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Zum Problem der deutsch-deutschen Einheit

Eine literarisch-historische Perspektive

©2005 Doktorarbeit / Dissertation 640 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Der Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs [1989] wurde global als Liquidierung des Kalten Krieges gefeiert und von Historikern weltweit als das “Schicksalsjahr” der neueren deutschen Geschichte und das Ende einer markanten historischen Epoche Europas identifiziert.
Trotz der euphorischen Reaktion auf den Mauerfall und der teilweise utopischen Visionen von einem deutschen Neubeginn gab es auch zahlreiche Stimmen, die von einer unsichtbaren Mauer, einer ‘Mauer im Kopf’, warnten, deren Abbau nur langfristig möglich wäre, wenn überhaupt.
Während die Medien ein oberflächlich-einseitiges, sensationalisiertes und politisch-ideologisch motiviertes Bild der historischen Situation der Wende zeichneten, vermittelten literarische Werke in Ost und West Einblicke in die komplex-vielschichtige Tiefenstruktur der historisch und gesellschaftlich bedingten Spannungen, die nach der anfangs euphorischen Reaktion auf die für die meisten Deutschen, Ost und West, unerwartete deutsch-deutsche Vereinigung rasch Gestalt annahmen, obwohl es von allem Anfang auch Zweifler gab, denen es schwerfiel, an das “Glück” der Deutschen zu glauben. So vertraut Thomas Rosenlöcher seinem Tagebuch am 9. November [1989] angesichts der Maueröffnung betroffen “Sprachlosigkeit” an und Klaus Schlesinger notiert zum Mauerfall lakonisch: “ […] selbst in der Nacht, als die Mauer fiel und sich die halbe Stadt in den Armen lag, bin ich […] ins K.O.B. gegangen, habe schnell drei Bier getrunken und mich ins Bett gelegt. Und das Feuerwerk zu Sylvester, in dem unser Brandenburger Tor sich der Welt in so flammendem Licht zeigte, habe ich, rein zufällig, in der Auslage eines Videoladens in Paris gesehen.” Die am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz Versammelten, unter ihnen Christa Wolf, Christoph Hein, Stefan Heym, wiederum sahen sich an der Schwelle eines von klassischen Humanitätsidealen und von der Forderung der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit getragenem Sozialismus, ein naiver politischer Optimismus, an den auch Günter Grass glaubte und sich verpflichtet fühlte. Wolfgang Emmerich bringt die beherrschende Stimmungslage unter den Intellektuellen auf die treffende Kurzformel: “Hypertrophie, Utopie und Melancholie.”
Die politische Entwicklung zwischen November 1989 und Juli 1990 führte jedoch schnell zu einem radikalen Stimmungsumschwung und zu verstärktem Zweifel an der ersehnten Verwirklichung der inneren […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Hans Dieter von Senff
Zum Problem der deutsch-deutschen Einheit
Eine literarisch-historische Perspektive
ISBN-10: 3-8324-9789-7
ISBN-13: 978-3-8324-9789-7
Druck Diplomica® GmbH, Hamburg, 2006
Zugl. University of Newcastle, Callaghan, Australien, Dissertation / Doktorarbeit, 2005
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© Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2006
Printed in Germany



ii
I hereby certify that the work embodied in
this thesis is the result of original research
and has not been submitted for a higher degree
to any other University or Institution.
[Signed
]: ------------------------------------------

iv
INHALTSVERZEICHNIS
ABSTRACT... Seite vii
VORWORT ... Seite ix
EINLEITUNG ... ............................... .............................................. Seite xii
TEIL I: ANMERKUNGEN ZUR FORSCHUNGSLAGE
Anmerkungen zur Forschungslage ... Seite 2
TEIL II: BRD ­ DDR: EIN SOZIALGESCHICHTLICHER ÜBERBLICK 1945-2005
1. Eine Welt in Trümmern: Deutschlands Neubeginn nach 1945 ... Seite 26
2. Internationales Ringen: BRD-DDR ... Seite 35
3. Antifaschistischer Schutzwall: 13.August1961 ... Seite 40
4. Wiederaufbau und Modernisierung in beiden deutschen Staaten Seite 45
5. Kalter Krieg - heißer Frieden ... Seite 48
6. Regulierte Koexistenz? ... .................................... Seite 52
7. Neutronenbombe und `Krieg der Sterne' ... Seite 58
8. Demokratische Wertverschiebungen ... Seite 61
9. Wir wollen einig sein, ein Volk von Brüdern? ... Seite 64
10. Einheit, die ich meine! ... Seite 66
11. Kolonie im eigenen Land? ... Seite 67
12. Teure Träume ... Seite 69
TEIL III: KULTURGESCHICHTLICHE PERSPEKTIVEN
1. Geschichtliche Grundlage der humanistischen DDR-Kultur ... Seite 73
2. Zwei Kulturen ­ eine Nation! ... Seite 106
3. Zur Kulturpolitik der DDR 1945-1989 ... Seite 108
4. Absage an die Faschistische Vergangenheit: ... Seite 130
5. Vom Kindergarten zur Oberschule: Erziehungssystem DDR Seite 140
6. Von der Wiege bis zum Grabe: Didaktische Literatur der DDRSeite 156
7. Erziehungsliteratur als Propaganda? ... Seite 172
8. Der Bitterfelder Weg oder Stefan Heyms
Ein sehr guter zweiter Mann ...
Seite 201
9. Polarisierung der Ostdeutschen Identität ... Seite 207
10. Ostdeutsche Problemstatistik nach K. P. Schöppner ... Seite 218
TEIL IV: OSTALGIE ALS KASSENSCHLAGER
1. Good bye, Lenin [Film]: `Unrechtsstaat DDR': Stereotypen und
Klischees ... Seite 240

v
2. Kritische Anmerkungen zur tendenziösen Verflachung der Ostalgie-
Debatte ... Seite 247
TEIL V: DER DEUTSCH-DEUTSCHE LITERATURSTREIT
Die großeTreibjagd auf DDR-Schriftsteller ... Seite 256
TEIL VI: ROLF HOCHHUTH
WESSIS IN WEIMAR:
EIN WEISSBUCH ZUR
WIEDERVEREINIGUNG DEUTSCHLANDS?
1. Hochhuths Sonderstellung im Deutschen Nachkriegstheater ... Seite 280
2. Dramatisches Kunstwerk und Dokument? ... Seite 292
3. Hochhuths dramentechnische Signatur: Fakten und Fiktionen Seite 308
4. Grundsatzgespräch zur Treuhand-Problematik ... Seite 314
5. Vom Dokument zur theatralischen Wirklichkeitskonstruktion .. Seite 322
6. Schatten der Vergangenheit:
Westdeutscher Besuch in Weimar ... Seite 329
7. Reflexionen zur Problematik der `Systemnähe' ... Seite 345
8. Treuhands Schatten über dem Potsdamer Platz ... Seite 353
9. Zur Problematik der Mauergrundstücke ... Seite 361
10. Landsleute ­ Todfeinde ... Seite 367
11. Bismarck und die Deutsche Einheit
oder Bruderzwist in Deutschland ... Seite 379
12. Von der Freiheit der `Abgewickelten'
oder Waschsalon Revaler Straße ... Seite 386
13. Brandstiftung als Widerstand und Selbstvernichtung ... Seite 397
TEIL VII: GÜNTER GRASS' WENDEROMAN
EIN WEITES FELD
1. Streit und Widerspruch: Der Fall Fonty ... Seite 416

vi
2. Marthas Hochzeit und H. Kohls Trugbild
`blühender Landschaften' ... Seite 427
3. Im Dienst der Stasi: Theo Wuttke [Fonty]
und Hoftaller [Tallhover] ... Seite 455
4. Die Treuhand: Ein menschenverachtendes Instrument ... Seite 468
TEIL VIII: CHRISTA WOLFS
KASSANDRA
Kassandras Blick in den Abgrund ... Seite 493
TEIL IX: Thomas Brussigs
HELDEN WIE WIR
Chronist der untergegangenen DDR ... Seite 505
TEIL X: ANNA FUNDER
STASILAND
Anna in Stasiland oder das Wunderland stereotyper Reduktionen Seite 519
ZUSAMMENFASSUNG ... Seite 547
ABKÜRZUNGEN:
A. Primär­ und Sekundärliteratur ... Seite 556
B. Allgemeine [Internationale] Abkürzungen ... Seite 557
QUELLENNACHWEIS:
1. Monographien und Zeitschriften ... Seite 560
2. Zusätzliche Bücherliste ohne Autorenangabe ... Seite 606
3. Zeitungen ... Seite 606
*

vii
Abstract
W
hile the fall of the Berlin Wall and the subsequent German reunification has conjured up utopian
visions of a bright future for the long separated nation, invisible walls and barriers became
painfully obvious almost immediately and have overshadowed the `new Germany' ever since.
Regrettably, the majority of the vast number of studies published on the issue of German
reunification identify the former GDR as the principal source of the problem which is grossly
misleading and unfair.
In an attempt to highlight the complexity of the problems underlying the unification process, this
thesis examines the role of literature, both East and West, as defender of public causes outside
official political institutions and interests and its contribution towards an intellectual debate and
critical enlightenment in the context of the issues involved in the present condition of the former
GDR and its misrepresentation in the mass media and mainstream publications. The study is very
timely, as surprisingly little has been written on this specific topic.
The first half of the thesis [Sections I-III] attempts to counter [subvert] the reductive, cliché-ridden,
black-and-white representation of GDR's role in the reunification process and its consequences by
examining the issue in the context of historical, political, social and cultural traditions in Germany
and in doing so to open up new insights and perspectives frequently [wittingly or unwittingly]
ignored in mainstream studies on this matter. Fundamental questions concerning systemic cultural
prejudice and political and social misrepresentation of the former GDR in presently available
research material [up to 2005] are addressed in some considerable detail [though selective, due to
the enormous amount of publications] in Section I of the thesis. The extensive reading involved
was helpful, insofar as it sharpened the critical sensitivity for the widespread distortions and

viii
misunderstandings of German reunification due to ideological inflexibility, cultural insensibility
and materialistic intolerance. Various aspects of this problem, though not in a systematic form, are
part of the critique of the vilification and denigration of the former GDR articulated by the authors
in the literary texts selected for examination in the thesis.
In the second half of the thesis [Sections IV-X] specific literary issues of relevance are studied and
exemplary texts of such writers as Hochhuth, Grass, Wolf, Brussig, Töteberg and Funder are
systematically analysed with regard to the reunification issue in terms of theme, content and
argument. Throughout this section, close textual analysis is focused on the literary artist as a
detached and critical participant in the official social, cultural and political debate of post-1989
Germany, predominantly in support of the politically and economically marginalized and
disadvantaged population of the former GDR.
Finally, the key issues explored and the scholarly insights gained in this analysis are summed up
and commented on in a brief concluding statement with particular reference to the significance of
the findings in the arena of mainstream [German] literary scholarship and the role of literature in
society as an instrument of critical enlightenment and social justice.

ix
Vorwort
D
ie vorliegende Arbeit ist das Ergebnis eines langjährigen Interesses für die Geschichte und
Literatur der ehemaligen DDR und die Alltagswelt ihrer Bürger. Gute Beziehungen und Kontakte
mit der Botschaft der DDR in Canberra führten zur Gründung der kulturell sehr aktiven Australien-
DDR-Freundschaftsgesellschaft in Newcastle, die in Zusammenarbeit mit der Botschaft und
anderen Universitäten in NSW und Queensland unter anderem führende Schriftsteller der DDR zu
Gastvorträgen verpflichten konnte.
Ich war viele Jahre lang Mitglied des Geschäftsführenden Komitees der Australien­DDR
Freundschaftsgesellschaft und auch Sekretär des Bruce Childs Memorial Branch der Australien-
DDR Gesellschaft in Newcastle.
Konkrete Anregungen für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der DDR-Literatur und
Kultur kamen schließlich von Lehrveranstaltungen zu diesem Themenkreis und regelmäßigen
Vorführungen von führenden DDR-Filmen im Germanistischen Institut der Universität Newcastle.
Es ist daher kein Zufall, daß ich mich entschloß, die hier vorgelegte Dissertation an der Universität
Newcastle in Angriff zu nehmen und als Teilzeitstudent schließlich abzuschließen, wobei ich von
Prof. Alfred Barthofer als Betreuer [Supervisor] viele Jahre hindurch großzügig unterstützt und
ermutigt wurde. Für seine uneingeschrânkte Hilfsbereitschaft möchte ich ihm an dieser Stelle
meinen Dank aussprechen.
Mein Dank gilt auch der School of Language and Media der Universität Newcastle für die
finanzielle Unterstützung [Reisestipendien], die es mir ermöglichte, an Konferenzen zu DDR-
Themen an der Monash University in Melbourne und an der Humboldt Universität in Berlin [in
Zusammenarbeit mit der Yale University], sowie an der Reading University mit Vorträgen
teilzunehmen. Mein Dank geht auch an die Fernleiheabteilung der Auchmuty Library an der

x
Universität Newcastle für die Hilfe bei der prompten Beschaffung von in Australien schwer
zugänglichen Publikationen.
Mein besonderer Dank gilt nicht zuletzt meiner Frau für ihre moralische Unterstützung und ihre
Toleranz hinsichtlich der vielen Stunden, die ich an Stelle häuslicher Mitarbeit in Bibliotheken und
an der Universität und darüber hinaus an meinem Arbeitsplatz verbrachte. Ohne ihre Hilfe und ihr
Verständnis wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Ihr sei sie daher auch gewidmet.
Hans Dieter von Senff

xi
DAS UNSRE
BREIT LIEGT DAS LAND, IN DESSEN LIED WIE IN PROSPEKTEN
SICH SCHÖNHEIT WEIT GEHÜGELT AUSTRÄGT, GEGEN NORDEN
FLACH,
BESIEDELT, ENG [IN DIESER ZEIT] BIS UNTERS DACH,
WO SICH DIE KINDER EINST VOR VATERS ZORN VERSTECKTEN,
IST KEINE ZUFLUCHT MEHR, NEIN, NICHTS SCHLIESST MEHR
GEHEIM.
SO OFFEN SIND WIR KENNTLICH, ALLSEITS AUSGESTELLT,
DASS JEDER NACHBAR, RINGSUM ALLE WELT
ALS UNGLÜCK TREIBEN SIEHT, WAS UNSRES GLÜCKES KEIM.
WO WIR UNS FINDEN, HAT VERKEHRTE KONJUNKTUR
UNS FETT GEMACHT. DANK, LEID UND KUMMER SATT,
SCHLUG MÄSTEND ELEND AN ALS FREIEN MARKTES KUR;
UND SELBST AUF UNSRE SÜNDEN GAB'S RABATT.
STILL LIEGT NOVEMBERLAND, VERFLUCHT ZUM TUGENDHAFTEN
FLEISS,
IN ANGST VORM JÜNGSTGERICHT, DEM ÜBERHÖHTEN PREIS.
GÜNTER GRASS: NOVEMBERLAND

xii
Einleitung
D
er Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs [1989] wurde global als Liquidierung des
Kalten Krieges gefeiert und von Historikern weltweit als das "Schicksalsjahr" der neueren
deutschen Geschichte und das Ende einer markanten historischen Epoche Europas identifiziert.
Trotz der euphorischen Reaktion auf den Mauerfall und der teilweise utopischen Visionen von
einem deutschen Neubeginn gab es auch zahlreiche Stimmen, die von einer unsichtbaren Mauer,
einer `Mauer im Kopf', warnten, deren Abbau nur langfristig möglich wäre, wenn überhaupt.
Reiner Kunzes Gedicht "Die Mauer" sei hier beispielhaft dafür zitiert:
Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht,
wie hoch sie ist
in uns
Wir hatten uns gewöhnt
an ihren horizont
Und an die windstille
In ihrem schatten warfen
alle keinen schatten
Nun stehen wir entblößt
jeder entschuldigung
[Kunze 1991:780]
Während die Medien ein oberflächlich-einseitiges, sensationalisiertes und politisch-ideologisch
motiviertes Bild der historischen Situation der Wende zeichneten, vermittelten literarische Werke
in Ost und West Einblicke in die komplex-vielschichtige Tiefenstruktur der historisch und
gesellschaftlich bedingten Spannungen, die nach der anfangs euphorischen Reaktion auf die für die
meisten Deutschen, Ost und West, unerwartete deutsch-deutsche Vereinigung rasch Gestalt
annahmen, obwohl es von allem Anfang auch Zweifler gab, denen es schwerfiel, an das "Glück"
der Deutschen zu glauben. [Schröder 1994:9]. So vertraut Thomas Rosenlöcher seinem Tagebuch
am 9. November [1989] angesichts der Maueröffnung betroffen "Sprachlosigkeit" an [Koopmann

xiii
2000:136] und Klaus Schlesinger notiert zum Mauerfall lakonisch: " [...] selbst in der Nacht, als
die Mauer fiel und sich die halbe Stadt in den Armen lag, bin ich [...] ins K.O.B. gegangen, habe
schnell drei Bier getrunken und mich ins Bett gelegt. Und das Feuerwerk zu Sylvester, in dem
unser Brandenburger Tor sich der Welt in so flammendem Licht zeigte, habe ich, rein zufällig, in
der Auslage eines Videoladens in Paris gesehen." [Koopmann 2000:136] Die am 4. November
1989 auf dem Berliner Alexanderplatz Versammelten, unter ihnen Christa Wolf, Christoph Hein,
Stefan Heym, wiederum sahen sich an der Schwelle eines von klassischen Humanitätsidealen und
von der Forderung der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
getragenem Sozialismus, ein naiver politischer Optimismus, an den auch Günter Grass glaubte und
sich verpflichtet fühlte. Wolfgang Emmerich bringt die beherrschende Stimmungslage unter den
Intellektuellen auf die treffende Kurzformel: "Hypertrophie, Utopie und Melancholie." [Emmerich
1996:436]
Die politische Entwicklung zwischen November 1989 und Juli 1990 führte jedoch schnell zu
einem radikalen Stimmungsumschwung und zu verstärktem Zweifel an der ersehnten
Verwirklichung der inneren Einheit zwischen den alten und neuen Ländern, der sich nicht zuletzt
durch wirtschaftliche und soziale Probleme zusehends verstärkte.
Durch die Dominanz der bundesdeutschen Medien wurde überdies eine deutlich westlich
ausgerichtetete Perspektive in der Darstellung dieser für ganz Deutschland prekären Situation und
ihrer Ursachen erkennbar, die sich mit den oft opportunistischen Einschätzungen von westlichen
Politikern und Interessensgruppen zu decken schien, wobei die ebenfalls weitverbreitete
populistisch motivierte, negative Kritik an den neuen Bundesländern und ihrem historisch-
politischen Hintergrund an Virulenz zunahm und wesentlich zur Problematisierung der
sogenannten Wiedervereinigung Deutschlands beitrug.
Es ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, daß Günter Grass wiederholt betont, daß es

xiv
sich bei dieser häufig verwendeten Bezeichnung eigentlich um einen "sinnentleerten Begriff" ohne
historische Substanz und Glaubwürdigkeit handle [Grass 1990:93,104], der jedoch von "politischen
Falschmünzern" gezielt als zugkräftiges Versprechen vermarktet werde: "Es gibt immer noch
Roßtäuscher, die als Politiker solcher Hybris das Wort reden. Wir haben erleben müssen, wie über
ein Jahrzehnt lang und eigentlich bis heutzutage jedem Deutschen, dessen Wählerstimme
begehrenswert erschien, die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit versprochen wurde. Wohl-
gemerkt: in den Grenzen von 1937 und das in Frieden und Freiheit." [Grass 1990:92]
Im Zusammenhang mit der radikalen Identifizierung der Vorstellung von der deutschen
Wiedervereinigung als "sinnentleerter Begriff", "Wählerfalle", "Surrogat" und von den Medien
["Haus Springer"] vermarktete "gesamtdeutsche Heilslehre" [Grass 1990:92-93] stellt Grass dem
Politiker den Schriftsteller und Autor als politisch gefährdeten Seher gegenüber, dessen Warnungen
man, wie in Christa Wolfs Kassandra, nicht ernstnimmt und Glauben schenkt. [Grass 1990:46]
Im selben Aufsatz von der "kommunizierenden Mehrzahl" grenzt Grass den Schriftsteller und
Dichter auch vom faktenbewußten Journalisten ab, dem die Gabe des Dichters fehlt, größere
politische und historische Zusammenhänge zu erfassen: "Wenn ich es auch gewohnt bin, dem
Mißverständnis, ja, der bewußten Fehlinterpretation als, mittlerweile, vertrautem Weggenossen zu
begegnen, möchte ich Sie dennoch bitten, Ihre eigene Position, so oft Sie als Journalist faktisch
recht haben mögen, nun im größeren Zusammenhang, dem mangelnden Selbstverständnis der
Deutschen gegenüber, zu prüfen." [Grass 1990:106-107].
In der hier kurz umrissenen Vorstellung des Dichters in Politik und Gesellschaft liegt auch ein
zentraler Fragenbereich der vorliegenden Untersuchung hinsichtlich der besonderen Rolle des
Schriftstellers im Problemkontext der deutsch-deutschen Vereinigung, wobei der Spannung
zwischen der tagesbezogenen Faktizität der Massenmedien und dem dichterisch-seherischen
Erfassen größerer historischer und politischer Zusammenhänge breiter Raum eingeräumt wird. In

xv
direktem Zusammenhang damit steht die gesellschaftliche Bedeutung der Literatur als Instrument
zur Erhellung und Verteidigung des Menschlichen oder was Christa Wolf in ihrer Büchner-Preis-
Rede 1980 den "moralischen Mut des Autors" nennt, wenngleich gerade in dieser Hinsicht ihre
Glaubwürdigkeit von der Kritik infrage gestellt wurde: "Die Sprache der Literatur scheint es
merkwürdigerweise zu sein, die der Wirklichkeit des Menschen heute am nächsten kommt, die den
Menschen am besten kennt, wie immer Statistiken, Zahlenspiegel, Normierungs-und
Leistungstabellen dagegen aussehen mögen. Vielleicht weil immer moralischer Mut des Autors ­
der zur Selbsterkenntnis ­ in Literatur eingeht." [Wolf 1980:12-13]
Es ist wohl kaum ein Zufall, daß sich Christa Wolfs Literaturverständnis mit diesbezüglichen
Äußerungen von Günter Grass nahezu deckt, was aus dem obigen Zitat deutlich hervorgeht. [Grass
1990:106-107] Volker Braun präzisiert in seiner "Vorrede zu Günter Grassens >>Rede über den
Standort<< [1997] die Sonderstellung der Literatur im Deutschland der Wendezeit noch weiter,
wenn er die Verpflichtung zur Wahrheit als oberste Aufgabe hervorhebt: ,,Das, was den Politikern
oft unfaßbar und im Wege ist, hat das Interesse der Literatur, es wahrzunehmen macht ihre Würde
aus und ist ihr niedriges Amt. Aus diesem Interesse zieht sie ihre sinnliche und subversive Kraft. In
den Zeiten der Zerrbilder und käuflichen Lügen; der Nachrichtenfälscher Born erklärte vor Gericht:
niemand habe verlangt, "daß es die Wahrheit ist". Die Nachrichtenkäufer nicht, der konservative
Brodem, den sie in Deutschland verbreiten, ist selber eine Fälschung. Eine Fälschung der
Geschichte, eine Leugnung der Alternativen, eine Löschung von Schillers schwieriger Hoffnung:
"zu was Besserem sind wir geboren"; eine Fälschung, die wieder fähig ist, Geschichte zu machen.
"Es geht darum", sagt Günter Grass, "wie man widerständig bleibt in Situationen, die keine
Hoffnung verheißen. Da haben Sie das ganze Dilemma unserer Arbeit." [Braun 2003:210]
Als Gegenspieler der Literatur wird von den zwei bedeutendsten in der vorliegenden Arbeit
behandelten Schriftstellern, nämlich Günter Grass und Rolf Hochhuth, der von politischen und

xvi
wirtschaftlichen Interessen manipulierte Journalismus der Massenmedien identifiziert. Hans-Dieter
Schütt macht ebenfalls auf die nicht genügend beachtete Tatsache aufmerksam, daß in den
westlichen Massenmedien, sei es im Fernsehen, Rundfunk oder Zeitungswesen, ein gezielter
Wahrheitsabbau praktiziert werde, den man jedoch lange Zeit gewohnt war, dem sozialistischen
DDR-Regime vorzuwerfen: "Ein gründlich recherchierender Journalismus funktioniert nicht mehr,
wo Quotengefährdung, Drohungen von Anzeigenkunden oder anderer "Druck einer entfesselten
Wirtschaftskraft" jeden Chefredakteur in just jene Feigheiten und Verdächtigungen treibe, die der
Westen einst überheblich und in scheinbarer moralischer Unanfechtbarkeit als Signum der DDR-
Diktatur geißelte." [Schütt 2003:219] In der verpflichtenden Aufgabe des Dichters und
Schriftstellers zur unabhängigen Wahrheitssuche in einem Labyrinth von Lügen und Fälschungen
wird zwangsläufig auch ein Schlüsselaspekt der komplexen Problematik der deutsch-deutschen
Vereinigung sichtbar, die in der negativen Darstellung der ehemaligen DDR eine durchgehende
Konstante bildet, welche im Kalten Krieg und in der medialen Verzerrung und Verfälschung der
DDR-Wirklichkeit ihre Grundlage hat und bis in die jüngste Vergangenheit nicht zuletzt auch in
der Primär-und Sekundärliteratur ihren Niederschlag gefunden hat.
Problematisch ist auch der nicht seltene Versuch, das Jahr 1945 als "Stunde Null" zu markieren
und die "Deutsche Frage" in ihrer Komplexität und Folgenschwere [Verheyen 1999:1-5] mehr oder
weniger auf die politischen Verhältnisse zwischen 1945 und 1989 [Fall der Berliner Mauer], bzw.
September 1990 [Abschluß des Zwei-plus-Vier-Vertrages] zu begrenzen, weil dadurch die für
beide Teile Deutschlands so zentrale Frage nach der faschistischen Vergangenheit übergangen
wird. [Schlant 1999]
Gerade dieser Aspekt, der, wie in der vorliegenden Untersuchung dokumentiert werden soll,
nach Robert Weninger zwar "die ideologische Zentralachse der deutsch[sprachig]en
Literaturgeschichte" darstellt [Weninger 2004:234-235], darüber hinaus aber auch einen politisch-

xvii
ideologischen Eckpfeiler der ehemaligen DDR-Gesellschaft, wenn auch in der jüngsten Zeit von
der Kritik bestritten [Kupferberg 2002; Bloch 2001:187-222; Dinter 1991] und nicht zuletzt im
deutschen Vereinigungsprozeß schlechthin. Eng verbunden damit ist natürlich auch die Rolle von
Kultur [Literatur], Politik, Wirtschaft und sozialer Bedingtheit in der Identitätskonstruktion in den
über Jahrzehnte hin gespaltenen Teilen Deutschlands und die daraus erwachsenen Folgen und
Probleme im Deutschland nach der Wiedervereinigung, für die sich die Literatur als ein
aufschlußreicher Spiegel erweist. Was jedoch in der literaturwissenschaftlichen
Auseinandersetzung mit dieser Zeit allzuoft geflissentlich übersehen wird, ist der Umstand, daß es
sich meist um politisch-ideologisch gebaute Spiegel handelte, unter denen insbesonders die im
Westen propagierte DDR-Wirklichkeit litt, sofern sie überhaupt gezeigt wurde, was Wolfgang
Emmerich folgendermaßen präzisiert: "In den 50er Jahren behauptete die konservative
Literaturkritik ohne Einschränkung die Einheit der deutschen Literatur, und damit war die freie
Literatur des Westens gemeint, der man allenfalls einige kritische und niveauvolle Schriftsteller aus
der DDR wie Peter Huchel zugesellte. Nicht einmal Bertolt Brecht, Anna Seghers und Arnold
Zweig waren anerkannt." [Emmerich 1996:11] Emmerichs kurzer historischer Überblick über den
Status der DDR-Literatur in der BRD von der Zeit des Kalten Krieges bis zur Wende geht aber nur
andeutungsweise auf die negativen Verzerrungen ein, die von der DDR im Westen gezielt in
Umlauf gebracht wurden, in der Primärliteratur und ihrer Rezeption in der Sekundärliteratur.
[Emmerich 1996:11-13]
Mit der Wende sieht Emmerich auch einen bemerkenswerten Umschwung in der Rezeption von
ehemaligen DDR-Autoren im neuen Deutschland: "War es bis zur Wende 1989/90 üblich, der
Literatur aus der DDR einen großzügigen Bonus einzuräumen, sofern sie auch nur Spurenelemente
der Kritik und des Widerspruchs erkennen ließ, so ist seither das geistige Klima gekippt.

xviii
"Gesinnungsästhetik", ja: "Gesinnungskitsch", "Stillhalteliteratur" und Literatur als "Sedativ"
hießen z.B. die Stichwörter der Anklage. Die Autoren seien "Staatsdichter" gewesen und hätten ihr
Verwachsensein mit den autoritären Strukturen nicht einmal mehr gemerkt, so wurde behauptet. Sie
seien an einem utopischen Konzept klebengeblieben und hätten dessen totalitäre Voraussetzung nur
allzu gern übersehen." [Emmerich 1996:13-14] Diese vom rechtskonservativen politischen Lager
[Springerpresse] durch ideologische Vorurteile und ausgeleierte Denkschablonen gekennzeichnete
"Treibjagd" auf Christa Wolf, stellvertretend für ehemalige "systemnahe" DDR-Autoren, und
westdeutsche "Linksintellektuelle" wie Günter Grass und Rolf Hochhuth erreichte ihren Höhepunkt
im vielzitierten deutsch-deutschen Literaturstreit und in der Kontroverse um Günter Grass'
Wenderoman Ein weites Feld [Negt 1996] und seine Laudatio auf Yasar Kemal in der Paulskirche.
[Bissinger 1998]
Die Intensität und Breite der Kontroverse verweist nicht nur auf die Problematik der "als
gesamtdeutsch verkauften Literatur" [Koopmann 2000:157], sondern auch auf die viel
schwerwiegendere Problematik einer wachsenden Entfremdung und dem tief im kollektiven
Unterbewußtsein liegenden Gefühl gegenseitiger geistiger Irritation und Abneigung, die letztlich
nicht durch "Einheit", sondern "Einigkeit" im Grass'schen Sinne überwunden werden kann:
"Einigkeit, europäische wie deutsche, setzt nicht Einheit voraus. Deutschland ist nur zwangsweise,
also immer zu seinem Schaden, eine Einheit gewesen. Denn die Einheit ist eine Idee, die wider den
Menschen gesetzt ist; sie schmälert die Freiheit. Einigkeit verlangt den freien Entschluß der
Vielzahl." [Grass 1990c:106]. Was die vom Westen wegen ihrer geistig-intellektuellen [keineswegs
kritiklosen] Affinität zur DDR ins Fadenkreuz verbaler Aggression geratenen Autoren verbindet, ist
nach Christa Wolf eine "Vereinigung im Geist radikaldemokratischen Denkens", dem sich
Schriftsteller wie Hölderlin, Büchner, Tucholsky, Böll, Fried, Peter Weiss, Grass, Walter Jens [und

xix
Rolf Hochhuth] in ihren Werken zeitlebens verpflichtet gefühlt haben und der auch sie sich
furchtlos zugehörig fühlt. [Wolf 1990c:160]
Es besteht kein Zweifel, daß die hier angesprochene utopische Vision von einem
"demokratischen Sozialismus", für den sich Günter Grass in seinem Wenderoman Ein weites Feld
wiederholt ausspricht, durch die realsozialistische Realität des DDR-Regimes zu Schaden
gekommen ist. Ebenso wichtig war aber auch die jahrzehntelange, negative westliche Propaganda
in der Rhetorik des Kalten Krieges, die auch im Literaturstreit unterschwellig mitwirkte, obwohl an
der Oberfläche "systemnahes" Mitläufertum, Privilegienbedürfnis und Stasiverwicklung
medienwirksam als primäre Zielbereiche der Kritik vermarktet wurden, was beim sogenannten
Literaturstreit auf eine jenseits der Literatur liegende unterschwellige Bruchlinie verweist, deren
Bedeutung nicht unterbewertet werden darf. Im "Tribunal"-Charakter und dem "An-den-Pranger-
Stellen" ostdeutscher Autoren sieht Stefan Heym nicht nur sehr persönliche Angriffe auf einzelne
Schriftsteller, sondern auf die DDR-Kultur schlechthin und darüber hinaus auf das durch die
wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen geschwächte und verunsicherte
"Selbstbewußtsein" der ehemaligen DDR-Bürger [Heym 1996:48], was bei einer
Arbeitslosenstatistik von zwanzig Prozent [März 2005] nicht überraschen darf. [Hall 2005] Bei der
hier untersuchten Literatur handelt es sich um beispielhafte Texte des bewußten Widerstands gegen
westdeutsche Versuche, sozialistische Traditionen und Wertvorstellungen abzubauen und durch
westliche zu ersetzen, was die bereits bestehende Entfremdung zwischen den Menschen der alten
und der neuen Länder nur noch verstärken würde.
Christa Wolf artikuliert diese Angst mit besonders überzeugender Sensibilität und Ergriffenheit
in ihrer Rede am 31. Januar 1990 anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die
Universität Hildesheim:

xx
Aber es könnte sein, daß dieser Prozeß einer Entfremdung sich unter der Oberfläche
massenhafter, äußerer, äußerlicher Annäherung, ja Verbrüderung wider allen Augenschein
sogar noch ausbreitet; dann nämlich, wenn im Zuge des als "Vereinigung", gar
"Wiedervereinigung" beschriebenen schnellen Anschlusses der Deutschen Demokratischen
Republik an die Bundesrepublik Deutschland die Geschichte des einen, dann nicht mehr
existierenden Nachkriegsstaates auf deutschem Boden aus hingebungsvollem Anpassungs-
streben auf der einen, aus Überlegenheits- und Siegesgefühl auf der anderen Seite öffentlich
beschwiegen und in die Menschen zurückgedrängt würde, die sie gemacht, erlebt und erlitten
haben. Käme es jetzt aber nicht auf gegen-seitiges Eingeweihtsein an ­ nicht nur in Politik,
Wirtschaft, Finanzen, Wissenschaft und Umweltzerstörung, sondern auch in die innere
Verfassung des Menschen? [Wolf 1990c:158]
Die kritische Auseinandersetzung mit der Komplexität der hier gestellten Frage und der sie
bestimmenden Gefühlslage innerer Ergriffenheit und Angst im Rahmen der vorangestellten
Überlegungen und Beobachtungen zur literarisch-historischen Problematisierung der deutschen
Wiedervereinigung benützt die umfangreiche zu diesem Thema veröffentlichte wissenschaftliche
[Primär- und Sekundär-] Literatur vornehmlich als thematischen Abgrenzungs- und
Orientierungspunkt. Relevante Einsichten und Erkenntnisse aus der Forschung werden direkt in
den Text aufgenommen und als solche gekennzeichnet; auf Fußnoten im konventionellen Sinne
wird daher verzichtet. Trotz der Fülle des zur Frage der deutschen Wiedervereinigung
veröffentlichten wissenschaftlichen Materials, gibt es keine einschlägigen Arbeiten zu dem hier
behandelten Thema. Ein übersichthafter Kommentar zu thematisch relevanten wissenschaftlichen
Publikationen findet sich im Teil 1 der Untersuchung. In Teil 2-4 wird versucht, die Relevanz
historisch-politischer, soziologischer und kultureller Faktoren im deutschen Vereinigungsprozeß zu
identifizieren, was zu einem vertieften Textverständnis führt. Teil 5 befaßt sich mit dem deutsch-
deutschen Literaturstreit als Manifestation einer sichtbar-unsichtbaren Bruchlinie zwischen den
alten und neuen Ländern. Die Teile 6-10 sind textorientiert und setzten sich kritisch mit
beispielhaften Werken von Rolf Hochhuth, Günter Grass, Christa Wolf, Thomas Brussig und Anna
Funder auseinander, wobei unterschiedliche thematische Akzente gesetzt werden, um der

xxi
Komplexität der Autoren gerecht zu werden. Bei der Bibliografie handelt es sich um eine
Auswahlbibliografie, in der nur benutztes [zitiertes] wissenschaftliches Material angeführt wird.
Abschließend sei noch einmal Christa Wolf aus der oben schon erwähnten Rede an der Universität
Hildesheim zitiert, weil sie mit emotioneller Ergriffenheit und sprachlicher Eleganz die
Problemtiefe der deutschen Wieder-vereinigung mit Seherblick warnend sichtbar macht:
Die rasend fortschreitende Desintegration fast aller bisheriger Bindungen bringt erbitterte
Verfechter ökonomischer und politischer Einzelinteressen auf den Plan, ehe die Gesellschaft
neue Mechanismen sozialer Sicherungen und übergreifender Integrierung entwickeln konnte,
oder eine Immunität gegen Schlagworte aus dem Wirtschaftsleben westlicher Länder. Viele
sind desorientiert und versinken in Depression, andere flüchten sich aus nur verständlicher
Wut, Enttäuschung, Angst, Demütigung, aus uneinge-standener Scham und Selbstverachtung
in Haß- und Racheausbrüche. Was wird mit den Menschen, die sich jetzt lautstark äußern
und schnelle Besserung ihrer Lage von einem eiligen, bedingungslosen Anschluß an den
großen, reichen, potenten, funktionierenden Staat auf deutschem Boden erhoffen ? [Wolf
1990c:158]
Es ist das Hauptanliegen der vorliegenden Untersuchung, die Wurzeln der hier literarisch
dargestellten existentiellen Verunsicherung und Verwundbarkeit im Kontext des komplexen
historischen Zusammenspiels gesellschaftlich-politischer und kultureller Kräfte freizulegen und
die Problematisierung der deutschen Wiedervereinigung in der Literatur als Widerstand gegen den
durch die ideologisch instrumentalisierten Massenmedien versuchten Abbau der sozialen
Errungenschaft der ehemaligen DDR kritisch zu durchleuchten und auf diese Weise der selbst in
der Literaturkritik weit verbreiteten einseitig negativen Darstellung der ehemaligen DDR-
Gesellschaft und der ideologisch motivierten offenen Kampagne gegen einzelne, sozialen
Wertvorstellungen verpflichteten Autoren aufklärend entgegenzuwirken.

1
TEIL I:
Anmerkungen zur Forschungslage
Wenn Kultur darin ihren Ausdruck hat, daß Geist und Macht in
Übereinkunft gesetzt werden, so ist an diesem Anfang, da die deutsche
Wirklichkeit auf erschütterndste Weise die scheinbare Unvereinbarkeit
zwischen beiden aufwies, ja beider Feindschaft gerade furchtbar
demonstriert hatte, in der Tat - theoretisch und praktisch ­ das Fundament
ihrer endgültigen Vereinigung gelegt worden. Welche Skepsis, geboren
und befestigt in den schrecklichen Erfahrungen der Menschen im
Imperialismus, im Faschismus und in den Grauen des Krieges, war zu
besiegen! Sie wurde besiegt, indem im Ringen um die unmittelbarsten
Lebensprobleme zugleich ein neuer geschichtlicher Horizont aufgerissen
wurde. Eben daran ist der Anteil der Kunst beträchtlich und unabdingbar.
Träger, Claus: Studien zur Erbetheorie und Erbaneignung. Leipzig, Verlag Philipp
Reclam jun., 1981.

2
Anmerkung zur Forschungslage
Nach dem größten Ereignis der Nachkriegszeit, dem Fall der Mauer am 9. November
1989 und der Öffnung der Grenzen zwischen den beiden ehemaligen deutschen Staaten,
muß man wohl annehmen, daß die politisch-gesellschaftlichen Hintergründe und Folgen
dieses Jahrhundertereignisses auch in der Literatur ihren Niederschlag gefunden und die
Forschung zur wissenschaftlichen Durchleuchtung angeregt haben. Was die Literatur
speziell betrifft, so gibt es sehr wohl zahlreiche renommierte Autoren im Osten und
Westen Deutschlands, die sich mit diesem historisch und gesellschaftlich nicht nur für
Deutschland, sondern ganz Europa so bedeutenden Ereignis beispielhaft ausein-
andergesetzt haben, wenngleich in der Mehrzahl in einer mehr oder weniger von
Vorurteilen belasteten, negativen Weise.
In noch bedeutenderem Umfang gilt dies auch für wissenschaftliche Arbeiten und
Forschungsprojekte zu dieser weltweit folgenschweren Entwicklung, die an der deutsch-
deutschen Grenze das Ende des Kalten Krieges markierte und die politische Landschaft
Europas entscheidend umgestaltete. [Herzog/Gilman 2001; Merkel 2000; Habermas
1994; Zelikow/Rice 1995, u.a.]. Auch hier fällt eine nahezu durchgehend negative
Beurteilung der Rolle der DDR vor und nach der Wiedervereinigung und der DDR
schlechthin ins Auge. Inwieweit dies mit der vor allem mit dem in den Massenmedien
[Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen] vermarkteten Bild der DDR-Gesellschaft
zusammenhängt, liegt außerhalb des Rahmens dieser Untersuchung, obwohl diese Frage
in einem anderen Zusammenhang noch kurz beleuchtet werden wird.
Es besteht also kein Zweifel, daß es sich beim Wiedervereinigungsprozeß und dem
DDR-Hintergrund um ein ,,Boomthema" handelt [Mählert 2002:7]. Bedauerlicherweise

3
tendiert, wie schon angedeutet, ein hoher Prozentsatz dieser Untersuchungen durch eine
einseitig politisch-ideologische Sichtweise zu mehr oder weniger gezielten
Verzerrungen tatsächlicher Gegebenheiten, zumindest was die Erfahrungswelt der
betroffenen Bevölkerung der ehemaligen DDR betrifft.
In vielen Fällen signalisiert schon der Buchtitel den Grundtenor der Untersuchung.
Stellvertretend für zahlreiche Arbeiten dieser Art sei hier Gert-Joachim Glaessners
Studie The Unification Process in Germany. From Dictatorship to Democracy in der
Übersetzung von Colin B. Grant erwähnt. [Glaessner 1992] Der im Titel angeschlagene
ideologische Grundton wird im Preface von Ian Wallace, dem Herausgeber der Serie
The New Germany, weiter ausgebaut, wenn vom ,,removal of the ugly divisions which
had scarred Europe for over forty years" die Rede ist und die BRD schließlich als
positiver Gegenpol zur DDR identifiziert wird, wenn auch mit gewissen
Einschränkungen: ,, They were opposed by others who pointed to the signal success with
which the old Federal Republic had established a widely admired democratic system and
had played its full part in building up an ever more unified and harmonious western
Europe after World War II." [Glaessner 1992: vii].
Eine ähnliche Schwarz-Weiß Reduktion läßt sich auch in Ulrich Mählerts im
großen und ganzen sehr informativen und aufschlußreichen Vademekum DDR-
Forschung feststellen, wobei freilich nicht unwichtig ist, daß es sich hier um eine
,,Publikation der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" handelt oder was Ulrich
Mählert in seiner Einleitung ,,eine Auseinandersetzung mit der zweiten deutschen
Diktatur" bezeichnet, was natürlich implizit auf die NS-Diktatur verweist. [Mählert
2002:7] Der reduktive Schwarz-Weiß Kontrast taucht auch selbst in positiven Ansätzen
zu einem inklusiven Forschungsauftrag auf, wenn von ,,Mauer und Stacheldraht" die

4
Rede ist, ganz abgesehen vom roten Faden der ,,SED-Diktatur" [Mählert 2002:10]:
,,Trotz der Unterschiedlichkeit der Systeme, trotz Mauer und Stacheldraht gibt es
offenkundige Gemeinsamkeiten in der Alltagskultur. Für den viel beschworenen Prozeß
der inneren Einheit wäre es überaus hilfreich, wenn diese Gemeinsamkeiten fundiert
erforscht und dargestellt werden würden." [Mählert 2002:8]. Auch Helmut Koopmann,
dessen fundiertes Wissen zur Wiedervereinigungsthematik in der zeitgenössischen
deutschen Literatur und dessen wissenschaftliches Objektivitätsbedürfnis die zu dieser
Problematik vorliegenden Arbeiten auszeichnet, identifiziert die DDR als ,,Unrechts-
staat." [Koopmann 2000:140] Freilich scheint hier, wie auch in zahlreichen anderen
kritischen Studien, der Schwarz-Weiß Kontrast meist nur konturenhaft aus den weniger
ideologisch differenzierten Grauzonen durch. Als historisch weiter zurückliegendes
Beispiel dieser Art der Schwarz-Weiß Reduktion sei hier an Ernst Richerts Beschrei-
bung der DDR als ,,Staat, der nicht sein darf" erinnert. [Richert1966]
Besonders auffallend in der nahezu unübersehbaren Masse von Publikationen zur
deutsch-deutschen Vereinigung ist der Umstand, daß der Schwerpunkt des wissenschaft-
lichen Interesses auf der kritischen Durchleuchtung von zeitgeschichtlichen, soziologi-
schen, sozialpsychologischen, politwissenschaftlichen und demographischen Hinter-
gründen dieser Entwicklung liegt und beispielhafte literarisch orientierte Studien zahlen-
mäßig eine deutliche Minderheit darstellen, was bedauerlich ist, da sich die schöpferisch
literarische Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Vereinigung in vielen Fällen
nicht zufällig von jener der tagesbedingten Massenmedien deutlich abhebt und
unterscheidet. Das Ausmaß der intensiven Beschäftigung mit der Wiedervereinigung
Deutschlands wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, daß bei Google zur Zeit
[2005] nicht weniger als 455.000 Eintragungen unter ,Wiedervereinigung Deutschlands'

5
zu finden sind, wobei zu bemerken ist, daß es sich dabei tatsächlich um ein ,weites',
kaum mehr überschaubares ,Feld' von Interessensgebieten und Forschungsansätzen
handelt, auf dessen Breite und Tiefe aus Platzgründen hier nicht näher eingegangen
werden kann. Paul Cooke verweist ebenfalls auf die erstaunliche Vielzahl von Arbeiten
über die DDR im World Wide Web, wobei er diese Erscheinung in einen größeren,
kontrastiven Kontext stellt, wenn es heißt: ,,Die Präsenz der DDR im World Wide Web
ist immens. Die Recherche nach dem Wort ,,DDR" über die Suchmaschine Google.de
erbrachte auf Anhieb etwa 2.225.000 Einträge, im Vergleich zu 1.410.000 unter ,,BRD"
und 1.180.000 zu ,,Nationalsozialismus" [Cooke 2002:41-54; Broder 2000; Vgl auch:
Mählert 2002:7].
Besonders bemerkenswert ist vor allem die oben schon angedeutete Tatsache,
daß bislang nur wenige einschlägige Dissertationen zur Literarisierung dieser Thematik
verfaßt wurden. Ob dies damit zusammenhängt, daß zur Zeit noch der gerne zitierte
notwendige historische Abstand fehlt oder anders ausgedrückt, daß die Zeit noch nicht
reif ist, die als Vorbedingung für einen aufschlußreichen Überblick erforderlich ist, sei
vorerst dahingestellt. Man würde auch annehmen, daß Forschungsprojekte auf diesem
Gebiet von staatlichen deutschen Stellen im Interesse des Abbaus alter politischer
Barrieren und Trennungslinien unterstützt und gefördert würden, um die zur Zeit des
Kalten Krieges entstandenen Animositäten und Spannungen zu beseitigen, die bis zum
heutigen Tag latent und offen weiterwirken und von den allzuoft politisch-ideologisch
motivierten Massenmedien [oder was Jürgen Habermas ,,the right-radical publicity
network" nennt.] [Habermas 1997:97] und von globalen Wirtschaftsinteressen weiter
geschürt werden. Die mangelnde Unterstützung in der allerjüngsten Zeit [nach 2000] für
Forschungsarbeiten zu dieser Frage von Seiten staatlicher Stellen faßt Ulrich
Mählert

6
folgendermaßen zusammen: ,,An den Universitäten und Hochschulen haben sich
mittlerweile vor allem jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus beiden
Teilen Deutschlands in die Materie eingearbeitet. Doch ausgerechnet bei diesem guten
Entwicklungsstand tauchen Probleme mit der weiteren Finanzierung auf. Von den fünf
wichtigsten Einrichtungen zur DDR-Forschung sind zwei, das Zentrum für
Zeithistorische Forschung in Potsdam und der Forschungsverbund SED-Staat an der
Freien Universität Berlin, in ihrem Fortbestand nicht gesichert. Veränderte
Schwerpunktsetzungen im Bereich der Forschungsförderung verwehren dem akade-
mischen Mittelbau zudem die dringend erforderlichen Drittmittel." [Mählert 2002:9]
Es muß in diesem Zusammenhang noch einmal darauf verwiesen werden, daß die
hier angesprochene Forschungsarbeit primär zeitgeschichtlich-politisch und
gesellschaftswissenschaftlich orientiert ist und sich nur sehr selten mit literarischen
Aspekten der deutsch-deutschen Vereinigung überschneidet. Die staatliche
Unterstützung literarischer Forschungsarbeit innerhalb des hier abgegrenzten
Themenbereichs ist aber keinesfalls besser gestellt, wahrscheinlich sogar viel schlechter
als die von Mählert umrissene historisch-politisch ausgerichtete Forschungslage. Über
die wissenschaftliche Themen-Vielfalt und Breite gibt, wie schon angedeutet, Ulrich
Mählerts im Jahre 2002 im Ch.Links Verlag veröffentlichten Leitfaden Vademekum
DDR-Forschung wertvolle Auskunft. [Mählert 2002]
Ganz allgemein läßt sich daher feststellen, daß nach einem bedeutenden Anstieg der
Zahl von Forschungsprojekten in der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre in den letzten
Jahren die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der DDR deutlich zurückgegangen
ist. Ulrich Mählert unterstreicht dabei auch die weitreichenden Folgen dieses
Forschungsdefizits für die erstrebte innere Einheit der deutschen Bevölkerung

7
schlechthin: ,,Im Wintersemester 2000/2001 gab es Landstriche, die von entsprechenden
Angeboten völlig frei waren. Nahezu zwei Drittel der insgesamt 88 deutschen
Universitäten hatten zu diesem Zeitpunkt keine explizit Ostdeutschland-bezogene
Lehrveranstaltung mehr im Programm. Eine bedenkliche Entwicklung, werden doch
heute die Multiplikatoren, die Lehrer, Wissenschaftler, Journalisten etc. von morgen
ausgebildet." [Mählert 2002:9].
Andererseits fällt aber auch auf, daß das literarische Umfeld der politischen
Vereinigung Deutschlands zu zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten angeregt hat, die,
wenn sie sich auch nicht ausschließlich auf die deutsch-deutsche Vereinigung
beschränken, doch mit Teilaspekten dieser für Deutschland und Europa so bedeutenden
historischen Entwicklung auseinandersetzen [Herzog/Gilman 2001], sei es in Arbeiten
zu einzelnen Autoren oder zu spezifischen, literarisch ausgerichteten Themenbereichen,
wie etwa: literatursoziologische Untersuchungen [Ohlerich 2000], biographische
Darstellungen [Böthig 2004; Magenau 2002], Kinderbuch [Stillmark 2002], ästhetisch-
moralische Themen [Koch 2001], Frauenfragen [Ehrhardt 2000;Leguy 2000], Literatur
und Politik [Lartillot 2002], Arbeitswelt [Stillmark 2002; Schlosser 1986], Literatur und
Gesellschaft [Emmerich 1996], Literatur und Kultur [Flanagan 2000; Grimm 2001],
Faschismus und die DDR [Kupferberg 2002], Satire und Ironie [Kormann, 2000], DDR-
Lyrik [Owen 2001; Kane 1997], DDR-Drama [Scheit 1997], DDR-Roman [Knobloch/
Koopmann 2003] die Problemkreise Identität [Kane 2002; Grimm 2001; Skare 2001],
Wende und Gegenwende [Bremer 2002; Lorou 2002], Mauer [Glaser 1999; Fack 1993;
Tanner 2001], Zensur [Emmerich 1997; Glaser 1997] und die als Thema wohl am
häufigsten angesprochene Rolle der Stasi in der DDR-Gesellschaft [Misch 2003].

8
Die hier angeführte Auflistung ist natürlich als gezielt selektiv zu verstehen, weil
im Rahmen dieser Untersuchung kein Vollständigkeitsanspruch besteht. Die
Hauptaufgabe einer sorgfältigen Sichtung der vorhandenen Sekundärliteratur dient
vielmehr der allgemeinen Orientierung und vor allem der thematischen und inhaltlichen
Absicherung, die eine eventuelle Überschneidung mit bereits veröffentlichten oder
geplanten Arbeiten zur Wiedervereinigungsthematik verhindern soll. Die Analyse dieser
kaleidoskopischen Ansammlung von Teilaspekten der Wiedervereinigungsthematik
verhilft aber trotz ihrer offensichtlichen Fragmentierung auch zu einem vertieften
Verständnis der dieser Problematik zugrundliegenden Komplexität und Vielfalt. In
diesem Zusammenhang muß natürlich auch hervorgehoben werden, daß in
angelsächsischen Ländern, vor allem in den USA und in Großbritannien, überraschend
großes Interesse für die Wiedervereinigungsproblematik herrscht, was sich nicht zuletzt
in abgeschlossenen und noch in Arbeit befindlichen Dissertationen, sowie in zahlreichen
wissenschaftlichen Buchveröffentlichungen spiegelt. Als führende Forschungszentren
gelten in Großbritannien die Universitäten von Bath, Birmingham, Cardiff, Warwick,
Keele, London, Oxford, Nottingham, Reading, Sheffield und York; in den Vereinigten
Staaten die Universitäten von Wisconsin-Madison, Tempe, Yale, John Hopkins
University und das Woodrow Wilson Center, Washington, DC. [Mählert 2002,143-152]
Bedauerlicherweise geht die Mehrzahl der in der BRD veröffentlichten
Untersuchungen zur Thematisierung der deutschen Wiedervereinigung nicht auf die
Vorgeschichte oder den historisch-politischen Kontext der damit verbundenen
Problematik ein, da diese, wie Wolfgang Engler in der Vorrede zu seiner Studie Die
Ostdeutschen betont, noch zu komplex und schwierig zu sein scheint: "Selbst für ein
abschließendes Urteil über die DDR ist es noch viel zu früh. Eines Tages wird man

9
Gesamtdarstellungen in Angriff nehmen können; bis dahin müssen wir uns mit
Vorarbeiten und Annäherungen an dieses Ziel zufriedengeben. Indem das Buch
versucht, die ostdeutsche Erfahrung von innen zu rekonstruieren, versteht es sich
gleichzeitig als Beitrag zu einer noch zu schreibenden Universalgeschichte." [Engler
1999:9]
Wenn Wolfgang Engler vom ursprünglichen Vorhaben, die ,,geistig-sozialen
Eigenarten" der DDR Bevölkerung durch Vergleiche mit anderen osteuropäischen
Völkern zu identifizieren, abkommt, so beruht dies primär auf der bislang
unzureichenden Bestimmung des Nationalbegriffs: ,,Die vergleichende Methode setzt
den Unterschied voraus. Sie ist dann am ertragreichsten, wenn die Besonderheiten von
Nationen und Völkern schon mit großer Genauigkeit bestimmt worden sind. Das ist für
den ost-mitteleuropäischen Erfahrungskreis ganz offensichtlich nicht der Fall." [Engler
1999:8] Was Engler jedoch nicht zu berücksichtigen scheint, ist nicht nur die weithin
anerkannte kulturelle Eigenständigkeit der DDR, als dessen Befürworter sich vor allem
Günter Grass literarisch und politisch engagiert hat, sondern auch der für das
Verständnis der ,,geistig-sozialen Eigenart" der Ostdeutschen viel relevantere politisch-
ideologische Hintergrund des NS-Regimes und der Nachkriegszeit, wie das Günter
Grass beispielhaft in der komplexen Verschachtelung verschiedener historischer Ebenen
in seinem ,,Wenderoman" Ein weites Feld aufzeigt, wobei, wie in den meisten seiner
Werke, vom frühen Roman Die Blechtrommel bis zu seinem jüngsten Werk Im
Krebsgang [2002], die NS-Zeit eine thematisch gewichtige Rolle spielt. Beispielhaft ist
in dieser Hinsicht die umfangreiche, als Habilitationsschrift eingereichte Arbeit über
,,Literatur und nationale Einheit in Deutschland" von Stefan Neuhaus, auf die in einem
anderen Zusammenhang noch näher eingegangen werden wird.[Neuhaus 2002].

10
Ähnlich äußert sich auch Rolf Hochhuth 1976 in einem Gespräch mit dem DDR-
Germanisten Fritz J. Raddatz, wenn er betont, daß allen seinen schriftstellerischen
Bemühungen zuletzt die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit zugrundeliege, was Robert
Weninger in einen größeren Kontext stellt und folgendermaßen prägnant zusammenfaßt:
,,Auch die Aussagen zweier jüngerer Akteure [Rolf Hochhuth und Botho Strauß]
bestätigen, was wir oben festgestellt haben, nämlich daß unser Denken seit 1945 nicht zu
lösen ist vom ,,zentralen Kraftwerk der Moralwirtschaft" Auschwitz und Nazizeit."
[Weninger 2004:235]. Und es ist wohl kein Zufall, daß Jürgen Habermas in seinem
didaktischen Schlußkapitel von A Berlin Republic: Writings on Germany das Jahr 1989
ebenfalls ,,im Schatten von 1945" wahrnimmt. [Habermas 1998:161-181].
Die Erklärung, die Wolfgang Engler, wie oben angedeutet, als Grund für das
Versagen der vergleichenden wissenschaftlichen Methode anführt, ist bedauer-
licherweise nicht überzeugend, wenn man bedenkt, daß 93% aller höheren Positionen in
den ostdeutschen Universitäten von westdeutschen Akademikern besetzt wurden, was
auch die vielfach mit westlichen Vorurteilen behafteten Untersuchungen erklärt.
Beispielhaft in dieser Hinsicht ist etwa der einflußreiche Germanist Wolfgang
Emmerich, dessen Arbeiten zur DDR-Literatur zu den Standardwerken auf diesem
Gebiet zählen. In der ,,Vorbemerkung" zur erweiterten Neuausgabe der Kleinen
Literaturgeschichte der DDR aus dem Jahre 1996 heißt es dazu wörtlich: ,, Obwohl ich
kein Freund der DDR war und sie bereits 1958 als ,,Republikflüchtling" verlassen hatte
[wie übrigens Jäger auch], habe ich späterhin, bei aller Kritik, dem Staat DDR und
seinen offiziellen kulturellen Hervorbringungen immerhin einigen Kredit eingeräumt."
[Emmerich 1996:9].

11
Im Kontext der umfangreichen Tätigkeit Wolfgang Emmerichs im Institut für
kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien in Bremen, im Internationalen Arbeitskreis
,,Literatur und Politik in Deutschland" in Bonn und vor allem durch seine
wissenschaftlichen Arbeiten ist der enorme Einfluß- und Wirkungsbereich einer negativ-
kritischen Sichtweise unschwer erkennbar. In dieser Hinsicht ist auch Günter Grass'
Wenderoman Ein weites Feld aufschlußreich; aber auch Rolf Hochhuths Drama Wessis
in Weimar, in dem dieses Thema, wie anschließend noch gezeigt werden wird, an
markanter Stelle auf der Bühne dramatische Gestalt gewinnt. Relevant ist in diesem
Zusammenhang auch die viel zu wenig bekannte Tatsache, daß in der BRD von 1945 bis
1999 gewisse Untersuchungen zur deutsch-deutschen Vergangenheit nur schwer
durchführbar waren, weil sie als ,,verfassungswidrig" ausgelegt wurden und mit
Berufsverbot geahndet werden konnten.
Die oben angedeutete Besetzung von Lehrstühlen an ehemaligen DDR-Universitäten
mit westdeutschen Professsoren und Wissenschaftlern ist aber nur ein Faktor, wenn auch
ein sehr gewichtiger, in der Konstruktion eines umfassend negativen DDR-Bildes vor
und nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs. Die eigentlichen Wurzeln
dafür sind zweifellos in der massiven Propaganda des Kalten Krieges zu suchen und in
der damit verbundenen politisch-ideologischen Identifizierung der Sowjetunion und der
Warschaupakt-Staaten, und hier ganz besonders der DDR, als erklärtes Feindbild des
Westens, das mit der Machtübernehme des politischen Pragmatisten Gorbatschow im
Jahre 1985 allmählich an Intensität verlor und mit dem Fall der Mauer ebenfalls zer-
brach und an Wirkung verlor, wenngleich die Schatten der negativen West-Propaganda
das DDR-Bild noch lange belasten sollten. In der literarischen Reflexion und Ausein-
andersetzung mit der deutsch-deutschen Vereinigung oder was Grass als ,,Einverleibung

12
der DDR" bezeichnet [Grass 1990c:11], manifestierten sich die alten, von den Massen-
Medien bestärkten Vorurteile und Spannungen mit ungewöhnlicher Intensität und
Vehemenz im oft zitierten Literaturstreit. [Weninger 2004]
Der mit der kritischen Literatur zur Wiedervereinigung vertraute Literaturwis-
senschaftler wird aber kaum übersehen können, daß die Mehrzahl der zu diesem Thema
verfaßten wissenschaftlichen Arbeiten die ehemalige DDR-Vergangeheit in ein negati-
ves Licht rücken und mittels stereotyper Wirklichkeitskonstruktionen und Klischees
abwertend darstellen. Verständlich wird diese Tatsache darüber hinaus dadurch, daß es
sich bei den im Westen bekanntesten ehemaligen DDR-Autoren meistens um freiwillige
oder durch politische Umstände bedingte in der BRD [Westen] lebende Schriftsteller
handelt, der bekannteste unter ihnen wohl der 1976 ausgebürgerte Wolf Biermann
[Glaser 1997:137], deren Publikationschancen sich in der Regel dann erhöhten, wenn
sie sich kritisch-abwertend über die DDR-Gesellschaft äußerten, was sich unschwer
dokumentieren ließe. Und selbst bei den in der DDR verbliebenen Schriftstellern wurden
von bundesrepublikanischen [westlichen] Verlegern meist nur system-und gesellschafts-
kritische Werke veröffentlicht, während ,,unkritische" Arbeiten, also Autoren, die sich
an die von der politischen Führung ausgegebenen Richtlinien hielten, kaum Chancen
hatten, im Westen publiziert zu werden.
Horst Albert Glaser verweist in diesem Zusammenhang auf Klaus Höpcke, den
ehemaligen Kulturredakteur der SED-Zeitung ,,Neues Deutschland" und später stellver-
tretenden Kulturminister der DDR, der den in den Westen ,,ausgewanderten" Autoren 96
andere entgegenstellte, die in der DDR lebten und dort sehr wohl publizieren konnten.
[Glaser 1997:66] Dabei ging es hier primär gar nicht um politisch-ideologisch motivierte
Gesellschaftskritik im konventionellen Sinne, sondern um alles, was als Identitätssuche,

13
Selbstverständnis, ,,Ausloten des Individuums" verstanden werden kann oder was
Christa Wolf in der Erzählung Nachdenken über Christa T. [1967] das ,,Zu-sich-selber-
Kommen des Menschen" nennt.
Problematisch ist der thematische Fokus in einem sozialistischen Gesellschaft-
kontext verständlicherweise darum, weil subjektive Selbstbefangenheit und Ich-
Bezogenheit zur verpflichtenden Einbindung des Individuums in die Gesellschaft in
Widerspruch steht und stört. Christa Wolf, die diesbezüglich vor allem im ,deutschen
Literaturstreit' unter heftigen Angriffen zu leiden hatte, nimmt in einem Brief vom
21.März 1993 an Günter Grass ausführlich dazu Stellung. Unter anderem schreibt sie
auch: ,,Es war unser Konzept, nicht in jedes Messer zu rennen, und zu versuchen, meine
Texte auch in der DDR gedruckt zu kriegen. Weil ich prominent genug war, klappte das
meistens; was sich hinter den Kulissen meiner Manuskripte abspielt, habe ich in meinen
42 Bänden ,,Opfer"-Akten lesen können." [Petzold 2003:179-180]
Aus diesem Grund durften daher auch bekannte Autoren wie Wolfgang Hilbig,
Gert Neumann, Monika Maron, Lutz Rathenow und Bettina Wegner, obwohl sie relativ
lange in der DDR verblieben, wiederum nur in der BRD publizieren, wo ihre Werke
auch von der Kritik rezipiert und in den Medien renzensiert wurden und auf diese Weise
einem breiteren Lesekreis zugänglich gemacht wurden, was bei den von Klaus Höpcke
angeführten Schriftstellern wohl kaum der Fall war. Daß es dadurch zu Verzerrungen
der tatsächlichen gesellschaftlichen Zustände und Verhältnisse in der DDR kam, liegt
wohl auf der Hand, aber auch in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Text, falls
es zu dieser tatsächlich kam, was Günter Grass in seinem Roman Ein weites Feld in
Martina Grundmann, der ,,in den ersten Semerstern steckende[n] Studentin", bezweifeln
läßt [EWF, 296-298], da primär nicht der Selbstreflexion des Einzelnen und dem

14
Wunsch nach Selbstverwirklichung nachgegangen wird, sondern dem DDR-kritischen
Gesellschaftskontext. Thomas Brussig verweist in seinem Roman Helden wie wir im
Kontext der Überlegungen des Erzählers zur mangelnden Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit in der DDR auf diesen Umstand, wenn er von einer ,,verzerrten
Diskussion" spricht, was aber bezeichnenderweise ,,keiner merkt" oder wahrhaben will.
[HWW,312].
Der Vollständigkeit halber muß hier aber hinzugefügt werden, daß Schriftsteller
wie Anna Seghers, Christa Wolf, Franz Fühmann, Ulrich Plenzdorf, Volker Braun,
Günter de Bruyn, Hermann Kant, Karl Mickel und Helga Schulz, die in der
Literaturkritik meist zur ,,literarischen Prominenz" der DDR gezählt werden, im Westen
[BRD] auf Grund ihrer oftmals systemkritischen Einstellung sehr wohl bekannt waren
und auch veröffentlicht wurden. Das Bild der DDR-Gesellschaft wurde im Westen daher
von den in der Regel offen DDR-kritischen [feindlichen] ,,Ausgewanderten" geprägt. Zu
ihnen zählt Glaser unter anderen: Gerhard Zwerenz, Martin Gregor Dellin, Heiner
Kipphardt, Uwe Johnson, Ulf Miehe, Helga M. Novak, Jochen Ziem, Christa Reinig,
Hartmut Lange, Berndt Jentzsch, Reiner Kunze, Jurek Becker, Wolf Biermann, Günter
Kunert, Klaus Poche, Sarah Kirsch, Joachim Seyppeln, Klaus Schlesinger, Stefan
Schütz, Kurt Bartsch, Erich Loest, Thomas Brasch, Hans-Joachim Schädlich, Jürgen
Fuchs, Frank-Wolf Matthies und Dieter Eule. [Glaser 1997:66 & 138] Selbst ein nur
flüchtiger Blick in die gängigen bibliografischen Nachschlagewerke bestätigt, daß es
über die meisten der hier angeführten Autoren eine durchaus nennenswerte, zumeist im
Westen veröffentlichte Sekundärliteratur gibt, wobei aber meist gar nicht hervorgeht,
daß es sich um Schriftsteller aus der ehemaligen DDR handelt. Glaser macht daher mit
Recht darauf aufmerksam, daß zwischen der Literatur der BRD und der DDR sehr wohl

15
zu unterscheiden ist: "So originell Schneiders These war, es gebe nur eine deutsche
Literatur, so falsch war die andere, daß dies die westdeutsche gewesen sei. Die Literatur,
wie sie in der DDR entstanden ist, ähnelte der westdeutschen, war aber nicht mit ihr
identisch. Sie stand ihr so fern oder nah wie die österreichische oder die schweizerische
Literatur." [Glaser 1997:67]
Neben der hier angesprochenen Problematik der nationalen Einordnung der
Autoren und der literaturwissenschaftlichen Klassifikation ihrer Werke spielt der
Umstand, daß in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Primärliteratur
allzuoft das durch Entfremdung, politisch-ideologische Ablehnung oder persönliche
negative Erfahrungen von Seiten der Autoren begründete Bild der DDR-Gesellschaft
unzureichend hinterfragt wird, was notwendigerweise zu Verzerrungen und Verfäl-
schungen führen muß, wie sie in den auf Tagesmeldungen beschränkten Massenmedien
immer wieder zu finden sind. Die mangelnde kritische Hinterfragung des literarischen
"Urtexts" oder was Martina Grundmann in Günter Grass' Roman Ein weites Feld das
"Minimalistische" im "westdeutschen Universitätswesen" bezeichnet [EWF,296-298]
und die literarische Orientierung mittels oberflächlicher Befragung der Sekundärliteratur
auf Kosten der Primärliteratur verhindert die Korrektur und Freilegung der oben
angedeuteten Verflachung und Verzerrung des DDR-Bildes in der deutschen Literatur,
westlich und östlich.
Verstärkt wird diese Problematik durch den "Verzicht auf ästhetische Begründung
zugunsten einer blanken politischen Verurteilung", was Oskar Negt wie folgt präzisiert:
"Bis auf wenige Ausnahmen war die Phalanx der Kritiker entschlossen, ihr analytisches
Werkzeug gar nicht erst in die Hand zu nehmen." [Negt 1996:10]. Klaus Pezold faßt
sich in seinem Urteil sogar noch kürzer, wenn er meint: "Diese Kampagne ist höchstens

16
zu 30 Prozent literarisch, der Rest ist Politik." [Pezold 2003:193] Stellvertretend dafür
ist der deutsch-deutsche Literaturstreit [Weninger 2004] und die Vehemenz der Angriffe
auf Günter Grass in bezug auf seinen Roman Ein weites Feld und seine Laudatio auf
Yasar Kemal in der Frankfurter Paulskirche, die in Oskar Negts Der Fall Fonty [1996]
und Manfred Bissingers Zeit, sich einzumischen [1998] ausführlich dokumentiert sind.
In diesem Zusammenhang soll auch kurz darauf verwiesen werden, daß außer Günter
Grass, Rolf Hochhuth, um nur die zwei bedeutendsten zu nennen, relativ wenige
Schriftsteller bereit waren, sich öffentlich zur deutschen "Befindlichkeit" nach dem Fall
der Mauer zu äußern, wie etwa zu Roman Herzogs berühmter "Berliner Rede" vom 26.
April.1997, worüber sich der Herausgeber der eingelangten Reaktionen folgendermaßen
beklagt: ,,Es hat uns zum Beispiel überrascht, daß keiner der gebetenen Schriftsteller
sich zu Wort melden wollte; allein Erich Loest schickte ein Referat. Die Republik und
ihre Intellektuellen ­ ein Kapitel für sich. Aber auch nur wenige Politiker waren zu einer
tiefer gehenden Antwort auf die Herzog-Thesen bereit. Offenbar haben sie sich in ihren
Schlagworten erschöpft." [Bissinger 1997:12] Christa Wolf verweist in einem anderen
Zusammenhang auf die Vernichtung größerer Mengen in Lagerräumen gelagerter DDR-
Bücher, da sie für die Verbreitung in der BRD angeblich ungeeignet oder nicht brauch-
bar waren. Auf diese Weise gelang es westdeutschen [westlichen] Interessen, ein ihr
genehmes, einseitiges Bild von der DDR-Wirklichkeit zu vermarkten, was wiederum in
wissenschaftlichen Arbeiten bis in unsere Zeit nicht ohne Folgen blieb und der
erstrebten inneren Einheit nicht dienstbar war.
Ulrich Mählert betont auch, daß sogar ,,Boomthemen" wie ,,Herrschaftsgeschichte",
Geheimpolizei [Stasi] und SED-Diktatur bislang nicht zu beispielhaften kritischen
Gesamtdarstellungen geführt haben, was offensichtlich für die in vieler Hinsicht gezielt

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verborgengehaltenen Aspekte des DDR-Alltags schwerwiegendere Auswirkungen hatte.
Das nun jedoch zugängliche Archivmaterial, das auf wissenschaftliche Aufarbeitung
wartet, sollte in dieser Hinsicht jedoch Abhilfe schaffen, was natürlich die DDR-
Literatur mit einschließt.
Ein flüchtiger Blick auf den gegenwärtigen Forschungsstand bestätigt die
Tatsache, daß politische Probleme noch immer im Zentrum des Forschungsinteresses
stehen und literarische Themenbereiche bedeutend weniger Beachtung finden. Mählert
faßt die Situation so zusammen: ,,Viele Studien beschäftigten sich bislang vor allem
damit, wie Politik auf zentraler Ebene formuliert wurde. Die mittlere Ebene jedoch, die
Umsetzung vor Ort, in den Städten und Gemeinden, die Kluft zwischen Anspruch und
Wirklichkeit, ist vielleicht noch gar nicht untersucht." [Mählert 2002:8-9]
Da sich Literatur jedoch in den meisten Fällen mit der Wirklichkeit der
,,mittleren Ebene" beschäftigt, kommt ihr die Aufgabe zu, die oben erwähnte ,,Kluft
zwischen Anspruch und Wirklichkeit" zu schließen oder zumindest zu überbrücken.
Dabei muß man aber zwischen der negativen Darstellung der ehemaligen DDR im
Vereinigungsprozeß, wie sie primär in den Medien, wie etwa im Marcel Reich-Ranicki
Verriß des Günter Grass' Romans Ein weites Feld im Literarischen Quartett im ZDF
und auf der Titelseite des Nachrichtenmagazins Der Spiegel vom 21. August 1995 [Negt
1996:39] und den positiven Einschätzungen wissenschaftlicher Arbeiten differenzieren,
selbst wenn diese nicht absolut und ohne Einschränkungen sind.
Zwischen diesen beiden entgegengesetzen Polen ist die Mehrheit der wissen-
schaftlichen Literatur zu finden, und zwar in zahlreichen Nuancen und Schattierungen.
Wie schon angedeutet ist die Sekundärliteratur, die sich mit der deutsch-deutsch
Vereinigung auseinandersetzt, sehr umfangreich und kaum mehr zu überschauen. Aber

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auch hier gibt es zahlreiche graduelle Abstufungen, die für die vorliegende Arbeit
insofern relevant sind, weil potentielle Überschneidungen unzulässig und daher zu
vermeiden sind.
Die kritische Auseinandersetzung mit der vorhandenen Sekundärliteratur, war
auf Grund der Entfernung Australiens von Europa, der mit Fernleihe verbundenen
Kosten und nicht zuletzt der Fülle des Materials nur auf selektiver Basis möglich.
Bemerkenswert sind aber Umfang und die Breite der negativen Vorurteile der
ehemaligen DDR gegenüber, was gelegentlich sogar den Gedanken aufkommen ließ,
eine Arbeit zu diesem spezifischen Thema zu verfassen und den Gründen dafür
nachzugehen, um auf diese Weise der nahezu stereotypen Monopolisierung und
Mythologisierung von Mauer, Stacheldraht, Stasi und SED-Diktatur in den
Massenmedien die weniger einseitige, historisch fundierte Wirklichkeit entgegen-
zustellen.
Was die Thematik der vorliegenden Arbeit betrifft, so hat die sorgfältige Prüfung
des greifbaren Materials ergeben, daß es zur Zeit keine maßgeblichen Arbeiten mit
direkten Überschneidungen gibt, wenngleich sich thematische Berührungspunkte
feststellen lassen, was auch zu erwarten ist. Dazu gehört unter anderen Stefan Neuhaus'
Regensburger Habilitationschrift Literatur und nationale Einheit in Deutschland
[Neuhaus 2002], in der das Verhältnis der Literatur zur Politik unter besonderer
Berücksichtigung der Wechselwirkung zwischen Literatur und nationaler Einheit an
Hand von Texten von Biermann, Schneider, Walser, Becker, Loest, Grass, Brussig, um
nur die wichtigsten Autoren zu nennen, untersucht wird. Bemerkenswert ist in dieser
sehr umfangreichen Arbeit der Versuch, das politisch-gesellschaftliche DDR-System in

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einen größeren historischen Rahmen zu stellen, der an Günter Grass' Roman Ein weites
Feld erinnert.
Von der Thematik her relevant ist auch der von Martin Kane herausgegebene
Sammelband Legacy and Identity. East and West German Literary Responses to
Unification. [Kane 2002]. Aus einer umfassenderen, gesamtdeutschen Perspektive wird
die deutsche Vereinigung von Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann in einer
jüngeren Arbeit beleuchtet. [Knobloch-Koopmann 2003] Helmut Koopmann setzt sich
mit der Thematik der Wiedervereinigung in der deutschen Literatur in einem sehr
aufschlußreichen Aufsatz in Andreas Wirschings Sammelband Die Bundesrepublik
Deutschland nach der Wiedervereinigung . Eine interdisziplinäre Bilanz aus dem Jahre
2000 auseinander. Obwohl sich einige thematische Berührungspunkte feststellen lassen,
wie etwa Hinweise auf den deutsch-deutschen Literaturstreit, Günter Grass' Einstellung
zur deutschen Vereinigung, sowie Rolf Hochhuths ebenso heftige Kritik, liegen die
thematischen und inhaltlichen Schwerpunkte doch ganz anders. Wichtig ist in
Koopmanns Studie die Betonung der historischen Dimension der Teilung Deutschlands
und der späteren Wiedervereinigung, wenn es abschließend heißt: ,,Sollten sich nicht,
mit anderen Worten, in der Literatur vor 1945 Elemente finden, die dann auf beide
deutsche Literaturen ihre Wirkung hatten? Das wäre freilich erst noch zu erforschen, und
vielleicht könnte sogar gezeigt werden, daß die Literatur um 1989, oder besser: daß
beide Literaturen, daß der deutsch-deutsche Literaturstreit und daß der Streit um die
Wiedervereinigungsliteratur alles andere als Tagesereignisse waren, sondern letzte
Stadien von Entwicklungen, die weit vor 1945 eingeleitet worden waren." [Koopmann
2000:158-159] Koopmanns Akzentuierung des historischen Hintergrunds der Teilung

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2005
ISBN (eBook)
9783832497897
ISBN (Paperback)
9783838697895
DOI
10.3239/9783832497897
Dateigröße
3.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
University of Newcastle – Arts, Humanities and Social Sciences
Erscheinungsdatum
2006 (August)
Note
1,0
Schlagworte
vorkriegsgeschichte nachkriegsgeschichte grass
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Titel: Zum Problem der deutsch-deutschen Einheit
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