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Werteerziehung in der Institution Schule

Sekundarstufe I

©2006 Examensarbeit 154 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Auch wenn die Diskussion um die Einführung eines verbindlichen Werteunterrichts an den Berliner Schulen zum Schuljahr 2006/07 entschieden ist, so ist das Thema nach wie vor aktuell. Die Diskussion um die Vermittlung von Werten ist vielmehr ein „Evergreen“ – ein Thema, dass nahezu zu jeder Zeit viel diskutiert und über das heftig gestritten wurde und wird. Globalisierung, der Rückzug des Sozialstaates und die fortschreitende – wenn nicht sogar abgeschlossene – Säkularisierung der Gesellschaft haben den Einfluss der christlichen Kirchen auf die Wertebildung und Werteverfestigung in Deutschland schrumpfen lassen.
Einerseits wurde der Verfall der Sitten, der Verlust von Werten und moralischen Vorstellungen dabei in nahezu jeder Zeitepoche menschlichen Lebens beklagt. Andererseits kommt die Shell Jugendstudie 2002 zu dem Ergebnis, dass eine pauschalisierte Aussage über einen Werteverfall in der Jugend unzutreffend sei – eher stimme das Gegenteil.
Sind es wirklich die Werte, die verfallen sind, oder wird, wie von Hentig feststellt, nicht vielmehr das Bewusstsein ihrer Geltung verändert wahrgenommen bzw. lässt dieses nach? Werte und Wertorientierungen werden intergenerationell unterschiedlich wahrgenommen, be- und gewertet.
Das Grundgesetz, die Länderverfassungen und auch die Schulgesetze der Länder beschreiben eine Vielzahl von Werten, die in der Institution Schule vermittelt werden sollen. Doch in welcher Form geschieht dies? Kommt die Schule ihrem Erziehungsauftrag in diesem Fall ausreichend nach? Können Werte „indirekt vermittelt“ werden oder bedarf es dafür gesonderter pädagogischer Anstrengungen? Sind Werte nicht gerade (normative) Lebensziele, die von einer größeren Gruppe von Individuen durch Einsicht und Erfahrung geteilt werden?
Können diese überhaupt im Rahmen von Unterricht vermittelt werden oder ist Unterrichten nicht ein permanentes Weitergeben von Werten und Vorstellungen mit stark subjektiver Prägung durch die/den Lehrende/n? Unter welchen Bedingungen akzeptiert ein Mensch überhaupt eine Idee als ein Leitmotiv für sein Denken und Handeln? Sollen Werte nicht nur „vermittelt“ und gelehrt, sondern auch erfahren oder vorgelebt werden?
Der Lernort Schule verlangt mehr von den Pädagogen als das bloße Vermitteln von Wissensinhalten. Der Institution Schule fällt in unserer immer komplexer werdenden Welt eine Vielzahl von neuen und ebenso elaborierten Aufgaben zu. Schule ist bzw. soll noch viel stärker zu einem […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Thorsten Schütt
Werteerziehung in der Institution Schule
Sekundarstufe I
ISBN-10: 3-8324-9757-9
ISBN-13: 978-3-8324-9757-6
Druck Diplomica® GmbH, Hamburg, 2006
Zugl. Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland, Staatsexamensarbeit, 2006
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© Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2006
Printed in Germany

2
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung 4
1.1
Begründung der Thematik
4
1.2
Ziel der Arbeit
5
1.3
Materialbasis 6
1.4
Verlauf der Arbeit
7
2
Begriffsklärung 7
2.1
Wert, Norm, Tugend
8
2.2
Moral, Ethik
12
2.3
Wertedebatte in Erziehungswissenschaft und Schule
14
2.4
Wertewandel in Gesellschaft und Politik nach dem Zweiten
Weltkrieg 17
2.5
Werteerziehung in der Erziehungswissenschaft
20
2.5.1
Brezinkas Konzepte einer pädagogischen Ethik
21
2.5.2
Jürgen Oelkers Konzept einer pädagogischen Ethik
23
2.5.3
Hans-Jochen Gamms Konzept einer pädagogischen Ethik 24
2.6
Grundfragen schulischer Werteerziehung
27
2.6.1
Institutionelle Bedingungen
27
2.6.2
Ausgewählte Konzepte
34
2.6.3
Der Berliner Rahmenlehrplan für das Fach ,,Ethik"
34
2.6.4
Der Brandenburger Rahmenlehrplan L-E-R
37
3
Empirische Befunde
42
3.1
Untersuchungsinstrumentarium 42
3.2
Kriterien für den Interviewleitfaden
43
3.3
Datenerhebung 44
3.4
Datenauswertung 44
3.5
Ergebnisse 51
3.5.1
Zustimmung zum Fach Ethik
52
3.5.2
Sinn und Notwendigkeit
52
3.5.3
Anforderungen an den Ethikunterricht
53
3.5.4
Schule als Ort für die Vermittlung
53

3
3.5.5
Welche Werte soll Schule vermitteln?
54
3.5.6
Bedeutung von Vorbildern
56
3.5.7
,,Werteverlust" 57
3.5.8
Gott, Religion und Tradition
58
3.5.9
Realistische Ziele
58
4
Resümee 59
4.1
Diskussion der Ergebnisse
62
4.2
Ausblick 65
5
Literaturverzeichnis 68
6
Anhang 70
6.1
Schulgesetz Berlin
70
6.2
Schulgesetz Niedersachsen
72
6.3
Schulgesetz Baden-Württemberg
74
6.4
Abbildungsverzeichnis 77
6.5
Interviewleitfaden 79
6.6
Transkriptionen der durchgeführten Interviews
84
6.6.1
Interview Annette Holtfrerich
84
6.6.2
Interview Etta Willuweit
97
6.6.3
Interview Barbara von Schwarzenberg-Rüttgerodt 113
6.6.4
Interview Christoph Heyd
127
6.6.5
Interview Gerlinde Niessen
141
6.7
Erklärung 153
Die Arbeit wurde nach den Regeln der aktuell gültigen, neuen deutschen Rechts-
schreibung verfasst.
Zitate wurden gemäß den Regeln zur Erstellung von Fußnoten in Kurzbelegform
des Institutes für Gesellschaftswissenschaften und historisch politische Bildung an
der TU-Berlin kenntlich gemacht.
Das Literaturverzeichnis orientiert sich an DIN 1505, Teil 2.

4
1 Einleitung
1.1 Begründung der Thematik
Auch wenn die Diskussion um die Einführung eines verbindlichen Werteun-
terrichts an den Berliner Schulen zum Schuljahr 2006/07 entschieden ist, so
ist das Thema nach wie vor aktuell. Die Diskussion um die Vermittlung von
Werten ist vielmehr ein ,,Evergreen" ­ ein Thema, dass nahezu zu jeder Zeit
viel diskutiert und über das heftig gestritten wurde und wird. Globalisierung,
der Rückzug des Sozialstaates und die fortschreitende ­ wenn nicht sogar
abgeschlossene ­ Säkularisierung der Gesellschaft haben den Einfluss der
christlichen Kirchen auf die Wertebildung und Werteverfestigung in
Deutschland schrumpfen lassen. Einerseits wurde der Verfall der Sitten, der
Verlust von Werten und moralischen Vorstellungen dabei in nahezu jeder
Zeitepoche menschlichen Lebens beklagt. Andererseits kommt die Shell
Jugendstudie 2002 zu dem Ergebnis, dass eine pauschalisierte Aussage
über einen Werteverfall in der Jugend unzutreffend sei ­ eher stimme das
Gegenteil
1
. Sind es wirklich die Werte, die verfallen sind, oder wird, wie von
Hentig feststellt, nicht vielmehr das Bewusstsein ihrer Geltung verändert
wahrgenommen bzw. lässt dieses nach?
2
Werte und Wertorientierungen
werden intergenerationell unterschiedlich wahrgenommen, be- und gewer-
tet.
Das Grundgesetz, die Länderverfassungen und auch die Schulgesetze der
Länder beschreiben eine Vielzahl von Werten, die in der Institution Schule
vermittelt werden sollen. Doch in welcher Form geschieht dies? Kommt die
Schule ihrem Erziehungsauftrag in diesem Fall ausreichend nach? Können
Werte ,,indirekt vermittelt" werden oder bedarf es dafür gesonderter päda-
gogischer Anstrengungen? Sind Werte nicht gerade (normative) Lebenszie-
le, die von einer größeren Gruppe von Individuen durch Einsicht und Erfah-
rung geteilt werden? Können diese überhaupt im Rahmen von Unterricht
vermittelt werden oder ist Unterrichten nicht ein permanentes Weitergeben
von Werten und Vorstellungen mit stark subjektiver Prägung durch die/den
Lehrende/n? Unter welchen Bedingungen akzeptiert ein Mensch überhaupt
1
Gensicke, S. 139 f.
2
Vgl. von Hentig, S. 69.

5
eine Idee als ein Leitmotiv für sein Denken und Handeln? Sollen Werte
nicht nur ,,vermittelt" und gelehrt, sondern auch erfahren oder vorgelebt wer-
den?
Der Lernort Schule verlangt mehr von den Pädagogen als das bloße Ver-
mitteln von Wissensinhalten. Der Institution Schule fällt in unserer immer
komplexer werdenden Welt eine Vielzahl von neuen und ebenso elaborier-
ten Aufgaben zu. Schule ist bzw. soll noch viel stärker zu einem integrativen
Instrument gesellschaftlicher und privater Lebensvorbereitung für die He-
ranwachsenden werden. Welche Voraussetzungen, Fähigkeiten und Kom-
petenzen benötigen die Heranwachsenden? Dass die Sozialisation von
herausragender Bedeutung für den Lebensabschnitt Schule ist und hier-
durch stark determiniert wird, haben mehrere namhafte Studien in den letz-
ten Jahren belegt
3
. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Welche
anderen Faktoren haben Einfluss auf die Fähigkeit und die Bereitschaft zur
aktiven Teilnahme am Lernort Schule?
1.2 Ziel der Arbeit
Was haben Ethik, Moral und Werte mit Schule zu tun? Ist die Schule ein
Ort, an dem diese komplexen Konzepte zur Lebensgestaltung explizit the-
matisiert und in Form eines Schulfaches vermittelt werden müssen, oder
werden diese Themen nicht bereits heute schon durch das aktive Handeln
von Pädagoginnen und Pädagogen an die Schülerinnen und Schüler he-
rangetragen? Aufgabe und Inhalt dieser Arbeit sollen die Darstellung des
Status quo der aktuellen pädagogischen Arbeit im Bezug auf Werteerzie-
hung sein, der in Form einiger Interviews mit Lehrerinnen und Lehren der
Sekundarstufe I ermittelt wird. Kann Lernen überhaupt wert-, norm- oder
moralfrei vonstatten gehen, so dass ein gesonderter Werteunterricht not-
wendig wird? Der gesunde Menschenverstand verneint diese Fragestellung
augenblicklich. Und auch die unterschiedlichsten Richtungen in den Erzie-
hungswissenschaften verneinen den ersten Teil der Frage vehement, strei-
ten allerdings noch über den zweiten Teil. Was aber soll das Fach Ethik nun
bewirken? Tatsache ist, dass das neue Berliner Schulgesetz ­ auch ohne
3
Vgl. PISA 2000, PISA 2003, 14. Shell Jugendstudie ,,Jugend 2002".

6
das Fach Ethik bzw. Lebensgestaltjung-Ethik-Religionskunde
4
­ in seinem §
1 bereits die Ziele und Richtungen eines Ethikunterrichts festschreibt, ohne
dass ein eigenständiges Schulfach hierfür vorhanden ist:
,,Auftrag der Schule ist es, alle wertvollen Anlagen der Schülerinnen und Schü-
ler zur vollen Entfaltung zu bringen und ihnen ein Höchstmaß an Urteilskraft,
gründliches Wissen und Können zu vermitteln. Ziel muss die Heranbildung von
Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus
und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschie-
den entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der
Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde, der
Gleichstellung der Geschlechter und im Einklang mit Natur und Umwelt zu gestal-
ten. Diese Persönlichkeiten müssen sich der Verantwortung gegenüber der Allge-
meinheit bewusst sein und ihre Haltung muss bestimmt werden von der Anerken-
nung der Gleichberechtigung aller Menschen, von der Achtung vor jeder ehrlichen
Überzeugung und von der Anerkennung der Notwendigkeit einer fortschrittlichen
Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie einer friedlichen Verständi-
gung der Völker. Dabei sollen die Antike, das Christentum und die für die Entwick-
lung zum Humanismus, zur Freiheit und zur Demokratie wesentlichen gesellschaft-
lichen Bewegungen ihren Platz finden."
5
Die Berliner Schule hat demnach per Gesetz die Aufgabe, Menschen zum
friedlichen Miteinander, zu Toleranz, Menschenwürde und Tradition zu er-
ziehen, ganz gleich, ob ein gesondertes Schulfach verpflichtend angeboten
wird oder nicht. In dieser Arbeit soll weniger die Frage nach der Notwendig-
keit eines solches gesonderten Unterrichtsfaches gestellt werden, auch soll
nicht thematisiert werden, ob die Schule sich, da nun extra ein Fach Ethik
eingeführt wird, im Falle der Nichteinführung zu einem ansonsten ethikfrei-
en Raum transformieren würde.
1.3 Materialbasis
Grundlage dieser Arbeit sind soziologische, pädagogische, psychologische
Fachbücher und Aufsätze sowie journalistische Zeitungs- und Zeitschriften-
beiträge und Gesetzestexte sowie deren Äquivalente im Internet. Die be-
griffliche Klärung orientiert sich ebenfalls an dieser Primärliteratur. Als wei-
tere Materialbasis dienen die von mir durchgeführten und transkribierten
Interviews mit einigen Berliner Lehrerinnen und Lehrern, das Internet und
einige Fachaufsätze sowie eine veröffentlichte Seminararbeit.
4
,,Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde" (= LER). Das Fach ,,LER" wurde gemeinsam mit
der evangelischen Landeskirche Brandenburg entwickelt und wird seit dem Schuljahr
2001/02 sukzessive in Brandenburg eingeführt.
5
Schulgesetz des Landes Berlin, § 1.

7
1.4 Verlauf der Arbeit
Wie für die vermutlich meisten Staatsexamina zutreffend, stand für die Ar-
beit nur ein begrenzter Zeitrahmen zur Verfügung. Dieser Termindruck, ge-
paart mit deutlich suboptimalen persönlichen Lebensumständen (zwei Kin-
der, Frau mit einer Vollzeitbeschäftigung in Lüneburg, angespannte finan-
zielle Lage), ließ die Erstellung dieser Arbeit zu einem weit größerem Kraft-
akt werden, als in der Planung für diese Arbeit vorgesehen. Allein die
Durchführung der Interviews gestaltete sich deutlich zeitintensiver als ver-
anschlagt. Methodisch fiel mir beim Erstellen dieser Arbeit auf, dass ich der
Fragebogenentwicklung möglicherweise nicht ausreichend Aufmerksamkeit
geschenkt habe bzw. erst im Nachhinein erkannte, dass die Erstellung ei-
nes Fragebogens einen weitaus komplexeren und schwierigeren Vorgang
darstellt, als im Vorfeld ersichtlich. Auch qualitative Fragebögen bzw. Inter-
viewleitfäden bedürfen einer Test- und Verbesserungsphase (Plausibilität,
Ergebnisrelevanz), bevor mit der eigentlichen Untersuchung begonnen wird.
Dieses Dilemma offenbarte sich bei der Auswertung der Daten. Nicht zuletzt
aufgrund der zeitlichen Gedrängtheit der Arbeit, sondern auch aufgrund der
Unerfahrenheit bei der Erstellung von qualitativen Interviews musste aller-
dings auf eine Testphase für den Interviewleitfaden verzichtet werden. Die
Literaturrecherche konnte hingegen einigermaßen im vorgesehen Zeitrah-
men bewältigt werden, auch wenn nicht alle Literatur sofort verfügbar bzw.
sofort als für die Arbeit von Bedeutung identifiziert wurde. Das Ausformulie-
ren und Zusammenschreiben der Arbeit litt wiederum eher an einem Man-
gel an zur Verfügung stehender Zeit.
2 Begriffsklärung
Auch wenn der Weg, die verwendeten Begrifflichkeiten zu Beginn der Arbeit
zu erläutern, als ein klassischer Ansatz bezeichnet werden kann, habe ich
diesen Weg absichtlich gewählt. Eine Auseinandersetzung mit diesem
Thema in angemessener Tiefe kann nur aufgrund einer präzisen Begriffs-
klärung erfolgen.

8
2.1 Wert, Norm, Tugend
,,Geistige Werte müssen uns ansprechen wie Könige,
sie dürfen nicht aufgedrängt werden wollen."
Arthur
Schopenhauer
Dem Sinn des Wortes nach beschreibt ein Wert einen (materiellen oder
immateriellen) Gegenstand von einer gewissen Bedeutung für ein oder ggf.
auch mehrere Individuen, der bei der Befriedigung von Bedürfnissen hilf-
reich erscheint. Bezogen auf die Gesellschaftswissenschaften werden Wer-
te als Ideen oder Ziele beschrieben, die für ein Individuum ­ häufiger aller-
dings für eine Gruppe von Individuen ­ bei der Lebensgestaltung von Be-
lang sind, vergleichbar einem Leitprinzip. Werte dienen als Kriterien, an-
hand derer Menschen eigene Handlungen auswählen und rechtfertigen,
sowie Ereignisse und Handlungen anderer beurteilen (vorerst ohne zu wer-
ten, da die Bewertung von Werten eher eine Frage der Moral ist). Hillman
stützt sich bei seiner Definition eines sozikulturellen Wertes auf die Gedan-
ken von Rudolph
6
, Kmierciak
7
, Smelser
8
, Williams
9
und anderer und defi-
niert einen Wert als ,,einen grundlegenden allgemeinen Standard selektiver
Orientierung, ein basales Ordnungskonzept als Orientierungsleitlinie."
10
Werte bilden die allgemeinsten Leitlinien, die als sinnvolles, emotionsgela-
denes Formschemata das menschliche Handeln lenken. Für ihn sind Werte
,,Generalmotivatoren des Handelns"
11
. Werte grenzen sich dabei durch ihre
hohe Abstraktheit von Einstellungen leicht ab.
Werte, sofern vom Individuum als solche erkannt, bieten innere Stabilität
und Orientierung über eine gewisse Lebensspanne, haben von daher zu-
meist eine emotionale Komponente. Das Individuum kann sich (zumindest
mit den eigenen) Werten identifizieren, da diese als Entscheidungsgrundla-
ge des eigenen Handelns fungieren, ohne den schließlich zur Handlungs-
durchführung genutzten Aktionsweg zu determinieren. Werte werden so-
wohl vom Individuum wie auch in Gruppen hierarchisch geordnet.
6
Rudolph, 1959, S. 164.
7
Kmieciak, o. J., S. 150.
8
Smelser, 1972, S. 44.
9
Williams, 1953, S. 371.
10
Hillmann, S. 53.
11
Hillman, Ebd.

9
Von Hentig stellt fest, dass ,,ein Wert, den keiner mit einem teilt" ­ mag er
einem noch so heilig sein ­ den anderen nur eine Marotte ist.
12
Demnach
stellen Werte nicht nur individuelle Leitziele dar, sondern erhalten erst in
einer von einer Gruppe getragenen Dimension Bestand. Ich neige zu der
Ansicht, dass es zwei Arten von Werten gibt, die sich abermals in mehrere
Untergruppen aufteilen lassen: Neben den individuellen Werten existieren
gruppengetragene Werte, die sich jeweils in konkrete (und womöglich er-
reichbare) Leitprinzipien und -ziele wie auch in übergeordnete, normative
Vorstellungen unterscheiden lassen. Hillmann bezeichnet die normativen
Leitwerte als Werte, die individuellen Leitprinzipien als Wertvorstellungen.
Werte sind kulturrelevant, d. h. Mitglieder eines Kulturkreises haben im Zu-
ge eines geschichtlichen Entwicklungsprozesses ähnliche oder identische
Wertorientierungen und Werte erlangt, die sich von anderen nahen Kulturen
zunächst in ihrer Ausprägung unterscheiden. Neben dem Vorhandensein
von möglicherweise verschiedenen Werten liegt in den meisten Gesell-
schaften (vor allem in den individualistisch geprägten) eine individuell ver-
schiedene Gewichtung der Werte vor. Nach Hillmann sind Werte nicht nur
typisierend, sondern auch kulturprägend. Nach Klockhohn manifestieren sie
sich in Ideen, Symbolen und den moralischen und ästhetischen Normen
einer Gruppe.
13
In den meisten so genannten freien Gesellschaften haben sich nach dem
2. Weltkrieg einige Werte als Grundpfeiler der jeweiligen Gesellschaft ver-
festigt. Hierzu gehören die auch gern als Grundwerte bezeichneten Vorstel-
lungen von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit, Solidarität sowie Würde.
Sie gelten, auch wenn einige Entwicklungen nach den Anschlägen des 11.
September 2001 dies in Frage zu stellen scheinen
14
, als die ideell höchsten
Güter vieler Nationen.
Der hohe Stellenwert von Freiheit und Gerechtigkeit in den Gesellschaften
verschärft gleichzeitig die Diversität dieser Gesellschaften: Freiheit ist im
Verständnis der meisten westlichen Staaten ein Balanceakt zwischen den
Ansprüchen und Bedürfnissen des Individuums und jenen des Staates. Je
12
von Hentig, 1999, S. 71.
13
Klockhohn, in: Hillmann, S. 54.
14
Man denke an die aktuelle Sicherheitsgesetzgebung in nahezu allen westlichen Demo-
kratien, die die Bürger- und Menschenrechte beschneiden oder sogar außer Kraft setzen.

10
mehr Freiheiten das Individuum genießt, desto größer ist das Spektrum,
aus dem sich das in die Eigenverantwortung entlassene Individuum seine
Werte konstituieren kann. Freiheit heißt heutzutage vor allem auch Glau-
bens- oder Vorstellungsfreiheit. Individuen können frei entscheiden, welche
Werte zur Grundlage des Handelns ­ im Rahmen der freiheitlichen Ordnung
­ gemacht werden sollen. Diese Freiheiten schaffen eine in vielerlei Hin-
sicht pluralistisch-individualistische Gesellschaft. Davon nicht ausgenom-
men sind auch die Wertvorstellungen und Werte der sie konstituierenden
Individuen. Dieser Zustand wird Wertepluralismus genannt. Voraussetzung
für einen funktionierenden Wertepluralismus ist dabei eine möglichst hoch
entwickelte Akzeptanz der einzelnen Gruppen für einander. Ohne diese zer-
fällt die Gesellschaft entweder in Gleichgültigkeit oder Fanatismus oder
segmentiert sich, d. h. die Gemeinschaft bzw. die Basis für Gemeinschaft
wird zunichte gemacht. Für wertepluralistische, freie Gesellschaften muss
somit die Akzeptanz des Anderen (Andersdenkenden) zu den Grundwerten
gehören. Voraussetzung für Wertepluralismus ist dabei die Veränderlichkeit,
der Neuerwerb und auch das Sich-Trennen von Werten. Werte sind keine
zeitkonstanten Dogmen
15
. Vielmehr entwickeln sich Werte evolutionär (in
den seltensten Fällen revolutionär) in Abhängigkeit von sozialen, wirtschaft-
lichen und kulturellen Umständen und Entwicklungen. Ein Wertewandel ist
eine Veränderung der Wertorientierung einer Bevölkerung von einem Zeitin-
tervall zu einem nachfolgenden. Unbestritten ist der Wandel von Werten
und Wertvorstellungen (oder um mit von Hentig zu argumentieren: ,,die Ak-
zeptanz der Wahrnehmung") in weiten Teilen der Bevölkerung der Bundes-
republik im Vergleich der fünfziger Jahre mit der Gegenwart. So hat bei-
spielsweise Toleranz heutzutage nicht nur einen höheren Stellenwert im
gesellschaftlichen Umgang miteinander, sondern auch in vielen Bereichen
eine andere Bedeutung. Beispiel hierfür sind die gesellschaftliche Anerken-
nung und gesetzliche Gleichstellung von Alleinerziehenden, die gleichge-
schlechtliche Partnerschaft, die Akzeptanz alternativer Lebensformen im
Allgemeinen sowie die ­ ohne Zweifel noch zu verbessernde ­ Integration
von nicht in Deutschland geborenem Menschen. Die Summe der Werte, die
15
Dies gilt jedenfalls nicht in freiheitlichen Staaten. In Theokratien oder Tyranneien scheint
dies auf den ersten Blick hingegen zu gelten. Allerdings gibt es auch dort Veränderungen;
diese dauern aber länger, so dass der Beobachtungszeitraum größer zu fassen ist.

11
ein Individuum leiten, wird im Allgemeinen durch einen theoretischen Über-
bau, eine Ethik, verbunden.
Normen sind Verhaltensregeln im sozialen Umgang miteinander. Sie be-
schreiben sowohl erwünschte wie auch unerwünschte Zustände und Hand-
lungen. Normen werden ­ in Abgrenzung zu Wertorientierungen ­ nicht
durch Individuen erstellt, sondern werden in hierarchischen oder auch ba-
sisdemokratischen Institutionen durch Mehrheitsentscheidung oder Autorität
aufgestellt. Normen sind ­ zur Abgrenzung zu Werten ­ in ihrem gesell-
schaftlichen und temporalen Kontext mehr oder minder absolut, aber kei-
neswegs universell. Als Werte (konkret abstrakte Handlungsorientierungen)
sind sie etwa Teile des Grundgesetzes, wie es beispielsweise Artikel 2 (2)
(das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) konzipiert. Die ersten
19 Artikel des GG werden im Allgemeinen als der normative, der wertebe-
schreibende Teil des Grundgesetzes bezeichnet. Die davon abgeleiteten
Strafgesetzparagraphen z. B. §§ 211 StGB (Mord, Totschlag u. a.) sind die
daraus resultierenden absoluten Normen. Verstöße des Individuums gegen
diese Norm werden vom Staat bestraft.
Normen können aber auch einen auf eine Gemeinschaft, in der sie Wirkung
haben (sollen), nivellierenden Charakter haben, d. h. sie beschreiben in
diesem Fall einen (durchschnittlichen) Anspruch, vergleichbar mit einer
Gaußschen Normalverteilungskurve als Grundlage für die soziale Bewer-
tung und Benotung in Lerngruppen. Abweichungen werden als positiv oder
negativ von den Normkontrollierenden wahrgenommen und gegebenenfalls
sanktioniert. In einem gesellschaftlichen Kontext orientieren sich Normen an
vorhandenen Werten, sind aber selbst keine. Vereinzelt sind Normen auch
eher an Moralvorstellungen, der Interpretation und Bewertung von Werten
und Handlungen, gekoppelt. Hierzu folgendes Beispiel: Das Tötungsverbot
als Norm dient dem Wert der ,,Lebenserhaltung"; es kann aber durch gesell-
schaftliche Übereinkünfte modifiziert werden: Tötung als Akt der Selbstver-
teidigung, Tötung im Kriegsfall oder auch Tötung durch Staatsorgane bei
Verhängung der in manchen Ländern praktizierten Todesstrafe stellen je-
weils das gleiche Resultat dar. Dieses kam aber durch unterschiedliche Mo-
tivationen und Legitimationen zustande.

12
Unter einer Tugend verstand Aristoteles lobenswerte Eigenschaften eines
Menschen. Dabei orientierte sich seine Einschätzung des Lobenswerten an
den vier klassischen Grund- bzw. Kardinaltugenden der Antike: Klugheit
(Weisheit), Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. Neuzeitlich wurden bis
in das späte 20. Jahrhundert hinein die so genannten bürgerlichen Tugen-
den: Ordnung, Sparsamkeit, Reinlichkeit und Pünktlichkeit als Vorausset-
zung für ein erfolgreiches Leben (persönlich wie auch in der Gesellschaft)
erachtet. Damit wird deutlich, dass Tugenden in einem sozialen, kulturell
historischen Kontext existieren und sich verändern können. Tugenden sind
individuelle, nicht eindeutig einem Wert oder einer Norm zugeordnete Ei-
genschaften bzw. Verhaltensweisen.
2.2 Moral, Ethik
In der freien Enzyklopädie Wikipedia ist unter dem Stichwort Ethik folgende
Definition zu finden:
,,Ethik ist eines der großen Teilgebiete der Philosophie. Die Ethik bezeichnet man
auch als ,praktische Philosophie', da sie sich mit dem menschlichen Handeln be-
fasst (im Gegensatz zur ,theoretischen Philosophie', zu der die Logik, die Erkennt-
nistheorie und die Metaphysik als klassische Disziplinen gezählt werden).
Die Ethik beschäftigt sich damit, was gutes oder schlechtes Handeln ausmacht.
Eine Ethik sagt also, wie der Mensch handeln soll und wie nicht, bzw. wie er sich
beim täglichen Handeln zu entscheiden hat. Dazu gehören die Auseinanderset-
zung mit dem Ausmaß individueller menschlicher Freiheit sowie eine Bestimmung
von Gut und Böse."
16
Ein ethisches System lässt sich durch die Feststellung des Guten (bzw. Bö-
sen) in bestimmte Modelle einordnen. Die genutzte Frage- bzw. Feststel-
lung führt zu unterschiedlichen ethischen Systemen. Die bekanntesten sind
der Hedonismus, mit der Feststellung: ,,Gut ist, was Genuss bereitet", der
Eudämonismus mit: ,,Gut ist, was glücklich macht" sowie der Utilitarismus
mit: ,,Gut ist, was nützlich ist". Generell lassen sich die unterschiedlichen
Systeme in heteronome, d. h. fremdbestimmte (Beispiel hierfür wären die
Tora, Koran oder die Bibel) und autonome, d. h. eigenbestimmte Prinzi-
pienethiken klassifizieren, die individuellen Überlegungen entstammen. Die
Ethik ist ­ hier schließe ich mich der Überzeugung von Hentigs an ­ "die
16
Wikipedia, Stichwort Ethik.

13
Begründung der Werte".
17
Eine Ethik verbindet die zu ihrer Herleitung dien-
lichen Werte sinnvoll und möglichst widerspruchsfrei zu einer stark normativ
geprägten quasi ,,Lebens- oder Daseinsanleitung" für Individuen mit dem
Ziel, eine Gemeinschaft herzustellen. Ethik versucht das ,,Wie" und ,,Was"
von Gut und Böse zu ergründen und den Gesamtkontext von Handlungen
und Tätigkeiten zu konstruieren. Im Unterschied dazu geht es bei der Moral
vor allem um die Bewertung bzw. die Einsetzung dieser Handlungen und
Tätigkeiten in einen Bewertungsrahmen. In der freien Enzyklopädie Wikipe-
dia wird unter dem Stichwort Moral folgende Definition angeboten:
Moral ist ,,die Gesamtheit der sittlichen Normen, Werte, Grundsätze, die das zwi-
schenmenschliche Verhalten einer menschlichen Gesellschaft regulieren und von
ihrem überwiegenden Teil als verbindlich akzeptiert oder zumindest hingenommen
werden. (herrschende Moral; bürgerliche Moral)."
18
Für eine stark individualistisch ausgeprägte Gesellschaft bedeutet dies,
dass eine Vielzahl von Moralvorstellungen (parallel) in einer solchen Ge-
sellschaft existiert. Oelkers sieht in der Moral die Beschränkung des Han-
delns. ,,[...] in diesem Sinne diszipliniert sie, egal wie freizügig die pädago-
gische Theorie sein will."
19
Dieser Umstand ist nicht nur auf eine pädagogi-
sche Ethik beschränkt. Sowohl in der Philosophie (Kant) und auch in den
Erziehungswissenschaften (Brezinka) kommt es häufig zu einer Vermi-
schung von Ethik und Moral. Moral hat aber in Abgrenzung zur Ethik einen
imperativen Charakter: Das Individuum soll bzw. es darf nicht oder es
muss/soll. Damit wird die Moral zur praktischen Ethik: Eine Deutung der
normativen ethischen Ziele für eine praktische Anwendung im täglichen Le-
ben. Durch das Herunterbrechen auf die Alltagsebene erhält die Moral eine
Überprüfungssimultanität: Negative oder auch positive Überschreitungen in
der Gruppe können augenblicklich von dieser erkannt und (zumeist leider
nur negativ) sanktioniert werden. Somit können festgestellte und geahndete
Verstöße gegen bestehende ethische und/oder moralische Werte und Nor-
men zu einer veränderten Wahrnehmung von moralischen und ethischen
Werten und Normen von Individuen oder gar Gruppen in einer Gesellschaft
führen. Einfacher ausgedrückt: Werden Regel- oder Moralverstöße nicht
17
von Hentig, S. 71.
18
Wikipedia, Stichwort Moral.
19
Ölkers, S. 17.

14
geahndet, werden diese Regeln wie auch andere Regeln zukünftig weniger
befolgt. Als Beispiele hierfür seien die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse
Galileos und Kepplers, die mit Sanktionen der Kirche geahndet wurden,
sich aber dennoch durchsetzten, oder auch die Akzeptanz von Homosexua-
lität in der Gesellschaft genannt.
2.3
Wertedebatte in Erziehungswissenschaft und
Schule
,,Früher war alles besser, die Schüler ruhiger, die Schulen sauberer und,
und, und ...", diese oder ähnliche Aussagen sind vermutlich so alt, wie die
Institution Schule selbst. Selbst im antiken Griechenland beklagten sich
Dichter und Philosophen über die ­ ihrer Meinung nach - Ziellosigkeit,
Rücksichtslosigkeit, Gleichgültigkeit, Respektlosigkeit und Genusssucht der
jungen Generation. Die Debatte über verfallende, rückläufige Werte in
Schule und Gesellschaft ist eine ,,Nicht-enden-wollende". Diese Aussagen
verkennen allerdings das Wesen einer Gesellschaft: Zum einen ist Gesell-
schaft ein dynamischer Prozess, der steter Veränderung unterworfen ist,
auch wenn die Stetigkeit des Wandels vor allem durch den Staat (der Idee
des Staates) als Bewahrer von Ordnung und Sicherheit gebremst werden
soll (und muss). Hillmann postuliert, dass Werte als Elemente einer beson-
ders hoch gelegenen Integrationsebene des soziokulturellen Lebenszu-
sammenhangs häufig sogar wandlungsfeindlich ausgeprägt oder zumindest
schwer veränderbar sind
20
. Eine Werterevolution, d. h. der schnelle Umsturz
bestehender Werte ist soziologisch unwahrscheinlich, da er contra-
gesellschaftlich und contra-gemeinschaftlich wäre. Nicht zuletzt ist die Ver-
mittlung von Werten eine intergenerationelle Herausforderung. Werte und
Normen werden von Individuen wie auch von Gruppen erfahren und wahr-
genommen, so dass jede ältere Generation immer auch Einfluss auf die
Werteweitergabe an die jüngeren Generationen hat. Damit soll an dieser
Stelle allerdings keine ,,Schuldfrage" aufgeworfen oder gar beantwortet
werden. Vielmehr ist beabsichtigt, die Omnivalenz der Einflussfaktoren auf
das Herausbilden und das An- und Übernehmen von Werten zu betonen.
20
Hillmann, S. 92.

15
Die Schule unter Aufsicht des Staates
21
stellt hierbei keine Ausnahme dar,
kann keine Ausnahme darstellen. Dies bedeutet aber auch, dass Lehrerin-
nen und Lehrer in der Schule Mitverantwortung bei der Entstehung oder
Nicht- bzw. Falsch-Entstehung von Werten tragen. Allerdings sind sie somit
auch nicht die Alleinverantwortlichen im Fall des ,,Scheiterns". (Zudem ist
ein ,,Scheitern" bei der Entwicklung von Werten gar nicht möglich, da es
keinen Menschen ohne Wertvorstellungen gibt, es sind dann eben nur die
,,falschen".) Hofer
22
hat eben dies postuliert: Viele Schüler entwickeln in so
genannten postindustriellen Gesellschaften neue Wertvorstellungen und
Wertekonzepte, die mit den tradierten Vorstellungen nicht oder nur wenig
korrespondieren. Schule erlebt und gestaltet den fortwährenden Prozess
der gesellschaftlichen Veränderung. Problematisch wird dieses Zusammen-
spiel allerdings für den Fall, dass sich die gesellschaftlichen, ökonomischen
oder sozialen Gegebenheiten einer Gesellschaft schneller ändern, als die
Reformbemühungen dies kanalisierend begleiten. In diesem Fall geht der
relative Gleichschritt von Veränderung und Präservation verloren. Erschwe-
rend für die Ausbildung kohärenter Wertorientierungen und gesellschaftli-
cher Werte kommt die Zunahme der persönlichen Freiheit und Individualität
hinzu, wie dies ist in modernen pluralistischen Großgesellschaften der Fall
ist. Hillmann und Brezinka sind sich unabhängig voneinander einig, dass
dies ein großes Problem für die Herausbildung und Identifikation eines be-
deutsamen Wertesystems darstellt. Dies rührt einerseits vom unterschiedli-
chen Entwicklungstempo der die Gesellschaft determinierenden Gruppen
her sowie andererseits vom Nachlassen eines Gemeinschaftssinnes
(Stichwort: pluralistische Individualität). Ein weiteres Problem ist die empi-
risch schlecht messbare Moralität bzw. das moralische Handeln von Indivi-
duen. Sowohl für die Aussage, dass die moralische Handlung durch nicht
moralische, situative und persönlichkeitseigentümliche Kräfte bestimmt
wird, als auch für die Aussage, dass ein Einfluss spezifisch moralischer
Werte erkennbar ist, wurden empirische Beweise gefunden
23
. Colby und
Kohlberg
24
unterstreichen aber, dass nicht der Schluss gezogen werden
21
Vgl. Grundgesetz Artikel 7.
22
Hofer, 2004, S. 3.
23
Vgl. Colby, Kohlberg, S. 351.
24
Ebd.

16
sollte, dass irgendeine direkte Entsprechung zwischen der Konformität im
Bereich verbal bekundeter moralischer Einstellungen und der Konformität
im Bereich moralsicher Handlungen existiert. Dabei muss jedoch das
Wünschbare vom Gewünschten unterschieden werden. Das Werthafte ei-
ner Entscheidung macht nicht das Erwünschen von Gütern für sich aus,
sondern die Verfügung über Maßstäbe, nach denen etwas Erwünschtes
bevorzugt wird. Allerdings bleiben Werte nach Meinung Hillmanns ohne
Operationalisierung, Konkretisierung und Spezifizierung auf bestimmte Si-
tuationen des Alltags hinsichtlich der Handlungsebene abstrakte, unverbind-
liche und nicht beobachtbare ,,Leerformeln"
25
. In der Annahme eines freien
Willens des Individuums beeinflussen Werte somit weniger die Handlungs-
entscheidung an sich als vielmehr die Richtung, in die eine getroffene Ent-
scheidung planerisch gelenkt wird
26
. Sie bilden das Fundament für legitime
Handlungsziele und bilden damit einen allgemeinen Bezugsrahmen für so-
zial akzeptable Ansprüche und Wünsche der handelnden Individuen
27
.
Hierzu folgendes Beispiel: Eine Vielzahl von Jugendlichen erkennt die Not-
wendigkeit der Erledigung von Hausaufgaben an. Hofer
28
erkannte bei der
Frage, ,,wie dies zu bewerkstelligen sei", deutliche Unterschiede in der He-
rangehensweise. Während eine Gruppe von befragten Jugendlichen ihre
Hausaufgaben möglichst zügig und ohne Ablenkungen bearbeitete, ver-
suchte eine andere (gleichwohl größere) Gruppe nicht nur die Hausaufga-
ben zu erledigen, sondern gleichzeitig auch noch eine Freizeitgestaltung in
die Hausaufgabenbewältigung zu integrieren (Fernsehen, Telefonieren,
Computer). Beide Gruppen haben dabei die Notwendigkeit von Hausaufga-
ben offensichtlich erkannt und versuchen, diese mit unterschiedlichen Stra-
tegien zu bewältigen. Der Wert ,,Bildung" (bzw. das Erlangen dieser) scheint
von beiden akzeptiert zu werden. Der Bewältigungsmaßstab ist allerdings in
beiden Fällen ein sehr unterschiedlicher. Erkennbar ist eine enge Bezie-
hung zwischen der Reife des Handelns in moralischen Konfliktsituationen
und dem Grad der Entwicklung moralischer Werte. Dies zeigt sich vor allem
in Situationen, in denen die sozialen Normen mehrdeutig oder widersprüch-
25
Hillmann, S. 65.
26
Rehkuh, S. 4.
27
Hillmann. S. 67.
28
Hofer, 2003, S. 6.

17
lich sind. Colby und Kohlberg stellen fest, dass moralisches Denken natür-
lich auch Denken an sich ist und dass somit fortgeschrittenes moralisches
Denken (Handlungen für die Gruppe auch unter Hinnahme einer persönli-
chen Schlechterstellung) vom fortgeschrittenen logischen Denken abhängt.
Gleichwohl betrachten die beiden das logische Denken als eine notwendi-
ge, aber keine hinreichende Bedingung für die Entwicklung von Moralität. In
diesem Zusammenhang ist es die Regel, dass das logische Denken besser
entwickelt ist als die Moralität; die Umkehrung stellt, so die beiden Autoren,
die Ausnahme dar.
Colby und Kohlberg setzen ein fortgeschrittenes Stadium moralischen Urtei-
lens für die Fähigkeit zur moralisch-reifen Handlung voraus. Daraus postu-
lieren die beiden eine klare Abhängigkeit des moralischen Handelns von der
Fähigkeit des Denkens bzw. der Fähigkeit des moralischen Denkens: Mora-
lität beruht somit auf kognitiven Fähigkeiten. Eine These, die Eingang so-
wohl in das Judentum, die christliche Religion wie auch den Islam gefunden
hat. Dort wird eine klare Trennung von Tier und Mensch auf Basis des
(möglichen) moralischen Handelns des Menschen vorgenommen.
2.4 Wertewandel in Gesellschaft und Politik
nach dem Zweiten Weltkrieg
Nachdem alle reformpädagogischen Ansätze der Weimarer Republik durch
das ,,Dritte Reich" konterkariert und pervertiert worden waren, musste die
Pädagogik in den westalliierten Besatzungszonen vor allem demokratiekon-
form und zunächst auch pazifistisch sein. Viele der Grundwerte und Tugen-
den, die im ,,Dritten Reich" als besonders deutsch hervorgehoben und ge-
fördert wurden, hatten auch in der (frühen) Bundesrepublik Bestand: Diszip-
lin, Gehorsam, Pünktlichkeit. Andere, wie die perverse Vorstellung der Ü-
berlegenheit bestimmter Abstammungslehren und -merkmale oder übertrie-
bene Härte, waren hingegen nicht mehr gewünscht.
Zwar keimte in vornehmlich intellektuellen, liberalen und linken Zirkeln Un-
zufriedenheit über die nicht erfolgende Aufarbeitung der nationalsozialisti-
schen Gewaltherrschaft in Deutschland auf und führte zunächst in philoso-
phischer und gesellschaftlicher Hinsicht zur Entwicklung neuer Ansätze. In
diesem Zusammenhang seien Hannah Arendt und Theodor W. Adorno er-

18
wähnt. Ein universeller Ansatz zur Veränderung oder Abkehr blieb hingegen
nicht erkennbar. In den 1960er Jahren vollzog sich ein gravierender Bruch
zu den bis dato nicht nur theoretisierten, sondern auch praktisch angewen-
deten pädagogischen Grundsätzen. Begleitet von Studentenprotesten ver-
schafften sich neue (,,antiautoritäre Erziehung"
29
) bzw. wieder reaktivierte
pädagogische Ansätze (marxistische/sozialistische Pädagogik, Reformpä-
dagogik) Gehör in größer werdenden Teilen der Gesellschaft. Zu den wich-
tigsten Vertretern einer kritischen Theorie der Gesellschaft gehörten u. a.
Th. W. Adorno und Jürgen Habermas. In der Tradition des Marxismus- Le-
ninismus und der daraus hervorgegangenen Tätigkeitstheorie entwickelte
Lothar Klingberg eine dialektische Erziehungswissenschaft. Diese Entwick-
lung verlief keineswegs harmonisch. Vielmehr bildete sich der bis heute an-
haltende, ideologisch geprägte Dissens der Erziehungswissenschaften her-
aus: (Wert-) ,,erhaltende", an konservativen Standpunkten haftende Päda-
gogik versus ,,erneuernde", reformorientierte Pädagogik mit jeweils mannig-
faltigen Untergruppierungen und Differenzierungen. Wobei die an dieser
Stelle als ,,erhaltende" Pädagogik bezeichneten Ansätze auf bereits beste-
hende oder in früherer Zeit bestehende und nun im Rückschritt oder in Auf-
lösung befindliche Werte und Wertorientierungen zurückgriff und -greift und
diese in den Vordergrund ihrer Bemühungen und Betrachtungen stell-
te/stellt. Zu den wichtigsten Vertretern dieser Ausrichtung pädagogischer
Theoriebildung gehören u. a. W. Brezinka, T. S. Kuhn oder Karl R. Popper.
Die ,,erneuernde" Pädagogik sah und sieht hingegen die Notwendigkeit der
Veränderung bestehender Werte und Wertorientierungen. Dies wird aus
dem Bedürfnis zur Anpassung an sich veränderte gesellschaftliche (hierzu
zählt auch der ,,Zeitgeist"), wirtschaftliche, erkenntniszentrierte oder auch
ideologische Umstände gefordert. Auf diesem Gebiet arbeiteten u. a. Her-
wig Blankertz, Wolfgang Klafki oder M. Wagenschein als Vertreter einer
kritisch-konstruktiven Erziehungswissenschaft. Als Vertreter eines radikalen
Konstruktivismus zählen Heinz von Foerster, Ernst von Glaserfeld oder
Humberto Maturana sowie die Begründer des so genannten ,,Berliner Mo-
29
Wie Gamm anmerkt, wäre der Ausdruck ,,repressionsfreie Erziehung" viel treffender ge-
wählt.

19
dells": P. Heiman, G. Otto und W. Schulz
30
. Auf die sich zweifelsfrei verän-
dernden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten folgte eine
veränderte Wahrnehmung der Werte und ihrer Bedeutung für das Indivi-
duum und die Gesellschaft. Wichtig erscheint mir an dieser Stelle der Hin-
weis, dass die angesprochenen Veränderungen der gesellschaftlichen Situ-
ation und der Wertorientierungen in austauschbarer Reihenfolge erfolgen
können, vergleichbar der Diskussion über Henne und Ei. Auch kann zwi-
schen der Veränderung der Wertorientierung und der Veränderung der Ge-
sellschaft (oder umgekehrt) eine beliebige und unbestimmte Zeitspanne
liegen. So fiel beispielsweise die Zustimmung für die Notwendigkeit zur Er-
ziehung zur Höflichkeit und gutem Benehmen in nur fünf Jahren von 80 %
auf nur noch 60 % (1972)
31
, ohne dass die Mehrheit der Bevölkerung die
Gesellschaft als weniger höflich wahrgenommen hätte. Ähnlich deutlich fiel
der Rückgang in der Zustimmung bei der Aussage, die Arbeit soll ,,ordent-
lich" und ,,gewissenhaft" ausgeführt werden, aus. Stimmten 1967 noch 70 %
von repräsentativ befragten dieser Aussage zu, so waren es fünf Jahre spä-
ter nur noch halb so viele Befragte. Da es in diesem Zeitraum aber weder
einen signifikanten Rückgang der Produktivität noch unerklärliche Zunah-
men an Rückrufaktionen gab, ist nicht anzunehmen, dass die anfallenden
Tätigkeiten in dieser Zeitspanne schlampiger ausgeführt wurden. Die Zu-
nahme von Individualität und persönlicher Freiheit und Autonomie bei
gleichzeitiger Abnahme der Bereitschaft, sich in bestehende Ordnungen
widerspruchslos einzuordnen, Befehle auszuführen und Bestehendes kritik-
los hinzunehmen, prägte die Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg in
Deutschland. Gleichzeitig beschleunigte sich der Grad der Individualisie-
rung der Gesellschaft.
Diese Entwicklung hat aber auch in der Pädagogik nicht nur Beifall ausge-
löst und viele Kritiker hervorgerufen (vgl. Kapitel 2.5). Auch die Aufteilung in
,,erhaltende" und ,,erneuernde" Pädagogik bzw. deren vorrangigen Werte
und Wertorientierungen ist keine statische Einteilung. So hat sich sowohl
die Bedeutung wie auch die Einordnung der Begrifflichkeiten wie Autorität,
Gehorsam oder auch Höflichkeit im Laufe der vergangenen dreißig Jahre
30
Das sog. Berliner Modell von 1965 wurde 1980 zum Hamburger Modell weiterentwickelt
und hat weiterhin großen Einfluss auf die Lehrerbildung in Berlin.
31
14. Shell Jugendstudie ,,Jugend 2002", S. 139.

20
merklich gewandelt. In der Hochphase der sog. antiautoritären Erziehung
waren die Akzeptanz von Autorität oder Gehorsam geradezu ,,Un-" oder
,,Anti-Erziehungsziele", die es unter allen Umständen zu verhindern galt.
Mittlerweile besteht in den Erziehungswissenschaften weitestgehend Kon-
sens, dass ein Fehlen von Autorität oder Gehorsam oder auch von Höflich-
keit keinen wünschenswerten Zustand in einem Lernumfeld oder gar einer
Gesellschaft darstellt. Auch wenn eine solche Entwicklung auf den ersten
Blick quasi reaktionär erscheinen mag, liegt der Schlüssel zum Verständnis
in der Neubewertung der Begrifflichkeiten: Autorität soll durch fachliche,
soziale und menschliche Qualität und nicht aufgrund von sozialer Stellung
oder Alter erfolgen. Zudem hat es sich gezeigt, dass eine ,,Hyper-
Individualisierung durch die Negation von gesellschaftlich relevanten Tätig-
keiten des Individuums den Staat als Idee für Gemeinwesen in eine tiefe
Krise stürzen bzw. sogar zu einer Bedrohung werden kann. Der Mensch als
soziales Wesen ohne soziale Bindungen verliert seine ,,Menschlichkeit".
2.5 Werteerziehung in der Erziehungswissenschaft
Das Festhalten an bestehenden und tradierten Werten und Wertvorstellun-
gen contra der Notwendigkeit zur Veränderung durch geänderte gesell-
schaftliche, wirtschaftliche, soziale und erkenntnisorientierte Rahmenbedin-
gungen stellt nicht nur für die pädagogische Ethik, sondern für alle gesell-
schafts-wissenschaftlichen Theorien ein Hauptproblem dar. Und selbst in
den Naturwissenschaften kann, ausgelöst durch einen Erkenntniszuwachs,
eine Neubewertung von ­ an sich bis dato gültigen ­ Naturgesetzen gele-
gentlich erforderlich werden. So bewirkten die Relativitätstheorie, die Quan-
tentheorie und auch die Stringtheorie in Teilgebieten der Physik eine Neu-
schreibung der bestehenden Gesetze und Regeln. Der entscheidende Un-
terschied zu den Naturwissenschaften besteht allerdings darin, dass es na-
turgesetzgleiche Feststellungen weder in den Sozial- noch in den Geistes-
wissenschaften in der gleichen Konsequenz wie in den Naturwissenschaf-
ten gibt. Somit ergibt sich durch neue Erkenntnisse nicht zwingend eine
daraus abgeleitete abrupte Veränderung des wissenschaftlichen Stand-
punktes. So lässt sich erklären, dass in der kontemporären wissenschaftli-

21
chen Diskussion unterschiedlichste Meinungen und Überzeugungen existie-
ren.
Welche Aufgaben hat aber nun eine pädagogische Ethik? Soll diese einen
Leitfaden für Erziehung und Lernen liefern, wie Oelkers feststellt, um die
Erziehung zu rechtfertigen und nicht um Moral zu vermitteln
32
?
Im folgenden Kapitel geht es um die Darstellung von drei divergierenden
Konzepten zur pädagogischen Ethik. Mit Wolfgang Brezinka soll ein Vertre-
ter einer konservativen, christlich-religiösen und bewahrenden pädagogi-
schen Ethik vorgestellt werden, Jürgen Oelkers wird als Vertreter einer auf
Wandel reagierenden aufklärenden, pluralistischen und kommunikations-
theoretischen Ethik dienen und Hans-Jochen Gamms Aussage kann als
Beispiel für eine ideologisch, kapitalismuskritisch orientierte Ethik verstan-
den werden. Allen Ansätzen gleich ist dabei der Wunsch nach Veränderung
der bestehenden pädagogischen Ausrichtung.
2.5.1
Brezinkas Konzepte einer pädagogischen Ethik
Brezinka fasst seine Kritik wie folgt zusammen: ,,Zur Orientierungs-, Wer-
tungs- und Erziehungskrise unserer Zeit haben vor allem drei Leitgedanken
beigetragen: der Rationalismus, verstanden als einseitige Überschätzung
der Vernunft; der Individualismus, verstanden als einseitige Überbetonung
der Interessen des Einzelmenschen; und der Hedonismus, verstanden als
einseitige Überbewertung von Lust, Vergnügen und Genuß (sic!) als höchs-
ten Gütern."
33
. Damit formuliert Brezinka eine allgemeine Kritik, der in dieser
allgemeinen Form auch widerspruchslos zugestimmt werden kann (ein Blick
in das Vorabendprogramm nahezu aller Fernsehsender genügt, um mindes-
tens zwei der drei Kritikpunkte bestätigt zu finden), da alle vorgebrachten
Punkte dem Grundgedanken nahezu jeder pädagogischen Ethik ­ der Er-
möglichung von gesellschaftlichem Zusammenleben ­ entsprechen. Auch
gegen seine Feststellung, dass ,,zu den Leiden, die durch übermäßiges
Wissen vermehrt werden, neben vielen andern auch die Werteunsicherheit
gehört"
34
, ist zunächst nichts einzuwenden. Seine Forderung, die Erziehung
zur Lebenstüchtigkeit müsse das Streben jedes Erziehenden sein, mit dem
32
Ölkers, S. 11.
33
Brezinka, S. 15.
34
a.a.O., S.19.

22
Ziel, Selbstverwirklichung des Einzelnen ebenso zu garantieren wie auch
den Fortbestand des Ganzen
35
, d. h. der Gesellschaft, ist plausibel und un-
widersprochen. Leider konkretisiert Brezinka nicht, wo für ihn die notwendi-
ge Einschränkung des Einzelnen beginnt und wo diese aufzuhören hat.
Seine Feststellung, dass die individualistische Überbetonung der eigenen
Interessen durch die Propaganda für Gleichheit verstärkt worden sei
36
, lässt
aber erahnen, dass er den aktuellen Zustand in Schule und Gesellschaft für
einerseits beklagenswert und andererseits für reversibel hält. Brezinka ar-
gumentiert in der Tradition von Aristoteles, wonach die Lebensaufgabe des
Einzelnen stark von seinen ,,Tugenden", also den von Geburt an determi-
nierten Fähigkeiten, abhänge, die Menschen also mitnichten gleich seien,
da sie über unterschiedliche Voraussetzungen verfügten. In diesen Gedan-
kenkanon gehört auch die Vorstellung, dass die Demokratie die zweit-
schlechteste aller möglichen Regierungsformen sei, nur noch unterboten
von der Tyrannei. Seine Ansichten zu Eliten, Elitenförderung und die Be-
gründung der Notwendigkeit von Eliten gerade auch im Bildungsbereich
implizieren eine solche Haltung. Er sieht in den Bildungsreformen seit den
1960er Jahren eine unglückselige Verschlechterung des Wissenstandes der
Schüler sowie einer deutlichen Aufweichung von Normen und Werten, die
mit der Einrichtung der Gesamtschule als Hort von ,,Gleichmacherei" und
Wissensverminderung einen Tiefstpunkt erreicht hat. Brezinka fordert eine ­
seiner Ansicht nach fehlende - gesamtgesellschaftliche Bereitschaft der wi-
derspruchslosen Hinnahme und Annahme von feststehenden Wissens-
fragmenten bzw. die Übernahme von Wertvorstellungen, Normen und mora-
lischen Bewertungen sowie deren Kriterien. Er unterstellt die Existenz einer
einzigen übergeordneten Wahrheit und Richtigkeit. Es wird eine Unter-
scheidung zwischen Bestimmenden und Bestimmten getroffen. Das Hinter-
fragen von Wissen oder Verhaltensweisen scheint für ihn geradezu eine
gesellschaftliche Insubordination. Widerspruch und Widerspruchsfähigkeit
sollen seiner Ansicht nach vom Stand der Erkenntnis, bei Brezinka vor al-
lem gleichgesetzt mit Wissen, abhängen. Damit skizziert er ein Gesell-
schaftsmodell, das auf gesellschaftlicher Separation durch Geburt, Ausbil-
35
Brezinka, S. 52.
36
a.a.O, S. 21.

23
dung und Berufsleben fußt. Grundlage hierfür sind klare gesamtgesell-
schaftliche Vorstellungen von Erziehung. Zu diesen gehören der Mut zu
werten, Handlungsmöglichkeiten, Gemütserziehung und sittliche Erzie-
hung
37
. Diese stark humanistisch-aristotelisch pädagogische Ethik entbehrt
nicht einer inneren Logik und Konsistenz, sie trägt aber den Anforderungen
an das komplexe Leben in postmodernen, postindustriellen Informations-
und Wissensgesellschaften in keinster Weise Rechnung.
2.5.2
Jürgen Oelkers Konzept einer pädagogischen Ethik
Einen deutlich theoretischeren Ansatz zur Begründung einer pädagogi-
schen Ethik beschreitet Jürgen Oelkers. Lernen und Erziehung sind für ihn
engstens mit der Autonomie und Freiheit des Individuums innerhalb einer
freiheitlichen Gesellschaft verbunden. Damit bewegt sich Oelkers im histori-
schen Kontext der europäischen Aufklärung, entwickelt diese aber weiter.
Für Oelkers kann, darf und muss eine pädagogische Ethik aus mehr als nur
einem klaren Schwarz-Weiß-Bild bestehen. Leben, Lernen und Erziehen in
Freiheit und Gemeinschaft ist für ihn ,,grau". ,,Bildung wäre" (ist) ,,damit Er-
öffnung von Räumen des Wissens oder im weiteren Sinne der Kultur. Kultur
existiert aber nur mit und durch moralische Kommunikation... ist also nicht
norm- und wertfrei."
38
. ,,Erziehung" vermittelt nicht ,,Werte" oder ,,Normen".
39
Erziehung ist im engeren Sinn moralische Kommunikation.
40
Von Hentig
formulierte hierzu treffend: ,,... die Forderung nach Werteerziehung, die
besser ,,Tugend-" oder ,,Charaktererziehung" hieße und am besten nur ein-
fach ,,Erziehung".
41
" Oelkers unterstreicht, dass Erziehung scheitern kann,
auch wenn vom Lehrenden alles ,,richtig" gemacht wurde. D. h. Erziehung
als ein multifaktorieller und vor allem ergebnisoffener Prozess. Ein Um-
stand, den Brezinka nicht explizit herausstellt. Erziehungsansprüche sind
Geltungsansprüche, nicht nur bezogen auf eine Situation, sondern bezogen
auf die Zukunft von Lernenden. Da Zukunft aber ergebnisoffen ist, ist das
Ergebnis von Erziehung nicht determiniert bzw. determinierbar und keines-
wegs linear. Zudem stellt Oelkers fest, dass Neutralität dem Lernenden ge-
37
Brezinka, S. 56f.
38
Ölkers, S. 180.
39
a.a.O., S.15.
40
a.a.O., S. 183.
41
von Hentig, S. 89.

24
genüber nicht möglich ist.
42
Kernpunkt seiner pädagogischen Ethik ist die
Feststellung, dass die Erziehungsansprüche (oder auch ethischen Ansprü-
che) mit den eigenen Paradoxien innerhalb dieses theoretischen Gebildes
produktiv umgehen können müssen. Widersprüche und Gegensätze sind
durch den prozessualen Charakter von moralischer Kommunikation Be-
standteil des Systems und gefährden es nicht. Wenn nun aber Moral bzw.
der ethische Überbau nicht wie bei Brezinka ein statisches (oder gar dog-
matisches) System darstellt, dann erfordert ein solches dynamisches Sys-
tem, dass es ständig neu artikuliert wird.
43
Aufgabe einer pädagogischen
Ethik muss es sein, dass Moral als Anspruch und System so präsentiert
wird, dass sie lernbar ist.
44
Zugleich muss diese Ethik den allgemeinen An-
spruch einlösen, die tribalen Konventionen zu übersteigen. ,,Sie ist dann
nicht Ideologie, also Rechtfertigung einer bestimmten Moral, sondern ein
eigener Bereich der Reflexion"
45
.
2.5.3
Hans-Jochen Gamms Konzept einer pädagogischen Ethik
Während Brezinka und Oelkers trotz der nur peripheren Kongruenz ihrer
Gedanken zur Auskleidung einer pädagogischen Ethik positiv beschreibend
vorgehen, beschreitet Gamm hingegen zumeist den umgekehrten Weg über
die Beschreibung von Negativattributen von Erziehung und Erziehungszie-
len. Häufig verweilt Gamm dabei in einer Kritik der Zustände, ohne Hand-
lungsalternativen aufzuzeigen. So ist moderne Erziehung nach Ansicht von
Oelkers keine Kosten-Nutzen-Rechnung
46
. Gamm widerspricht dieser An-
sicht. Erziehung und Lerninhalte richten sich in kapitalistischen Systemen
einzig am Nutzen für den Produktionsprozess aus, schreibt er. ,,Tugenden
stehen in Zusammenhängen und decken einander wechselseitig die Flan-
ken, doch bleibt ihr Kompositionsgesetz unbekannt. In der bürgerlichen Ge-
sellschaft lassen sich Tugenden je nach Wirtschaftlage umstellen".
47
Mit
dieser Feststellung hat Gamm nicht nur die kognitiven Lernziele im Auge,
sondern vor allem die in der Schule von den Schülerinnen und Schülern
42
Ölkers, S. 198.
43
a.a.O., S. 206.
44
a.a.O., S. 18.
45
a.a.O., S. 13.
46
a.a.O., S. 183.
47
Gamm, S. 99.

25
prägend wahrgenommenen hierarchischen und sozialen Strukturen. Dabei
verkennt Gamm, dass sich die Institution Schule sowohl curricular wie auch
methodisch-didaktisch und systemisch in den vergangenen Jahren um eine
Demokratisierung und Flexibilisierung bemüht hat
48
. So steht der Grundge-
danke der Erziehung zur Lebenstüchtigkeit in Berlin an erster Stelle. Dies
beinhaltet in der heutigen Zeit auch die Erziehung zum freien Willen (im
Rahmen der freiheitlich demokratischen Grundordnung). Dieser kann in ei-
nem kapitalistischen Wirtschaftssystem eben auch die Entscheidung des
Individuums zur Nichtpartizipation am Wirtschaftsprozess oder Veränderung
desselben bedeuten. Im Gegensatz zu Brezinka stellt Gamm den Gleich-
heitsgrundsatz des Individuums sowohl in Bildung und Erziehung wie auch
in sozialen Belangen auf. Er kritisiert die vorhandene soziale Differenzie-
rung des Bildungssystems, die zur Folge hat, dass ,,Erziehung und Wissen
nicht kongruent gehalten werden können... moralgesteuertes Wissen ist
davon nicht ausgenommen."
49
Gamm trennt in primäre und sekundäre Tu-
genden. ,,Als primäre Tugenden dürfen jene gelten, die den Einzelnen er-
mächtigen, sich zum Subjekt seiner Geschichte zu formieren."
50
Gleichwohl
stellt auch Gamm eine übergeordnete Wahrheit für die Grundzüge seiner
pädagogischen Ethik fest. ,,Wahrheit beruht auf Wissen. Das Wissen darf
aber nicht ideologisch und suggestiv eingesetzt werden."
51
Dies ist mehr als
Anspruch an die Lehrenden zu verstehen, denn bereits Oelkers hatte fest-
gestellt, dass Erziehung niemals neutral sein könne. Zudem geschieht Er-
ziehung in einem sozialen, geschichtlichen und nicht zuletzt auch ideologi-
schem Umfeld und kann daher nicht davon losgelöst werden. Selbst Rous-
seaus Emile beschrieb nur die Geschichte des Scheiterns eines solchen
Experiments. Gamms Kritik an der vermeintlichen, den Kapitalismus för-
dernden Erziehung ist vielmehr als Kritik an der mit Zwang verbundenen
kontemporären Erziehung durch staatliche Stellen zu sehen. Denn Gamm
stellt fest, dass Erziehung gewiss Zwang beinhaltet, ,,so bleibt sie von ihrer
Theorie gehalten, Zwänge menschlich auszulegen, den Zögling nicht zu
48
Vgl. Berliner Schulgesetz §§1-9.
49
Ölkers, S. 184.
50
Gamm, S. 99.
51
Ölkers, S. 180.

26
unterwerfen."
52
,,Erziehung impliziert Zwang. Ohne ihn würde die Bildung
verfehlt"
53
, zumal Erziehung mit dem Ziel eines friedfertigen und respektvol-
lem Umgangs unter Menschen und Völkern auch das Erlernen von Verhal-
tensmustern und -strategien beinhaltet, die sich in ihrer Sinnhaftigkeit nicht
augenblicklich erschließen und auch die Rücknahme oder Einschränkung
des Individuums bedeuten kann. ,,Die Dimension der Freiheit wächst aus
dem Zwang. Nur strenges Lernen bietet die Grundlage, auf der Freiheit sich
qualifiziert."
54
Dies heißt: Nur wer Wissen, Erziehung und Lernen unter
,,Zwang" erlebt und durchgestanden hat, weiß persönliche Freiheit(en) als
solche zu erkennen und zu schätzen. Pädagogische Ethik findet vor dem
Hintergrund des Kantschen Kategorischen Imperativs ihre Aufgaben.
55
Dennoch bleibt Gamm bei seiner Kritik an der einseitigen Ausrichtung von
Erziehung an den Erfordernissen des Marktes. Gamm zitiert Marx mit den
Worten: ,,Der Zwang aber, der durch alle Bereiche hindurch schlägt, ist der
,stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse'". Und weiter: ,,... es ergibt
sich, dass Arbeit die Oppositionsgröße zum Kapital darstellt und das Kapital
sich wünscht, die Arbeitskraft unter seine Direktive zu bringen. Pädagogik
kann daher keinen gedeihlichen Bund zwischen entfremdeter Arbeitswelt
und lernenden Subjekten stiften... Demokratie ... gilt bezüglich der Produkti-
onsmittel nicht, da eine Minorität von Kapitaleignern die Majorität der Bevöl-
kerung legal überwältigt, ihr Eingriffe in die Produktion verwehrt."
56
Für ihn
ist Demokratie weder in der Familie noch in der Schule möglich. Kontrover-
sen sind nämlich zu entscheiden, wenn das Leben weitergehen soll.
57
Da-
mit stimmt er in diesem Punkt sogar mit der Idee Brezinkas überein. Ziele
einer pädagogischen Ethik müssten nach Gamm unter anderem die Erfah-
rung des Handelns sowie die größtmögliche Autonomie des Individuums in
seiner Meinungsfindung darstellen. Großes, wenn nicht sogar größtes Prob-
lem bei der Erziehung dürfte die Tatsache sein, dass mitgeteilte Erfahrun-
gen keine eigenen sind. Nach Ansicht Gamms bleiben sie ,,aufgepfropftes
Leben".
52
Gamm, S. 102.
53
a.a.O., S. 104.
54
a.a.O., S. 106.
55
a.a.O., S. 139.
56
a.a.O., S. 126f.
57
a.a.O., S. 103.

27
Den vermutlich kleinsten gemeinsamen Nenner haben Bruner und Good-
mann, zitiert nach Oelkers
58
, mit ihrer Feststellung benannt, wonach Erzie-
hung nur in ständigem Dialog entstehen kann, in dem über Sinn verhandelt
oder immer wieder erneut Bedeutung hergestellt wird. [...] Autonomie des
Individuums wird zur Voraussetzung, wenn das Lernziel ,,Moralerziehung"
heißt.
2.6 Grundfragen schulischer Werteerziehung
Welche Werte, Normen, moralischen Kontexte soll die Institution Schule
vermitteln? Neben einem individuellen Aspekt, ausgedrückt durch die Rolle,
Sozialisation, Erfahrung und Persönlichkeit des Lehrenden, gibt eine Viel-
zahl von äußeren Faktoren einen festen Rahmen vor. Schule unter Aufsicht
des Staates, wie in Artikel 7 Abs. 1 GG festgeschrieben, muss sich an die
bestehenden Gesetze und Verordnungen halten. Erziehung in der Schule
kann und darf den Zielen des Gemeinwesens, des Staates, nicht konträr
laufen. Schule und die in ihr vermittelten Inhalte und Ziele müssen sich im
Rahmen der freiheitlichen Grundordnung bewegen. Den weiteren Rahmen
stecken die UN-Menschenrechtskonvention und das Grundgesetz ab. Nä-
heres wird in den jeweiligen Landesverfassungen und den Schulgesetzen
der Länder geregelt. Ergänzt wird die Hierarchie durch Verordnungen und
Anweisungen. Gleichwohl prägt aber auch die Gesellschaft auf diesen Ge-
setzen und normativen Ansprüchen basierende Vorstellungen, an denen
auch die Institution Schule nicht vorbeikommt.
2.6.1
Institutionelle Bedingungen
Welches könnte die Voraussetzung für ein gesittetes Miteinander der Men-
schen, ein quasi ,,höchstes Gut" sein? Worauf ließe sich eine zivilisierte Ge-
sellschaft aufbauen?
In der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland heißt
es:
,,Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Wil-
len beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden
der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden
Gewalt dieses Grundgesetz gegeben."
58
Ölkers, S. 175.

28
Gewachsen aus der Notwendigkeit, die Vernichtungen des ,,Dritten Rei-
ches" sich nie wiederholen zu lassen, erhoben die Mütter und Väter des
Grundgesetzes die Friedfertigkeit als Voraussetzung für das gesittete Mit-
einander in der Bundesrepublik. Diese Friedfertigkeit kann nur nach außen
wirken, wenn sie auch im inneren und auf das Miteinander der Individuen
Wirkung hat
59
. Doch nicht nur die Präambel, sondern auch die einzelnen
Artikel ­ hier vor allem die ersten vier Artikel ­ geben Auskunft über die
Wertegewichtung der Grundgesetzschöpfer: Würde des Einzelnen, persön-
liche Freiheit, Gleichheit der Menschen und Geschlechter sowie Religions-
freiheit und -unabhängigkeit wurden als schützenswerte Güter festgeschrie-
ben. Der von vielen Politikwissenschaftlern konstatierte normative Charak-
ter des Grundgesetzes (vor allem der ersten 19 Artikeln) setzt sich dabei
nicht nur in den Landesverfassungen fort, sondern wurde unter anderem im
Berliner Schulgesetz als Erziehungsanspruch und -ziel festgeschrieben.
Ergänzt wurde es um das Ziel, die Friedfertigkeit bzw. das friedliche Mitein-
ander der Menschen mit dem festen Bekenntnis zur Demokratie und der
daraus notwendigen Erziehung anzustreben.
Der direkte Vergleich mehrerer Schulgesetze zeigt in der Summe nur gerin-
ge Varianzen in der Vorstellung über den Auftrag von Schule und die zu
erreichenden Erziehungsziele. Allerdings ergibt sich aus der unterschiedli-
chen Schwerpunktsetzung durch die divergierende Chronologie der Auf-
tragsprioritäten und Erziehungsziele im Einzelnen ein sehr viel diversifizier-
teres Bild.
So formuliert das Berliner Schulgesetz die Persönlichkeitsbildung durch die
Vermittlung eines Höchstmaßes an Urteilskraft (Autonomie und Selbstbe-
wusstsein des Individuums), gründlichem Wissen und Können an erster
Stelle. Dadurch sollen ,,Persönlichkeiten herangebildet werden, die fähig
sind, Ideologien des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherr-
schaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegen zutreten"
60
.
Zudem soll die Persönlichkeitsbildung Grundgesetzeskonformität (aktive
Akzeptanz der Ideen von Demokratie, Frieden, Freiheit, Menschenwürde,
59
Neben der Präambel regeln die Artikel 25 und 26 die Verpflichtung zur Anerkennung des
Völkerrechts und zur staatlichen Friedfertigkeit.
60
Berliner Schulgesetz vom 26. Januar 2004, §1.

29
Gleichstellung der Geschlechter) sowie ein Bewusstsein für die Notwendig-
keit des Lebens im Einklang mit Natur und Umwelt, die Gleichberechtigung
aller Menschen und Toleranz Andersdenkenden gegenüber im Ergebnis
erbringen. Erst im letzten Drittel werden historische und kulturelle Bezüge
zur Antike, Christentum und Humanismus und deren Bedeutung für das
friedfertige Miteinander der Menschen postuliert.
61
Die normativen Ziele von
Schule werden in §3 konkretisiert, wobei Absatz 1 erneut eine Zusammen-
fassung der Erziehungsziele formuliert: ,,Die Schule soll Kenntnisse, Fähig-
keiten, Fertigkeiten und Werthaltungen vermitteln, die die Schülerinnen und
Schüler in die Lage versetzen, ihre Entscheidungen selbstständig zu treffen
und selbstständig weiterzulernen, um berufliche und persönliche Entwick-
lungsaufgaben zu bewältigen, das eigene Leben aktiv zu gestalten, verant-
wortlich am sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Le-
ben teilzunehmen und die Zukunft der Gesellschaft mitzuformen."
62
Absatz
2 formuliert die anzustrebenden Kompetenzen und Fähigkeiten der drei
Lernebenen: kognitiv, motorisch und sozial-emotional (affektiv). In Absatz 3
werden die normativen Erziehungsziele der Berliner Schule weiter konkreti-
siert. Leitgedanke der Zielbeschreibungen ist dabei die Herausbildung einer
autonomen, moralischen Individualität mit Bewusstsein für Gemeinschaft,
Friedfertigkeit, Toleranz, Mitgefühl, Natur und gesellschaftlicher Teilnahme
sowie der eigenen Gesundheit; kurzum Schule soll die Schülerinnen und
Schüler zu wertvollen und fähigen Mitgliedern der bestehenden und einer
sich daraus möglicherweise weiterentwickelnden Gesellschaft machen.
Beim Blick durch das Nachmittagsprogramm der meisten deutschen Fern-
sehsender ist der Zuschauer allerdings geneigt anzunehmen, dass dieses
hohe Ziel noch in weiter Ferne liegt bzw. bislang klar verfehlt wurde.
Einen anderen Weg hat das Land Niedersachsen mit seinem Schulgesetz
in der Fassung vom 3. März 1998 beschritten. Erst der Paragraph 2 befasst
sich mit dem Auftrag der Schule. In diesem heißt es: ,,Die Schule soll im
Anschluss an die vorschulische Erziehung die Persönlichkeit der Schülerin-
nen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen
Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und sozialen
61
Ebd., §1.
62
Ebd., §3 (1).

30
Freiheitsbewegungen weiterentwickeln."
63
Während der zweite Absatz die
Verfassungstreue zu Grundgesetz und Landesverfassung einfordert, wer-
den in Absatz 3 Kompetenzen und Fähigkeiten, die Schule zu vermitteln
hat, ebenso aufgezählt wie normative Erziehungsziele. Grundlage hierfür
sind unter anderem die UN-Menschenrechtskonvention, das Grundgesetz
sowie die Landesverfassung. So sollen die Schülerinnen und Schüler befä-
higt werden, sich aktiv ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung zu stellen
und gestalterisch in der Demokratie tätig zu werden. Zudem sollen die
Schülerinnen und Schüler lernen, nach ethischen Grundsätzen zu handeln
sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu achten. Dies setzt
voraus, dass auch in der Schule diese Werte und Grundsätze gelernt, ver-
mittelt oder anerzogen, und auch praktiziert werden. Des Weiteren sollen
die Schülerinnen und Schüler Kompetenzen und Fähigkeiten, die für das
Bestehen in einer Informations- und Wissensgesellschaft notwendig gewor-
den sind, erlangen. Hierzu gehören die Erziehung zu einem Gerechtigkeits-
empfinden, zu Toleranz und Menschenwürde, zur Völkerverständigung, zu
einem Verständnis von Ökonomie und Ökologie, zu einer Umwelt- und Ge-
sundheitsverantwortung, zur Konfliktfähigkeit, zu einer Informations- und
Medienkompetenz sowie zur Bewahrung regionaler (Sprach-) Traditionen
und zur Fähigkeit, sowohl allein wie auch in der Gemeinschaft zu lernen
und Leistung zu erbringen. Zudem soll Schule die Bereitschaft zu einem
Zustand lebenslangen Lernens erwecken.
Eine neue Gewichtung der bereits vorgestellten Erziehungsziele und Auf-
gaben von Schule nimmt das Schulgesetz des Landes Baden-Württemberg
vor. So stellt hier das Schulgesetz neben Grundgesetz und Landesverfas-
sung die Notwendigkeit zur Erziehung zu und Ausbildung von Gemein-
schaftsfähigkeiten an erster Stelle. Nur hier findet sich auch der Verweis auf
das Vorhandensein von Rechten und Pflichten des Einzelnen in der Ge-
meinschaft. Einzig Baden-Württemberg erwähnt im Zusammenhang mit
Aufgaben von Schule und den Erziehungszielen explizit Gott und die christ-
liche Religion und nicht nur, wie in den beiden anderen Gesetzen gesche-
hen, das Christentum. Im Weiteren fordert das Gesetz von der Institution
Schule die Erziehung
zur
Menschlichkeit und Friedensliebe, zur Liebe zu
63
Niedersächsisches Schulgesetz, §2.

31
Volk und Heimat, zu Toleranz, zu Leistungswillen und Eigenverantwortung
sowie zu ,,sozialer Bewährung". Erst im Anschluss wird auf die Individualität
des Einzelnen und die Verpflichtung zu entsprechender Förderung einge-
gangen. Abschließend wird abermals die Erziehung zur Wahrnehmung und
Anerkennung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung betont und ein
Bezug von Schule zum späteren Leben, dem Berufsleben, hergestellt. Ab-
schließend werden die Bedeutung und die Notwendigkeit der Erziehungsar-
beit der Familie, durch die Notwendigkeit zur Beachtung der verfassungs-
mäßigen Mitbestimmungsrechte der Eltern sowie weiterer Erziehungsträger
durch die Schule, hervorgehoben. In Tabelle 1 habe ich die Schwerpunkte
ihrer Reihenfolge nach kategorisiert. Grundlage hierfür ist die Annahme,
dass von den Müttern und Vätern der Gesetzestexte mit der Reihenfolge
auch eine gewisse Rangfolge und Gewichtung der einzelnen Aufgaben und
Ziele verbunden war.
Tabelle 1, Übersicht über die Aufgaben und Erziehungsziele von Schule in den Bun-
desländern Berlin, Niedersachsen und Baden-Württemberg
Bundes-
land
Reihenfolge der Auftragsziele bzw. Erziehungs-
ziele wie im jeweiligen Schulgesetz festgehal-
ten
Bezug nehmend
auf:
Berlin Auftrag
(§1)
1. Entfaltung der wertvollen Anlagen
2. Vermittlung von Wissen, Können und Ur-
teilskraft
3. Bildung von Persönlichkeiten, die:
- widerstandfähig gegen totalitäre und natio-
nalsozialistische politische Lehren sind
- auf Basis der UN-Menschenrechte und des
Grundgesetzes agieren
4. Kenntnisvermittlung der Antike, des Chris-
tentums sowie freiheitlich-demokratischer
Bewegungen
Ziele (§3)
1. Herausbildung eines selbständigen, mündi-
gen demokratischen Bürgers
2. Erlernen von sozialem Miteinander, kriti-
scher Informationsbeschaffung, Toleranz
anderen und sich selbst gegenüber, musi-
kalisch-künstlerische Fähigkeiten und Ideen
erlernen und aufnehmen, Lernbereitschaft
und -fähigkeit, Konfliktfähigkeit sowie Freu-
de am gemeinsamen Sporttreiben entwi-
ckeln.
Anerkennung
des Individuums
und Persönlich-
keitsbildung
Tradition,
geschichtliche
Grundlagen,
demokratische
Einstellung
Freiheitlich-
demokratisches
Wesen, Medien-,
Informations-
kompetenz,
Toleranz,
Konfliktfähigkeit,
Psychohygiene
und Gesundheit

32
Nieder-
sachsen
Bildungsauftrag der Schule (§2)
1. Weiterentwicklung der Persönlichkeit auf
Grundlage
- des
Christentums
- des europäischen Humanismus
- der Idee der liberalen, demokratischen und
sozialen Freiheitsbewegungen
2. Basis sind Grundgesetz und Landesverfas-
sung sowie die zugrunde liegenden Wertvor-
stellungen
3. Schule soll Schüler erziehen:
- zur politischen Mündigkeit
- zum ethischen Handeln
- zur Gerechtigkeit, Toleranz und Menschenwürde
- zur Völkerverständigung
- zum Verständnis von Ökonomie und Ökologie
- zur Umwelt- und Gesundheitsverantwortung
- zur Konfliktfähigkeit
- zur Informationskompetenz
- zur Pflege regionaler (Sprach-)Traditionen
unter Förderung der Fähigkeit, sowohl allein wie
auch in der Gemeinschaft zu lernen und Leistun-
gen zu erzielen.
4. Befähigung zu lebenslangem Lernen
Traditionen,
religiöse und
geschichtliche
Grundlagen
Freiheitlich-
demokratisches
Wesen
Konkretisierte
Erziehungsziele
(selbsterklärend)
Baden-
Württem-
berg
Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule
1. Grundlage sind das Grundgesetz und die
Landesverfassung sowie die Menschen-
rechte, so soll jeder eine Erziehung und
Ausbildung zur Wahrnehmung von Verant-
wortung erhalten und auf die Übernahme
von Rechten und Pflichten in Staat und Ge-
sellschaft sowie in der ihn umgebenden
Gemeinschaft vorbereitet werden.
2. Neben der Vermittlung von Wissen, Fähig-
keiten und Fertigkeiten soll Schule:
- die Schüler in Verantwortung vor Gott, im
Geiste christlicher Nächstenliebe,
- zur Menschlichkeit und Friedensliebe, in
der Liebe zu Volk und Heimat,
- zu
Toleranz,
- zu Leistungswillen und Eigenverantwor-
tung,
- zu
sozialer
Bewährung,
erziehen
- und in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit
und Begabung fördern,
- zur Anerkennung der Wert- und Ordnungs-
vorstellungen der freiheitlichdemokrati-
schen Grundordnung erziehen,
- auf die Anforderungen der Berufs- und Ar-
beitswelt mit ihren unterschiedlichen Auf-
gaben und Entwicklungen vorbereiten
Achtung der Mitbestimmung der Eltern bei der Er-
ziehung
Freiheitlich-
demokratische
Basis der
Erziehung
(mit Hinweis auf
Rechte und
Pflichten)
Religiöser,
humanistischer,
regionaler (natio-
naler) Bezug,
Toleranz, (erst)
Leistung und
dann Soziales
Individuelle För-
derung, Werteer-
ziehung, Berufs-
vorbereitung
Erzieherisches
Neutralitätsgebot
der Schule

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783832497576
ISBN (Paperback)
9783838697574
DOI
10.3239/9783832497576
Dateigröße
645 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Berlin – Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften
Erscheinungsdatum
2006 (August)
Note
1,3
Schlagworte
ethik norm moral unterricht wertewandel
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Titel: Werteerziehung in der Institution Schule
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