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Melancholie und Versöhnung - Die Filme von Aki Kaurismäki

©2004 Magisterarbeit 102 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Kaurismäkis Filme sind gekennzeichnet von einer Traurigkeit und Melancholie, die sich wie ein transparenter Grundton durch alle Filme zieht. In der Welt des Finnen bekommen die Menschen eine Stimme, die im Mainstreamkino der Gegenwart meist unter den Tische fallen: Arbeitslose, unverschuldet Gestrandete, von der Gesellschaft Ausgestoßene, sogenannte Underdogs.
Kaurismäki zeichnet ein Bild der Gesellschaft Finnlands, das von Arbeitslosigkeit und Ausbeutung der kleinen Leute gekennzeichnet ist. Wohlstand und Sorglosigkeit scheint es in dieser Welt nicht zu geben; zumindest nicht in der Welt seiner Protagonisten, die allesamt am Rande des Existenzminimums ums Überleben kämpfen. Umso verwunderlicher ist es, dass in dieser Welt der Perspektivlosigkeit und Zukunftsangst die Menschlichkeit nie auf der Strecke bleibt. Es erscheint geradezu als Wink des Schicksals, dass die Menschen in Kaurismäkis Filmen, die alles verloren zu haben glauben, die ganz unten auf der sozialen Leiter angekommen sind, sich nicht gegenüber Ihresgleichen zu behaupten suchen, sondern sich mit denen, sie ihr Schicksal teilen, solidarisch zeigen und somit Menschlichkeit auch am Rande der Gesellschaft beweisen.
Und genau an diesem Punkt, an dem Kaurismäkis Figuren glauben, alles verloren zu haben, hält das Schicksal stets eine Wendung parat. Gerade diese Wendung und gleichzeitige Hinwendung zum Glück zeichnet Kaurismäkis Filme aus. Aus tiefer Melancholie steigen die Protagonisten wie Phönix aus der Asche empor und erlangen neuen Lebensmut und Kraft. Sie versöhnen sich mit ihrem Leben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist diese von melancholischem Grundton und versöhnlichem Ende charakterisierte Erzählweise das Prinzip Kaurismäkis. In den folgenden Kapiteln werden Kaurismäkis Filme vorgestellt und ihre Motive und Themen analysiert.
Gang der Untersuchung:
Die Hausarbeit wird sich in sechs Punkte gliedern. Nach dieser Einleitung (Kapitel 1) folgt in Kapitel 2 eine Erläuterung der Begriffe Melancholie (2.1) und Versöhnung (2.2).
Kapitel 3 befasst sich mit dem Begriff Autorenfilm. In diesem Zusammenhang wird auf den Ursprung des auteur-Begriffs (Kapitel 3.1) eingegangen und seine Bedeutung innerhalb der Nouvelle Vague (Kapitel 3.2). Kapitel 3.3 stellt Qualitätskriterien zur Analyse der Produktionsweisen, Themen und Ästhetik der Handschrift eines Independent-auteur auf. Darauf aufbauend bestätigt Kapitel 3.4 Kaurismäki als unabhängigen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Christine Scheffler
Melancholie und Versöhnung - Die Filme von Aki Kaurismäki
ISBN-10: 3-8324-9943-1
ISBN-13: 978-3-8324-9943-3
Druck Diplomica® GmbH, Hamburg, 2006
Zugl. Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland, Magisterarbeit, 2004
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© Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2006
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
1.
EINLEITUNG... 4
2.
MELANCHOLIE UND VERSÖHNUNG ... 6
2.1
M
ELANCHOLIE
... 6
2.2
V
ERSÖHNUNG
... 9
3.
DER INDEPENDENT-AUTEUR AKI KAURISMÄKI ... 12
3.1
U
RSPRUNG DES AUTEUR
-B
EGRIFFS
... 12
3.2
N
OUVELLE
V
AGUE
... 12
3.3
D
ER
I
NDEPENDENT
-
AUTEUR ZWISCHEN
K
UNST UND
K
OMMERZ
... 19
3.4
D
ER
I
NDEPENDENT
-
AUTEUR
A
KI
K
AURISMÄKI
... 24
4.
AKI KAURISMÄKIS FILME ... 31
4.1
D
IE
,,
PROLETARISCHE
T
RILOGIE
" ... 31
4.1.1
Schatten im Paradies ... 31
4.1.1.1 Die Geschichte ... 31
4.1.1.2 Auftakt der Trilogie... 32
4.1.2
Ariel... 33
4.1.2.1 Die Geschichte ... 33
4.1.2.2 Flucht vor dem Prinzip Finnland ... 34
4.1.3
Das Mädchen aus der Streichholzfabrik... 37
4.1.3.1 Die Geschichte ... 37
4.1.3.2 Die Rache des Mädchens ... 39
4.2
I
HIRED A CONTRACT KILLER
... 44
4.2.1
Die Geschichte ... 44
4.2.2
Vertrackter Vertrag... 47
4.3
D
AS
L
EBEN DER
B
OHÈME
... 52
4.3.1
Die Geschichte ... 52
4.3.2
Die Bohème als Sackgasse... 56
4.4
L
ENINGRAD
C
OWBOYS GO
A
MERICA
... 61
4.4.1
Die Geschichte ... 61
4.4.2
Skurriles Roadmovie ... 64
4.5
W
OLKEN ZIEHEN VORÜBER
... 67
4.5.1
Die Geschichte ... 67
4.5.2
Auftakt einer neuen Trilogie ... 70
5.
DER MANN OHNE VERGANGENHEIT... 75
5.1
D
IE
G
ESCHICHTE
... 75
5.2
A
UFERSTEHUNG
... 79
5.3
D
IE
F
IGUREN
... 82
5.3.1
Szenen stilisierter Künstlichkeit ... 82
5.3.2
M, der Mann ohne Vergangenheit ... 84
5.3.3
Irma, die Frau von der Heilsarmee... 88
2

5.4
S
ELBSTFINDUNG
... 90
5.5
M
ELANCHOLIE UND
V
ERSÖHNUNG
... 92
6.
SCHLUSS ... 94
7.
LITERATURVERZEICHNIS ... 95
Abbildungsverzeichnis
Abb.1,
S.22:
Schindler,
2000,
S.17
Abb.2, S.81: ,,Auferstehung" (Pandora Film, 2002)
Abb.3, S.81: ,,Kaisa und Nieminen beraten über M" (Pandora Film, 2002)
Abb.4, S.83: ,,Abendessen in M's Wohncontainer" (Pandora Film, 2002)
Abb.5, S.83: ,,M und Nieminen bei der Heilsarmee" (Pandora Film, 2002)
Abb.6, S.86: ,,M" (Pandora Film, 2002)
Abb.7, S.87: ,,M liegt wach" (Pandora Film, 2002)
Abb.8, S.87: ,,M kocht für Irma" (Pandora Film, 2002)
Abb.9, S.89: ,,Irma" (Pandora Film, 2002)
Abb.10, S.89: ,,Irma lobt M's Kochkünste" (Pandora Film, 2002)
Abb.11, S.91: ,,Die Heilsarmeeband" (Pandora Film, 2002)
Abb.12, S.91: ,,Irma und M im Wagen" (Pandora Film, 2002)
Abb.13, S.93: ,,Anniki Tähti und die Heilsarmeeband" (Pandora Film, 2002)
3

1. Einleitung
Diese Arbeit wird sich mit den Filmen von Aki Kaurismäki befassen. Die
Themen Melancholie und Versöhnung werden als thematischer Fokus
dienen, um die Filme des finnischen Autorenfilmers zu interpretieren.
Kaurismäkis Filme sind gekennzeichnet von einer Traurigkeit und
Melancholie, die sich wie ein transparenter Grundton durch alle Filme
zieht. In der Welt des Finnen bekommen die Menschen eine Stimme, die
im Mainstreamkino der Gegenwart meist unter den Tische fallen:
Arbeitslose, unverschuldet Gestrandete, von der Gesellschaft
Ausgestoßene, sogenannte
Underdogs
. Kaurismäki zeichnet ein Bild der
Gesellschaft Finnlands, das von Arbeitslosigkeit und Ausbeutung der
kleinen Leute gekennzeichnet ist. Wohlstand und Sorglosigkeit scheint es
in dieser Welt nicht zu geben; zumindest nicht in der Welt seiner
Protagonisten, die allesamt am Rande des Existenzminimums ums
Überleben kämpfen. Umso verwunderlicher ist es, dass in dieser Welt der
Perspektivlosigkeit und Zukunftsangst die Menschlichkeit nie auf der
Strecke bleibt. Es erscheint geradezu als Wink des Schicksals, dass die
Menschen in Kaurismäkis Filmen, die alles verloren zu haben glauben, die
ganz unten auf der sozialen Leiter angekommen sind, sich nicht
gegenüber Ihresgleichen zu behaupten suchen, sondern sich mit denen,
sie ihr Schicksal teilen, solidarisch zeigen und somit Menschlichkeit auch
am Rande der Gesellschaft beweisen. Und genau an diesem Punkt, an
dem Kaurismäkis Figuren glauben, alles verloren zu haben, hält das
Schicksal stets eine Wendung parat. Gerade diese Wendung und
gleichzeitige Hinwendung zum Glück zeichnet Kaurismäkis Filme aus. Aus
tiefer Melancholie steigen die Protagonisten wie Phönix aus der Asche
empor und erlangen neuen Lebensmut und Kraft. Sie versöhnen sich mit
ihrem Leben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Vgl. Kapitel 4.3: ,,Das
Leben der Bohème") ist diese von melancholischem Grundton und
versöhnlichem Ende charakterisierte Erzählweise das Prinzip Kaurismäkis.
In den folgenden Kapiteln werden Kaurismäkis Filme vorgestellt und ihre
Motive und Themen analysiert.
4

Die Hausarbeit wird sich in sechs Punkte gliedern. Nach dieser Einleitung
(Kapitel 1) folgt in Kapitel 2 eine Erläuterung der Begriffe Melancholie (2.1)
und Versöhnung (2.2). Kapitel 3 befasst sich mit dem Begriff Autorenfilm.
In diesem Zusammenhang wird auf den Ursprung des
auteur
-Begriffes
(Kapitel 3.1) eingegangen und seine Bedeutung innerhalb der
Nouvelle
Vague
(Kapitel 3.2). Kapitel 3.3 stellt Qualitätskriterien zur Analyse der
Produktionsweisen, Themen und Ästhetik der Handschrift eines
Independent-auteur
auf. Darauf aufbauend bestätigt Kapitel 3.4
Kaurismäki als unabhängigen Filmemacher.
Kaurismäkis Position als
Independent-auteur
gilt als Voraussetzung für die
Entwicklung eines eigenen Stils. Vor dem Hintergrund einer eigenen
Produktionsfirma und somit wirtschaftlicher Unabhängigkeit konnte
Kaurismäki weitgehend unbeeinflusst von den gängigen Mainstream-
Themen eine eigene Handschrift entwickeln.
Kapitel 4 stellt eine Auswahl von Aki Kaurismäkis Filmen vor. Die
,,proletarische Trilogie" (Kapitel 4.1), den im
Film Noir
-Stil gedrehten ,,I
hired a contract killer" (Kapitel 4.2), die Verfilmung des Henri Murger-
Romans ,,Das Leben der Bohème" (Kapitel 4.3), die Roadmovie-Groteske
,,Leningrad Cowboys go America" (Kapitel 4.4) und schließlich den Auftakt
einer weiteren ,,proletarischen Trilogie", ,,Wolken ziehen vorüber" (Kapitel
4.5). Mit einer Analyse von Kaurismäkis neuester Produktion, ,,Der Mann
ohne Vergangenheit" (Kapitel 5) und einem Schlusswort (Kapitel 6)
schließt die Hausarbeit ab.
5

2. Melancholie und Versöhnung
2.1 Melancholie
Der Begriff Melancholie ist ein schwer zu definierender Zustand. Er wird je
nach Fachgebiet unterschiedlich dargestellt. In der Medizin beispielsweise
ist die Melancholie eine Begleiterscheinung der Hypochondrie, in der
Psychologie wird sie mit Depression beschrieben. Dieses Kapitel wird
versuchen, den schwer zu fassenden Geist der Melancholie ansatzweise
zu erklären und für diese Arbeit brauchbar zu machen.
Der Begriff Melancholie stammt aus dem Lateinischen und beschreibt
eines der vier Temperamente, die Hippokrates bezüglich des
menschlichen Charakters unterschieden hat. Gemäß seiner Lehre steht
das Temperament für die Veranlagung des Menschen hinsichtlich der Art,
der Stärke und des Ablaufs der gefühlsmäßigen Verhaltensweisen,
Reaktionen und Willensprozesse. Die vier Temperamente werden nach
der Stärke oder Schwäche, Langsamkeit oder Schnelligkeit des durch das
Temperament beeinflussten Willens- bzw. Gefühlsverlaufs unterschieden.
Jedes Temperament wird dabei als der seelische Ausdruck eines der vier
Hauptsäfte des Körpers aufgefasst: Blut (sanguis), Schleim (phlegma),
schwarze Galle (melancholia), gelbe oder weiße Galle (chole). Je nach
der geringeren oder größeren Motivationskraft der Gefühle bzw. der
Zusammensetzung der Säfte ist der Sanguiniker ein schwankender
Stimmungsmensch oder eher flatterhaft, der Phlegmatiker kaltblütig und
zäh oder gleichgültig und apathisch, der Choleriker ein heftig auftretender
Willensmensch oder übermäßig aufgeregter Gefühlsmensch. (Vgl.
Schischkoff, 1982, S. 689)
Der Melancholiker wird nach Schischkoff (1982, S.445) folgendermaßen
beschrieben:
,,Melancholie (griech. ,,Schwarzgalligkeit"), Schwermut, Tiefsinn, ein
seelischer Zustand, der durch düstere Stimmung, traurige
Vorstellungen, Schwäche des Willens gekennzeichnet ist, durch
Herabstimmung des Selbstgefühls und des Selbstvertrauens. Der
Melancholiker, beschrieben als Typus der klassischen Lehre vom
Temperament, neigt zum Pessimismus, zu einer stärker von
6

Stimmung und Gefühl als von Tat und Wille beherrschten
Lebensauffassung."
Die klassische Ableitung der Temperamente aus ,,Säften" und ihrer
individuell verschiedenen Mischung ist wissenschaftlich nicht haltbar, da
es sich bei Temperamenten um Struktureigenschaften der
Gesamtpersönlichkeit handelt. Dennoch werden die Begriffe immer noch
verwendet, um eine auftretende Stimmung zu beschreiben.
Die Melancholie, auch Schwermut, Weltschmerz oder Depression, ist ein
Geisteszustand, der als Herausforderung für das philosophische Denken
begriffen wird. Die ,,grundlose Traurigkeit", wie Melancholie auch genannt
wird, ist eng verbunden mit einem reflexiven Bewusstsein. Das bedeutet,
ein melancholischer Mensch reflektiert verstärkt über sich und seine
Umwelt, oder anders gesehen, ein nachdenklicher, nachfragender Mensch
hat verstärkt einen Hang zur Melancholie. Unter den sinn- und
sachverwandten Bedeutungen von ,,melancholisch sein" findet sich der
Ausdruck ,,sich hintersinnen" (nachschlagen im Duden, Band 8, 1972,
S.455). Diese Wendung scheint auszudrücken, dass das Leiden der
Melancholie ein reflexives ist. Ein sich hintersinnendes, sich selbst
reflektierendes Bewusstsein ist im Prozess eines ,,Sich-besinnen-wollens"
noch fremder, entfernt sich noch weiter von sich selbst, als das im Akt des
naiven Leidens der Fall ist. Dieser Prozess kann zu einem Identitätsbruch
führen. Der Mensch ist nicht mehr bei sich, aber gleichzeitig noch nicht zu
sich gekommen, ist von sich reflexiv distanziert und das wiederum
reflektierend, so dass ein unglückliches melancholisches Bewusstsein sich
selbst in den Rücken fällt und den Halt nimmt und nun zwischen ,,nicht-
mehr" und ,,noch-nicht" leer im Leben hängt und sich dem grundlosen
Unglück hingibt (Vgl. Lambrecht, 1996, Einleitung).
Im Vergleich zu den andern drei Temperamenten hat das des
Melancholikers essentiell ein Verhältnis zu sich selbst. Das ,,Sich-
7

Hintersinnen" impliziert im Fall des Melancholikers ein unglückliches
Bewusstsein.
1
Eine weitere Möglichkeit, das Melancholiephänomen zu beschreiben ist
die Betrachtung als Zwischenlage, als Spannung zwischen Polen, als
mehr oder weniger reflexive Verhältnisse in Zeit und Raum. Das ist zum
einen das Verhältnis ,,zwischen Krankheit und Sünde", zum anderen ein
Zwischen-Verhältnis in der grundlegenden Orientierung auf Raum und
Zeit, ein ,,zwischen Anderswann und Anderswo". Dieses Spannungsfeld
des Melancholieproblems wird hauptsächlich glücksphilosophisch in
Gestalt des Unglücklichseins oder im vergeblichen Bemühen um Erfüllung
dargestellt. Eine weitere Betrachtungsweise ist die vorwiegend
zeitphilosophische Betrachtung, das ,,zwischen nicht-mehr und noch-
nicht", in welcher das lebensgeschichtliche Unglücklichsein als das
melancholische Verstehen eigener Individuation als Selbst-Verfehlung
betrachtet wird. Das ,,zwischen" hat hier stets die Aufgabe, die
eigentümliche Ungreifbarkeit des Melancholiephänomens verstehen zu
helfen.
Eine weitere Ausprägung der Melancholie betrifft das Doppelspiel von
Sehnsucht auf der einen und Hoffnung bzw. Hoffnungslosigkeit,
Resignation und Verzweiflung auf der anderen Seite. Einerseits äußert
sich Melancholie durch einen resignativen Gestus, eine offen zur Schau
getragene Attitüde wehmütiger Hoffnungsaufgabe. Andererseits ist
Melancholie häufig durch einen rebellischen Zug von Sehnsucht
gekennzeichnet, die jenseits aller Hoffnungslosigkeitsgebärden, meist
versteckt wie ein Stachel im Dasein des Melancholikers steckt. Lambrecht
(1996, S.14) schreibt hierzu:
,,Im Gegenteil besteht das melancholische Leiden meist gerade
darin, dass einer mehr oder weniger unbestimmten Sehnsucht nach
etwas "Anderem" ein verzagtes Nicht-für-möglich-Halten des
Erreichens dieses "Anderen" gegenüber steht und das betreffende
Individuum in eine Krise stürzt, die aber auch, bei erneuter
1
Ausführungen über das ,,Unglückliche Bewusstsein" finden sich bei Hegel, G.W.F.
(1807). Phänomenologie des Geistes, Kap. 4 B, Schlussabschnitt.
8

Anstachelung von Hoffnungsresiduen, vorübergehend und damit
schöpferisch sein kann."
Melancholie versteht sich also als ein Wechselspiel von unaufgegebener
Sehnsucht und schwankender Hoffnung (Vgl. Lambrecht, 1996,
Einleitung).
2.2 Versöhnung
Der Begriff Versöhnung hat eine tragende Bedeutung in der christlichen
Theologie. Die Lehre von der Versöhnung stützt sich im Neuen Testament
besonders auf 2 Kor 5, 17-21. Dort steht, Gott hat das Verhältnis der Welt
zu ihm, das durch menschliche Verfehlungen unrettbar zerstört war, von
neuem aufgerichtet. Die Versöhnung wird wirklich als neue Schöpfung, als
ein ,,sein in Christus". Jesus Christus, der ohne Sünde war, hat
stellvertretend für alle Menschen die Sünden auf sich genommen, damit
diese frei gesprochen werden. Gott hat somit in Christus rettend für die
Menschheit gehandelt.
Der Terminus Versöhnung hat unterschiedliche Bedeutungsfelder. Das
deutsche Wort Versöhnung geht auf das mittelhochdeutsche
versüenen
zurück, was bedeutet, eine Schuld wird durch Sühne gebüßt; sie ist dann
nicht mehr rechtskräftig, sondern wiedergutgemacht. Martin Luther
unterscheidet in seinen Übersetzungen zwischen ,,aussöhnen"
2
und
,,wiedergutmachen". In der heutigen Lutherbibel heißt es ,,versöhnen", oder
,,Frieden stiften, sich aussöhnen" oder sogar ,,sich vertragen".
3
Für den theologischen Versöhnungsbegriff sind drei Bedeutungsfelder
aufeinander bezogen. Der ,,Kultus" (Gottesdienst) gibt die Möglichkeit, vor
Gott zu treten. Im Opfer wird der Schuldige als Person vertreten und aus
der Todesverfallenheit erlöst. Das ,,Recht" regelt Verhältnisse zwischen
Personen. In der ,,sozialen Dimension" zeigt sich, dass das
Zusammenleben von Menschen nicht nur der Konfliktregelung und der
2
Entsprechend übersetzt auch bei Mt 5, 24 und 1 Kor 7, 11; Bei Hebr 2, 17 heißt es
,,Sühne leisten"
3
In der engl. Terminologie wird "atonement" (Sühne) von "reconciliation" (Aussöhnung)
unterschieden, wobei letzterer Begriff Versöhnung auch als sozialethische Aufgabe
(Friedenstiftung) umfasst.
9

Bereitschaft zur Koexistenz bedarf, sondern auch der Bereinigung von
Schuld und ihren Folgen.
Im Akt der Versöhnung drückt sich ein Grundzug des Handelns Gottes
aus, in der sich kundtut, wie Gott sich zur Menschheit verhält und wer er
für uns ist. Jesus Christus ist der Sohn Gottes und ,,der Versöhner". In
seinem Leben und Sterben wird Gottes Versöhnung offenbar und deckt
zugleich menschliche Unversöhntheit und Unversöhnlichkeit auf, indem
sie sie nicht bestehen lässt. Gott setzt sich durch, indem er menschliche
Schuld auf sich nimmt und so aufhebt. Die Schuldigen werden darum
gebeten, sich diese Tat gefallen zu lassen. (Vgl. Die Bibel, 2 Kor 5, 20)
Versöhnung erweist sich hier als grund- und bedingungsloses ,,Auf-uns-
Zugehen" Gottes. In dem dadurch geschaffenen Verhältnis können
Menschen nur aus Vergebung leben und sie mitteilen, andernfalls
bestritten sie in ihrem Verhalten zu anderen und zu sich selbst die
Versöhnung, die ihnen zuteil geworden ist.
4
(Vgl. Gyllenberg, 1986)
In der neuzeitlichen Auffassung ist die theologische Verknüpfung von
Versöhnung und Gottes Handeln an und durch Jesu Christus ,,für uns"
strittig geworden. Verschiedenste theologische Ansätze haben versucht,
den Versöhnungsgedanken in Frage zu stellen und neu auszulegen.
Bei G.F.W. Hegel wird Versöhnung zum religionsphilosophischen
Schlüsselbegriff. Demnach hebt Versöhnung die Entzweiung zwischen
Gott und der Welt auf. Die göttliche Liebe offenbart sich in Jesus Christus,
der die Einigung von Gott und Mensch verkörpert.
Der Sprachgebrauch in Kirche und Theologie hat eine
Bedeutungsverlagerung erfahren, der Versöhnung fast ausschließlich als
Konfliktregelung und Friedensstiftung auffasst und fordert. Hintergrund
dieser modernen Auffassung ist das Bedürfnis nach Vertrauensbildung in
internationalen Beziehungen und der Ausgleich zwischen sozialen und
politischen Gegensätzen. Zunehmend steht auch der Wunsch nach der
Wiederherstellung gestörter Harmonie mit der Umwelt im Vordergrund, die
4
Verdeutlicht im ,,Gleichnis vom hartherzigen Schuldner", Mt 18, 23-35
10

Versöhnung mit der Natur. Dieses Streben nach Versöhnung im
modernen Zeitalter impliziert gleichzeitig ein Aufdecken der Ursachen von
Störungen und stellt somit nicht nur eine bedingungslose
Versöhnungsbereitschaft dar. Denn Versöhnung in diesem Sinne verlangt
Überwindung rassischer Diskriminierung, politische Gleichberechtigung
und Herstellung sozialer Gerechtigkeit.
Die Bedeutungsverschiebung zu einer Auffassung von Versöhnung als
Friedensschluss und Beendigung von Feindschaft auf verschiedenen
Ebenen ist Ausdruck eines tiefgreifenden Bewusstseinswandels, der sich
seit ca. 200 Jahren abzeichnet. Versöhnung vollzieht sich zwischen
Menschen, Gruppen, Völkern, die zu Gegnern wurden. Gleichzeitig gilt
nun auch die Versöhnung Gottes mit der Welt als die Entstörung einer
gestörten Beziehung, die Menschen ermöglichen soll, entsprechend zu
agieren. Dies wirkt auch auf die theologischen Vorstellungen ein. Die
Versöhnung der Welt mit Gott wird als friedensstiftende Maßnahme
angesehen, als Vorbild und Anstoß für menschliche Bemühungen,
Beziehungen zu stiften oder wiederherzustellen.
In Verbindung mit Ethik erscheint Versöhnung als sozialer
Beziehungsbegriff. Versöhnung entsteht, wenn festgefahrene
Beziehungen in Bewegung gebracht werden, was nur in der Hoffnung auf
Veränderbarkeit gelingen kann. Versöhnung gilt als Kennwort politischen
Neuanfangs, sie überwindet Spannungen, indem geschichtliche
Konfliktursachen beseitigt werden. Versöhnung wird gleichbedeutend mit
politischer Verständigung (Vgl. Gyllenberg, 1986).
11

3. Der Independent-auteur Aki Kaurismäki
3.1 Ursprung des auteur-Begriffs
Ursprünglich beschrieb der Begriff Autorenfilm das deutsche Kino der
Autoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das literarisch geprägt und
künstlerisch ausgerichtet war. Zu Beginn des Kinos verpflichtete man
wichtige Schriftsteller, wie Gerhard Hauptmann, Arthur Schnitzler, Hugo
von Hofmannsthal oder auch Berthold Brecht, Drehbücher zu schreiben.
Der Begriff Autorenfilm ist in diesem Zusammenhang also insofern
buchstäblich zu verstehen, als er weniger auf die Figur des Regisseurs
abzielt, denn auf das kulturelle Kapital, das sich mit den Namen
literarischer Schriftsteller verband. Somit besaß der deutsche Stummfilm
hochkarätige Film-Autoren, ohne bereits Autorenfilmer zu kennen.
Mithilfe dieser Literaten sollte dem Kino jenes Prestige verschafft werden,
das ihm als Jahrmarktsvergnügen der proletarischen Massen abging.
Autorenfilm in diesem frühen Verständnis war der anspruchsvolle
Versuch, dem Kino die Kinderkrankheit des Sensationslüsternen und
Schmuddeligen auszutreiben und es auf die erwachsenen Pfade von
Kunst und Kultur zu führen. Allerdings erwies sich zur damaligen Zeit die
Aufwertung des Films durch angesehene literarische Schriftsteller als
Fehlgriff.
,,Die Leute vom Theater, ganz dem herkömmlichen Bühnenstil
verpflichtet, waren außerstande, die verschiedenen Gesetze des
neuen filmischen Mediums zu erfassen. Ihre Haltung zum Film war
herablassend. Sie sahen in ihm nur ein Mittel, die Kunst des
Schauspielers herauszustreichen und die willkommene
Gelegenheit, Theaterinszenierungen einem breiten Publikum
bekannt zu machen. Für sie war die Leinwand einfach eine neue
Bühne." (zit.n. Kracauer, 1979, S. 24)
3.2 Nouvelle Vague
Vorbild für das Verständnis von Autorenfilm, wie wir es heue kennen,
waren ,,ein paar junge Wilde" (Grob, 2001, S. 76) der französischen
Filmkritik, die späteren Regisseure der
Nouvelle Vague
. Neben André
Bazin, dem Herausgeber der
Cahier du Cinéma
, waren das zentrale
12

Figuren wie François Truffaut, Jean-Luc Godard, Claude Chabrol und
Jaques Rivette, die den französischen Gegenwartsfilm kritisierten und für
die Aufwertung des amerikanischen Unterhaltungskinos fochten. Ihre
Texte führten zu einer Metaphorisierung des Autor-Begriffes. (Vgl.
Nitsche, S.14)
In seinem 1948 veröffentlichten Artikel
La caméra-stylo
vergleicht
Alexandre Astruc die Kamera des Filmemachers metaphorisch mit dem
literarischen Arbeitswerkzeug des Federhalters. Er war davon überzeugt,
dass das Medium Film eine eigene Sprache, eine Filmsprache entwickeln
könne, die sich nicht nur von der Literatur und anderen Kunstformen
unterscheidet, sondern ihnen gleichwertig ist.
,,Der Film ist ganz einfach dabei, ein Ausdrucksmittel zu werden,
wie es alle anderen Künste zuvor, wie es insbesondere die Malerei
und der Roman gewesen sind. Nachdem er nacheinander eine
Jahrmarktsattraktion, eine dem Boulevardtheater ähnliche
Unterhaltung oder ein Mittel war, die Bilder einer Epoche zu
konservieren, wird er nach und nach zu einer Sprache. Einer
Sprache, das heißt zu einer Form, in der und durch die ein Künstler
seine Gedanken, so abstrakt sie auch seien, ausdrücken oder seine
Probleme so exakt formulieren kann, wie das heute im Essay oder
im Roman der Fall ist. Darum nenne ich diese Epoche des Films
die Epoche der Kamera als Federhalter [la caméra-stylo]. Dieses
Bild hat einen genauen Sinn. Es bedeutet, daß der Film sich nach
und nach aus der Tyrannei des Visuellen befreien wird, des Bildes
um des Bildes willen, der unmittelbaren Fabel, des Konkreten, um
zum Mittel der Schrift zu werden, das ebenso ausdrucksfähig und
ebenso subtil ist wie das der geschriebenen Sprache." (zit.n.
Kotulla, 1964, S. 111 f.)
Astruc prophezeit eine neue Epoche der Ästhetik und verbindet diese mit
Namen wie Jean Renoir und Orson Welles. Der Film verwandelt sich bei
diesen Regisseuren in ein abstraktes Medium, das den Ausdruck des
Gedankens ermöglicht. In der Metapher des Federhalters formuliert Astruc
zugleich das Bedürfnis nach der Aufwertung des Mediums, dessen
technische Eigenschaften zudem durch eine individuelle Handschrift
belebt werden sollen. Das Leitbild für Astrucs Aufwertung des Kinos bilden
die etablierten Künste der Malerei und der Literatur. Für das Autorenkino
sind hier vor allem die produktionsästhetischen Konsequenzen, die Astruc
13

mit dieser Emanzipation des Films verbindet, von Bedeutung. Die
Schlusspassage seines Artikels verdeutlicht das neue Verständnis,
nachdem der Regisseur nicht mehr nur Erfüllungsgehilfe des
Drehbuchautors ist, sondern sich in einen filmischen Autor verwandelt
(Vgl. Nitsche, 2002, S. 6f.).
,,Besser noch, daß es keinen Scenaristen mehr gibt, denn bei
einem solchen Film hat die Unterscheidung zwischen Autor [auteur]
und Regisseur [réalisateur] keine Sinn mehr. Die Regie [mise en
scène] ist kein Mittel mehr, eine Szene zu illustrieren oder
darzubieten, sondern eine wirkliche Schrift. Der Autor schreibt mit
seiner Kamera wie ein Schriftsteller mit seinem Federhalter." ( zit.n.
Kotulla, 1964, S. 115)
Astruc bekräftigt hier die folgenreiche Engführung von Regisseur und
Schriftsteller zum filmischen Autor. An die Stelle des
Scenarist
, der
lediglich für die Adaption von Romanvorlagen verantwortlich ist, tritt der
auteur
, der die Verschmelzung von Regisseur und literarischem Autor
darstellt. Astruc formuliert mit der ,,Kamera als Federhalter" eine
Produktionsutopie, die statt vom Abbildrealismus des Films vor allem von
der Vorstellung einer Immanenz des Regisseurs im filmischen Kunstwerk
ausgeht (Vgl. Nitsche, 2002, S.7).
In diesem Kontext bekommt auch die
mise en scène
als Akt der
Regieführung neues Gewicht. Im Gegensatz zur Montage, die
nachträgliche Ordnung schafft, ist damit die Schauspielerführung,
Lichtsetzung und Kamerapositionierung gemeint, also der unmittelbare Akt
künstlerischer Entscheidung am Drehort. Gerade das amerikanische
Mainstreamkino hielt und hält den Einflussbereich des Regisseurs am
Drehort äußerst beschränkt. In Astrucs Idealmodell aber bedient sich der
Filmemacher seines Filmteams und Schauspielerensembles in vollem
Bewusstsein von deren kreativen Fähigkeiten und setzt sie als Werkzeuge
zur Erschaffung seiner künstlerischen Arbeit ein. Somit wird der
künstlerische Wille des Regisseurs zur autonomen letzten Instanz (Vgl.
Stiglegger, 2000, S.13).
Aber erst als sich François Truffaut 1954 in seinem Artikel
Une certaine
tendence du cinéma francais
mit dem Begriff
auteur
auseinandersetzte,
14

löste der Begriff eine kontroverse Debatte unter Filmkritikern, die
sogenannte
politique des auteurs,
aus.
Truffaut problematisiert anhand eines exemplarischen Drehbuchentwurfs
des ,,Scenaristen-Tandem" Aurenche und Bost das Prinzip der Werktreue.
Die Szenaristen begingen mit ihrer Umsetzung des filmischen Stoffes in
doppelter Weise ,,Verrat". Einerseits verfälschten sie mit ihrem narrativen
Schematismus und politischen Dogmatismus die Sinnzusammenhänge
der literarischen Vorlage, während sie andererseits die spezifischen
Ausdrucksmöglichkeiten des Kinos ignorierten (Vgl. Nitsche, 2002, S.15).
Truffaut schreibt ( zit.n. Kotulla, 1964, S.122):
,,[I]ch stelle mir aber als gültige Adaption nur eine solche vor, die
von einem Mann des Films geschrieben ist. Aurenche und Bost
sind in der Hauptsache Literaten, und ich werfe ihnen vor, dass sie
den Film verachten, weil sie ihn unterschätzen."
Den entscheidenden Punkt seines Aufsatzes bildet die Darstellung der
hierarchischen Opposition zweier verschiedener Typen von Regisseuren.
Der
metteur en scène
liefert in der Filmproduktion einem vorgängigen
Drehbuch den Bildrahmen. Truffaut stellt diesem das
cinéma d'auteurs
entgegen, dessen Regisseure einerseits eigene Drehbücher verfassen,
die sie kraft ihres Talents in unverfälschte Verfilmungen verwandeln (Vgl.
Nitsche, 2002, S.16).
,,[...Ich] kenne in Frankreich eine Handvoll Männer [...], deren
Weltansicht mindestens ebensoviel Gewicht hat wie die von
Aurenche und Bost, Sigurd und Jeanson. Es handelt sich um Jean
Renoir, Robert Bresson, Jean Cocteau [...] Auch diese sind
französische Cineasten, und es trifft sich ­ merkwürdige Koinzidenz
­ daß sie Autoren sind, die ihre Dialoge oft selber schreiben, und
einige von ihnen erfinden auch die Geschichte selbst, die sie auf
die Leinwand bringen [...] Nun ich kann an eine friedliche
Koexistenz der ,,Tradition der Qualität" und des ,Autorenfilms'
(cinéma d'auteurs) nicht glauben. (zit.n. Kotulla, 1964, S. 127)
Die Differenzierung von
auteur
und
réalisateur
stellte einen weiteren
Diskussionspunkt der
politique des auteurs
dar. Der
réalisateur,
der, wenn
er auch mit Intelligenz, Fantasie und Inspiration inszeniert, setzt stets nur
die vorgegebene Geschichte eines Drehbuchautors um. Der
auteur
dagegen bekennt, wie er zur Welt, zu den Menschen und seiner Arbeit
15

steht, selbst wenn er auch voller Flecken und Fehler, voller Manien und
Schwächen arbeitet. Dabei sollen
auteur
und
réalisateur
distinktive, keine
wertenden Kategorien sein. Sie zählen nicht auf der Ebene der Qualität,
sondern nur auf der Ebene von Haltung, Tonart, Klangfarbe, Timbre. Auch
gelungene Filme eines
réalisateur
können durch ihre Gestaltung
beeindrucken und erstaunen. Doch gelungene Filme eines
auteur
vermögen darüber hinaus zu berühren, wegen der Zärtlichkeit, mit der sie
sich ihren Figuren nähern oder das Unbeholfene nahe bringen, wegen
ihrer Schönheit oder ihres neuen und abweichenden Klangs.
Dem Verständnis der Verfechter der
politique des auteurs
lag von
vorneherein eine cinéastische Perspektive zugrunde. Bedeutende Fragen
betrafen die
mise en scène
oder neue Ideen der Abfolge der
Einstellungen.
Die
politique des auteurs
hatte großen Einfluss auf Filmkritik,
Filmwissenschaft und Filmgeschichte, beinhaltete aber auch Schwächen.
Die Stilisierung und Verklärung des
auteur
als autonomes Individuum
förderte einerseits den Kultstatus bestimmter Filmemacher, andererseits
vernachlässigte sie den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext
von Filmen.
Die
politique des auteurs
war als Modell für die Autorenfilmer der
Nouvelle
Vague
von großer Bedeutung. Die Diskussionen inspirierten sie zu Filmen,
die sich durch eine außergewöhnliche filmsprachliche Kreativität und
Innovation auszeichneten. (Vgl. Schindler, 2000, S. 8 f.)
Die
politique des auteurs
galt auch außerhalb Frankreichs als
Erfolgsmodell. François Truffaut gelang mit seinem Film
Les 400 Coups
bei den Filmfestspielen in Cannes der große Durchbruch. Seine
Kritikerkollegen folgten seinem Vorbild und wechselten innerhalb des
kulturellen Systems vom Filmkritiker zum Filmemacher. Jean-Luc Godard,
Eric Rhomer, Claude Chabrol und Jaques Rivette begannen nun ihre
Laufbahn vor dem Hintergrund jenes idealistischen Konzeptes, das sie
zuvor als fiktives Produktionsmodell propagiert hatten. Bekannte Filme
dieser Zeit sind u.a.
A bout de souffle
von Jean-Luc Godard,
Hiroshima
mon amour
von Alain Resnais
, Les amants
von Louis Malle. Godard ging
16

noch einen Schritt weiter und gab einem seiner Filme den
programmatischen Titel
Nouvelle Vague
.
Mit der Unterzeichnung des Oberhausener Manifests 1962 drückten auch
junge deutsche Regisseure ihren Willen zum unabhängigen, autonomen
Kino aus. Wichtige Vertreter, wie Alexander Kluge, Edgar Reitz, Herbert
Veseley und andere machten sich in den folgenden Jahrzehnten des
,,Neuen Deutschen Films" ebenfalls an eine Umsetzung vergleichbarer
Konzepte wie der
politique des auteurs.
Die
politique des auteurs
wurde in England vornehmlich durch das
Magazin
Movie
wahr genommen. In den USA galt der Filmkritiker und
Herausgeber der englischsprachigen Ausgabe von
Cahier du Cinéma
,
Andrew Sarris, als Leitfigur bei der Etablierung der
politique des auteurs.
Er führte den Begriff
author
1968 in den amerikanischen Filmdiskurs ein.
Heute beinhaltet der Begriff Autorenfilm das moderne Verständnis,
wonach es der persönliche Blick eines Filmemachers ist, der eine
Geschichte auf individuelle Art erzählt und der in seinen Filmen den
persönlichen Ausdruck seiner Vorstellungen von der Welt und vom
Filmemachen realisiert. Damit verbunden ist eine Einzigartigkeit, die sich
gegen jede Konvention richtet und ein eigener Blick auf Figuren, eine
betont subjektive visuelle Fantasie, eine ganz eigene Ordnung im Raum
und ein individueller Rhythmus (Vgl. Grob, 2001, S.71).
Ein visionärer Blick, der eine inszenierte Realität zum Sprechen
bringt, indem er die üblichen eingefahrenen Formen ins Furiose,
Fanatische, Obsessive, manchmal auch einfach ins Subjektive
transformiert ­ unterstützt und zugespitzt durch die Kunst der
Inszenierung, die Kunst der räumlichen Konstruktion und des
körperlichen Ausdrucks. (zit.n. Grob, 2001, S. 76)
Gemeint ist also, nach dem Verständnis der
Nouvelle Vague
, wie Truffaut,
Rivette und Godard es formuliert haben, in erster Linie der Ausdruck einer
individuellen Weltsicht und nicht die Beschreibung einer Arbeitsposition.
Mit dem Begriff Autor verbindet sich die persönliche Leistung eines
Filmemachers, der unabhängig von Thema und Buch, aber in enger
Kooperation mit seinen Mitarbeitern, die jeweilige Geschichte auf intime
Weise stilisiert, wie nur er es vermag. Ein Autor konjugiert die Rede seines
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Films in der ersten Person, er spricht stets in der Ich-Form. Das bedeutet,
dass Filme eines Autors nicht unbedingt die besseren sein müssen. Es
besagt nur, dass sie eine besondere, ganz eigene Ausdrucksweise haben.
Die Signifikanten für diese Ich-Form sind höchst unterschiedlich. Mal sind
sie erkennbar in immer wiederkehrenden Themen oder an immer
wiederkehrenden Situationen, in immer wiederkehrenden Bildmotiven oder
immer wiederkehrenden Figurenkonzeptionen, in immer wiederkehrenden
Kamera- oder Montagetechniken (Vgl. Grob, 2001, S.77).
Die Vertreter der
politique des auteurs
gebrauchten den Begriff
auteur
nicht im Rahmen einer wissenschaftlichen Analyse. Erst in den späten
sechziger Jahren gliederten Filmtheoretiker den Begriff in die
wissenschaftliche Theorie des Strukturalismus ein. Die Filmanalyse wurde
dahingehende erweitert, dass sie nicht mehr nur die zugrunde liegenden
auteur
-Strukturen, sondern auch diverse andere Strukturen untersuchte:
,,Thus the auteur was displaced from the centre of the work and was
now one structure among several others making up the film text.
This displaced allowed other structures to emerge, namely, the
linguistic, social and institutional structures and the auteur's
relationship to them. And even though in the late 1960's the
tendency was still to perceive the auteur structure as the major one,
it was also recognized that the studio and stars ­ amongst others ­
were equally important contributors to the production of meaning in
film. Still absent from the debate, however, was the spectator ­ the
question of pleasure and ideology." (zit.n. Hayward, 1996, S.18)
In den siebziger Jahren wurde der Totalitätsanspruch des Strukturalismus
als alleinige Theorie von poststrukturalistischen Filmwissenschaftlern für
überholt erklärt. Ihre Überzeugung war, dass eine Theorie allein nicht
mehr ausreiche, um Filme in ihrer ganzen Komplexität zu untersuchen.
Theorien der Semiotik, der Psychoanalyse, des Feminismus und des
Dekonstruktivismus wurden nun als Basis poststrukturalistischer
Filmanalyse benutzt. Hayward (1996, S.18) schreibt hierzu:
,,It would take the impact of post-structuralism, psychoanalysis,
feminism and deconstruction to make clear finally that a single
theory was inadequate and that what was required was a pluralism
of theories that cross-fertilized each other. (...) Because post-
sturcturalism looks at all relevant discourses (said or unsaid)
18

revolving around and within the text, many more areas of meaning-
production can be identified."
Die Semiotik hatte erheblichen Einfluss auf die poststrukturalistische
Filmanalyse. Der
auteur
und der Zuschauer sind demnach Teil des
filmischen Textes, den Filmen eingeschriebene Subjekte. Die Textualität
und Intertextualität von Filmen stehen dabei im Zentrum der Analyse. Die
Vielzahl an Theorien des Poststrukturalismus bildet die Grundlage eines
Methodenpluralismus, dem sich die Autorenfilme auf vier Weisen nähert:
,,über den
auteur
, die Ideologie des filmischen Textes, den Kontext und die
Rezeption des Zuschauers" (zit.n. Schindler, 2000, S.11). Die
Poststrukturalisten ergänzen somit die Herangehensweisen der
Strukturalisten um die der Ideologie und des Zuschauers.
Von entscheidender Bedeutung für die Analyse von Autorenfilmen sind
der jeweilige filmhistorische Kontext und die mit ihm verbunden
Produktionsbedingungen, die den Grad der kreativen Kontrolle eines
auteur
bestimmen:
,,Although auteurism provides the foundation for many excellent
studies, it should be used with some skepticism for at least two
reasons. Rarely does a director have the total control that the term
suggest, since anyone from a scriptwriter to an editor may be more
responsible for the look and logic of a film. And what an auteur
represents differs quite a bit depending on the time and place:
auteur applied to Truffaut or Eric Rohmer has quite different
meaning from auteur applied to Samuel Fuller or David Lynch."
(zit.n. Corrigan, 2001, S.102)
3.3 Der Independent-auteur zwischen Kunst und
Kommerz
Die Filmwirtschaft unterscheidet zwischen den Regisseuren der großen
internationalen Medienkonzerne, wie z. Bsp. den
Major Studios
Hollywoods, und den unabhängigen Filmemachern, den
Independent-
auteurs
. Die Unterscheidung bezieht sich hauptsächlich auf die
unterschiedlichen Produktionsbedingungen und Produktionsweisen.
Aufgrund des meist geringen Einflusses eines Regisseurs der
Filmindustrie, umfasst seine Handschrift selten individuelle
19

Produktionsweisen. Es besteht hier eine enge Verknüpfung mit der Rolle
des
réalisateur
(Vgl.
Nouvelle Vague
), da auch der verantwortliche
Tätigkeitsbereich eines Regisseurs der Filmindustrie sich gewöhnlich auf
die Regie und somit auf die
mise en scène
beschränkt. Unter den
Produktionsbedingen eines großen Medienkonzerns hat ein solcher
Regisseur kaum die Möglichkeit, konstante Themen und narrative
Erzählweisen in seinen Filmen zu entwickeln, wie es ein unabhängiger
Filmemacher tut.
Ein
Independent-auteur
hingegen ist nicht nur Regisseur einer
mise en
scène
, sondern der potenzielle kreative Urheber einer kompletten
Filmproduktion. Dennoch handelt es sich um eine relative Unabhängigkeit,
da auch die unabhängige Filmwirtschaft ökonomischen Bedingungen
unterliegt:
,,"Independent, " then, has to be understood as a relational term ­
independent in relation to the dominant system ­ rather than taken
as indicating a practice that ist totally free-standing and
autonomous. Individual filmmakers who do not understand this
relationship often end up frustrating and compromising their own
efforts." (zit.n. Kleinhans, 1998, S.308)
Ein
Independent-auteur
zeichnet sich also dadurch aus, dass er
zumindest die Mehrzahl seiner Filme nicht von den so genannten
Major
Studios
Hollywoods produzieren lässt, also überwiegend finanziell und
damit auch künstlerisch unabhängig von der dominierenden Filmindustrie
arbeitet. Diese Unabhängigkeit von rein kommerziellen Produktionsweisen
gibt einem Filmemacher weitaus größere Möglichkeiten, die
Produktionsweisen, Themen und Ästhetik der Filme selbst zu bestimmen.
Die Handschrift eines
Independent-auteur
umfasst sowohl konstante
Themen und ästhetische Erzählweisen, als auch individuelle
Produktionsweisen. Diese Qualitäten stehen in wechselseitiger
Abhängigkeit voneinander. Individuelle kreative Urheberschaft ist nur dann
möglich, wenn der Grad der kreativen Kontrolle hoch ist. Ebenso ist ein
hoher Grad an kreativer Kontrolle nur dann von Wert, wenn er über
entsprechende kreative Fähigkeiten verfügt. Folglich befindet sich ein
Autorenfilmer grundsätzlich im Spannungsverhältnis von Kunst und
Kommerz.
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Die Filmindustrie unterliegt in starkem Maße finanziellen Zwängen, was in
der Regel zu gravierenden Interessensgegensätzen zwischen
Filmemachern und Filmindustriellen führt. Ein
Independent-auteur
ist auf
das Geld von Produktions- und Distributionsfirmen angewiesen, für die ein
Film in erster Linie ein kommerzielles Geschäft darstellt. Das Interesse der
Produzenten und Verleiher ist, den größtmöglichen finanziellen Profit zu
erzielen. Mit Mainstream-Filmen, also den Sehgewohnheiten eines
Massenpublikums entsprechenden Themen und Erzählweisen ist dies
wahrscheinlicher zu erreichen als mit unkonventionellen Autorenfilmen.
Produzenten werden demnach versuchen, auf die Arbeit eines
Filmemachers in dem Maße einzuwirken, dass das filmische Produkt ein
möglichst breites Publikum anspricht und die Kinokassen füllt.
Im Gegensatz dazu steht die Vorstellung des
Independent-auteur
, seine
Filme so zu realisieren, wie er sie sich vorstellt. In seinem Interesse liegt
es daher, die größtmögliche kreative Kontrolle über seine Filme zu
behalten. Der Begriff
Independent-auteur
steht vor allem für die kreativen
Kontrollmöglichkeiten eines Filmemachers und klassifiziert einen
Autorenfilmer als finanziell und künstlerisch unabhängig ­ im Gegensatz
zu einem Regisseur der
Major Studios
. Folgerichtig sagt der Begriff
Independent-auteur
wenig über kreative Fähigkeiten, also die Qualität der
Themen und Ästhetik einer Handschrift aus:
,,Independence alone does not confer political, social, or aesthetic
value. But there ist a long-standing connection between some
independent feature films and political advocacy or minority cultural
expression." (zit.n. Kleinhans, 1998, S.322)
Um die Produktionsweisen, Themen und Ästhetik der Handschrift eines
Independent-auteurs
qualitativ beschreiben, analysieren und vergleichen
zu können, bedarf es objektiver Kriterien. Die gewählten Kriterien basieren
auf der Methodik des Poststrukturalismus. Dabei handelt es sich um
relative Kriterien, da der Grad ihrer Ausprägung variabel ist (Vgl.
Schindler, 2000).
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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783832499433
ISBN (Paperback)
9783838699431
DOI
10.3239/9783832499433
Dateigröße
957 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Augsburg – Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Medienpädagogik
Erscheinungsdatum
2006 (November)
Note
2,0
Schlagworte
kino finnland kaurismäki regisseur autorenfilm
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Titel: Melancholie und Versöhnung - Die Filme von Aki Kaurismäki
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