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Die Fähigkeit Deutschlands zu sozialen Reformen

Eine vergleichende politikwissenschaftliche Analyse der Arbeitsmarktreformen in Deutschland, Schweden und Neuseeland

©2005 Magisterarbeit 167 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Als neue Notgemeinschaft bezeichnete die Süddeutsche Zeitung im August des Jahres 2004 die Bestrebungen der deutschen Regierung, tiefgreifende Einschnitte am deutschen Wohlfahrtstaat durchzuführen. Hintergrund war die von der Regierung Schröder eingeleitete Reform des Arbeitsmarktes im Rahmen der Agenda 2010. In seiner langen Geschichte, so der Kommentator weiter, sei das deutsche Sicherungssystem erst zweimal in dem Maße reformiert worden, wie dies die deutsche Regierung seit der Mitte des Jahres 2002 vollziehe. Der Sozialstaat werde von einer Wohlstandsgemeinschaft in eine Notgemeinschaft zurückgeführt. Die Regierung besinne sich auf die ursprüngliche Idee des bismarckschen Wohlfahrtstaates zurück, deren Grundgedanke die Verhinderung elementaren Elends gewesen sei.
Kernpunkt der Reformen des Arbeitsmarktes ist das „Vierte Gesetz für Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz IV Gesetz). Mit diesem Gesetz beschloss die Regierung die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und führte als neues Prinzip des deutschen Sozialstaates die Leitlinie „Fördern und Fordern“ ein. Dahinter stecken die vier Elemente des neuen Gesetzes: Langzeitarbeitslose, deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt gering sind, sollen z.B. über staatlich bezuschusste Jobs die Rückkehr in den ersten Arbeitsmarkt schaffen. Daneben soll die Serviceleistung der staatlichen Arbeitsvermittlung verbessert werden, um den Menschen wieder schneller zu neues Jobs zu verhelfen. Zusätzlich wurde die Höhe des neuen Arbeitslosengeldes (ALG II) gekürzt und die Bezieher staatlicher Unterstützung müssen mehr Gegenleistungen erbringen. Das bedeutet, dass Arbeitssuchende alles unternehmen müssen, um ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
Der Umbau des deutschen Sozialwesens muss vor dem Hintergrund der zunehmenden Staatsverschuldung Deutschlands betrachtet werden. Der Schuldenstand Deutschlands betrug im Jahr 2004 knapp 64 Prozent des BIP. Der Staat muss verstärkt höhere Leistungen für Zinszahlungen erbringen und hat weniger finanziellen Spielraum. Besonders belastet wird das Budget des Staates durch eine lang andauernde hohe Arbeitslosenquote. Wirtschaftliche Stagnationsphasen sorgten für einen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Allein im Jahr 2002 gab die deutsche Regierung über 25 Mrd. Euro für die Arbeitslosigkeit aus.
Eine zusätzliche Belastung droht dem Haushalt durch demographische Faktoren. Berechnungen für Deutschland haben ergeben, dass im Jahr 2010 30 […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Stefan Ambrosch
Die Fähigkeit Deutschlands zu sozialen Reformen
Eine vergleichende politikwissenschaftliche Analyse der Arbeitsmarktreformen in
Deutschland, Schweden und Neuseeland
ISBN-10: 3-8324-9809-5
ISBN-13: 978-3-8324-9809-2
Druck Diplomica® GmbH, Hamburg, 2006
Zugl. Universität Passau, Passau, Deutschland, Magisterarbeit, 2005
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http://www.diplom.de, Hamburg 2006
Printed in Germany

INHALTSVERZEICHNIS
II
Inhalt
ABBILDUNGSVERZEICHNIS VII
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS VIII
I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND
AKTEURSANALYSE
1
1 DIE ,,NEUE NOTGEMEINSCHAFT"
1
2 DER WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH
5
2.1 Z
UM
V
ERSTÄNDNIS DES
B
EGRIFFES
W
OHLFAHRTSSTAAT
7
2.2 M
ETHODEN DES
W
OHLFAHRTSSTAATVERGLEICHS
8
2.2.1 D
IE QUANTITATIVE
M
ETHODE
8
2.2.2 D
IE HISTORISCH
-
VERGLEICHENDE
W
OHLFAHRTSFORSCHUNG
11
2.2.3 D
ER INSTITUTIONELLE
V
ERGLEICH
12
2.2.4 D
IE TYPOLOGISCHE
M
ETHODE
12
2.3 A
KTEURSANALYSE UND
T
YPOLOGISIERUNG ALS EIGENER
A
NSATZ
23
2.3.1 B
ISHER GEWONNENE
E
RKENNTNISSE
23
2.3.2 D
ARSTELLUNG DES EIGENEN
A
NSATZES
23
3 UNTERSUCHUNGSKRITERIEN DER AKTEURSANALYSE
26

INHALTSVERZEICHNIS
III
3.1 D
AS POLITISCHE
S
YSTEM IM
S
PANNUNGSFELD
27
3.1.1 P
ARTEIEN
30
3.1.2 I
NTERESSENGRUPPEN
31
3.1.3 M
ASSENMEDIEN
33
3.2 P
OLITISCHE
I
NSTITUTIONEN
36
3.3 B
ILDUNGSWESEN
37
3.4 Z
WISCHENFAZIT
40
4 ARBEITSMARKTPOLITIK 42
4.1 D
EFINITION
, B
EGRÜNDUNG UND
Z
IELE DER
A
RBEITSMARKTPOLITIK
42
4.2 K
ONZEPTE ZUR
O
PERATIONALISIERUNG DES
B
ESCHÄFTIGUNGSGRADES
44
4.2.1 D
AS
P
RODUKTIONSPOTENTIAL EINES
L
ANDES
44
4.2.2 D
IE
A
RBEITSLOSENQUOTE
45
4.3 U
RSACHEN VON
A
RBEITSLOSIGKEIT
46
4.4 S
TAATLICHE
M
AßNAHMEN GEGEN DIE
A
RBEITSLOSIGKEIT
47
II LÄNDERANALYSEN
50
5 VORBEMERKUNG 50
6 EXKURS: HISTORISCHE ENTWICKLUNGEN DES DEUTSCHEN
SICHERUNGSSYSTEMS 53
6.1 A
LLGEMEINE
E
NTWICKLUNGSTENDENZEN
53
6.2 E
NTWICKLUNG DER
A
RBEITSLOSENVERSICHERUNG
56
7 DIE BLOCKIERTE REPUBLIK: ARBEITSMARKTREFORMEN IM
DEUTSCHEN FÖDERALISMUS
59
7.1 D
IE
S
TELLUNG DER
A
RBEITSLOSENVERSICHERUNG IM DEUTSCHEN
S
OZIALSYSTEM
59
7.1.1 G
ESTALTUNGSPRINZIPIEN DER
A
RBEITSLOSENVERSICHERUNG
59

INHALTSVERZEICHNIS
IV
7.1.2 O
RGANISATION UND
F
INANZIERUNG DER
A
RBEITSLOSENVERSICHERUNG
61
7.1.3 D
ER
K
REIS DER
V
ERSICHERTEN UND
L
EISTUNGEN DER
A
RBEITSLOSENVERSICHERUNG
62
7.2 E
XKURS
: N
EGATIVE
A
USWIRKUNGEN DER
A
RBEITSLOSENVERSICHERUNG FÜR
DEN
A
RBEITSMARKT
63
7.3 A
NALYSE
: W
ARUM
R
EFORMEN NOTWENDIG SIND
65
7.4 D
ETERMINANTEN AUF DEN DEUTSCHEN
A
RBEITSMARKT
69
7.4.1 D
IE FÖDERALE
S
TRUKTUR
D
EUTSCHLANDS
69
7.4.2 P
ARTEIEN
71
7.4.3 D
IE
T
ARIFPARTNER UND DER
T
ARIFVERTRAG
73
7.4.4 B
ILDUNGSWESEN
79
7.4.5 D
IE DEUTSCHE
W
IEDERVEREINIGUNG UND DIE
E
UROPÄISCHE
U
NION
82
7.5 Z
WISCHENFAZIT
83
8 BIG BANG IN NEUSEELAND: DIE GESCHICHTE EINES RADIKALEN
SYSTEMWECHSELS 85
8.1 D
IE
A
RBEITSLOSENUNTERSTÜTZUNG IM
R
AHMEN DES SOZIALEN
S
YSTEMS
85
8.2 P
ROTEKTIONISMUS UND
H
AUSHALTSKRISE
: A
USLÖSER DER
R
EFORMPOLITIK
87
8.3 N
EOLIBERALE
R
EFORMEN UND IHRE
A
USWIRKUNGEN
91
8.3.1 R
EFORMEN
91
8.3.2 A
USWIRKUNGEN DER
R
EFORMEN
93
8.3.3 L
EHREN AUS DEM
N
EOLIBERALEN
E
XPERIMENT
97
8.4 D
ETERMINANTEN DER
R
EFORMPOLITIK
98
8.4.1 K
RISENBEWUSSTSEIN
98
8.4.2 P
OLITISCHE
I
NSTITUTIONEN UND
P
ARTEIEN
99
8.4.3 G
EWERKSCHAFTEN UND
A
RBEITGEBERVERBÄNDE
100
8.5 B
ILDUNGSWESEN
102
8.6 Z
WISCHENFAZIT
104
9 DAS ,,MODELL SCHWEDEN": IM KONSENS ZU REFORMEN?
108
9.1 D
IE
A
RBEITSLOSENUNTERSTÜTZUNG
110
9.2 I
NFLATION UND
H
AUSHALTSKRISE
: A
USLÖSER DER
R
EFORMEN
111
9.3 R
EFORMMAßNAHMEN UND DEREN
A
USWIRKUNGEN
115

INHALTSVERZEICHNIS
V
9.3.1 R
EFORMEN
115
9.3.2 A
USWIRKUNGEN DER
R
EFORMEN
117
9.4 D
ETERMINANTEN DER
R
EFORMPOLITIK
119
9.4.1 K
RISENBEWUSSTSEIN
119
9.4.2 P
OLITISCHE
I
NSTITUTIONEN UND
P
ARTEIEN
120
9.4.3 G
EWERKSCHAFTEN UND
A
RBEITGEBERVERBÄNDE
121
9.5 B
ILDUNGSWESEN
123
9.6 Z
WISCHENFAZIT
125
10 BIG BANG ODER KONSENS: EIN VORBILDLICHES HANDELN FÜR
DEUTSCHLAND? 127
III ANHANG
X
A. KONZEPTION DER POLITIKFELDANALYSE
X
B. ELEMENTE DER WESTLICHEN DEMOKRATIE
XIII
C. PROBLEME BEI DER BERECHNUNG DER ARBEITSLOSENQUOTE XV
D. STEUERUNGSINSTRUMENTE DER POLITIK ZUR FÖRDERUNG VON
WIRTSCHAFTLICHEM WACHSTUM
XVI
E. CHARAKTERISTIKA UND GESTALTUNGSPRINZIPIEN DES
DEUTSCHEN SOZIALSTAATES
XVII
F. DAS DEUTSCHE REFORMPROJEKT: DIE HARTZ-GESETZE
XX

INHALTSVERZEICHNIS
VI
G. DER LOHNPOLITISCHE WILLENSBILDUNGSPROZESS BEI DEN
DEUTSCHEN GEWERKSCHAFTEN
XXII
H. LITERATURVERZEICHNIS XXIV
I. VERZEICHNIS DER VERWENDETEN INTERNETQUELLEN
XXXI

ABBILDUNGSVERZEICHNIS
VII
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2-1: Typen und Dimensionen von Wohlfahrtsstaaten
17
Abbildung 2-2: Rangreihe von Staaten bezüglich des Dekommodifizierungsindex, Stand:
1990
18
Abbildung 2-3: Erweiterte Merkmale von Wohlfahrtsstaatsregimen
20
Abbildung 3-1: Anforderungen an das politische System
27
Abbildung 5-1: Entwicklung der Arbeitslosenquote
51
Abbildung 5-2 Entwicklung der Sozialquote in den Untersuchungsländern
52
Abbildung 6-1: Entwicklung der Arbeitslosenquote in Deutschland, approximative
Darstellung 55
Abbildung 6-2 Arbeitslosenquote in Deutschland, approximative Darstellung
56
Abbildung 7-1: Entwicklung der Sozialquote in Deutschland
65
Abbildung 7-2 Öffentliche Ausgaben Deutschlands für Arbeitslosigkeit
66
Abbildung 7-3 Anzahl der Abgeordneten der verschiedenen Parteien
72
Abbildung 7-4 Gewerkschaftsmitglieder nach zugehöriger Gewerkschaft
75
Abbildung 8-1 Entwicklung der Arbeitslosenquote in Neuseeland
94
Abbildung 8-2: Wachstum des BIP von Neuseeland, Approximative Darstellung
95
Abbildung 8-3 Wachstum des BIP in Prozent
96
Abbildung 9-1: BIP-Anteile der Ausgaben der Arbeitsmarktverwaltung, 1997
109
Abbildung 9-2:Entwicklung der Arbeitslosenquote in Schweden
117
Abbildung 10-1 Vergleich des Schuldenstands der Staatshaushalte, Stand 2003/2004
128
Abbildung 10-2 Arbeitslosenquote in den untersuchten Ländern
129
Abbildung B-1: Vereinfachte Darstellung einer westlich geprägten Demokratie
XIV

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
VIII
Abkürzungsverzeichnis
Abb.
Abbildung
Abs.
Absatz
ADAC
Allgemeiner
Deutscher
Automobilclub
AfG
Arbeitsförderungsgesetz
ALG II
Arbeitslosengeld II
Art.
Artikel
AVAVG
Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung
ap
Associated
Press
A.-Politik Arbeitsmarktpolitik
BAA
Bundesagentur
für
Arbeit
BIP
Bruttoinlandsprodukt
BDA
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
BDI
Bundesverband der deutschen Industrie
BMA
Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit
bzw.
beziehungsweise
CDU
Christlich
Demokratische
Union
CSU
Christlich
Soziale
Union
DAG
Deutsche
Angestelltengewerkschaft
DBB
Deutscher
Beamtenbund
DGB
Deutscher
Gewerkschaftsbund
Ders.
Derselbe
d.h.
das
heißt
DIHT
Deutscher Industrie- und Handelstag
dpa
Deutsche
Presse-Agentur
etc.
et
cetera
ERT
European Round Table of Industrialists
EU
Europäische
Union
OECD
Organization for Economic Cooperation and Development
FDP
Freie
Demokratische
Partei
ff.
und
folgende
GG
Grundgesetz
GST
Goods and Services Tax

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
IX
Hrg.
Herausgeber
IAB
Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung
IG
Interessensgemeinschaft
i.d.R.
in
der
Regel
Jg.
Jahrgang
LO
Landsorganisationen (schwedisches Pendant zum DGB)
Mio.
Millionen
Mrd.
Milliarden
Nr.
Nummer
o.V.
ohne
Verfasser
PDS
Partei des deutschen Sozialismus
rtr
Reuters
(Nachrichtenagentur)
S.
Seite
SACO
Sveriges Akademikers Centralorganisation (schwedische
Gewerkschaft)
SAF
Svenska arbetsgivarföreningen (schwedischer Arbeitgeberverband)
SGB III
Sozialgesetzbuch III
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
TCO
Tjänstemännens Centralorganisation (schwedische Gewerkschaft)
TVG
Tarifvertragsgesetz
u.a.
unter
anderem
u.Ä.
und
Ähnliches
v.a.
vor
allem
Verdi
Vereinigte
Dienstleistungsgewerkschaft
VDK
Verband der Kriegs- und Wehrdienstopfer
vgl.
vergleiche
z.B.
zum
Beispiel

I WOHLFAHRTTAATSVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Die ,,neue Notgemeinschaft"
1
I Wohlfahrtstaatvergleich und
Akteursanalyse
1 Die ,,neue Notgemeinschaft"
Als neue Notgemeinschaft bezeichnete die Süddeutsche Zeitung im August des Jahres
2004 die Bestrebungen der deutschen Regierung, tiefgreifende Einschnitte am deutschen
Wohlfahrtstaat durchzuführen. Hintergrund war die von der Regierung Schröder
eingeleitete Reform des Arbeitsmarktes im Rahmen der Agenda 2010. In seiner langen
Geschichte, so der Kommentator weiter, sei das deutsche Sicherungssystem erst zweimal
in dem Maße reformiert worden, wie dies die deutsche Regierung seit der Mitte des
Jahres 2002 vollziehe. Der Sozialstaat werde von einer Wohlstandsgemeinschaft in eine
Notgemeinschaft zurückgeführt. Die Regierung besinne sich auf die ursprüngliche Idee
des bismarckschen Wohlfahrtstaates zurück, deren Grundgedanke die Verhinderung
elementaren Elends gewesen sei.
1
Kernpunkt der Reformen des Arbeitsmarktes ist das ,,Vierte Gesetz für Dienstleistungen
am Arbeitsmarkt" (Hartz IV Gesetz). Mit diesem Gesetz beschloss die Regierung die
Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und führte als neues Prinzip des
deutschen Sozialstaates die Leitlinie ,,Fördern und Fordern" ein. Dahinter stecken die vier
Elemente des neuen Gesetzes: Langzeitarbeitslose, deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt
gering sind, sollen z.B. über staatlich bezuschusste Jobs die Rückkehr in den ersten
Arbeitsmarkt schaffen. Daneben soll die Serviceleistung der staatlichen
Arbeitsvermittlung verbessert werden, um den Menschen wieder schneller zu neues Jobs
zu verhelfen. Zusätzlich wurde die Höhe des neuen Arbeitslosengeldes (ALG II) gekürzt
und die Bezieher staatlicher Unterstützung müssen mehr Gegenleistungen erbringen. Das
bedeutet, dass Arbeitssuchende alles unternehmen müssen, um ihren Lebensunterhalt
1
Vgl.: Seibt, Gustav: Die neue Notgemeinschaft in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 187 vom 14./15. August
2004.

I WOHLFAHRTTAATSVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Die ,,neue Notgemeinschaft"
2
selbst zu verdienen.
2
Der Umbau des deutschen Sozialwesens muss vor dem Hintergrund der zunehmenden
Staatsverschuldung Deutschlands betrachtet werden. Der Schuldenstand Deutschlands
betrug im Jahr 2004 knapp 64 Prozent
3
des BIP. Der Staat muss verstärkt höhere
Leistungen für Zinszahlungen erbringen und hat weniger finanziellen Spielraum.
Besonders belastet wird das Budget des Staates durch eine lang andauernde hohe
Arbeitslosenquote. Wirtschaftliche Stagnationsphasen sorgten für einen Anstieg der
Arbeitslosigkeit. Allein im Jahr 2002 gab die deutsche Regierung über 25 Mrd. Euro
4
für
die Arbeitslosigkeit aus.
Eine zusätzliche Belastung droht dem Haushalt durch demographische Faktoren.
Berechnungen für Deutschland haben ergeben, dass im Jahr 2010 30 Prozent der
Bevölkerung Deutschlands über 65 Jahre alt sein werden, im Jahr 2030 werden dies
bereits knapp 44 Prozent sein
5
. Bei Beibehaltung des bisher geltenden Sozialsystems wird
sich deshalb die Verschuldung des Staates aufgrund fehlender Steuereinnahmen noch
erhöhen. Eine Einschränkung der Ausgaben muss in Deutschland also zwingend erfolgen.
Trotzdem traf v.a. Hartz IV auf heftige Kritik in der Gesellschaft. Vor allem in
Ostdeutschland mit hohen Arbeitslosenquoten protestierten Zehntausende von Menschen
gegen die Bundesregierung. Unterstützung fanden die Demonstranten bei den
Gewerkschaften, die die neuen verschärften Regeln des Gesetzes kritisierten. Besitzt
Deuschland also die Stärke und die Voraussetzungen, um derart umstrittene wie
einschneidende gesellschaftliche Veränderungen zu einem positiven Ende zu führen?
Der Schwerpunkt dieser Arbeit soll auf die Fähigkeit Deutschlands gerichtet werden,
soziale Reformen durchzuführen. Um dafür einen Anhaltspunkt zu erhalten, wird die
Arbeit einen Vergleich der deutschen Arbeitsmarktreformen mit den Reformen des
2
Vgl.:Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit: Hartz IV: Menschen in Arbeit bringen, Bonn, 2004,
S.40/42.
3
Quelle: Statistisches Bundesamt. Statistisches Jahrbuch 2004. Für die Bundesrepublik Deutschland und
das Ausland, Wiesbaden, 2004.
4
Vgl.: Kapitel 7.
5
Quelle: Ifo Institut in: Knaup, Horand,; Reiermann, Christian; Schmitz, Gregor; Schult, Christoph:
Alarmstufe Rot in: DER SPIEGEL, Heft 38/2004 vom 13.09.04.

I WOHLFAHRTTAATSVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Die ,,neue Notgemeinschaft"
3
Arbeitsmarktes Neuseelands und Schwedens durchführen. Mit dem neuen Konzept der
Bundesregierung für den Arbeitsmarkt wird sich die Arbeit nur am Rande beschäftigen.
Zwar wird das Konzept der Hartz-Gesetze vorgestellt und erläutert. Eine Bewertung oder
gar Verbesserungsvorschläge wird die Arbeit bewusst nicht liefern.
Motivation für die Untersuchung waren die heftigen Demonstrationen in Deutschland
gegen die Sozialreformen der Bundesregierung. Aber nicht nur der Widerstand der
Öffentlichkeit, sondern auch die lange Vorbereitungsphase für die neue Gesetzgebung seit
dem Jahr 2002 legen die Vermutung nahe, dass das Durchführen einer solchen
Reformpolitik durch bestimmte Faktoren behindert wird. Es stellt sich auch die Frage, ob
andere Länder bereits Erfahrungen mit ähnlichen Reformprojekten machen konnten und
ob diese Länder ähnlichen Schwierigkeiten ausgesetzt waren, wie sie in Deutschland
vorliegen. Neuseeland und Schweden bieten sich für einen Vergleich mit Deutschland
sehr gut an: Sowohl Neuseeland als auch Schweden haben bzw. hatten ein ähnlich gut
ausgestattetes Sozialsystem wie Deutschland. Beide Staaten haben bereits umfangreiche
Reformen nicht nur in der Arbeitsmarktpolitik sondern im gesamten Wohlfahrtssystem
durchgeführt. Auslöser dafür eine hohe Staatsverschuldung, die mit einer hohen
Arbeitslosenquote einher ging. Insofern sahen sich beide Länder mit einer ähnlichen
Situation konfrontiert, die momentan in Deutschland zu beobachten ist.
Die Arbeit wird im Rahmen einer Akteursanalyse die Bedingungen in jedem der drei
erwähnten Länder untersuchen, die bei einer Reform des Arbeitsmarktes gegeben sind
bzw. gegeben waren. Die Konzentration wird dabei auf dem Spannungsfeld liegen, in
dem sich jedes politische System befindet, nämlich im Feld von Interessengruppen, der
politischen Führung, der Parteien und der Massenmedien. Daneben spielen die politischen
Institutionen, also die staatliche Bürokratie eine bedeutende Rolle. Zusätzlich wird mit
der Betrachtung der Bildungspolitik auf die nötige Flexibilität bei der Schaffung von
Humankapital eingegangen.
Vor dieser Analyse ist es jedoch unerlässlich, sich mit dem theoretischen Hintergrund des
wissenschaftlichen Vergleichs von Wohlfahrtstaaten zu beschäftigen, um die
Arbeitsmarktpolitik als ein Teil der staatlichen Wohlfahrt vergleichen zu können.
Die Arbeit wird sich der Methode des typologischen Vergleichs bedienen, hierbei ist die
Arbeit des Schweden Göran Esping-Andersen von Bedeutung, der Deutschland,

I WOHLFAHRTTAATSVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Die ,,neue Notgemeinschaft"
4
Neuseeland und Schweden als Länder mit einem jeweils unterschiedlichen
Wohlfahrtstaatstyp kategorisiert.
Die Arbeit wird jedoch in Kapitel 2 auch auf den Forschungsstand in der vergleichenden
Wohlfahrtstaatforschung eingehen, um die Begründung für die gewählte
Vergleichsmethode geben zu können. Kapitel 3 beschäftigt sich mit dem theoretischen
Hintergrund der im Rahmen der Akteursanalyse gewählten Determinanten, d.h. mit den
Interessengruppen, den Parteien, den politischen Institutionen und der Bildungspolitik.
Daneben wird auf die Massenmedien als wichtiger Akteur eingegangen.
Der theoretische Teil endet mit Kapitel 4 und einer allgemeinen Erläuterung zur Thematik
der Arbeitsmarktpolitik und liefert die Begründung dafür, warum dieses Politikfeld
überhaupt im staatlichen Interesse liegt. Vor den eigentlichen Länderanalysen erfolgt in
Kapitel 6 ein Exkurs über die historische Entwicklung des deutschen Sicherungssystems.
Da Deutschland als Pionierland der staatlichen Wohlfahrt ist dieser Exkurs gerechtfertigt.
Kapitel 7 bis 9 liefern die eigentlichen Länderanalysen von Deutschland, Neuseeland und
Schweden. Bei der Analyse Deutschlands wird zunächst auf die Stellung der
Arbeitslosenversicherung im gesamten Sozialsystem eingegangen. Anschließend wird
noch einmal ausführlich auf die Notwendigkeit, die Reformen nötig macht, eingegangen.
Daran schließt sich die Bewertung der oben genannten Determinanten der deutschen
Arbeitsmarktpolitik an.
Die Analysen Neuseelands und Schwedens verlaufen nach einem ähnlichem
Analyseschema. Nachdem auf die aktuellen gesetzlichen Regelungen zur
Arbeitsmarktpolitik eingegangen worden ist, erfolgt eine Darstellung der
Rahmenbedingungen, die während der Reformphase in den beiden Ländern vorgelegen
haben. Auf die Bedeutung der Akteure der Arbeitsmarktpolitik wird ebenso eingegangen
wie auf die politischen Institutionen.

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
5
2 Der
Wohlfahrtstaatvergleich
,,Eine Nation soll und kann von der anderen lernen. Auch wenn
eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die
Spur gekommen ist, (...) kann sie naturgemäße
Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren.
Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern."
6
Karl Marx, 1890
Bei der vorliegenden Aufgabe stellt sich aus wissenschaftlich-theoretischer Sicht die
grundsätzliche Frage, ob ein Vergleich, wie er in dieser Arbeit angestrebt wird,
gerechtfertigt ist, oder aufgrund gravierender Unterschiede zwischen den hier genannten
Ländern Deutschland, Schweden und Neuseeland unpassend ist. Wenn der Vergleich aber
gerechtfertigt erscheint, bleibt noch zu klären, nach welchem theoretischen Konzept
dieser Vergleich durchgeführt werden soll.
Mit der Frage der Zulässigkeit eines Vergleichs beschäftigt sich Josef Schmid, der zu
Recht auf eine gewisse ,,Doppelsichtigkeit"
7
des Wohlfahrtsstaatsvergleichs hinweist:
Denn auf der einen Seite ist ein solcher Vergleich, auch wie er in dieser Arbeit mit Blick
auf den Arbeitsmarkt angestrebt wird, gerade deshalb so interessant, weil in
verschiedenen Ländern die wohlfahrtsstaatliche Idee völlig unterschiedlich umgesetzt
worden ist. Gerade diese Vielfältigkeit ist es jedoch, die die Vergleichbarkeit und damit
das Lernen vom Ausland, also das Übertragen auf das eigene System, so schwierig macht.
Schmid folgert daraus, ,,dass es sich lohnt, intensiv von anderen Ländern zu lernen, dass
jedoch gleichzeitig die Grenzen einer solchen Herangehensweise anerkannt werden
müssen"
8
.
6
Marx, Karl: Das Kapital, Erster Band, 4.Auflage, Hamburg, 1890.
7
Schmid, Josef: Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung,
Leistungen und Probleme, Opladen, 2002c: S. 28.

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
6
Für dieselbe Problemstellung, wie z.B. der Arbeitslosigkeit, präsentieren verschiedene
Länder unterschiedliche Lösungen. Eine Beachtung der Vorgehensweise in anderen
Ländern gewinnt für die deutsche Politik insofern an Bedeutung, weil dies zu einem
besseren Verständnis der Sozialpolitik des eigenen Landes beitragen kann (nach dem
Motto von R. Kiplings: ,,What do they know of England, who only England know?"
9
).
Zudem erweitert ein solcher Vergleich die Vorstellungen, welche Politik man bezüglich
einer bestimmten Fragestellung praktizieren und letztendlich auch durchsetzen kann.
Schließlich wird mit dem Vergleich imitatives Lernen ermöglicht, was dazu führt,
bestimmte Lösungen aus dem Ausland zu übernehmen. Es besteht natürlich auch die
Möglichkeit, ausländische Wege nicht zu beschreiten, weil man aus den Fehlern, die im
Ausland bereits gemacht wurden, seine eigenen Konsequenzen zieht.
10
Wie bereits angedeutet stellen die beiden Vergleichsländer Schweden und Neuseeland
bezüglich des Arbeitsmarktes eine optimale Vergleichsmöglichkeit dar: Schweden als
Beispiel eines EU-Staates, der unter dem selben wirtschaftlichen und geopolitischen
Umfeld wie Deutschland eine andere Entwicklung vollzogen hat. Und Neuseeland liefert
mit seinem bisher einmaligen Liberalisierung ein Beispiel eines der massivsten
Systemwechsel, der von einem Staat bisher vollzogen wurde
.
Es ist jedoch bei dem in dieser Arbeit angestrebten Vergleich zu beachten, dass jeder
Wohlfahrtstaat seine eigene historisch gewachsene Struktur aufweist, die in jedem Land
aus unterschiedlichen Wurzeln hervorgegangen ist. Deshalb können Strukturen und
Lösungsansätze der Arbeitsmarktpolitik anderer Staaten meist nicht eins zu eins auf
Deutschland übertragen werden. Die Bedeutung liegt vielmehr darin, dass andere
Strukturen und Lösungsansätze ,,fruchtbare Impulse und Diskussionsanstöße für eine
sozialpolitische Reformdebatte liefern können"
11
.
Die zweite Frage nach dem theoretischen Konzept, das bei einem Vergleich der
Arbeitsmärkte angewendet werden soll, erweist sich als komplexer. Nachdem es sich hier
um eine politikwissenschaftliche Arbeit handelt und die Arbeitspolitik einen Teilbereich
8
Schmid, 2002, S. 29.
9
zitiert nach: Schmid, 2002: S.27.
10
Vgl.: Schmid, 2002, S. 27.
11
Schmid,2002, S. 28.

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
7
in der Sozialpolitik darstellt, bietet sich als vergleichende Methode sicherlich eine
Akteursanalyse an. Diese wird bei der vorliegenden Arbeit auch angewandt. Allerdings
darf diese Analyse nicht erfolgen, ohne auf Methoden des Wohlfahrtsstaatvergleichs im
Allgemeinen einzugehen. Hier wurden gerade zu Beginn der 90er Jahre Ideen und
Konzepte entwickelt, die für die vorliegende Aufgabenstellung von großer Bedeutung
sind.
Im Folgenden sollen deshalb zunächst unterschiedliche Wege eines
Wohlfahrtsstaatvergleichs (d.h. ein Vergleich des gesamten sozialen Systems) vorgestellt
werden. Zudem soll die wichtigste Literatur zu den unterschiedlichen Herangehensweisen
an die Thematik nicht unerwähnt bleiben. Daran anschließend wird der gewählte Weg der
Akteursanalyse näher beschrieben. Schließlich soll die Methode erläutert werden, die für
die Beantwortung der Aufgabenstellung dieser Arbeit verwendet wird.
2.1 Zum Verständnis des Begriffes Wohlfahrtsstaat
Ursprünglich wurde der Begriff Wohlfahrtsstaat zur Abgrenzung von den am Prinzip der
Staatsbürgerversorgung orientierten Welfarestaates aus England und Skandinavien
verwendet. Erst im Zuge der europäischen Einigung und der immer größer werdenden
Bedeutung von internationalen Vergleichen werden seit etwa einem Jahrzehnt die
Begriffe synonym verwendet.
12
Diese Arbeit wird sich der Auffassung von Guldimann
anschließen, und den Begriff Wohlfahrtsstaat synonym zum Begriff Sozialstaat bzw.
Volksheim verwenden.
13
Nach Nullmeier, der die politikwissenschaftlich - beschreibende Perspektive des
Begriffes wählt, umfasst der Sozialstaat ,,die Gesamtheit staatlicher Einrichtungen,
Steuerungsmaßnahmen und Normen innerhalb eines demokratischen Systems, mittels
derer Lebensrisiken und soziale Folgewirkungen einer kapitalistisch ­
marktwirtschaftlichen Ökonomie aktiv innerhalb dieser selbst politisch bearbeitet
werden."
14
,,Wohlfahrtsstaat" ist also der Begriff für die Bezeichnung eines Staates, ,,der
12
Kaufmann, Franz-Xaver: Sozialpolitik und Sozialstaat. Soziologische Analysen, Opladen, 2002.
13
vgl.: Guldimann, Tim: Grenzen des Wohlfahrtsstaates, München, 1976, S. 13/14.
14
Nullmeier, Frank: Sozialstaat in: Andersen Uwe, Woyke Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch des

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
8
eine Anzahl unterschiedlicher (Fürsorge-)Maßnahmen, Programme und Politiken
anwendet, die der sozialen, materiellen und kulturellen Wohlfahrt der Bevölkerung
dienen"
15
. Um einer langwierigen Diskussion über eine Definition des Wohlfahrtsstaates
vorwegzugreifen, sei hier auf Lampert verwiesen
16
.
2.2 Methoden des Wohlfahrtsstaatvergleichs
Bei der Bildung einer wissenschaftlichen Methodik zum Wohlfahrtsstaatvergleich spielen
nationale Politikfelder und Institutionen eine bedeutende Rolle. Die zu beobachtenden
Einheiten sind hier somit die Staaten, mit deren ,,Institutionen des Sozial- oder
Wohlfahrtssektors sowie deren Operationen (social policies), aber auch die zu deren
Konstitution bzw. Veränderung führenden politischen Auseinandersetzungen (social
politics) und die diesen zugrunde liegenden Vorstellungen (social ideas)"
17
.
Im Lauf der Entwicklung der vergleichenden Forschung haben sich verschiedene Schulen
bzw. Denkansätze und Herangehensweisen an den Wohlfahrtsstaatvergleich entwickelt.
2.2.1 Die quantitative Methode
Einen Überblick über die quantitativen Methoden liefert ,,Comparative Social Policy"
von Harold L. Wilensky
18
. Grundlegendes Werk ist ,,The Welfare State and Equality" des
gleichen Autors
19
.
Die Verwendung von quantitativen Methoden ist in den Sozialwissenschaften weit
verbreitet. Man bedient sich statistischer Methoden, um an entsprechende Daten zu
gelangen. Produziert werden sie vor allem von den nationalen statistischen Ämtern, aber
auch Organisationen wie z.B. der OECD. Solchen Daten kommt für die Deskription (z.B.
der staatlichen Systeme selbst oder eben auch deren Vergleich) eine große Bedeutung zu.
Die Gefahr dieser Methode besteht allerdings darin, dass die oft in Tabellen
politischen Systems des Bundesrepublik Deutschland"Bonn 2000S. 540-544, S. 540.
15
Quelle: Schubert, Klaus/Klein, Maria Das Politiklexikon, Bonn 2001, zitiert nach:
http://www.bpb.de/popup_lemmata.html?guid=KN0JHC, am: 16.11.04.
16
Lampert, Heinz/Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, 6. Auflage, Berlin/Heidelberg, 2001.
17
Kaufmann, Franz-Xaver: Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, 1. Aufl., Frankfurt a.M.,
2003, S.16/17.
18
Wilensky, Harold L. u.a.: Comparative Social Policy, Berkeley, 1985.
19
Wilensky, Harold: The Welfare State and Equality, Berkely/London/Los Angeles, 1975.

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
9
zusammengefassten Daten keineswegs eindeutige Messzahlen sein müssen bzw. sein
können. Es stellt sich die Frage, wie verlässlich die erhobenen Daten sind und ob sie eine
statistische Gültigkeit besitzen. ,,Man kann eben nicht mit ungültigen Verfahren ­ mit
unangemessenen Modellen ­ gültige Ergebnisse produzieren"
20
.
Zudem kommt das Problem der Vergleichbarkeit hinzu. Diese ist gerade mit Blick auf
den Wohlfahrtsstaat schwierig herzustellen, da jeder Staat die erhobenen Ausgangsdaten
anders definiert. Außerdem werden die Daten in verschiedenen Ländern zumeist nicht
nach den selben Standards erhoben, was die Vergleichbarkeit sogar unmöglich machen
kann. Zieht der Forscher diese Daten dann doch zu einem wissenschaftlichen Vergleich
heran, entstehen so falsche Erkenntnisse.
Was jedoch noch einen viel gravierenderen Mangel darstellt, ist das Problem von
Datenlücken. Statistische Erhebungen werden häufig zu wirtschaftlichen Zwecken
aufgearbeitet. Deshalb entsprechen sie nicht dem rein wissenschaftlichen Interesse.
Deshalb passen gewonnene Daten häufig nicht zusammen und liefern verzerrte
Ergebnisse. Ein letztes Problem bei der Anwendung der quantitativen Methoden stellt
schließlich die Schwierigkeit der Auswertungsmethoden dar. Denn die meisten
statistischen Modelle setzen eine stochastische Merkmalsverteilung und eine
repräsentative Fallzahl voraus. Sind beide Bedingungen nicht gegeben, erhält man
verfälschte Ergebnisse. Oft jedoch sind bei einem Ländervergleich nicht beide
Bedingungen gegeben.
21
,,Die Antwort auf die Frage, ob statistische Modelle und auf ihrer Basis berechnete Werte
in angemessener Weise benutzt werden, kann niemals die Statistik allein liefern, sondern
sie muss in den Eigenschaften des gemessenen Sachverhalts gesucht werden. Vor der
Entscheidung für ein bestimmtes Modell ist also stets zu prüfen, ob in der Realität die
Bedingungen erfüllt sind, die für dessen Anwendung vorausgesetzt werden, bzw. [...], ob
gegebene Abweichungen von den Modellannahmen für die jeweilige Fragestellung relativ
unerheblich sind, also noch in Kauf genommen werden können"
22
.
Die Verwendung von statistischem Datenmaterial ist für den wissenschaftlichen
Vergleich sicher unverzichtbar. Vorsicht ist jedoch dann geboten, wenn zum Vergleich
20
Kromrey, Helmut: Empirische Sozialforschung, 8 Auflage, Opladen, 1998, S. 199.
21
Vgl.: Kaufmann, S. 17.
22
Kromrey, 1998, S. 201.

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
10
herangezogene Daten nicht identisch sind und damit verfälschte Ergebnisse liefern. So ist
beispielsweise international die Berechnung der Arbeitslosenquote nicht einheitlich
geregelt.

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
11
2.2.2 Die historisch-vergleichende Wohlfahrtsforschung
Als Basis zu dieser Thematik sei hier der Aufsatz von Asa Briggs genannt
23
. Aber auch
die Aufsatzsammlung von Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka
24
bietet hier einen
idealen Einstieg.
Die geschichtswissenschaftlichen Vergleiche sind dadurch gekennzeichnet, dass sie in
zwei oder auch mehreren Fällen historische Phänomene systematisch nach Unterschieden
zu durchleuchten. Auf dieser Basis erfolgt eine möglichst zuverlässige Beschreibung und
eine Erklärung des zu untersuchenden Phänomens.
25
Der historische Zugriff auf den
Untersuchungsgegenstand erweist sich als höchst flexibel und ermöglicht es dem
Forscher, unterschiedliche Informationen auch von höchst unterschiedlicher Herkunft
miteinander zu verknüpfen, um so Argumentationsketten zu kreieren. Diese
Vorgehensweise ist dann interessant, wenn sich ein Vergleich auf nur zwei Länder
beziehen soll, und die Untersuchung ein klar eingegrenztes Feld aufweist.
Die hohe Flexibilität kann sich jedoch als Nachteil erweisen, sobald mehrere Länder
untersucht werden sollen. Dann stößt man auf die Schwierigkeit, die
Vergleichsgesichtspunkte möglichst genau spezifizieren zu müssen.
26
Will man jedoch
soziale Strukturen, demographische Tendenzen oder auch kulturelle Faktoren bei einem
Vergleich berücksichtigen, ,,scheinen bei mehr als zwei Fällen die Darstellung
systematischer Zusammenhänge und Fallstudien nebeneinander stehen zu müssen"
27
. Es
gibt beim Mehrländervergleich jedoch die Möglichkeit , die Probleme der Datenfülle und
der fehlenden Transparenz mit Hilfe einer Epochenbildung zu lösen. Jeder nationale Fall
stünde dann in einer Epoche als Beispiel für eine bestimmte politische Konstellation und
23
Briggs, Asa: The Welfare State in Historical Perspective, in: Archives européennes de sociologie 2
(1961), S. 221-258.
24
Haupt, Heinz Gerhard, Kocka Jürgen (Hg.): Geschichte und Vergleich: Ansätze und Ergebnisse
international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M./ New York, 1996.
25
Vgl.: Haupt, Heinz-Gerhard, Kocka Jürgen: Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme in:
Haupt, Heinz Gerhard, Kocka Jürgen (Hg.): Geschichte und Vergleich: Ansätze und Ergebnisse
international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M./ New York, 1996, S.9-45, S.9.
26
Vgl.: Kaufmann, 2003, S. 18/19.
27
Conrad, Christoph: Wohlfahrtsstaaten im Vergleich: Historische und sozialwissenschaftliche Ansätze in:
Haupt, Heinz Gerhard, Kocka Jürgen (Hg.): Geschichte und Vergleich: Ansätze und Ergebnisse
international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M./ New York, 1996, S.155-179; S.
169

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
12
eine bestimmte Lösungsform einer sozialpolitischen Gegebenheit.
28
2.2.3 Der institutionelle Vergleich
Diese Art des Vergleichs wird vor allem von der Forschung angewandt, die sich mit dem
internationalen Arbeits- und Sozialrecht beschäftigt. Man vergleiche hierzu das Werk von
Bob Hepple
29
. Diese Methode ist als eine Art Mittelweg zwischen den beiden oben
genannten zu betrachten. Hier werden bestimmte Teilsysteme oder bestimmte Bereiche
der Sozialpolitik einem systematischen Vergleich unterzogen. Wichtige Voraussetzung
dafür ist jedoch eine klar formulierte Problemstellung, welche ,,sich aus dem
Zusammenhang zwischen sozialen Problemlagen und institutionellen Zusammenhängen
ergibt"
30
. Die Schwierigkeiten bei dieser Art des Vergleichs liegen darin, dass sich jene
Beziehungen auf der nationalen Ebene entwickeln, und institutionelle Lösungsansätze für
die Probleme länderspezifisch ausfallen. Dies macht einen direkten Vergleich
schwierig.
31
.
2.2.4 Die typologische Methode
Diese Methode brachte einen völlig neuen Impuls in die vergleichende
Wohlfahrtsstaatforschung. Bestimmte, in mehreren Ländern beobachtete
Gemeinsamkeiten machten es möglich, Typen oder Kategorien von Wohlfahrtsstaaten zu
bilden. Hier hat sich G
ö
sta Esping-Andersen mit seinem zentralen Werk ,,The three
worlds of Welfare Capitalism"
32
hervorgetan. Da sich seine Arbeit hin zur theoretischen
Ausgangsbasis der neueren und neuesten Diskussionen der Wissenschaft über den
Wohlfahrtsstaatvergleich entwickelt hat, soll auf dieses Werk und die Kritik an dieser
Methode etwas ausführlicher eingegangen werden.
Esping-Andersen unterscheidet zunächst drei Regime-Typen von Wohlfahrtsstaaten.
,,Jeder dieser Wohlfahrtsstaatstypen folgt einem historisch angelegten Entwicklungspfad,
verfügt also über seine eigene Logik der Organisation der Sozialpolitik, der Muster
28
Vgl.: Conrad in Haupt,1996, S. 169.
29
Hepple, Bob (Hg.): The making of labour law in Europe. A comparative study of nine countries up to
1945, London/New York, 1986.
30
Kaufmann, 2003, S. 20.
31
Vgl.: Kaufmann, 2003, S.20.
32
Esping-Andersen, G
ö
sta: The three worlds of Welfare Capitalism, Princeton, 1990.

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
13
sozialer Schichtung und Ungleichheit (v.a. im Beschäftigungssystem) sowie der Formen
gesellschaftlicher Integration bzw. Ausgrenzung"
33
.
Jeder dieser Typen produziert in unterschiedlichem Umfang Wohlfahrtsprogramme,
Eintrittsbarrieren und Leistungen. Esping-Andersen führt dafür eine Maßeinheit für ein.
Mit der ,,Dekommodifizierung"
34
wird die relative Unabhängigkeit ,,von den Zwängen
und Risiken kapitalistischer (Arbeits-) Märkte"
35
gemessen. Weitere Dimensionen,
anhand derer die drei Typen unterschieden werden, sind die Art der bewirkten oder
angestrebten Struktur des Wohlfahrtsstaates und schließlich das Verhältnis zwischen den
Komponenten Staat, Markt und Familie und damit die den jeweiligen Komponenten
zugeschriebene Verantwortung für die soziale Sicherung der Bürger.
36
Der liberale Wohlfahrtsstaat
Den ersten der drei Regimetypen stellt der liberale Wohlfahrtsstaat dar. In diesem Typus
herrschen ,,bedarfsgeprüfte Sozialfürsorge, niedrige universelle Transferleistungen und
ebenso bescheidene Sozialvericherungsprogramme"
37
. Sein Dekommodifizierungs-Effekt
fällt eher gering aus (vgl. hierzu Abb.2.-2.). Transferzahlungen richten sich in erster Linie
an eine schlecht entlohnte Klientel, die meist aus dem Arbeitermilieu stammt. Bei diesem
Modell spielt der liberale Grundgedanke die entscheidende Rolle. Dabei laufen die
Grenzen staatlicher Wohlfahrtsleistungen parallel mit der geringen Neigung der
Bevölkerung, Sozialleistungen überhaupt einzufordern. Folgerichtig sind die
Zugangsregeln strikt und die monetären Leistungen im Regelfall relativ niedrig. Der Staat
sieht seine Aufgabe darin, den Markt zu fördern. Er verfolgt dieses Ziel entweder passiv,
indem er nur minimale Leistungen bietet, oder aktiv durch die Subvention von privaten
Sicherungsformen. Durch das System wird der Geltungsbereich der sozialen Rechte
beschränkt. Dabei errichtet es eine Ordnung der Bevölkerung nach
Einkommensschichten, in der auf der einen Seite eine Gruppe von gleichmäßig in Armut
33
Schmid, 2002, S. 83.
34
wörtl.: Esping-Andersen, vgl. hierzu: Schmid, 2002, S. 83.
35
Schmid, 2002, S.: 83.
36
Vgl.: Kohl, Jürgen: Der Wohlfahrtsstaat in vergleichender Perspektive. Anmerkungen zu Esping-
Andersen´s ,,Three Worlds of Welfare Capitalism". In. Zeitschrift für Sozialreform, 39. Jahrgang,
1993, S. 67-82, S.69/70.
37
Esping-Andersen, Gosta: Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Zur politischen Ökonomie des
Wohlfahrtsstaates in: Lessenich, Stefan, Ostner, Ilona (Hg.): Welten des Wohlfahrtskapitalismus:

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
14
lebenden Menschen (die auf die Transferzahlungen des Staates angewiesen sind) und
,,eine marktförmig differenzierte Wohlfahrt der Mehrzahl der Bürger"
38
in einem
,,klassenpolitischen Dualismus"
39
nebeneinander leben. Klassisches Beispiel hierfür sind
die USA und, seit jüngster Zeit, auch Neuseeland.
Der konservative Wohlfahrtsstaat
Den zweiten Typus stellt der konservative oder korporatistische Wohlfahrtsstaat dar. Als
Beispiele seien Frankreich, Italien und Deutschland genannt. Der Staat interveniert hier
stärker, wenn auch temporär und eher aus staatspolitischen, paternalistischen Gründen.
Zudem ist dieser Typ stark lohnarbeits- und sozialversicherungszentriert. Der Erhalt der
unterschiedlichen Stati (und damit auch der Erhalt von Statusunterschieden) ist hier
vorrangig, weshalb die Rechte in diesem System ebenfalls status- und klassengebunden
sind
40
. Die dabei im Hintergrund stehende Staatskonzeption begann, den Markt als
Wohlfahrtsproduzenten zu verdrängen. Deshalb spielen im konservativen Wohlfahrtstaat
auch private Versicherungen oder betriebliche Zusatzleistungen nur eine geringe Rolle.
Zudem besteht ein Engagement für die Aufrechterhaltung der Statusunterschiede,
wodurch Umverteilungsprozesse äußerst gering ausfallen. Weiterhin auffällig ist der
relativ hohe Einfluss der Kirchen, was wiederum die Bildung traditioneller
Familienformen begünstigt Leistungen aus der Familienpolitik die Frauen zur
Mutterschaft ermutigen (z.B. Kindergeld). Darauf aufbauend lässt das verhältnismäßig
geringe Angebot von Kindertageseinrichtungen oder ähnlichen Angeboten Schlüsse auf
ein konservativ­traditionelles Familienbild zu. Durch das vorherrschende
Subsidiaritätsprinzip greift der Staat nur dann ein, wenn die Fähigkeit zur Selbsthilfe der
Familie erschöpft ist. Beispielhaft sei die bis zum Ende des Jahres 2004 geltende
Regelung der deutschen Sozialhilfe genannt. Wenn der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe,
den sich ein Arbeitnehmer durch die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen erwirbt,
erschöpft ist, hängt eine weitere monetäre Leistung des Staates (Sozialhilfe) davon ab, ob
Der Sozialsstaat in vergleichender Perspektive, Frankfurt a.M./New York, 1998, S.19-58, S. 43.
38
Esping-Andersen in Lessenich,1998: S.43.
39
Esping-Andersen in Lessenich,1998: S.43.
40
Vgl.: Schmid, 2002, S.84.

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
15
die Familie außer Stande ist, die entsprechende Person zu unterstützen.
41
Der Dekommodifizierungs-Effekt erreicht beim konservativen Modell mittlere Werte
(vgl. Abb. 2-2)
Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat
Den dritten Typus bezeichnet Esping-Andersen als den sozialdemokratischen Typ. Dies
deshalb, weil hier die Sozialdemokratie die treibende Kraft zu Sozialreformen war. Statt
einem Dualismus zwischen Markt und Staat und zwischen Arbeiter- und Mittelschicht
hinzunehmen, wurde in diesem System ein Wohlfahrtstaat angestrebt, der ,,Gleichheit auf
höchstem Niveau ­ und nicht, (...) die gleiche Befriedung von Mindestbedarfen [im
Gegensatz zum liberalen Typ] bieten sollte"
42
. Leistungen des Wohlfahrtsstaates mussten
deshalb so ausfallen, dass auch eine Mittelschicht mit höheren Ansprüchen befriedigt
werden konnte. Außerdem sollte die Gleichheit der unterschiedlichen
Gesellschaftsgruppen hergestellt werden, indem man auch der Arbeiterschicht die vollen
Rechtsansprüche der Besserverdienenden gewährte. Es entwickelte sich ein besonders für
die skandinavischen Staaten (v.a. Norwegen und Schweden) typisches System.
Industriearbeiter kommen in den Genuss der gleichen Leistungen und Rechte wie
beispielsweise Angestellte und Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Im Gegensatz zum
korporatistischen System sind hier alle Gesellschaftsschichten in einem universellen
Versicherungssystem einbezogen. Es geht in diesem System nicht darum, so lange zu
warten, bis die Hilfsfähigkeit der Familie erschöpft ist, und von staatlicher Seite
eingegriffen werden muss. Vielmehr findet eine ,,vorauseilende Vergesellschaftung
familiärer Kosten"
43
statt, wodurch im Idealfall nicht die Abhängigkeit von der Familie
sondern die Möglichkeiten individueller Unabhängigkeiten maximiert werden. Dies wird
auch dadurch gefördert, dass Leistungen direkt an die Kinder vergeben werden und der
Staat auch in der Pflicht für die Pflegen sowohl der jungen als auch der alten Bevölkerung
steht. Der Wohlfahrtsstaat übernimmt hier eine große Verantwortung für soziale Dienste.
So soll auch den Frauen die Möglichkeit gegeben werden, sich nicht nur für Kinder
41
Esping-Andersen in Lessenich,1998: S.44.
42
Esping-Andersen in Lessenich,1998: S.45.
43
Esping-Andersen in Lessenich, 1998, S. 45.

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
16
entscheiden zu können, sondern zusätzliche Anreize geboten werden, arbeiten zu gehen.
Natürlich liegt dies auch darin begründet, dass ein solcher Wohlfahrtsstaat erhebliche
Kosten verursacht, die es nötig machen, möglichst hohes Steueraufkommen zu
erreichen.
44
Folgerichtig erzielt dieser Typ die höchsten Werte beim
Dekommodifizierungs-Effekt (vgl. Abb. 2-2).
44
Vgl.: Esping-Andersen in Lessenich, 1998, S. 45.

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
17
Im Folgenden Schaubild sollen die Typen und die Dimensionen des Wohlfahrtsstaates
nach Esping-Andersen noch einmal veranschaulicht werden.
Abbildung 2-1: Typen und Dimensionen von Wohlfahrtsstaaten
Liberales Modell Konservatives
Modell
Sozialdemo-
kratisches Modell
Variablen/Indikatoren
Schutz gegen Marktkräfte
(Dekommodifizierung).
Schwach Mittel
Stark
Anteil von
Fürsorgeleistungen an den
gesamten Sozialausgaben.
Hoch Hoch Niedrig
Anteil privater Ausgaben
für Alter bzw. Gesundheit
an den Gesamtausgaben.
Hoch Niedrig Niedrig
Anzahl von nach
Berufsgruppen
differenzierten
Sicherungssystemen, Anteil
der Ausgaben für
Beamtenversorgung.
Niedrig Hoch
Niedrig
Progrssionsgrad des
Steuersystems, Gleichheit
der Leistungen.
Schwach Mittel
Stark
Vollbeschäftigungsgarantie:
Ausgaben für aktive
Arbeitsmarktpolitik.
Niedrig Niedrig Hoch
Quelle: Schmid, 2002, S.84, veränderte Darstellung.
Esping-Andersen weist den verschiedenen Staaten auch konkrete Zahlenwerte zu, die in
einer Rangreihe des Dekommodifizierungseffektes geordnet werden können.

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
18
Abbildung 2-2: Rangreihe von Staaten bezüglich des Dekommodifizierungsindex, Stand: 1990
Land Index*
Australien 13,0
USA 13,8
Neuseeland 17,1
Frankreich 27,5
Deutschland 27,7
Norwegen 38,3
Schweden 39,1
* Relative Unabhängigkeit von den Zwängen und Risiken kapitalistischer (Arbeits-) Märkte
Quelle: Esping-Andersen, 1990, S. 52, ausgewählte Länder.
Es ist nicht verwunderlich, dass die drei zu untersuchenden Länder sich deutlich in den
Zahlenwerten unterscheiden: Neuseeland als Land mit einem liberalen
Wohlfahrtstaatmodell weist wenig gesetzliche Regelungen auf. Es ist also relativ
unabhängig von gesetzlichen Zwängen und weist demnach einen niedrigen
Dekommodifizierungsindex auf.
Schweden besitzt das höchste Maß an gesetzlichen Regelungen in der Arbeitspolitik und
weist folglich den höchsten Dekommodifizierungsindex auf. Deutschland als
konservatives Modell liegt im Vergleich hierzu in der Mitte.
Trotz seiner Kategorisierung weist Esping-Andersen darauf hin, dass sich seine
Wohlfahrtsstaattypen niemals in reiner Form finden lassen, sondern jeder Typ für sich
einige Elemente aus den andern Typen übernommen hat.
Ergänzungen des Modells
Esping-Andersen hat im Jahre 1999 versucht, sein Modell fortzuschreiben.
45
Nun bezieht
er sich auf die Aspekte des Wandels zur postindustrialisierten Gesellschaft

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
19
(Globalisierung) und die Rolle der Privathaushalte.
Mit Blick auf den Arbeitsmarkt ist v.a. der erste Punkt bedeutsam; hier würden laut
Esping-Andersen aufgrund der Globalisierung verstärkt Probleme auftreten. Durch neue
Konkurrenten könnten etablierte Industrien in wirtschaftliche Bedrängnis geraten.
Möglicherweise anstehende Entlassungswellen würden sich unmittelbar auf den
Wohlfahrtsstaat (höhere Ausgaben und Leistungen ) durchschlagen. Laut Esping-
Andersen ergeben sich dann bei der (mittelfristigen) Entwicklung folgende Reaktionen
der unterschiedlichen Sozialstaatstypen auf die nun neue Situation:
Im liberalen Typ wirkt sich der Druck des Weltmarkts auf die Löhne und sozialen
Leistungen aus. Denn hier soll ja durch Deregulierung eine Verbesserung von
Wachstum und Beschäftigung erreicht werden. Dies hat zur Folge, dass viele
Menschen, obwohl sie eigentlich eine Arbeit haben, immer mehr verarmen
(,,working poor").
46
Der konservative Wohlfahrtsstaat tendiert dazu, das Angebot an Arbeitskräften zu
reduzieren. Dies erfolgt beispielsweise durch die Förderung zur Frühverrentung
und Erwerbsunfähigkeit sowie (vgl. oben) den massiven Ausschluss von Frauen
vom Arbeitsmarkt. Damit sichert man die Arbeitsplätze der Kernbelegschaft in der
Industrie, schafft sich allerdings eine konstant hohe Arbeitslosenquote, oder wie
Schmid sich ausgedrückt hat: ,,Wohlfahrt ohne Arbeit"
47
.
48
Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat versucht, zum einen durch eine aktive
Arbeitsmarktpolitik
49
und zum anderen durch den massiven Ausbau des
öffentlichen Dienstes den Wegfall von Arbeitsplätzen zu kompensieren.
In der folgenden Tabelle sind die Reaktionen der unterschiedlichen Typen noch einmal
zusammengefasst:
45
Esping-Andersen, G
sta: Social Foundations of Postindustrial Economies, Oxford, 1999.
46
Vgl.: Schmid, 2002, S. 85.
47
Schmid, 2002: S. 86.
48
Vgl.: Schmid, 2002, S. 86.
49
Aktive A.-Politik bezieht sich auf den Auf- und Ausbau präventiver Maßnahmen, die
Wachstumshindernisse, Qualifikations- und Mobilitätsengpässe beseitigen und neue Arbeitsplätze
schaffen sollen.
Passive A.-Politik umfasst kompensatorisch-reaktive Aufgaben und Maßnahmen wie z.B. die
Auszahlung des Arbeitslosengeldes. Vgl.:
www.bpb.de/wissen/04331832869169663580989813094740,0,0,Arbeitsmarkt_und_Besch%E4ftigu
ngspolitik.html, am: 16.11.04.

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
20
Abbildung 2-3: Erweiterte Merkmale von Wohlfahrtsstaatsregimen
Liberaler Typ
Konservativer Typ Sozialdemokratischer
Typ
Rolle der Familie
Marginal
Zentral
Marginal
Rolle des Marktes
Zentral
Mittel
Marginal
Rolle des Staates
Marginal
Subsidiär
Maximal
Wohlfahrtsstaat:
Modus der Solidarität
Individuell Verwandtschaft,
Korporatismus,
Etatismus
Universell
Ort der Solidarität
Markt
Familie
Staat
Dekommodifizierung
Minimal
Hoch (für die
Kernklientel)
Maximal
Beispiel
Neuseeland Deutschland Schweden
Quelle: Schmid, 2002, S. 87, in veränderter Darstellung
Kritik an der Typologisierung
Auch die Arbeit von Esping-Andersen blieb nicht ohne kritische Anmerkungen. Diane
Sainbury führt einige kritische Anmerkungen zur grundsätzlichen Methode der
Typologisierung an.
50
Ihr zufolge sei eine Typologisierung für eine vergleichende
Analyse wenig oder nur begrenzt geeignet, weil zunächst die Beziehungen zwischen den
einzelnen Dimensionen nicht empirisch konsistent seien. Zudem würden sich wichtige
Fälle dem Klassifikationsschema entziehen (worauf allerdings Esping-Andersen selbst
bereits hingewiesen hat, vgl. oben). Mit einer Kategorisierung würde man zudem nur eine
Liste von Eigenschaften anlegen, jedoch keine Erklärungen liefern. Darüber hinaus sei die
Methode der Typologisierung zu statisch angelegt. Daher könne das Ausmaß und die
Richtung von Wandlungsprozessen nicht erfasst werden.
51
50
Sainsbury, Diane: Analysing Welfare State Variations: The Merits and Limitations of Model Based on
the Residual-Institutional Distinction. In: Scandinavian Political Studies 14 (1) 1991, S. 1-30.
51
Vgl.: Schmid, 2002, S. 90.

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
21
Jürgen Kohl weist auf die Schwierigkeit der ,,empirischen Identifizierung"
52
von Ländern
als einen der drei unterschiedlichen Typen hin. So sei bei einigen OECD-Ländern eine
eindeutige Identifizierung nicht zweifelsfrei möglich (darauf geht Esping-Andersen
allerdings selbst ebenfalls ein
53
). Die Grenzen zwischen konservativem und liberalem
Modell würden zudem größten Teils verschwinden, ,,wenn letzteres nicht einfach im
Sinne staatlicher Abstinenz auf dem Feld der Sozialpolitik verstanden, sondern im Sinne
der reformistisch-liberalen Konzeption auch das Prinzip der Sozialversicherung als mit
dem liberalen Modell kompatibel interpretiert wird"
54
. Problematisch sieht Kohl zudem,
dass soziale Sicherungssysteme sich aus vielen Einzelprogrammen zusammensetzen, die
(wie erwähnt) unterschiedlichen Prinzipien folgen können. Daher erscheine die
Möglichkeit fraglich, einen Teil des Sicherungssystems (z.B. den Arbeitsmarkt)
herauszugreifen, um ihn einem der drei Typen zuzuordnen. Auch sei es schwierig, in den
Sicherungssystemen als Ganzes eine sinnvolle Gewichtung vorzunehmen, um ein
dominierendes Element herauszufinden (konzentriert sich also beispielsweise ein Staat
mehr auf die Arbeitsmarktpolitik oder eher auf die Gesundheitspolitik). Und selbst dann
könnte man auf die Schwierigkeit stoßen, dass unterschiedliche Dimensionen
unterschiedlichen Typen zuzuordnen wären.
55
Aber auch jene Kritikpunkte lassen sich mit dem Eingeständnis entkräften, dass es
keinesfalls eine völlige Übereinstimmung von Sozialsystemen und den von Esping-
Andersen gebildeten Typen gibt. Wie erwähnt ist er sich dessen auch bewusst. Seine
Typologisierung ist vielmehr eine Idealvorstellung, ein Idealmodell, dass ,,in seiner
begrifflichen Reinheit (...) nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar [ist]"
56
.
Weitere Kritikpunkte beziehen sich auf die Operationalisierung Esping-Andersens und
seine durchgeführten Korrelations- und Regressionsanalysen, auf die hier jedoch nicht
weiter eingegangen werden soll.
57
Claus Offe stellt kritisch die Frage, ob das Konzept der Dekommodifizierung die gleiche
52
Kohl, Jürgen: Der Wohlfahrtsstaat in vergleichender Perspektive. Anmerkungen zu Esping-Andersen´s
,,Three Worlds of Welfare Capitalism". In. Zeitschrift für Sozialreform, 39. Jahrgang, 1993, S. 67-82,
S. 75.
53
Vgl.: Esping-Andersen, 1990, S. 49.
54
Kohl, 1993, S. 75.
55
Vgl.: Kohl, 1993, S. 76.
56
Weber, Max: Methodologische Schriften, Frankfurt, 1968, S.68.
57
vgl.: Schmid, 2002, S. 89.

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
22
Bedeutung für Akteure in allen drei Regimes hat. Zudem hält er den Wohlfahrtsstaat nicht
nur für ein Ergebnis des Waltens historischer Kräfte, sondern sieht ihn selbst als ein
gestaltendes Instrument auf die soziale Schichtung und als aktive Kraft ,,im Ordnen der
sozialen Beziehungen"
58
. Das bedeutet, dass sich nicht einfach drei Typen von
Wohlfahrtsstaaten gebildet haben, die dann kategorisiert werden können, sondern
vielmehr, dass soziale Bewegungen die Regimes permanent beeinflussen. Die Regimes
selber beeinflussen dann die sozialen Bewegungen, so dass sie sich selbst konsolidieren
und ihre eigenen Wirksamkeitsbedingungen steigern können.
59
Zudem würde man (laut Offe) bei Esping-Andersens Werk den Eindruck gewinnen, dass
ein einmal eingeschlagener Weg hin zu einem bestimmten Regimetyp nicht mehr
verlasssen werden könne. Auch dies sei äußerst fraglich.
Esping-Andersen gehe zudem von einer zu stark rationalistischen Sichtweise aus. Somit
sei der Weg einer Gesellschaft in einen bestimmten Regimetyp ganz rational und bewusst
gegangen worden. Damit aber würde den zweifellos durch die Sozialpolitik gemachten
Fehlern nicht Rechnung getragen. Denn wenn beispielsweise aufgrund von
Informationsdefiziten in der Vergangenheit Fehler
in der Sozialpolitikgemacht worden sind, und diese in der Gegenwart korrigiert werden,
könne man schließlich nicht von einem im Vornherein geplanten Weg in ein bestimmtes
Regime sprechen.
60
Bei aller Kritik muss jedoch festgestellt werden: Das Modell der Typologisierung von
Esping-Andersen bleibt nach aktuellem Stand der Forschung ein ,,Dreh und Angelpunkt
der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung"
61
. Entscheidend an dieser
Herangehensweise ist v.a. die konzeptionelle Offenheit. Denn diese erlaubt es, mehr oder
weniger stark an das Konzept anzuknüpfen oder durch Modifikationen, Ergänzungen oder
Vertiefungen, sich mit komparativer Perspektive den Wohlfahrtsstaaten zu widmen.
Dieser Vorteil ist letztendlich ausschlaggebend dafür, dass dieses Konzept in dieser
58
Offe, Claus: Zur Typologie von sozialen Regimes in: Zeitschrift für Sozialreform, 39 Jahrgang, 1993
S.83-86, S.84.
59
Vgl.: Offe,1993: S. 84
60
Vgl.: Offe,1993: S. 85
61
Schmid, 2002, S. 91

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
23
Arbeit angewendet werden soll.
2.3 Akteursanalyse und Typologisierung als eigener Ansatz
2.3.1 Bisher gewonnene Erkenntnisse
Ein Vergleich der Wohlfahrtsstaaten von Deutschland, Schweden und Neuseeland ist
zwar nicht Ziel dieser Arbeit, weshalb die bisher erläuterten Zusammenhänge von
Wohlfahrtsstaatvergleichen nicht direkt auf diese Arbeit übertragbar sind. Um aber
fundierte Aussagen über die Reformfähigkeit Deutschlands treffen zu können, wird diese
Arbeit einen Vergleich der Arbeitsmärkte als einen Teil des Wohlfahrtsstaates
durchführen. Dafür sind die zuvor erläuterten theoretischen Zusammenhänge erforderlich.
Die Theorien des sozialwissenschaftlichen Vergleichens sind ein weitgefasstes Feld.
Indem der Wohlfahrtsstaatvergleich vorgestellt wurde, sollte der Blick für den
theoretischen Hintergrund des Vergleichs im Bereich der Sozialpolitik (von der ein
Teilbereich die Arbeitmarktpolitik ist) geschärft werden.
Es zeigt sich, dass man sich dem Wohlfahrtsstaatvergleich im Allgemeinen aus höchst
unterschiedlichen Perspektiven nähern kann. Die quantitative Methode nutzt verstärkt
statistisches Datenmaterial, um einen Vergleich durchzuführen. Die historisch-
vergleichende Perspektive versucht, über historische Phänomene an Erkenntnisse der
Gegenwart zu gelangen. Die institutionelle Methode erweist sich als eine Art Mittelweg
der beiden erstgenannten Methoden und wird vorwiegend bei einem Vergleich des
internationalen Sozial- oder Arbeitsrechts angewendet. Esping-Andersens typologischer
Vergleich bildet drei unterschiedliche Grundtypen von Wohlfahrtsstaaten mit
unterschiedlichen Eigenschaften. Damit wird eine Kategorisierung möglich. Diese
Methode ist als wichtigste Herangehensweise der aktuellen vergleichenden
Wohlfahrtsstaatforschung einzustufen. Daher war sie auch ausführlicher zu behandeln.
2.3.2 Darstellung des eigenen Ansatzes
Wie jedoch unter 2.2 einleitend bereits erläutert, spielen insbesondere die nationalen
Politikfelder und Institutionen bei einem wissenschaftlichen Vergleich eine bedeutende

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
24
Rolle. Hilfreich erscheint es deshalb, zunächst eine Analyse der wichtigen Akteure in den
drei Ländern durchzuführen.
Im Gegensatz zu einer Politikfeldanalyse wird sich diese Arbeit nur den für die
Arbeitsmarktpolitik relevanten Akteuren zuwenden (Akteursanalyse, zur genaueren
Durchführung einer Politikfeldanalyse vgl. Kapitel A im Anhang). Bei der
Akteursanalyse ist zu beachten, dass bei einer solchen Herangehensweise Teile der bereits
oben dargestellten Methoden des Wohlfahrtsstaatvergleichs in die Untersuchung mit
einfließen.
So wird man sicher nicht auf die Verwendung von statistischem Datenmaterial verzichten
können (gerade das IAB oder die OECD liefern interessante Datensätze)
.
Auch kann ein
Blick in die historische Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten hilfreich sein, um aufgrund
dieser Gegebenheiten aktuelle Reaktionen beteiligter Akteure zu verstehen. Damit ist
auch der Bereich des historischen Vergleiches berührt. Daher ist bei dieser Arbeit eine
strikte Trennung der vorgestellten Ansätze bzw. deren Methoden nicht gewählt worden.
Diese Arbeit wird sich bei der Akteursanalyse schwerpunktmäßig auf den Bereich der
Politics konzentrieren. Dabei werden die wichtigen Akteure der Arbeitsmarktpolitik,
nämlich die politischen Institutionen, die Interessenverbänden, die Parteien und die
Medien untersucht. Daneben greift die Arbeit mit der Bildungspolitik als entscheidendes
Politikfeld zur Bildung von Humankapital auch einen Teilbereich aus der Policy heraus.
Wenn bei der Analyse auf rechtliche Rahmenbedingungen eingegangen wird, ist auch die
Ebene der Polity berührt.
Es soll also für die vorliegende Arbeit folgendes theoretisches Konzept gelten:
1. Die Länder Deutschland, Schweden und Neuseeland werden einer Akteursanalyse
unterzogen. Mit der Konzentration auf das Institutionengefüge (Polity) soll der
von Schmid erwähnten nationalen Spezifik Rechnung getragen werden.
2. Abweichend von Schmid wird jedoch besonders auf den Bereich ,,Politics"
(Interessenverbände, Parteien) einzugehen sein. Und mit der Betrachtung der
Bildungspolitik wird auch der Analysebereich der Policy berührt.
3. Durch einen Blick in die historische Entwicklung der Arbeitsmärkte lässt sich die
Notwendigkeit einer Reformmaßnahme gut herausarbeiten. Auch kann die
Verwendung von Datenmaterial Hilfe zur Veranschaulichung liefern (die Arbeit
wird sich also auch Werkzeuge des historischen Vergleichs und des quantitativen

I WOHLFAHRTSTAATVERGLEICH UND AKTEURSANALYSE
Der Wohlfahrtstaatvergleich
25
Vergleichs zu Nutze machen).
4. Damit wird sich eine Aussage über die Reformfähigkeiten der Länder treffen
lassen und Deutschland diesbezüglich international einzuordnen sein.
Die Konzentration auf drei zu untersuchende Fälle bietet den Vorteil, speziell bei der
Verwendung von Datenmaterial die Übersicht zu bewahren. Damit wird auch einer
Forderung von Fritz Scharpf Rechnung getragen, der auf die Gefahr der
Unübersichtlichkeit bei einer zu großen Fallzahl hinweist.
62
62
Vgl.: Scharpf, Fritz: Institutions in Comparative Policy Research, MPIfG Working Paper 00/3, 2000
zitiert aus: Behrens, S. 213.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2005
ISBN (eBook)
9783832498092
ISBN (Paperback)
9783838698090
DOI
10.3239/9783832498092
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Passau – Philosophische Fakultät
Erscheinungsdatum
2006 (September)
Note
1,0
Schlagworte
arbeitsmarkt wohlfahrtsstaat hartz reformpolitik
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Titel: Die Fähigkeit Deutschlands zu sozialen Reformen
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