auch die Entwicklung und der derzeitige Stand der
geschlechtsbezogenen Jungenarbeit sollen den Einblick in die Praxis erleichtern.
3.1 Was ist Jungenarbeit?
,,Unter Jungenarbeit wird die geschlechtsbezogene pädagogische Arbeit erwachse-
ner Männer (Fachkräfte) mit Jungen verstanden" (Sturzenhecker/Winter 2002, S.
9). Sie orientiert sich einerseits an den Potentialen des Junge- und Mann-Seins,
andererseits soll sie sich auf die problematischen Formen der männlichen Lebens-
bewältigung beziehen. Zielgruppe von Jungenarbeit können alle Jungen sein, aber
es darf nicht aus dem Blick geraten, dass sich die Jugendhilfe zunehmend den
problematischeren, extremeren und randständigen Jugendlichen zuwendet. So
kann es leicht passieren, dass die Normalität aus dem Blick gerät und die Pädago-
gen die Probleme der schwierigen Jungen auf die Durchschnittlichen übertragen.
Jedenfalls ist es nicht so leicht, die Frage: ,,Was ist Jungenarbeit ganz konkret?"
präzise zu beantworten, denn es kann nicht eindeutig geklärt werden, wann die
Arbeit mit Jungen als Jungenarbeit zählt(vgl. Sturzenhecker/Winter 2002a, S.
10).
Man kann Jungenarbeit auch ganz einfach als pädagogische Praxis von Männern
mit Jungen bezeichnen. Die Arbeit in einer geschlechtshomogenen Gruppe ist
deshalb notwendig, weil viele Probleme von Jungen in koedukativen Gruppen unter
Anwesenheit von Mädchen nur unzureichend besprochen werden können. Themen
wie Sexualität, männliche Angst, Unsicherheiten und Gewalt werden dann häufig
sofort abgewehrt. In Anwesenheit von Mädchen oder Frauen geraten Jungen in
einen Selbstdarstellungszwang, müssen sich präsentieren, rechtfertigen und ihr
8

3.2 Entwicklung und Stand der Jungenarbeit
männliches Handeln verteidigen. In einer geschlechtshomogenen Jungengruppe
bleibt ihnen diese Erschwernis erspart und die Jungen können leichter über
Ängste, Gefühle und schwierige Themen reden (vgl. Sturzenhecker 2002, S. 40).
Hier können Jungen auch Rollen und Handlungsweisen erproben, die sonst ,,von
Mädchen besetzt" erscheinen (Emotionen, soziales Miteinander, Gemütlichkeit,
Haushalt usw.).
Die Beziehung zu Männern ist bei Jungen oft schwach entwickelt und wird
kaum erleb- und erfahrbar (siehe Abschnitt 2.1 und 2.2). So fehlt häufig der
Bezug zum eigenen Geschlecht und es entstehen Probleme bei der Identitätssuche
nach dem ,,richtigen" Junge-/Mann-Sein. Das macht die pädagogische Arbeit von
Männern mit Jungen notwendig, weil Frauen bei der Bewältigung dieser Probleme
nicht helfen können (vgl. Winter 1997, S. 149f). Anstatt sich Mythen aus Medien
anzueignen, sollen die Jungen durch die Arbeit veränderte Männlichkeit von
Männern lernen. In der Jungenarbeit treffen sie auf reale erwachsene Männer, die
bereit sind, eine persönliche Beziehung aufzubauen, und die als Mann mit Stärken
und Schwächen ein Vorbild sind.
3.2 Entwicklung und Stand der Jungenarbeit
Die Entwicklung von Jungenarbeit qualifiziert einzuschätzen, erweist sich als
schwierig, da bislang fast keine repräsentativ empirischen Untersuchungen über
Umfang und Umsetzung in den einzelnen Feldern der Erziehung vorliegen. Einzi-
ge Ausnahme ist die im letzten Jahr erschienene Studie der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung ,,Sexualpädagogische Jungenarbeit". Ergebnis dieser
Studie ist, dass die Jungenarbeit, trotz der inzwischen umfangreichen fachwis-
senschaftlichen Diskussion in der Kinder- und Jugendarbeit, eher randständig
positioniert ist (vgl. BZgA 2005). Der Versuch, Geschichte und Stand der Jun-
genarbeit darzustellen, wird nicht Ergebnis empirischer Forschung sein, sondern
nur die Analyse der jungenspezifischen Forschung einschließlich veröffentlichter
Beschreibungen von Erfahrungen und konzeptionellen Orientierungen aus der
Praxis der Jungenarbeit.
Die Jungenarbeit entstand Anfang der Achtziger Jahre im Kontext der Mäd-
chenarbeit. Angestoßen durch die Frauenbewegung wurde erstmals von einigen
männlichen Pädagogen die spezifische Sicht auf Jungen thematisiert. Ausgangs-
punkt waren die Verhaltensauffälligkeiten der Jungen in Form von Dominanzver-
halten, Belästigungen, Übergriffen und ständigen Störungen. Aus der Forderung
der Frauen nach Unterteilung der gemischten Gruppen in Jungen und Mädchen
9

3.2 Entwicklung und Stand der Jungenarbeit
entstanden in der Jugendbildungsarbeit erste Gruppenangebote für Jungen (vgl.
Puchert/Höyng 2004, S. 98f). Sie entwickelten sich mit der Zielsetzung, ,,zum
Abbau von männlichen Dominanzansprüchen und Privilegien in Geschlechterbe-
ziehungen und im Geschlechterverhältnis beizutragen [. . . ]" (Bruhns 2004a, S. 23).
Um eine Aufhebung weiblicher Benachteiligung zu erreichen, musste man sich
auch auf die Jungen konzentrieren.
Die Ziele und Methoden haben sich im Laufe der Zeit und in Abhängigkeit der
verschiedenen Ansätze immer wieder verändert. Unterschiedliche theoretische Ori-
entierungen führten zu verschiedenen ausdifferenzierten Jungenarbeitskonzepten
(auf die im folgenden Teil eingegangen wird). Aber erst in den Neunziger Jahren
entwickelten sich Konzepte einer Jungenarbeit, die nicht mehr nur komplementär
zur Mädchenarbeit zu verstehen sind. Von den anfänglichen Angeboten in der
außerschulischen Bildungsarbeit hat sich die Jungenarbeit zumindest in manchen
Regionen zu einer von vielen Arbeitsformen in der Jugendarbeit und Jugendhilfe
entwickelt. In den Bundesländern Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Nieder-
sachsen, Hamburg und Baden-Württemberg existiert bereits eine geschlechtsbe-
wusste Jungenarbeit mit inhaltlichen Konzepten, ausgebildeten Mitarbeitern und
einer Verankerung in den Institutionen (vgl. BZgA 2005, S. 57). Ergebnis meiner
Studien und Recherchen ist es, dass in den östlichen Bundesländern bisweilen
kaum oder gar keine geschlechtsspezifische Jungenarbeit und wenn, dann ver-
einzelt dort, wo Interesse und Engagement seitens der (Sozial-)Pädagogen der
jeweiligen Institutionen besteht. Am ehesten findet man Jungenarbeit noch bei
kirchlichen Trägern, aber in der offenen Jugendarbeit oder in Jugendzentren, wo
Mädchenarbeit schon etabliert ist, stellt sie offensichtlich noch kein Thema dar.
Die Jungenarbeit im Allgemeinen lässt sich ableiten aus der Querschnittsaufgabe,
die durch das KJHG seit 1990 in allen Bereichen der Jugendarbeit vorgeschrieben
ist. So sind die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen bei allen
Leistungen und Maßnahmen zu berücksichtigen, geschlechtsspezifische Benach-
teiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu
fördern (vgl. § 9 Abs. 3 KJHG). Mit Blick auf die Praxis kann man feststellen, dass
die Interpretation des § 9 KJHG bislang allerdings folgendermaßen aussah: Die
Formulierung schafft zwar die Möglichkeit einer geschlechtsdifferenzierten Jungen-
arbeit, sie wird aber vor allem als Aufforderung interpretiert, Benachteiligungen
von Mädchen abzubauen, also Formen der Mädchenarbeit zu entwickeln. Das liegt
unter anderem daran, dass eine Frauenbewegung in den Achtziger Jahren bereits
in der Öffentlichkeit existierte, eine vergleichbare Männerbewegung sich aber bis
heute kaum entwickelt hat. Männlichkeit ist freilich in den Neunziger Jahren auch
10

3.2 Entwicklung und Stand der Jungenarbeit
in der Bundesrepublik zu einem bedeutsamen Thema geworden, gleichzeitig stößt
aber die Forderung nach einer bewussten Auseinandersetzung mit diesem Thema
in der Öffentlichkeit nach wie vor auf beträchtliche Abwehr. Die Thematisierung
von Männlichkeit hat noch keineswegs den gleichen Grad an Selbstverständlichkeit
erreicht wie die Beschäftigung mit Frauenthemen. So betrachtet stellt Jungenarbeit
bis heute in vielen Regionen nur eine notwendige Ergänzung zur Mädchenarbeit
dar. Es gibt sie kaum als eigenständiges Angebot, das auf Bedürfnisse, Interessen
und Entwicklungsprobleme männlicher Jugendlicher bezogen ist (vgl. Scherr 2002,
S. 303f).
In den Neunziger Jahren werden eine Reihe von deutschsprachigen Publikationen
zur Männlichkeitsforschung (vgl. etwa Badinter 1993, Böhnisch/Winter 1997,
Möller 1997, Rohrmann 1994, Schnack/Neutzling 1990) sowie zur Jungenarbeit
(vgl. etwa Glücks/Ottemeier-Glücks 1994, Sturzenhecker 1996, Willems/Winter
1991) herausgegeben. Gleichzeitig nimmt die Zahl an Projekten der Jungenarbeit in
den Praxisfeldern der offenen und verbandlichen Jugendarbeit zu. Diese sind aber
auch regional begrenzt und kaum deutschlandweit zu finden. Die Notwendigkeit
von Jungenarbeit ist zwar bisweilen anerkannt und begründet worden, dennoch
besteht zwischen der Fachdiskussion auf der einen Seite und der praktischen
Umsetzung in Form von Überlegungen und Konzepten auf der anderen Seite eine
deutliche Abweichung. Die Bedeutung von Jungenarbeit in den Arbeitsfeldern der
Kinder- und Jugendhilfe ist genauso gering wie der Umfang der eigenständigen
Angebote von Jungenarbeit. ,,Eine dem Stand der Fachdiskussion angemessene
Etablierung von Jungenarbeit [. . . ] steht also noch aus" (Scherr 2002, S. 307).
Obwohl sich die Jungenarbeit in der Praxis (noch) nicht verbreitet hat, kann
man die Lage auch positiv darstellen. Es gibt eine große Vielfalt theoretischer
Konzepte, es werden Aus-, Fort- und Weiterbildungen angeboten, männliche
Pädagogen beschäftigen sich in Arbeitskreisen und Tagungen mit dem Thema
Jungenarbeit. Inzwischen liegen auch einige Praxisberichte
5
vor und eine öffentliche
Finanzierung von Jungenarbeit beginnt in einigen Regionen der Bundesrepublik
(z.B. Nordrhein-Westfalen). Zudem greift die Sachverständigenkommission zum
Jugendbericht des Bundes das Thema auf (vgl. Sturzenhecker 2002a, Scherr 2002)
und das KJHG sieht eine geschlechtsdifferenzierte Jugendhilfe zumindest vor.
Nach umfangreicher Literaturstudie fällt auf, dass es unterschiedliche Wahr-
nehmungen gibt, wie weit sich Jungenarbeit bereits etabliert hat. Einerseits wird
behauptet, Jungenarbeit sei weit verbreitet, sogar Normalität. Jungenarbeit sei
5
Überblick der Praxisfelder und Erfahrungen gibt es bei Bruhns (2004), BZgA (1998, 2005),
Jantz/Grote (2003), Sielert (2002) und Sturzenhecker/Winter (2002).
11

3.3 Vorstellung und Verortung der gängigen Konzepte
in der außerschulischen Bildungsarbeit in vielen Feldern der Jugendhilfe und
Jugendarbeit ausdifferenziert und auf dem Weg, ein anerkannter Ansatz zu werden.
Anderseits heißt es stellenweise, es herrscht der Eindruck, Jungenarbeit findet
immer noch nur vereinzelt und ohne Vernetzung statt. Männliche Pädagogen
erleben sich als Einzelkämpfer, die sich Räume erst erschaffen müssen und we-
nig Unterstützung seitens der Organisation und von männlichen und weiblichen
Kollegen erhalten (vgl. Puchert/Höyng 2004, S. 95). Letztendlich gibt es wenig
gesichertes Wissen in Form von empirischen Untersuchungen und Forschungen
zur quantitativen und qualitativen Jungenarbeit in Deutschland. Selbst das Er-
fahrungswissen der einzelnen Jungenarbeiter bleibt begrenzt, da häufig keine oder
zu wenig Vernetzung existiert und zu wenig Praxisberichte veröffentlicht werden.
Auf jeden Fall kann man feststellen, dass Jungenarbeit dort, wo sie praktiziert
wird, von den Jungen positiv aufgenommen wird. Die Jungen nehmen Angebote
häufig begeistert an und zeigen eine stärkere Bereitschaft als von den Pädagogen
erwartet (vgl. Sturzenhecker 2002a, S. 318).
3.3 Vorstellung und Verortung der gängigen
Konzepte
Im Folgenden werde ich mich mit den bestehenden Konzepten der Jungenarbeit
beschäftigen. Auf den ersten Blick zeigt sich die Diskussion als eine Auseinan-
dersetzung um das richtige Adjektiv, welches das Wort Jungenarbeit genauer
beschreiben soll. In der Debatte befinden sich z.B. antisexistische, parteiliche,
geschlechtsbewusste, reflektierte, patriarchatskritische und kritische, sowie eman-
zipatorische und identitätsorientierte Jungenarbeit. An anderer Stelle wird anders
oder noch weiter differenziert.
Benedikt Sturzenhecker ordnet die theoretischen Konzepte von Jungenarbeit auf
einem Spektrum von links nach rechts ein (vgl. Sturzenhecker 2002a, S. 320). Auf
der linken Seite siedelt er die Ansätze an, die als Basis eine an die feministische
Forschung angelehnte Patriarchatskritik und eine kritische Auseinandersetzung mit
der ,,herrschenden Männlichkeit" verfolgen. Diese Ansichten beziehen sich häufig auf
die Geschlechtertheorie von Robert W. Connell (1999). Er geht von verschiedenen
Männlichkeiten aus, die sowohl historisch nacheinander, als auch gesellschaftlich
nebeneinander bestehen und Konstrukte sind, die sich weiterentwickeln.
Ziel dieser Jungenarbeits-Konzepte ist es, Persönlichkeitskompetenzen zu entwi-
ckeln, die helfen können, eine eigenständige Geschlechtsidentität zu entwickeln
12

3.3 Vorstellung und Verortung der gängigen Konzepte
und sie auch jenseits der traditionellen Zuschreibungen neu zu erfinden. Zu die-
sen Kompetenzen gehört beispielsweise die Fähigkeit, sich in andere Menschen
hineinzuversetzen, die Kompetenz, sich von den gesellschaftlichen Rollenzuschrei-
bungen zu distanzieren, Widersprüche von Rollenzuschreibungen auszuhalten
und autonom zu sein (vgl. Sturzenhecker 1998, S. 4). Die Kritik an männlicher
Macht ist also zentral bei diesen Ansätzen. In der praktischen Jungenarbeit wird
demnach versucht, die vorhandenen Männlichkeitsbilder und Geschlechtsrollenzu-
schreibungen zu reflektieren und bestimmte Männlichkeitsformen zu kritisieren.
Diese Ansätze erkennen aber auch die gesellschaftlichen Einflüsse auf die Ent-
wicklung der Geschlechtsidentität. Die Bildung von Männlichkeit wird durch
gesellschaftliche Schichten, Arbeitsverhältnisse, Herkunft aus sozialen Milieus usw.
stark bestimmt, was die Freiheit der individuellen Entwicklung begrenzt. Dennoch
hält dieser Ansatz daran fest, dass in einem andauernden gesellschaftlichen Prozess
Geschlechterkonstruktionen verändert werden können.
Einige Jungenarbeits-Konzepte, die sich an dieser Position orientieren, beto-
nen die Patriarchatskritik besonders stark (z.B. der antisexistische Ansatz der
Heim-Volkshochschule Frille 1988). Die patriarchatskritische oder antisexistische
Jungenarbeit zielt auf ein demokratisches Geschlechterverhältnis hin, auf den
Abbau der Unterdrückung von Frauen, hierarchiefreie Beziehung unter Männern
sowie ein erweitertes Handlungs- und Verhaltensrepertoire jedes einzelnen Mannes.
Diese Konzepte beabsichtigen eine gesellschaftliche Situation, in der Männer und
Frauen gleich (im Sinne von gleichberechtigt) sind und in der ein Nebeneinander
unterschiedlicher Individuen und geschlechtlichen Identitätsweisen möglich sein
soll (vgl. Sturzenhecker 2002a, S. 321).
Ein weiterer Ansatz ist die emanzipatorische Jungenarbeit, die auf Michael
Schenk (1991) zurückgeht. Er führt den Begriff des ,,maskulinen Syndroms" ein.
Es beschreibt die Normen und Werte, die Jungen und Männer aufgrund ihrer
Sozialisation zu erfüllen haben. Ziel der emanzipatorischen Jungenarbeit ist es,
eine vom ,,maskulinen Syndroms" unabhängige männliche Identität aufzubauen.
Das soll durch Körperarbeit erreicht werden. Pädagogische Grundhaltung ist die
Parteilichkeit, welche die Jungen in den Blick nimmt. Sie will Verständnis und
Einfühlungsvermögen aufbringen, Hilfestellung, Anregung, Förderung aber auch
Kritik sein (vgl. Schenk 1992, S. 8).
Stärker im Zentrum seines Spektrums ordnet Sturzenhecker die sozial-psycholo-
gischen Ansätze ein. Diese verstehen Männlichkeit besonders im Hinblick auf die
individuelle Entwicklung von Geschlechtsidentität (vgl. Sturzenhecker 2002a, S.
320ff). Diese beispielsweise von Winter (1991) vertretene Position bezieht sich auf
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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783956360930
ISBN (Paperback)
9783836600217
Dateigröße
879 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena – Sozial- und Verhaltenswissenschaften, Erziehungswissenschaften
Erscheinungsdatum
2006 (Dezember)
Note
2,0
Schlagworte
jugendarbeit praxis geschlecht erziehung pädagogik
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Titel: Was ist mit der Umsetzung der Jungenarbeit in die Praxis?
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