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Planung und Vorbereitung europäischer Richtlinien am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie

©2006 Masterarbeit 50 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Problemstellung:
Im Februar 2005, fast ein Jahr nach Vorlage des Vorschlags der Kommission für eine Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt, stellte der damalige Bundeskanzler Schröder klar, die Pläne der Kommission würden „so nicht umgesetzt“. Die Bundesregierung war mit dieser Position nicht alleine. So erklärte der französische Premier Raffarin am gleichen Tag vor dem französischen Parlament, die Pläne der Kommission seien „nicht akzeptabel“.
Das ist verständlich, denn Frankreich und Deutschland sind Hochlohnländer. Beide Staaten verfügen zudem über ein ausgeprägtes System der Daseinsvorsorge. Dementsprechend sind sie gegen eine bedingungslose Öffnung des Binnenmarktes für Dienstleistungen.
Auch im Februar 2006 haben sich die Präferenzen der Bundesregierung diesbezüglich trotz Regierungswechsel und großer Koalition nicht merklich geändert. „Die Vorsicht der Bundesregierung bei allem, was zu sehr nach Marktöffnung und Liberalisierung schmeckt“, besteht immer noch. Gleichzeitig pocht Großbritannien zusammen mit zahlreichen neuen EU-Mitgliedstaaten auf „möglichst viel Freiheit für grenzüberschreitende Dienstleister“. Warum legt die Europäische Kommission also zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Richtlinienentwurf vor, der eine weitgehende Deregulierung des Dienstleistungsmarktes in der Europäischen Union (EU) anstrebt und zudem in den beiden größten EU-Mitgliedstaaten scheinbar auf Ablehnung stößt?
Sollten die Regierungen der Mitgliedstaaten nicht in der Lage sein, das Agieren der Kommission zu kontrollieren und zu steuern? Oder ist es nicht vielleicht so, dass die Kommission ihren Vorschlag ganz kalkuliert vorgelegt hat, weil sie sich auf die Verträge und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) stützen kann? Sind die Kommission und der EuGH vielleicht auch in der Lage, die Präferenzen der Mitgliedstaaten zu beeinflussen?
Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen deshalb die Planung und Vorbereitung europäischer Rechtsakte am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie. Die zentrale Fragestellung wird dabei sein, welche Akteure, Institutionen und Strategien eine entscheidende Rolle bei der Planung und Ausarbeitung von Richtlinien spielen. Was bedeutet es, dass die Kommission im Mitentscheidungsverfahren (Art. 251 EGV) dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Vorschlag unterbreitet und beide Organe dann auf Basis dieses Vorschlags entscheiden?
Der Wortlaut des EGV ist eindeutig: Die Kommission schlägt vor, Rat und […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Tobias Semmet
Planung und Vorbereitung europäischer Richtlinien am Beispiel der
Dienstleistungsrichtlinie
ISBN-10: 3-8324-9856-7
ISBN-13: 978-3-8324-9856-6
Druck Diplomica® GmbH, Hamburg, 2006
Zugl. Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Speyer, Deutschland,
MA-Thesis / Master, 2006
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fähige Grundkenntnisse), Spanisch (wird momentan gelernt)
Interessen
Sport (Jogging, Basketball, Radfahren, Wintersport), moderne Fotografie, Ruck-
sack-Reisen, Lesen
Autorenprofil
Tobias Semmet
Geburtsort:
Frankfurt am Main
Geburtstag:
11. Dezember 1976
Ausbildung:
Diplom-Politologe, Mag. rer. publ.
Anschrift:
Thomas Mann Straße 2, 63477 Maintal
Telefon:
0177 / 215 35 32
E-Mail:
t_semmet@yahoo.de

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung... 1
2. Planung und Vorbereitung europäischer Richtlinien aus theoretischer
Perspektive: Welche Rolle spielen Institutionen?...3
2.1. Liberaler Intergouvernementalismus... 3
2.2. Die Bedeutung supranationaler Institutionen: Der Europäische Gerichtshof und das
Prinzip der gegenseitigen Anerkennung...4
2.3. Die Konstruktion supranationaler Governance in der EU...6
2.4. Prinzipal-Agent-Theorie ... 7
2.5. Bürokratische Politik: Kompetenz- und Budgetmaximierung... 10
2.6. Die Kommission als Agenda-Setter... 12
3. Planung und Vorbereitung europäischer Richtlinien aus empirischer
Perspektive... 19
4. Das Fallbeispiel der Dienstleistungsrichtlinie... 21
4.1. Die Dienstleistungsfreiheit im Gemeinschaftsvertrag... 21
4.2. Ein Binnenmarkt im Werden: Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
zur Dienstleistungsfreiheit... 23
4.3. Vollendung des Binnenmarktes für Dienstleistungen: Die Planung und
Vorbereitung der Dienstleistungsrichtlinie...26
4.3.1. Das Mandat des Europäischen Rates von Lissabon: Die Kommission ergreift die
Initiative...28
4.3.2. Die Ausgangssituation im Rat: Der Vorschlag der Kommission und die
Präferenzen der Mitgliedstaaten ... 31
5. Zusammenfassung und Ergebnis... 36
6. Literaturverzeichnis... 40

Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Die Kommission als eingeschränkter Agenda-Setter im
Mitentscheidungsverfahren... 14
Abbildung 2: Veränderung der Ausgangssituation: 'divide-and-conquer'
und 'lesser evil'... 17
Abbildung 3: Liberalisierung der Dienstleistungen: Präferenzen und 'Gewinne' der
Mitgliedstaaten...32
Abbildung 4: Brutto-Jahreseinkommen und Arbeitskosten pro Stunde im Industrie-
und Dienstleistungsbereich für ausgewählte EU-Mitgliedstaaten...34
Abbildung 5: Der Richtlinienentwurf der Kommission und die Ausgangssituation
im Rat... 35

Planung und Vorbereitung europäischer Richtlinien am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie
1
1. Einleitung
Im Februar 2005, fast ein Jahr nach Vorlage des Vorschlags der Kommission für eine Richt-
linie über Dienstleistungen im Binnenmarkt, stellte der damalige Bundeskanzler Schröder
klar, die Pläne der Kommission würden ,,so nicht umgesetzt" (Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 3. Februar 2005). Die Bundesregierung war mit dieser Position nicht alleine. So er-
klärte der französische Premier Raffarin am gleichen Tag vor dem französischen Parlament,
die Pläne der Kommission seien ,,nicht akzeptabel" (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Fe-
bruar 2005). Das ist verständlich, denn Frankreich und Deutschland sind Hochlohnländer
(Eurostat 2005: 168). Beide Staaten verfügen zudem über ein ausgeprägtes System der Da-
seinsvorsorge (Becker 2005: 18ff.). Dementsprechend sind sie gegen eine bedingungslose
Öffnung des Binnenmarktes für Dienstleistungen. Auch im Februar 2006 haben sich die Prä-
ferenzen der Bundesregierung diesbezüglich trotz Regierungswechsel und großer Koalition
nicht merklich geändert. ,,Die Vorsicht der Bundesregierung bei allem, was zu sehr nach
Marktöffnung und Liberalisierung schmeckt" (Der Tagesspiegel, 17. Februar 2006), besteht
immer noch. Gleichzeitig pocht Großbritannien zusammen mit zahlreichen neuen EU-Mit-
gliedstaaten auf ,,möglichst viel Freiheit für grenzüberschreitende Dienstleister" (Der Tages-
spiegel, 17. Februar 2006). Warum legt die Europäische Kommission also zu einem bestimm-
ten Zeitpunkt einen Richtlinienentwurf vor, der eine weitgehende Deregulierung des Dienst-
leistungsmarktes in der Europäischen Union (EU) anstrebt und zudem in den beiden größten
EU-Mitgliedstaaten scheinbar auf Ablehnung stößt? Sollten die Regierungen der Mitglied-
staaten nicht in der Lage sein, das Agieren der Kommission zu kontrollieren und zu steuern?
Oder ist es nicht vielleicht so, dass die Kommission ihren Vorschlag ganz kalkuliert vorgelegt
hat, weil sie sich auf die Verträge und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
(EuGH) stützen kann? Sind die Kommission und der EuGH vielleicht auch in der Lage, die
Präferenzen der Mitgliedstaaten zu beeinflussen?
Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen deshalb die Planung und Vorbereitung europäischer
Rechtsakte
1
am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie. Die zentrale Fragestellung wird dabei
sein, welche Akteure, Institutionen und Strategien eine entscheidende Rolle bei der Planung
und Ausarbeitung von Richtlinien spielen. Was bedeutet es, dass die Kommission im Mitent-
scheidungsverfahren (Art. 251 EGV) dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Vor-
schlag unterbreitet und beide Organe dann auf Basis dieses Vorschlags entscheiden? Der
Wortlaut des EGV ist eindeutig: Die Kommission schlägt vor, Rat und Europäisches
1 Der EGV sieht in Art. 249 neben der Richtlinie auch noch die Verordnung, Entscheidung, Empfehlung und
Stellungnahme als Maßnahmen der EU-Organe vor. Gegenstand dieser Arbeit werden nur Richtlinien sein.
Zum Teil wird hier aber der abstraktere Begriff Rechtsakt verwendet.

Planung und Vorbereitung europäischer Richtlinien am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie
2
Parlament stimmen zu oder lehnen ab. Welche Schlüsse können daraus gezogen werden, dass
die Kommission für die Anwendung des Gemeinschaftsvertrages (EGV) sowie der von den
Organen auf Grund des EGV getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen hat (Art. 211
EGV)? Ist die Kommission wirklich der ,,Watchdog" (Cini 1996: 25) der EU bzw. die ,,Hüte-
rin" (Herdegen 2001: 104) der Verträge? In der wissenschaftlichen Literatur werden die Rolle
und der Einfluss supranationaler Institutionen auf die europäische Rechtsetzung kontrovers
diskutiert. Meist geht es hierbei um die allgemeinere Frage, welchen Einfluss supranationale
Institutionen auf den Integrationsprozess haben. Verdienen sie den Status einer unabhängigen
Variable, die die europäische Rechtsetzung beeinflusst? Soll die Planung und Vorbereitung
europäischer Richtlinien untersucht werden, ist die Frage nach den hierfür maßgeblichen Ak-
teuren und Institutionen entscheidend.
Ziel dieser Arbeit ist nicht primär eine deskriptive Darstellung der Planung und Vorbereitung
europäischer Richtlinien. Es sollen auch die Rolle und der Einfluss supranationaler Institu-
tionen hierbei untersucht werden. Im ersten Teil der Arbeit werden daher verschiedene poli-
tikwissenschaftliche und ökonomische Ansätze zur Rolle supranationaler Institutionen im
europäischen Rechtsetzungsprozess vorgestellt, rechtliche Aspekte sollen hierbei nicht unbe-
rücksichtigt bleiben. Hierauf folgt eine kurze deskriptive und empirische Darstellung der Pla-
nung und Vorbereitung von Richtlinien innerhalb der Kommission. Im dritten Teil der Arbeit
werden die gewonnenen theoretischen Erkenntnisse am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie
getestet. Ausgehend von der wegweisenden und früh einsetzenden Rechtsprechung des EuGH
zur Dienstleistungsfreiheit, werden hier die Strategien und Aktivitäten der Kommission im
Vorfeld des Richtlinienvorschlags erörtert. Der Fallstudie wird die These zu Grunde liegen,
dass die Planung und Vorbereitung von Richtlinien nicht erst mit einer formalen Auf-
forderung durch den Europäischen Rat beginnt. Vielmehr wird der Inhalt einer Richtlinie
durch die schon lange vorher einsetzende Rechtsprechung des EuGH und hierauf basierenden
Strategien der Kommission maßgeblich determiniert. ,,Institutions matter" (Wincott 1995:
607) wird somit das zentrale Argument dieser Arbeit sein.

Planung und Vorbereitung europäischer Richtlinien am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie
3
2. Planung und Vorbereitung europäischer Richtlinien aus
theoretischer Perspektive: Welche Rolle spielen Institutionen?
2.1. Liberaler Intergouvernementalismus
Bereits Hoffmann (1966) hat die Europäische Integration vor allem als einen durch die Hand-
lungen nationaler Regierungen beeinflussten Prozess verstanden.
2
Moravcsik (1995; 1998) hat
diesen Ansatz aufgegriffen und hieraus seine Theorie des liberalen Intergouvernementalismus
entwickelt, die den Entscheidungsprozess in der EU in drei Schritte unterteilt: die innerstaatli-
che Formulierung außenpolitischer Interessen, zwischenstaatliche Verhandlungen und die in-
stitutionelle Delegierung der Verhandlungsergebnisse bzw. ,,Institutional Choice" (Moravcsik
1998: 24). Moravcsik spezifiziert diese drei Elemente folgendermaßen. Die nationalen Präfe-
renzen sind primär ökonomisch motiviert. Sind die ökonomischen Präferenzen schwach oder
diffus, können sie durch geopolitische oder ideologische Präferenzen unterstützt werden. Die
zwischenstaatlichen Verhandlungen bilden unilaterale Alternativen, aber auch alternative Ko-
alitionen gegenüber einer Vereinbarung im Rahmen der EU ab. Die Ergebnisse intergouver-
nementaler Vereinbarungen spiegeln weitgehend die Interessen der größten und einfluss-
reichsten Mitgliedstaaten wider. Die Rolle supranationaler Akteure stuft Moravcsik als margi-
nal ein. Nur durch Koalitionen mit innerstaatlichen Akteuren hätten diese überhaupt einen ge-
wissen Einfluss (Moravcsik 1995: 612).
,,[Liberal intergovernmentalism] rejects the view that integration has been driven primarily [...] by a
technocratic process reflecting the imperatives of modern economic planning, the unintended conse-
quences of prevision decisions, and the entrepreneurship of disinterested supranational experts" (Moravc-
sik 1998: 4).
Die Rechtsetzung in der EU übergeht oder umgeht also nicht den politischen Willen der Re-
gierungen. Souveränität wird nur dort delegiert, wo Regierungen unter Bedingungen von Un-
sicherheit glaubwürdige Vereinbarungen schließen wollen. Dies gilt vor allem in Bereichen,
in denen die Nicht-Einhaltung (Free-Riding) von Vereinbarungen aus rationaler Perspektive
verlockend erscheint (Moravcsik 1995: 612). Welche Schlüsse sind hieraus für die Rolle su-
pranationaler Institutionen im Rechtsetzungsprozess zu ziehen? Moravcsik (1995: 616) argu-
mentiert, dass es nicht ausreicht, zu behaupten, dass supranationale Akteure eine Rolle
spielen, nur weil die Kommission einen Vorschlag vorgelegt hat und das Ergebnis des Ent-
scheidungsprozesses diesem Vorschlag nahe kommt. Hierfür könnten ganz andere Kausalitä-
ten verantwortlich sein. Denn: ,,The veto and appointment power held by Member States over
the Commission may render it a perfectly reactive agent, faced with the choice of tailoring
2 Für eine umfassende Übersicht über Theorien der Europäischen Integration vgl. Giering (1997). Eine theore-
tische Diskussion zur Rolle der Kommission findet sich bei Matláry (1997).

Planung und Vorbereitung europäischer Richtlinien am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie
4
and revising its proposals to fit member government preferences or seeing them vetoed" (Mo-
ravcsik 1995: 616). Für die Planung und Vorbereitung europäischer Richtlinien bedeutet das,
dass der liberale Intergouvernementalismus der Kommission nur eine marginale und reaktive
Rolle zugesteht: ,,Intergouvernemental demand for policy ideas, not the supranational supply
of those ideas, is the fundamental exogenous factor driving integration" (Moravcsik 1995:
618).
Moravcsik hat mit seinem Ansatz eine Debatte angestoßen, ohne deren Bewertung viele
Arbeiten zur Europäischen Integration nicht mehr auskommen (vgl. Garrett & Tsebelis 1996;
Pollack 1997; Stone Sweet & Sandholtz 1997). Ausgehend von einer Kritik an Moravcsiks
Ansatz werden im Folgenden alternative Ansätze zum Einfluss supranationaler Akteure auf
die Ausarbeitung europäischer Richtlinien vorgestellt.
2.2. Die Bedeutung supranationaler Institutionen: Der Europäische
Gerichtshof und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung
Wincotts (1995: 598) Kritik am liberalen Intergouvernementalismus knüpft vor allem daran
an, dass dieser die Rolle supranationaler Institutionen im Integrationsprozess vernachlässigt.
Moravcsiks Theorie habe einen Bias, weil sie versuche, die Europäische Integration in Erklä-
rungsansätze der Internationalen Beziehungen einzuordnen, die Staaten als zentrale Akteure
der internationalen Politik begreifen. Auch gestehe Moravcsik nationalen Regierungen auf der
EU-Ebene eine gewisse Autonomie gegenüber innenpolitischen Akteuren zu, verweigere aber
supranationalen Akteuren wie der Kommission eine solche Autonomie (Slack). In der Tat ist
schwer einsichtig, warum die EU-Kommission nicht genau wie nationale Regierungen eine
gewisse Autonomie gegenüber ihrem 'Souverän' haben kann. Moravcsik bestreitet der Kom-
mission jedoch eine solche Autonomie.
Ein Mangel in Moravcsiks Ansatz besteht auch darin, dass er sich zu stark auf intergouverne-
mentale Verhandlungen im Rahmen von Vertragsrevisionen konzentriert. Eine Fixierung auf
die für den Integrationsprozess sicherlich wegweisenden Regierungskonferenzen stellt nach
Wincott (1995: 602) aber eine zu enge Betrachtungsweise dar. Er macht dies an einem durch-
aus überzeugenden Beispiel fest, das auch für die Liberalisierung der Dienstleistungen in der
EU von Bedeutung ist. Anhand des Cassis de Dijon-Urteils des EuGH (Rs. 120/78, Slg. 1979)
verdeutlicht er, dass supranationale Institutionen auch zwischen Regierungskonferenzen einen
bedeutenden Einfluss auf den Rechtsetzungsprozess in der EU nehmen können. So hatte der
EuGH in der Rechtssache Cassis de Dijon präzise das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung

Planung und Vorbereitung europäischer Richtlinien am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie
5
ausformuliert. Dieses Prinzip ,,besagt im Kern, dass keinem Gut, das in einem Mitgliedstaat
der Gemeinschaft rechtmäßig hergestellt worden ist, die Einfuhr in ein anderes EU-Land
verweigert werden darf" (Nienhaus & Busche 2002: 148). Dieses EuGH-Urteil bedeutete eine
Abkehr von den mühsamen und wenig erfolgreichen Bestrebungen im Rat, den Binnenmarkt
auf der Basis von Harmonisierungsmaßnahmen voranzutreiben. Von nun an ging die EU ,,zur
Gewährleistung des freien Warenverkehrs zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung
über" (Nienhaus & Busche 2002: 148). Totalharmonisierungen auf EU-Ebene waren nicht
mehr notwendig; es musste lediglich gewährleistet werden, dass sich die wesentlichen Er-
fordernisse der nationalen Bestimmungen der Mitgliedstaaten deckten. Auf dieser gemein-
samen Basis müssen grundsätzlich alle Waren im Binnenmarkt freizügig zirkulieren können
(Wincott 1995: 604). Unterschiedliche nationale Regelungen für den Warenverkehr konnten
also beibehalten werden, weil feststand, dass diese regulativen Unterschiede nur in engen
Ausnahmen die Warenverkehrsfreiheit (Art. 23 EGV) einschränken konnten.
3
Bemerkenswert
ist, dass die Kommission das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung unmittelbar nach seiner
Etablierung durch den EuGH aufgriff. Sie beschränkte sich nun bei ihren Initiativen im Be-
reich des Binnenmarktes auf gemeinsame Minimalstandards, auch weil diese gegenüber den
Mitgliedstaaten viel konsensfähiger waren. Darüber hinaus konnte die Kommission auf der
Basis von Cassis de Dijon nun stets mit einem Vertragsverletzungsverfahren (Art. 226, 228
EGV) drohen, wenn ein Mitgliedstaat minimalen Standards nicht zustimmen wollte. Denn der
EuGH hätte wohl im Sinne des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung entschieden; ergo
waren Minimalstandards das kleinere Übel.
Welche theoretischen Implikationen ergeben sich hieraus für die Rolle supranationaler Institu-
tionen bei der Planung und Vorbereitung von Richtlinien? Zum einen, dass die Kommission
und noch viel mehr der EuGH eine gewisse Autonomie gegenüber den Mitgliedstaaten
besitzen. Zum anderen, dass die Inhalte europäischer Rechtsakte nicht nur auf Regierungskon-
ferenzen festgelegt werden. Die Kommission und der EuGH scheinen somit nicht perfekte
Agenten zu sein, die die politischen und rechtlichen Vorgaben der Mitgliedstaaten deckungs-
gleich umsetzen. Das für den Binnenmarkt wegweisende Prinzip der gegenseitigen An-
erkennung wurde jedenfalls nicht auf intergouvernementaler Ebene vereinbart.
3 Auf die Implikationen dieser Rechtsprechung für die Liberalisierung der Dienstleistungen in der EU wird im
vierten Teil dieser Arbeit näher eingegangen.

Planung und Vorbereitung europäischer Richtlinien am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie
6
2.3. Die Konstruktion supranationaler Governance in der EU
Ebenfalls aus einer Kritik am liberalen Intergouvernementalismus heraus haben Stone Sweet
& Sandholtz (1996) einen theoretischen Ansatz formuliert, der die Rolle vor allem der Kom-
mission im Integrationsprozess differenzierter erfassen soll. Stone Sweet & Sandholtz (1996:
300) sehen zwar eine gewisse Nähe ihres Ansatzes zum Neofunktionalismus dahingehend,
dass wie bei Deutsch (1957) grenzüberschreitender sozialer Austausch Integrationsprozesse
vorantreibe. Ebenso wie Haas (1958) gehen sie davon aus, dass die Schaffung supranationaler
Institutionen eine Veränderung sozialer Erwartungen und sozialen Verhaltens erzeugt, was
wiederum positiv auf die Rolle und die Gestaltungsmöglichkeiten der supranationalen Institu-
tionen zurück wirke. Hierdurch entstehe ein dynamischer Prozess der Institutionalisierung auf
supranationaler Ebene. Stone Sweet & Sandholtz (1996: 301) argumentieren nun, dass im
Laufe des Integrationsprozesses ,,member states become less and less proactive and more and
more reactive to changes in the supranational environment to which they belong." Die Auto-
ren betrachten intergouvernementale Verhandlungen als in Prozesse eingebunden, die durch
die Ausdehnung transnationaler Aktivitäten ausgelöst werden, wobei die integrativen Aktivi-
täten supranationaler Institutionen und die korrespondierende zunehmende Dichte supranatio-
naler Normen diese Prozesse aufrecht erhalten (Stone Sweet & Sandholtz 1996: 300). Das hat
zur Folge, dass sich transnationale Akteure zunehmend an supranationalen Institutionen und
Rechtsnormen orientieren bzw. diese anstoßen.
Für Stone Sweet & Sandholtz (1996: 302) steht fest, dass weder eine rein intergouvernemen-
tale noch eine rein neo-funktionalistische Herangehensweise den Ungleichzeitigkeiten und
Unregelmäßigkeiten des Integrationsprozesses gerecht wird. Diese Ungleichzeitigkeiten und
Unregelmäßigkeiten äußern sich entlang von drei Dimensionen: supranationale Regelungen,
supranationale Institutionen sowie transnationale Interaktion. Je nach Politikfeld sind diese
drei Dimensionen auf einem Kontinuum mit den beiden Polen Intergouvernementalismus und
Supranationalismus verschieden stark ausgeprägt. Mit ihrem Ansatz wollen Stone Sweet &
Sandholtz (1996: 307) erklären, warum der Integrationsprozess in einigen Politikfeldern
schneller fortschreitet als in anderen. In Politikfeldern, in denen grenzüberschreitende Trans-
aktionen relativ niedrig seien, sei folglich auch die Forderung nach einheitlichen supranatio-
nalen Regelungen und Institutionen niedrig, denn es fallen kaum Transaktionskosten an. Im
Gegensatz hierzu sei der Integrationsprozess im Bereich des Binnenmarktes sehr weit fortge-
schritten. Denn die transnational agierenden Akteure (Unternehmen, Verbraucher) sind be-
strebt, im Binnenmarkt bestehende Transaktionskosten gegen Null zu minimieren. Hierdurch
werden supranationale Institutionen privilegiert, weil sie, mit welcher Motivation auch immer,
die Bedürfnisse der transnational agierenden Akteure besser bedienen als nationale Re-

Planung und Vorbereitung europäischer Richtlinien am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie
7
gierungen, die sich primär an nationalen Egoismen orientieren. Dementsprechend reagieren
die Kommission und der EuGH auf die Ansprüche und Bedürfnisse der transnationalen Ak-
teure, indem sie versuchen, allgemein gültige supranationale Normen zu etablieren. Nach
Stone Sweet & Sandholtz (1996: 299) sind die Kommission und der EuGH zudem bestrebt,
den kollektiven Nutzen für die transnational agierenden Akteure zu steigern sowie die
Vorgaben der EU/EG-Verträge zu erfüllen, die einen weitgehend integrierten Markt vorsehen.
Welche Implikationen ergeben sich aus diesen Annahmen für die Rolle und den Einfluss der
Kommission im Rechtsetzungsprozess? Im Ansatz von Stone Sweet & Sandholtz (1996) wird
die Rolle und der Einfluss der Kommission sowie des EuGH bei der Planung und Vorbe-
reitung europäischer Richtlinien durch die Anforderungen transnationaler Akteure bedingt.
Diese sind vor allem bestrebt, Transaktionskosten für den grenzüberschreitenden Austausch
von Gütern und Dienstleistungen zu senken. Hierbei orientieren sie sich jedoch eher an supra-
nationalen Institutionen und Normen. Die nationalen Regierungen geraten in eine reaktive Po-
sition, weil die Kommission und der EuGH über zunehmend politische und rechtliche Macht
verfügen (Stone Sweet & Sandholtz 1996: 312), um im Binnenmarkt die Agenda zu gestalten.
2.4. Prinzipal-Agent-Theorie
Es hat sich bereits angedeutet, dass Transaktionskosten sowie das Prinzipal-Agent-Verhältnis
für die Rolle supranationaler Institutionen bei der Planung und Vorbereitung von euro-
päischen Richtlinien von Bedeutung sind. Ob die Kommission wie bei Moravcsik (1995: 616)
ein ,,perfectly reactive agent" der Mitgliedstaaten ist, soll im Folgenden am Beispiel der
Prinzipal-Agent-Theorie diskutiert werden.
Transaktionskosten und das Bestreben, diese zu senken, sind konstitutiv für die Prinzipal-
Agent-Theorie. Ursächlich für Transaktionskosten sind die vielfältigen Austauschbezie-
hungen vor allem wirtschaftlicher Art. Transaktionskosten ,,umfassen alle Opfer und Nachtei-
le, die von den Tauschpartnern zur Verwirklichung des Leistungsaustausches zu tragen sind"
(Picot et al. 1997: 66). Insbesondere bei der Anbahnung, Vereinbarung, Abwicklung, Kon-
trolle und Anpassung des Leistungsaustausches entstehen den Akteuren Kosten. Gerade die
Kontrolle der hierbei geschlossenen Verträge sowie die Anpassung einmal geschlossener Ver-
träge an nicht vorhersehbare Ereignisse kostet viel Mühe und Zeit (Picot et al. 1997: 66).
Denn die Akteure der Austauschbeziehungen weisen zwei wichtige Merkmale auf. Sie verhal-
ten sich opportunistisch, handeln also möglicherweise egoistisch und zum Nachteil der Ver-
tragspartner. Und sie sind begrenzt rational, verfügen also nur über unvollständige Informa-

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783832498566
ISBN (Paperback)
9783838698564
Dateigröße
936 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer (ehem. Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer) – Politikwissenschaft
Note
2,0
Schlagworte
europäische union binnenmarkt integrationstheorie neue institutionenökonomie kommission
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