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Salutogenetische Beratung in der Praxis

Die wissenschaftliche Begleitung eines Modellprojekts

©2005 Magisterarbeit 156 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Angesichts der sich immer weiter verteuernden Krankenkassen und einer millionenschweren Ärzte- und vor allem Apparatemedizin auf der einen Seite, demgegenüber eine wachsende Zahl oft chronisch kranker Menschen auf der anderen Seite, denen diese Medizin oft nicht zu der gewünschten Verbesserung und Genesung verhelfen kann, ist es an der Zeit, nach sinnvollen Alternativen zu fragen. Dabei kann es hilfreich sein, völlig neue Perspektiven im Diskurs über Gesundheit auszuloten und auch praktisch neue Wege zu gehen.
Dass Körper und seelische Verfassung eng zusammen hängen, ist mittlerweile eine sehr verbreitete Auffassung. Es gibt bereits verschiedene Ansätze, mit dieser Erkenntnis umzugehen, doch haben bisher wenige davon Eingang in die medizinische Versorgung durch z.B. Krankenkassen gefunden. Diese Arbeit beschäftigt sich mit wissenschaftlich fundierten ganzheitlichen Gesundheitsberatungen, welche auf dem gesundheitswissenschaftlichen Ansatz der Salutogenese sowie den Erkenntnissen des systemischen Ansatzes der Lösungsorientierten Beratung und Kurzzeittherapie beruhen.
Nach den Versuchen der WHO, Gesundheit neu und unabhängig von Krankheit zu definieren, und verschiedenen anderen Ansätzen, hat Aaron Antonovsky, ein israelischer Medizinsoziologe, einen neuen theoretischen und empirischen Forschungsansatz zum Gesundheitsbegriff und der Auffassung über Gesundheitserhaltung von Menschen vorgelegt. Seine Theorie der Salutogenese (lat.: „salveo“ bedeutet „gesund sein“, „genero“ bedeutet „erschaffen“; demnach kann dieser Begriff in etwa übersetzt werden mit „Gesundheitsentstehung“), stellt ein zentrales Element dieser Arbeit dar, auf das theoretisch wie auch praktisch aufgebaut wird.
Antonovsky geht davon aus, dass alles Lebendige dem Verfall ausgesetzt ist und Leben demnach einen beständigen Widerstand gegen diesen Verfall darstellt. Er stellt die wissenschaftliche Frage nach Faktoren für Gesundheit, unabhängig vom Konzept der Krankheit und Heilung, und entdeckt bestimmte, psychologisch verankerte Widerstandsressourcen, die er in seinem Konzept des „Kohärenzgefühls“ darstellt. Krankheit und Gesundheit werden dabei als Kontinuum gesehen und niemals als absolute Werte. Gesundheit erhaltend ist, was eine Person in diesem Kontinuum mehr zum gesunden Pol hintendieren lässt.
Diese Arbeit begleitet ein wissenschaftliches Forschungsteam bei der Frage, ob und inwieweit man durch (lösungsorientierte) Beratungsgespräche gezielt […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Jutta Müller
Salutogenetische Beratung in der Praxis
Die wissenschaftliche Begleitung eines Modellprojekts
ISBN-10: 3-8324-9675-0
ISBN-13: 978-3-8324-9675-3
Druck Diplomica® GmbH, Hamburg, 2006
Zugl. Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland, Magisterarbeit, 2005
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http://www.diplom.de, Hamburg 2006
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Erklärung:
Ich versichere hiermit an Eides statt, dass ich die vorliegende Arbeit nicht
schon an anderer Stelle als Qualifikationsarbeit eingereicht habe und dass ich
sie selbständig ohne unerlaubte Hilfe und ohne die Benutzung anderer als der
angegebenen Hilfsmittel angefertigt habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinn-
gemäß aus Veröffentlichungen oder aus anderweitigen fremden Äußerungen
entnommen wurden, habe ich als solche kenntlich gemacht.
Datum: August 2005
Unterschrift:
(Jutta Müller)

3
I. Einleitung
...5
II. Theorieteil
...7
1. Aaron Antonvosky und die Theorie der Salutogenese
...7
1.1 Entstehungshintergrund
...7
1.2 Theorie der Salutogenese
...8
1.3 Begriff des Kohärenzgefühls bzw. des ,,SOC"
...8
1.4 Stressoren in der Salutogenese
...11
1.5 Auswirkungen des SOC auf die Gesundheit
...15
1.6 Erstellung und Validität des SOC-Tests nach Antonovsky
...17
2. Salutogenese im wissenschaftlichen Diskurs
...18
2.1 Verwandte Konzepte zur Salutogenese
...18
2.2 Forschungsstand zum Kohärenzgefühl
...18
2.3 Kritik am Instrument des SOC-Fragebogens
...21
2.4 neuere Forschungen zum Kohärenzgefühl in der Biografie
...22
3. Konzept der lösungsorientierten Beratung
...27
3.1 Theoretischer Hintergrund
...27
3.2 Textfokussierung statt Interpretation
...28
3.3 Die Konstruktion von Problemen und Lösungen
...29
3.4 Lösungsorientierte Techniken
...31
3.5 Therapeutische Interventionen
...33
3.6 Bezug zur Salutogenetischen Beratung
...35
3.7 Die Wirkprinzipien nach Grawe
...35
3.7.1 Die vier therapeutischen Wirkprinzipien nach Grawe
...36
3.7.2 Zentrale Perspektiven in der Therapie
...37
4. Situation der Alleinerziehenden
...38
III. Empirie
...42
1. Projektbeschreibung und Methoden
...42
1.1 Ansatz des Forschungsteams Salutogenetische Beratung
...42
1.2 Dokumentation des Forschungsprozesses
...44
1.3 Methoden
...50
1.3.1 Explorationsforschung
...50
1.3.2 Das Problemzentrierte Interview
...52
1.3.3 Qualitative Inhaltsanalyse
...53
1.3.4 Konversationsanalyse
...54

4
2. Auswertung von sechs Interviews mit Alleinerziehenden
...56
2.1 Entstehung und Zweck der Interviews
...56
2.2 Tabellarische Auswertung der Interviews
...57
2.3 Vergleich zwischen Interviews und Fragebogen
...64
3. Auswertung der Beratungen mit Frau X und Frau Y
...67
3.1 Auswertung der Beratung mit Frau X
...67
3.1.1. Kohärenzgefühl von Frau X
...67
3.1.1.1 Tabellarische Auswertung
...67
3.1.1.2 Informationen zu Frau X aus dem Fragebogen
...68
3.1.1.3 Analyse des Kohärenzgefühls von Frau X
...68
3.1.2 Interaktion zwischen Beraterin und Frau X
...75
3.1.2.1 Schematisierte Widergabe des Gesprächsverlaufes
...75
3.1.2.2 Beschreibung des Beratungsgespräches mit Frau X
...77
3.1.2.3 Auswertung und Nachbefragung zu der Beratung mit Frau X
...79
3.2 Auswertung der Beratung mit Frau Y
...82
3.2.1 Kohärenzgefühl von Frau Y
...82
3.2.1.1 Tabellarische Auswertung
...82
3.2.1.2 Informationen zu Frau Y aus dem Fragebogen
...83
3.2.1.3 Analyse des Kohärenzgefühls von Frau Y
...83
3.2.2 Interaktion zwischen Beraterin und Frau Y
...89
3.2.2.1 Schematisierte Widergabe des Gesprächsverlaufes
...89
3.2.2.2 Beschreibung des Beratungsgespräches mit Frau Y
...93
3.2.2.3 Auswertung und Nachbefragung zu der Beratung mit Frau Y
...95
3.3 Ergebnisse aus beiden Beratungsgesprächen
...99
IV. Fazit, Ausblick und Bedeutung für die Sozialpädagogik
...100
1. Darstellung der Ergebnisse aus den bisherigen Beratungen und Ausblick
auf zukünftige Vorgehensweisen
...100
2. Salutogenese und Salutogenetische Beratung im Kontext der
Sozialpädagogik
...105
Anhang
...110

5
I. Einleitung
Angesichts der sich immer weiter verteuernden Krankenkassen und einer millionen-
schweren Ärzte- und vor allem Apparatemedizin auf der einen Seite, demgegenüber
eine wachsende Zahl oft chronisch kranker Menschen auf der anderen Seite, denen
diese Medizin oft nicht zu der gewünschten Verbesserung und Genesung verhelfen
kann, ist es an der Zeit, nach sinnvollen Alternativen zu fragen. Dabei kann es hilfreich
sein, völlig neue Perspektiven im Diskurs über Gesundheit auszuloten und auch
praktisch neue Wege zu gehen. Dieser Prozess hat tatsächlich schon begonnen, er ist
nur noch nicht so weit verbreitet. Nach den Versuchen der WHO, Gesundheit neu und
unabhängig von Krankheit zu definieren, und verschiedenen anderen Ansätzen, hat
Aaron Antonovsky, ein israelischer Medizinsoziologe, einen neuen theoretischen und
empirischen Forschungsansatz zum Gesundheitsbegriff und der Auffassung über
Gesundheitserhaltung von Menschen vorgelegt. Seine Theorie der Salutogenese (lat.:
,,salveo" bedeutet ,,gesund sein", ,,genero" bedeutet ,,erschaffen"; demnach kann dieser
Begriff in etwa übersetzt werden mit ,,Gesundheitsentstehung"), stellt ein zentrales
Element dieser Arbeit dar, auf das theoretisch wie auch praktisch aufgebaut wird.
Diese Arbeit begleitet ein wissenschaftliches Forschungsteam bei der Frage, ob und
inwieweit man durch Beratungsgespräche Gesundheit bzw. die Fähigkeit zur Gesund-
heit stärken kann im Sinne von Antonovskys Theorie der Salutogenese, mit dem
zentralen Element des Kohärenzgefühls (vgl. Kap. II.1.3). Ziel der Arbeit ist die
theoretische Fundierung, kritische Begleitung und Dokumentation für den Beginn
dieses Forschungsprozesses, mit vorsichtiger Zwischenbilanz.
Wie können Menschen trotz aller Widrigkeiten des Lebens gesund bleiben, bzw. sich
ihre Gesundheit erhalten? Was für individuelle Strategien gibt es? Ist es möglich, diese
in einem Gespräch herauszuhören und darüber hinaus beratend hilfreich einzugreifen,
wo sie versagen? Lassen sich diese individuellen Konzepte und Handlungsweisen
durch geeignete Vorschläge in einer Weise stärken, dass die Fähigkeiten zum
Umgang mit Schwierigkeiten im Leben allgemein, und mit Gesundheit im Besonderen,
verbessert werden können? Diese Fragen stellen wir uns in theoretischer und
praktischer Forschungsarbeit. In Beratungsgesprächen wird der Versuch unternom-
men, die jeweils individuellen Strategien einer Person, ihr Leben zu meistern und
dabei gesund zu bleiben, zu erkennen. In einem zweiten Schritt sollen diese meist
unbewussten Strategien der beratenen Person zurückgespiegelt werden, so dass ihr
dabei deren positive Elemente ins Bewusstsein kommen und ihre Fähigkeiten und
Widerstandsressourcen gestärkt werden. Es kann auch notwendig sein, gemeinsam
neue gesundheitsrelevante Strategien und Verhaltensweisen zu erarbeiten; hierzu
werden Techniken aus der Lösungsorientierten Beratung eingesetzt. Sollte dieser

6
Ansatz erfolgreich sein, könnte er als neues Konzept im Zuge der Veränderungen
unseres Gesundheitssystems eingesetzt werden.
In der hier beschriebenen Forschungsarbeit wurde ein Beratungsangebot speziell für
alleinerziehende Mütter gemacht. Diese Zielgruppe erscheint geeignet, weil sie
Menschen mit starken und verschiedenartigen Belastungen beinhaltet, die allein
aufgrund ihrer schwierigen Lage und der Verantwortung für die Kinder Lösungsstrate-
gien für ihr Leben finden müssen und dabei auch selbst gesund bleiben müssen, da
sie es sich oftmals gar nicht leisten können, krank zu werden. Es wird also ange-
nommen, dass diese Frauen mehr oder weniger bewusst schon funktionierende
Strategien für sich gefunden haben, die sich möglicherweise in einem Beratungsge-
spräch herausfinden und optimieren lassen. Für den Fall, dass dieses Projekt Erfolge
zeigt, liegt es auf der Hand darüber nachzudenken, wie auch anderen speziellen
Gruppen mit Hilfe einer solchen ,,Salutogenetischen Beratung" geholfen werden kann,
so zum Beispiel Senioren, Drogenabhängigen, Jugendlichen in der Adoleszenz oder
speziellen Berufsgruppen. Diese Ideen gehen jedoch weit über die vorliegende Arbeit
hinaus, in der die ersten Versuche unserer Forschung dargestellt werden.
Im Folgenden wird im Theorieteil (II.) zuerst die Theorie der Salutogenese und die
dazu relevante Forschung dargestellt (Kap. II.1-II.2). In einem zweiten Abschnitt wird
der Ansatz der lösungsorientierten Beratung erläutert, der verwendet wurde (Kap. II.3).
Einen Einblick in die Problematik der Zielgruppe der Alleinerziehenden gibt Kap. II.4.
Im darauf folgenden Empirischen Teil (III.) wird der Verlauf des Forschungsprozesses
dokumentiert (Kap. III.1), verwendete Methoden werden beschrieben (Kap. III.2), und
es werden einige Kurzinterviews ausgewertet (Kap. III.3). Dann werden die zwei ersten
geführten Beratungsgespräche nach folgenden Gesichtspunkten analysiert: Zum einen
wird das ,,Kohärenzgefühl" (vgl. Kap. II.1.2) der Beratenen aus den Beratungs-
gesprächen extrahiert, zum anderen wird die Beratungssituation nach Verlauf, verwen-
deten Methoden und Rückmeldungen ausgewertet. Im Schlussteil (IV.) wird ein Fazit
über die Wirksamkeit der Beratungen gezogen, und es wird ein Ausblick über das
weitere Vorgehen des Forschungsteams gegeben (Kap. IV.1). Danach wird der Bezug
zur Sozialpädagogik hergestellt (Kap. IV.2). Im Anhang befinden sich die Trans-
kriptionen der Beratungsgespräche sowie die verwendeten Fragebögen.

7
II. Theorieteil
1. Aaron Antonvosky und die Theorie der Salutogenese
1.1 Entstehungshintergrund
Aaron Antonovsky wurde 1923 in Brooklyn geboren. Nach seinem Dienst für die US-
Armee im Zweiten Weltkrieg studierte er Soziologie, mit Schwerpunkt Medizin-
soziologie, an der Yale-Universität, wo er 1952 mit M.A. und 1955 mit Ph.D. abschloss.
Nach Tätigkeit in Unterricht und Forschung in den USA und Teheran emigrierte er
1960 nach Israel und arbeitete in Jerusalem weiter als Medizinsoziologe am dortigen
Institut für angewandte Sozialforschung.
Durch seine Forschungen im Gesundheitsbereich kam er mit Juden in Kontakt, welche
die nationalsozialistischen Konzentrationslager gesundheitlich gut überstanden hatten.
Diese erstaunliche Tatsache brachte Antonovsky zu der zentralen Frage, was Men-
schen gesund erhält bzw. welche Faktoren dazu führen, dass manche Menschen trotz
solcher Widrigkeiten gesund bleiben, und damit zu seiner ersten salutogenetischen
Orientierung. Mit dieser Frage als Ansatzpunkt suchte er nach generalisierten Wider-
standsressourcen, die helfen, mit Stressoren umzugehen. Daraus entwickelte sich ein
völlig neues Verständnis für Gesundheit, unabhängig von Krankheit. In einer weiter-
führenden Frage beschäftigte er sich mit der Tatsache, dass alle Materie der Entropie
unterworfen ist. ,,Die grundsätzliche Annahme von Hererostase, Unordnung und dem
ständigen Druck in Richtung auf zunehmende Entropie als dem prototypischen
Charakteristikum des lebenden Organismus" (Antonovsky 1997, S. 22) stehe in kras-
sem Gegensatz zur pathogenetischen Orientierung, welche das Gesunde als normal
definiert und von selbstregulierenden, homöostatischen Prozessen ausgeht. Des
Weiteren postuliert Antonovsky in seiner Theorie ein Kontinuum zwischen Gesundheit
und Krankheit, welches diese Begriffe nicht als dichotom, sondern als fließende
Übergänge beurteilt. Jeder lebende Mensch trägt sowohl kranke als auch gesunde
Anteile in unterschiedlicher Ausprägung in sich, somit kann Gesundung als eine
Verschiebung der Konstitution hin zum gesunden Pol auf einem Kontinuum gesehen
werden. In diesem Prozess wirkt die gesamte Lebensgeschichte eines Menschen mit.
Die salutogenetische Perspektive ermöglicht einen neuen Blickwinkel sowohl für die
Forschung als auch in der Praxis, in dem das Augenmerk auf Sonderfälle gerichtet
wird, z.B. auf spontane Gesundung und deren Ursachen, unabhängig von krank-
machenden Bedingungen. Solche krankmachenden Bedingungen oder Stressoren
können aus salutogenetischer Perspektive sogar eine positive gesundheitliche Wir-
kung haben, dann nämlich, wenn sie bewältigt werden und die gelungene Bewältigung

8
den Organismus stärkt. Antonovsky wünscht sich mit diesem Denkansatz zudem eine
Öffnung ,,für die Kooperation von biologischen und psychosozialen Wissenschaften"
(ebd. 1997, S. 27).
1.2 Theorie der Salutogenese
Kernpunkte der Salutogenetischen Orientierung nach Antonovsky sind demnach
folgende: Das fundamentale Postulat der Heterostase, in dem Prozesse von Altern und
Entropie als natürlich bzw. als Kerncharakteristika aller lebenden Organismen gesehen
werden. Daraus folgen laut Antonovsky folgende Thesen (vgl. ebd. 1997, S. 29-30):
·
Das Bestehen eines multidimensionalen Gesundheits-Krankheits-Kontinuums
statt dichotomer Klassifizierung als ,,gesund" oder ,,krank". Lebende Organis-
men haben demnach immer sowohl kranke als auch gesunde Anteile in sich.
·
Die Notwendigkeit einer holistischen Gesamtsicht auf den Menschen und seine
(Lebens- sowie auch Krankheits-)Geschichte, statt Konzentration auf Krank-
heiten und Symptome.
·
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen Copingressourcen, d.h. Faktoren oder
Verhaltensweisen, die zum Pol der Gesundheit führen, und nicht Stressoren.
·
Stressoren gelten als allgegenwärtig und daher normal; sie sind Herausfor-
derungen, die zu erfolgreicher Bewältigung führen können.
·
Die Suche nach Quellen von negativer Entropie, d.h. Fähigkeit zur Resistenz,
und aktiver Adaptation des Organismus an seine Umwelt.
·
Der Blick in wissenschaftlichen Daten richtet sich auf Abweichungen, beson-
ders auf positive Ausnahmen, mit der Frage nach Faktoren für den erfolg-
reichen Widerstand gegenüber Stressoren.
Anhand von 51 unstrukturierten Tiefeninterviews zur Frage, was Menschen gesund
erhält, filterte Antonovsky drei wichtige Komponenten heraus, die er mit erfolgreicher
Gesunderhaltung in Verbindung brachte. Diese Qualitäten befähigen Menschen, mit
Stressoren adäquat umzugehen, sie zu bewältigen und daran zu erstarken.
1.3 Begriff des Kohärenzgefühls bzw. des ,,SOC"
Antonovsky nannte diese drei Komponenten, die für ihn als roter Faden aus den
Interviews sichtbar wurden, Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Da
sie sich gegenseitig beeinflussen und sich aufeinander beziehen, verdichtete er sie im
Begriff des Kohärenzgefühls (original: Sense of Coherence; SOC), welches er wie folgt
definiert:

9
,,Das SOC (Kohärenzgefühl) ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem
Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl
des Vertrauens hat, dass
·
die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren
Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind;
·
einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, den
diese Stimuli stellen, zu begegnen;
·
diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engage-
ment lohnen." (Antonovsky 1997, S. 36)
Im Folgenden wird die Bedeutung der einzelnen Komponenten nach Antonovsky
genauer erläutert:
Verstehbarkeit: Die Stimuli oder Erlebnisse im Leben einer Person erscheinen ihr
kognitiv sinnvoll, geordnet, konsistent, strukturiert, vorhersehbar, als klare Infor-
mationen. Und nicht als chaotisch, willkürlich, zufällig oder unerklärlich. Diese
Komponente ist rein kognitiver Natur.
Handhabbarkeit: Die Fähigkeit, die Realität beurteilen zu können und der feste
Glaube, dass ,,die Dinge sich so gut entwickeln, wie vernünftigerweise erwartet werden
kann" (Antonovsky 1979, S. 123, zit. n. ebd. 1997, S. 34). Schlimmstenfalls lassen sich
die Ereignisse ertragen. Hier drückt sich eine emotionale Fähigkeit zu Vertrauen aus;
das Vertrauen gilt der eigenen Handlungsfähigkeit und der Erwartung ans Leben.
Dazu gehört es, genügend Ressourcen zur Verfügung (d.h. unter eigener Kontrolle
oder unter der Kontrolle nahe stehender Personen, denen man vertraut), zu haben, um
kommenden Anforderungen begegnen zu können. - Schwächend dagegen ist das
Gefühl, ein ,,Pechvogel" zu sein, sich in der Opferrolle oder vom Leben ungerecht
behandelt zu fühlen. Diese Komponente hat sowohl kognitive als auch emotionale
Anteile.
Bedeutsamkeit: Die Qualität, einen Lebensbereich zu haben oder sich zu erschaffen,
der einem am Herzen liegt, wofür es sich zu leben lohnt, der (auch emotional) ,,Sinn
macht". Dieser Bereich erscheint subjektiv lohnend für Engagement und emotionale
Investition. Ereignisse in diesem Bereich werden als Herausforderung gesehen, um ein
selbst gesetztes Ziel zu erreichen. Man verpflichtet sich und setzt sich emotional und
engagiert dafür ein. Auch negative Ereignisse werden angenommen, es wird ihnen
eine Bedeutung beigemessen und das Möglichste getan, um sie mit Würde zu über-
winden. Diese Komponente enthält emotionale bzw. motivationale Elemente.

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Diese dritte Komponente, die Bedeutsamkeit, spielt eine herausragende Rolle. Denn
ohne Interesse an einem Teil der Welt fehlt die Motivation, um diese Welt zu verstehen
oder über sie zu verfügen. Besteht jedoch starkes Interesse, Einfluss in einem
gewählten Bereich auszuüben, den die Person für ,,wert" hält, um sich zu engagieren,
so wird diese Person motiviert sein, sich auch angestrengt um die anderen beiden
Komponenten zu bemühen, und sie daher ebenfalls entwickeln.
Um ein starkes Kohärenzgefühl zu besitzen, muss also nicht die gesamte Welt
verstehbar, handhabbar und bedeutsam erscheinen; hierfür reicht ein Ausschnitt, auf
den man sich beschränkt. In diesem Ausschnitt sollten jedoch folgende Bereiche
enthalten sein: Eigene Gefühle, wichtige Beziehungen, die Haupttätigkeit sowie
existentielle menschliche Fragen (z.B. nach dem Tod, unvermeidbarem Scheitern,
persönlichen Fehlern, Konflikten und Isolation). Der gewählte bedeutsame Ausschnitt
kann im Lauf des Lebens variieren und kann auch flexibel verschoben werden, wenn
ein Bereich außer Kontrolle gerät oder an Wichtigkeit verliert.
Diese drei Komponenten hängen also miteinander zusammen bzw. beeinflussen und
bedingen einander, daher wird die Gesamtheit dieses Konstrukts ,,Kohärenzgefühl"
(bzw. ,,SOC") genannt.
Allerdings erscheint Antonovsky der Glaube, wirklich alles im Leben sei verstehbar,
lösbar und sinnhaft, doch wieder unrealistisch und deshalb ebenfalls anfällig für Entro-
pie. Er sieht eine solche Ausprägung als Folge von kurzfristigem Enthusiasmus für ein
bestimmtes Glaubenssystem, z.B. in einer Sekte. Dies folge nicht aus einem starken
Selbst mit stabiler Identität und flexiblen Strategien, sondern aus einer
(angenommenen) Identität, der ein schwaches und daher unflexibles Selbst zugrunde
liege, welches Ängste kompensiere und daher keine Zweifel zulassen könne. Ein
starkes SOC dagegen beinhaltet eine Balance zwischen dem Erhalt bestehender
Regeln und Strukturen, und flexibler Offenheit gegenüber neuem Input mit dem
Vertrauen, dass dieser in die vorhandene Struktur integriert werden kann (vgl. ebd.
1997, S. 40-43).
Außer diesen Komponenten des Kohärenzgefühls gibt es zudem noch andere
Faktoren, welche die Gesundheit beeinflussen können (z.B. äußere Umwelteinflüsse
wie Unfälle, Vergiftung usw.). Daher ist der SOC kein Allheilmittel oder umfassender
Schutz, sondern als eine Art Stärkung des Lebenswillens zu verstehen.

11
1.4 Stressoren in der Salutogenese
Stressoren werden von Antonovsky definiert als ,,Herausforderungen, für die es keine
unmittelbar verfügbaren oder automatisch adaptiven Reaktionen gibt" (Antonovsky
1979, S. 72, zit. n. ebd. 1997, S. 43), die deshalb einen Spannungszustand erzeugen
und unvorhergesehene Gefahren mit sich bringen können. ,,Zusammengefasst kann
ein Stressor somit als ein Merkmal definiert werden, das Entropie in das System bringt,
das heißt eine Lebenserfahrung, die durch Inkonsistenz, Unter- oder Überforderung
und fehlende Teilhabe an Entscheidungsprozessen charakterisiert ist" (ebd. 1997, S.
44). Hierbei unterscheidet Antonovsky drei Formen von Stressoren: chronische Stres-
soren, kritische Lebensereignisse sowie alltägliche Widrigkeiten. Er macht auf den
Zusammenhang von Stressoren und Ressourcen (um dem Stressor zu begegnen)
aufmerksam, in der Form, dass ein Mangel an Ressourcen (z.B. materieller Art) zu
einem Stressor wird oder werden kann. Letztlich fallen somit Stressor und Ressource
in vielen Fällen zu einer Qualität zusammen, deren Stärke oder Schwäche über ihren
Wert für den Betroffenen entscheidet.
Die Fähigkeit einer Person, sich hinsichtlich verschiedener Aspekte (Z.B. Reichtum,
Ichstärke, kulturelle Stabilität usw.) auf je einem Kontinuum bzw. einer Skala möglichst
hoch zu platzieren, gilt als ihre Fähigkeit, Widerstandsressourcen zu erschließen. Ein
Mangel an solchen Fähigkeiten hätte Widerstandsdefizite im jeweiligen Bereich zur
Folge. Deshalb kann man laut Antonovsky (je nach den vorhandenen oder fehlenden
Fähigkeiten) von generalisierten Widerstandsressourcen-Widerstandsdefiziten (kurz
GRR-GRD) sprechen (vgl. ebd. 1997, S. 43-46).
Zudem ist für die salutogenetische Orientierung die Unterscheidung zwischen
Spannungs- und Stresszustand wichtig; dieser Unterschied liegt allein im Umgang des
Individuums mit der Situation bzw. seiner Fähigkeit, die Spannung aufzulösen.
Stresshafte Lebensereignisse gelten grundsätzlich neutral als ,,Anforderungen, auf die
es keine unmittelbar verfügbaren und automatisch adaptiven Reaktionen gibt" (ebd.
1997, S. 124). Das kann z.B. Geburten, Tode, Veränderungen im Beruf oder im
Beziehungsleben, oder andere Probleme bedeuten. ,,Spannung bedeutet damit das
Erkennen im Gehirn, dass ein Bedürfnis unerfüllt ist, dass man einer Forderung
nachkommen muss, dass man etwas tun muss, um ein Ziel zu erreichen" (ebd. 1997,
S. 125). Diese Spannung führt zu der zweifachen Frage: ,,Was soll ich tun? Was bin
ich wert?" Versagt das Individuum und wird aus einer solchen Anforderung eine
schwächende Lebenserfahrung, so wird auch das SOC geschwächt und wir haben es
mit einem Widerstandsdefizit zu tun; besteht das Individuum die Anforderung und baut
Spannung ab, so haben wir es mit einer Stärkung des Vertrauens in die eigenen
Widerstandsressourcen zu tun, welche wiederum das SOC stärken.

12
Bewertung von und Umgang mit Stressoren:
Im Laufe seiner Forschungsarbeit findet Antonovsky verschiedene Formen und
Bedeutungen, die ein Stressor im Leben eines Menschen haben kann. Einmal gilt
seine schon in seinem ersten Werk gegebene Definition als ,,Herausforderungen, für
die es keine unmittelbar verfügbaren oder automatisch adaptiven Reaktionen gibt"
(Antonovsky 1979, S. 72, zit. n. ebd. 1997, S. 43); zudem erzeugen Stressoren ,,einen
Spannungszustand" (ebd. S. 43), sie können ,,eine Vielzahl an unvorhergesehenen
Erfahrungen mit sich bringen. Demzufolge führen sie zwangsläufig zu einer
signifikanten Schwächung des eigenen SOC", oder der Stressor entsteht mehr von
innen aufgrund von ,,Abwesenheit einiger generalisierter Widerstandsressourcen
(GRRs)" (Antnovsky 1979, S. 119, zit. n. ebd. 1997, S. 43). Antonovsky folgert weiter,
dass bestimmt geartete, nämlich bewältigbare Stressoren als Voraussetzung dienen,
um generalisierte Widerstandsressourcen überhaupt zu entwickeln und auf sie später
zu vertrauen. Gemäß der Volksweisheit, man wachse mit seinen Aufgaben, brauchen
Widerstandsressourcen erst Widerstände, um als solche erfahren zu werden. Die
Definition, dass Widerstandsressourcen gekennzeichnet sind durch ,,Konsistenz,
Partizipation an der Gestaltung des Outcomes und eine Balance zwischen Überlastung
und Unterforderung" (ebd. 1997, S. 43), gilt somit auch für Stressoren. Daher erweitert
Antonovsky dieses Konzept auf eines von ,,übergeordneten psychosozialen
generalisierten Widerstandsressourcen-Widerstandsdefiziten" (auch bezeichnet als
,,GRD-GRR"; ebd. S. 44). So wird der Umgang mit äußeren Stressoren bestimmt von
verschiedenen inneren Fähigkeiten, welche auch je auf einem Kontinuum dargestellt
werden können.
Antonovsky stützt sich in seinen Überlegungen zur Bewertung von Stressoren auf die
Stressforschung des Psychologen Lazarus, wobei Antonovskys Begriff von Stressoren
über deren nur schädliche, bedrohliche Wirkung hinausgeht und jeden neuen Reiz,
auch positive oder irrelevante, einbezieht. ,,Das Versäumnis, die Definition der
Stressoren auf alle Stimuli auszuweiten, die herausfordern, unabhängig davon, ob sie
als gefährdend eingeschätzt werden, unterliegt dem weit verbreiteten Versäumnis,
zwischen Spannung und Stressor zu unterscheiden (und rührt von einer pathogenen
Orientierung)." (ebd. S. 125). So gibt ein Stressor nach Antonovsky auch die
Möglichkeit zu positiver Bewältigung, welche wiederum stärkend auf das SOC wirkt.
Im Folgenden werden die Stadien der Bewertung eines Stressors in einem von
Antonovsky erweiterten Konzept nach Lazarus beschrieben:

13
1.
primäre Bewertung-I:
(Definition): Im Gehirn wird ein Stimulus als Stressor
oder Nicht-Stressor definiert. Wird er als Stressor definiert, entsteht daraus
Spannung, die sich in ansteigenden psychophysiologischen Aktivitäten und
Emotionen manifestiert. Hier operiert das SOC als erster Mechanismus durch
Definition: Personen mit starkem SOC definieren den Stimulus eher als Nicht-
Stressor, während er für Personen mit schwachem SOC schon als Stressor
empfunden wird; diese reagieren mit Anspannung.
2.
primäre Bewertung-II:
(Beurteilung): Ein Stimulus wurde als Stressor wahr-
genommen. (Es gibt Stimuli, die jeder Mensch unabhängig vom SOC als
Stressor erlebt). Nun erfolgt die Beurteilung, ob der Stressor ,,für das eigene
Wohlbefinden bedrohlich, günstig oder irrelevant" (ebd. S. 126) ist bzw. ob das
Problem lösbar erscheint. So kann der Stressor von Personen mit starkem
SOC als ,,nicht-Stressor" umdefiniert und Spannung abgebaut werden.
3.
primäre Bewertung-III:
Die Stärke des SOC beeinflusst unser Urteil über die
Gefährlichkeit des Stressors; dieser Prozess erfordert Emotionsregulierung:
Stressoren erfordern Anpassung und lösen verschiedene Emotionen aus;
selbst die Spannung positiv bewerteter Stressoren muss abgebaut werden.
Besser erforscht ist der Abbau negativer Spannung. Auch hier unterscheiden
sich Personen mit einem starken oder schwachen SOC: ein gefährdender
Stressor mit unangenehmen Emotionen kann etwa bei starkem SOC Traurig-
keit, Furcht, Schmerz, Wut, Schuld und Sorge auslösen, bei einer Person mit
schwachem SOC entstehen zusätzlich diffuse Emotionen von Verzweiflung,
Scham, Verlassenheit, Ausgeliefertheit und Verwirrung, so dass letztere
paralysiert und ohne Handlungsbasis verbleiben. Mit einem starken SOC
bleiben die Probleme klarer verstehbar, es werden spezifische Copingmecha-
nismen freigesetzt und der Situation wird Ordnung und Bedeutung verliehen. Ist
das SOC schwach, so können unbewusst gesteuerte Abwehr- oder Flucht-
mechanismen einsetzen. Die Person mit einem starken SOC mobilisiert von
Beginn an Ressourcen, indem sie die generalisierte Erwartung an die Welt
stellt, dass Stressoren bedeutsam und verstehbar sind und Engagement sich
lohnt; daraus folgt eine motivationale und kognitive Handlungsbasis.
Demgegenüber bleibt die Person mit schwachem SOC verwirrt und neigt dazu,
von Beginn an aufzugeben (vgl. ebd. S. 124-130).
4.
Sekundäre Bewertung:
Die nun erfolgende Auflösung von Spannung wird
erreicht durch Finden einer geeigneten Auswahl von Coping-Strategien aus
dem Repertoire der Möglichkeiten. ,,Die Person mit einem starken SOC wählt
die Copingstrategie aus, die am geeignetsten scheint, mit dem Stressor

14
umzugehen, dem sie sich gegenüber sieht." (ebd. S. 130). Dies beinhaltet
keinen bestimmten Copingstil, sondern aus den generalisierten Widerstands-
ressourcen wird die günstigste Kombination gewählt. Hier wird die Bedeut-
samkeitskomponente wichtig: Die Auseinandersetzung muss sich lohnen und
daher zur Herausforderung werden. Der Schaden muss minimal gehalten und
der Schmerz gelindert werden im Hinblick auf eine lohnende Zukunft.
Möglichkeiten zur Auflösung der Spannung:
·
Umdefinieren der Bedeutung des Stressors bzw. dessen, was im eigenen
Leben bedeutsam ist (mit der Gefahr der Selbsttäuschung); dies ist nicht
möglich für zentrale Bereiche menschlichen Lebens.
·
Untersuchen des Problems auf dessen Art, Natur und Sinn hin, um das
Chaos in Ordnung und Klarheit zu verwandeln und handhabbarer zu
machen (anstatt es als unvermeidlich hinzunehmen und aufzugeben).
·
Konzentration auf die Lösung durch instrumentelle Parameter (Frage nach
Ressourcen, bei starkem SOC) statt nur emotionaler Parameter (Umgang
mit den negativen Gefühlen dazu, bei schwachem SOC).
Der beschriebene Prozess kann in Sekundenschnelle und unbewusst ablaufen,
und die Auswahl der Strategie wird von einer Vielzahl von Komponenten
abhängen, wie u. a. von Moralvorstellungen und kulturellem Kontext. Hierbei
muss berücksichtigt werden, dass dieselbe Copingstrategie in einem Fall
erfolgreich sein, in einem anderen Fall jedoch fehlschlagen kann, so dass die
flexible, situationsangepasste Wahl für einen hohen SOC erforderlich ist. Jede
als festgelegte Vorgehensweise angewandte Copingstrategie wird sich laut
Antonovsky mit der Zeit selbst zerstören, denn es gibt sehr unterschiedliche
Situationen und nicht alles ist machbar.
5.
Tertiäre Bewertung:
die Entscheidungen aus der sekundären Bewertung
werden in die Realität umgesetzt. Nun wird sichtbar, ob die Wahl hilfreich war:
Ist die Auswahl der Copingstrategien von Erfolg gekrönt, oder schlägt sie fehl?
Das Feedback erfolgt aus dem Leben und zeigt die Konsequenzen und
Ergebnisse der Einschätzung und der Coping-Handlungen.
Antonovsky warnt davor, das SOC nicht als ,,Wunderwaffe" (Antonovsky 1997, S. 138)
zu sehen. ,,Abgesehen davon, dass nur wenige von uns ein sehr starkes,
authentisches SOC haben, sind viele Probleme im Leben hartnäckig und einer
vollständigen Lösung nicht zugänglich, wie stark das SOC auch immer sein mag. Was
ich annehme ist, dass Personen mit einem starken SOC sich bei der Bewältigung
dieser Probleme besser bewähren als solche mit einem schwachen SOC; dass sie,

15
wenn es für ein Problem keine Lösung gibt, angemessener mit ihm weiterleben können
und das sie fähig sein werden, ihr Leben mit geringerem Schmerz zu führen." (ebd.
1997, S. 138)
Dass Stressoren, die auf das eigene Wohlbefinden wirken, Emotionen aufwühlen,
steht für Antonovsky außer Frage; dies liege in der Natur des Menschen. Der Einfluss
des SOC mache sich jedoch bemerkbar in der Art und dem Umgang mit Emotionen.
Laut Antonovsky kann man Emotionen bzw. Gefühle unterscheiden in solche mit einer
Grundstruktur von Aufregung, Herausforderung und Hoffnung (mit starkem SOC), oder
Apathie, Hoffnungslosigkeit und Frust (mit schwachem SOC). Wichtig sei zudem die
Zielgerichtetheit der Emotion, d.h. die Emotion ist an ein eindeutiges Ziel gebunden.
Furcht oder Ärger beispielsweise sind mit konkreten Konsequenzen verbunden und
der Situation angemessen. Diese stehen bei Personen mit starkem SOC im Vorder-
grund, während diffuse Emotionen (unbestimmte Angst; das Gefühl ,,Pech" zu haben
bzw. benachteiligt im Leben zu sein; Unbehagen etc.) eher bei Personen mit
schwachem SOC zu erwarten sind. Da diese Emotion weniger an konkrete Situationen
gebunden sind, sind sie unbewusster, schwerer zu orten, auszudrücken und
abzubauen. Ähnlich ist der Umgang mit Schuldgefühlen: Personen mit starkem SOC
haben konkrete Vorstellungen über Situationen und beschuldigen, wenn angemessen
und nötig, Personen oder Sachverhalte zur eigenen Entlastung außen; andererseits
können sie auch eigene Fehler eingestehen. Bei schwachem SOC wird infolge
Verunsicherung eher die Schuld nur bei sich, oder nur außen gesucht; Gefühle sind
diffuser und werden eher unterdrückt oder abgewehrt. Insgesamt übernehmen
Personen mit starkem SOC eher Verantwortung für ihre Gefühle. Wenn sie Fehler
machen, beschuldigen sie an sich selbst nur konkrete Verhaltensweisen und nicht
ihren gesamten Charakter. Sie fühlen intensiv, drücken diese Emotionen angemessen
aus und suchen dann instrumentelle Bewältigungsstrategien, um die Spannung
abzubauen (vgl. ebd. S. 139-140).
1.5 Auswirkungen des SOC auf die Gesundheit
Wie wirken das SOC und Copingstrategien sich auf körperliche Gesundheit aus? Eine
Vermutung legt nahe, dass ein hoher SOC stressmindernd wirkt, d.h. Spannung aus
äußeren Ereignissen weniger wahrscheinlich bzw. weniger stark zu subjektiv
empfundenem Stress ungewandelt wird. Antonovsky geht von der These aus, ,,dass
Stressoren pathogen sind, wenn sie nicht angemessen bewältigt werden" (Antonovsky
1997, S. 141), dass jedoch erfolgreiches Coping von Stressoren gesundheitsförderlich
sei. Deshalb wirkten Stressoren auf die Gesundheit nicht negativ per sé, sondern nur
im Fall von missglücktem bzw. ungenügendem Copingverhalten; andernfalls wirkten

16
sie förderlich auf die Gesundheit. Diese Gedanken stehen bei Antonovsky noch als
Hypothesen im Raum; er fordert weitere Forschung über den Zusammenhang
zwischen SOC, Coping und Gesundheit.
Ein weiterer Zusammenhang von SOC, Coping und Gesundheit könnte gesehen
werden in unmittelbarem Gesundheitsverhalten nach dem derzeitigen Kenntnisstand,
dies wären z.B. gesundheitswirksame Gewohnheiten in den stereotypen Bereichen
Rauchen, Trinken, Bewegung und Ernährung, sowie adaptives Verhalten zur Scha-
densbegrenzung, wie das frühe Aufsuchen von Professionellen und Compliance-
verhalten. Dieses Verhalten weist Antonovsky jedoch als ,,weitaus stärker durch
soziokulturelle und kulturelle Faktoren als durch die persönliche Weltsicht determiniert"
(ebd. S. 141) zurück; es könnte z.B. eher durch Schichtzugehörigkeit als durch den
SOC bedingt sein. Dennoch kann auch die Orientierung an instrumentellen Lösungen
bei starkem SOC solches Verhalten begünstigen. Laut Antonovsky gibt es jedoch
direktere Bezüge zwischen SOC und Gesundheit.
Aktuelle Forschungen über Psychoneuroimmunologie, das Zentrale Nervensystem,
Neuroendokrinologie, Verhaltenstherapie und den Prozess des Copings lassen
Vermutungen über tiefgreifende Verbindungen zwischen Handeln und Gesundheits-
zustand zu. Er zieht verschiedenste Studien heran und geht in einer vorsichtigen
Hypothese davon aus, dass ,,die Stärke des SOC direkte physiologische Konsequen-
zen hat und dadurch den Gesundheitsstatus beeinflusst." (ebd. 1997, S. 142).
Anhand dieser Forschungen folgert er u. a., dass der Erholungszeitraum nach einem
Spannungszustand für die Folgen entscheidend sei. Nur wenn Spannung missachtet
oder verzerrt wird, oder keine angemessenen Ressourcen zur Verfügung stehen, setze
schädigender Stress ein. Hier agiert das SOC als Vermeidung von Disregulation,
indem Feedbackschleifen zwischen Körperbotschaften und Gehirn aufmerksam
geprüft werden, um dann geeignet zu reagieren. Zudem müssen die beiden
Gehirnhälften (rechts eher emotional, links eher rational) für eine Lösung ausgewogen
zusammen arbeiten (parallel dazu ist die emotional-kognitive Komponente der
Sinnhaftigkeit nur in gemeinsamer Arbeit beider Gehirnhälften erreichbar).
Antonovsky entwickelt seine theoretischen Zusammenhänge anhand der Forschung
weiter bis zu der These, ,,das SOC könnte ein zugrunde liegendes biologisches
Substrat widerspiegeln" (ebd. S. 147). Somit wäre das SOC nicht nur auf der
psychischen Ebene wirksam, sondern auch im Organismus selbst als inhärentes
System. Er wäre eine Determinante für ,,Transformation von Chaos in Ordnung in
einem beliebigen System" (ebd. S. 148), d.h. auf verschiedenen Ebenen. Der aktuelle
physische Gesundheitszustand stellt in diesem Modell wiederum eine Form der GRR-
GRD dar und drückt die Stärke des SOC mit aus.

17
Antonovsky wünscht sich zu all diesen theoretischen Überlegungen dringend weitere
Erforschung der Zusammenhänge in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Sozial-
und Naturwissenschaftlern.
1.6 Erstellung und Validität des SOC-Tests nach Antonovsky
Antonovskys Intention war, einen validen Fragebogen als Messinstrument für den SOC
zu schaffen, der für verschiedene Forschungsanliegen gültig sein sollte und darüber
hinaus eine globale Orientierung bzw. Weltsicht messen sollte. Die Items für den
Fragebogen wurden auf Basis der Aussagen und Sprachformen der 51 Interviewten
herausgefiltert; weiter wurden sie mit dem Facetten-Design von Guttmann in ihrem
Aussagegehalt systematisch variiert (vgl. Antonovsky 1997, S. 80-82). Auf diese Weise
erhielt Antonovsky Aussagen, die als grundlegende Lebensüberzeugungen gelten
können, und entwickelte daraus sowohl die drei beschriebenen SOC-Komponenten,
als auch ein Messinstrument dafür, die SOC-Skala. Anschließend wurde der
Fragebogen überarbeitet, mit anderen Fragebögen verglichen (u. a. mit Angstskalen
auf negative Korrelation hin) und mehrfach überprüft. In dem daraus entstandenen
Fragebogen wird nun mit 29 Items (oder, in einer Kurzform, mit nur 13 Items) direkt
nach bestimmten Lebenserfahrungen oder Haltungen gefragt; die Befragten geben die
eigene subjektive Einschätzung ihrer Reaktion auf einer Skala von eins bis sieben an
(vgl. ebd. S. 79-88; BzGA 2001, S. 40, siehe SOC-Test im Anhang). Es wird nach der
Komponente Verstehbarkeit mit elf Items, nach der Komponente Handhabbarkeit mit
zehn Items und nach der Bedeutsamkeitskomponente mit acht Items gefragt;
allerdings lassen sich diese Teilkonstrukte mit Faktorenanalytischen Überprüfungen
nicht einzeln auswerten und in Beziehung setzen; sie sollten nach Antonovsky
gemeinsam als ,,Generalfaktor SOC" gelten (Antonovsky 1997, S. 88-89).
Diese Skala liegt inzwischen in mehreren Sprachen vor; so auch in einer noch nicht
standardisierten deutschen Form (vgl. BzGA 2001, S. 40-41). Antonovsky ist von der
Validität seines Instruments überzeugt, gleichzeitig gibt er es jedoch der Wissenschaft
zur Verbesserung preis (vgl. Antonovsky 1997, S. 85-87). Ebenfalls befürwortet er
,,alternative Möglichkeiten zur legitimen Messung des SOC und zur Überprüfung des
Modells" (ebd. S. 71), und schlägt als weitere Methoden die phänomenologische Be-
schreibung der Ethnomethodologie, strukturierte Interviews oder projektive Tests vor.

18
2. Salutogenese im wissenschaftlichen Diskurs
Nach der ausführlichen Darstellung der Theorie der Salutogenese möchte ich auf
deren Rezeption und Weiterentwicklung, auch im Hinblick auf unsere eigene
Forschung, eingehen.
2.1 Verwandte Konzepte zur Salutogenese
In der Psychologie wurden verschiedene Konzepte über den Einfluss individueller
Eigenschaften auf Gesundheit entwickelt, welche interne (d.h. dispositionelle, situ-
ationsspeifisch veränderbare) oder personale (d.h. andauernde, persönlichkeitsbe-
dingte) Verhaltensweisen als ,,interne oder personale Protektivfaktoren" (BzgA S. 52)
untersuchen. Besonders einige personale Konzepte weisen starke Nähe zum saluto-
genetischen Modell auf (vgl. BzgA 2001, S. 52-59):
·
Gesundheitliche Kontrollüberzeugungen (Health Locus of Control, HLOC)
finden sich in der Salutogenese als Kontrolle der Situation in den Komponenten
Verstehbarkeit und Handhabbarkeit wieder.
·
Selbstwirksamkeitserwartung (Self-efficacy) findet sich in der Salutogenese im
Vertrauen auf die eigene Handhabbarkeit und in gezieltem Einsatz von Coping-
strategien.
·
Widerstandsfähigkeit (Hardiness) findet sich in der Saltuogenese in den
Elementen Ressourcenorientierung, Engagement, Kontrolle und in der Sicht
auf Veränderungen als Herausforderungen wieder.
·
Optimismus (Optimism) findet sich in der Salutogenese als Zuversicht, dass
auch zukünftige Krisen gelöst oder bewältigt werden können.
Weitere verwandte Gebiete sind die Stress- und Resilienzforschung. Lazarus' Stress-
modell ist ja bereits in Antonovskys Forschung vergleichend eingeflossen; die
Resilienzforschung fragt von einem mehr pathogen orientierten Blickwinkel aus nach
Gesundheit erhaltenden Faktoren und sieht ihrerseits das Kohärenzgefühl als eine von
vielen Ressourcen an (BzgA 2001, S. 60-64). Insgesamt sind die Überschneidungen
der Konzepte teilweise recht stark, was die Konzepte wechselseitig bestätigt, jedoch
auch eine genaue Abgrenzung erfordert.
2.2 Forschungsstand zum Kohärenzgefühl
Das Konstrukt des SOC ist laut der von Alexa Franke (deutsche Übersetzerin von
Antonovskys zweitem Werk) zusammengetragenen Forschung ein konsistentes und
vorwiegend kognitives Konstrukt, das in hohem Maß mit Komponenten seelischer
Gesundheit (wie Selbstwertgefühl, Optimismus, Kontrollüberzeugung) korreliert;

19
dennoch sei es nicht mit anderen Modellen identisch und daher als eigenständiges
Konstrukt anzusehen (vgl. Franke 1997, S. 173).
Eine hohe negative Korrelation mit Angst könnte die Eigenständigkeit des Konstrukts
in Frage stellen; bezüglich Copingverhalten handelt es sich um ein übergeordnetes
Konzept (vgl. ebd. S. 172-173). Leider sind weder von Antonovsky noch aus anderen
Studien Längsschnitt-Untersuchungen bekannt, welche Auskunft geben könnten,
inwieweit das Kohärenzgefühl tatsächlich ein Leben lang konstant bleibt (wie Anto-
novsky vermutete), oder ob sich doch gravierende Veränderungen abzeichnen wür-
den. Laut Franke weist der Vergleich verschiedener Forschungen (mit dem SOC-Test
als Messinstrument für das Kohärenzgefühl) auf folgende Tendenzen hin: Das
Kohärengefühl von Frauen ist niedriger als das von Männern, mit dem Alter steigt das
Kohärenzgefühl an (beides entgegen Antonovskys Vermutungen), und bei klinischen
Gruppen ist es niedriger als bei Zufallsstichproben (vgl. Franke 1997, S.177). Diese
Tendenzen wiederum stellen auch die Validität des SOC-Fragebogens als Messin-
strument in Frage (vgl. Kap. 2.3). Ebenfalls anzuzweifeln sei laut Franke die Globalität
und Stabilität des SOC.
Bengel, Strittmatter und Willmann stellen in der Expertise der BzgA aktuellere Daten
zum Forschungsstand über das Kohärenzgefühl dar. Im Gegensatz zu Franke kom-
men sie zu dem Schluss, dass das Modell der Salutogenese wenig Beachtung im wis-
senschaftlichen Diskurs fand, obwohl der ,,neologistische Begriff" (BzgA 2001, S. 42)
der Salutogenese bereits als neues Modewort für viele gesundheitswissenschaftliche
Bereiche genutzt werde. Die Herausgeber sind der Ansicht, dass die neue Sichtweise
auf Gesundheit und der damit verbundene Perspektivenwechsel von Antonovsky
Anklang gefunden haben, ohne dass jedoch eine echte wissenschaftliche Ausei-
nandersetzung mit und eine Überprüfung des salutogenetischen Modells auf breiter
Basis stattgefunden hätte. So erfolgten z.B. die wenigen Forschungen vor allem in
Israel selbst und nicht in den wissenschaftlich einflussreicheren U.S.A.
Da es aufgrund der Komplexität nur sehr schwer möglich wäre, das Konzept als
Ganzes wissenschaftlich zu überprüfen, beschränken sich die vorhandenen Forschun-
gen vor allem auf Vergleichsstudien, welche korrelative Parameter zwischen
psychischer und physischer Gesundheit und dem Kohärenzgefühl messen. Diese
Studien können keine Ursachenzusammenhänge, sondern nur gegenseitige oder
übergeordnete Beeinflussung aufzeigen. Oft untersucht wurden z.B. Zusammenhänge
zwischen SOC und körperlicher oder psychischer Gesundheit, Stresswahrnehmung
und Coping, sozialem Umfeld, Gesundheitsverhalten und demographischen
Persönlichkeitsmerkmalen; weitere Studien beschäftigen sich mit anderen Einzel-
merkmalen (z.B. Selbstwert, Emotionalität, Neugier, Intelligenz, Flexibilität und

20
Stabilität als Persönlichkeitsmerkmale; weiter Suizidalität, Abwehrmechanismen,
soziale Erwünschtheit, Gesundheitsüberzeugungen, Risikoeinschätzungen; vgl. BzgA
2001, S. 42-43). Erstaunlicherweise wurde bei all diesen Studien trotz bestehender
Kritik am SOC-Test dieser als Messmethode für das Kohärenzgefühl eingesetzt; ein
anderes Mittel wurde bisher nicht entwickelt.
Es existieren einige Studien zum Verhältnis zwischen SOC und Stressbewältigung, so
fühlen sich nach einer Studie von McSherry und Holm (1994) Probanden mit hohem
SOC-Wert signifikant weniger gestresst als solche mit niedrigem SOC-Wert; ebenso
sind physiologisch gemessene Reaktionen auf Stress bei Probanden mit hohem SOC
niedriger als bei anderen. Nach weiteren Studien erleichtert ein hoher SOC die
Anpassung an schwierige Lebenssituationen wie z.B. Behinderung oder die Pflege
eines Angehörigen (hierzu ließe sich wohl auch die Situation des Alleinerziehens
zählen). Menschen mit starkem Kohärenzgefühl fühlen sich weniger überlastet und
sind eher in der Lage, der Situation einen Sinn zu verleihen, während niedrige SOC-
Werte allgemein eher mit depressivem Bewältigungsverhalten, defensiven Abwehr-
mechanismen, Hilflosigkeit oder Resignation einhergehen (vgl. BzgA 2001, S. 48).
Dass der SOC mit sozialen Beziehungen zusammenhängt, zeigen einige Studien, in
denen der SOC mit der Anzahl von Freunden, mit ehelicher Zufriedenheit und mit
sozialer Unterstützung korreliert (vgl. BzgA 2001, S. 48). Dieser Bezug stellte auch für
Antonovsky eine von vielen Widerstandsfaktoren dar. Infrage steht dagegen
Antonovskys Einschätzung zur lebenslangen Stabilität des SOC; hierzu fehlen vor
allem Längsschnittuntersuchungen (vgl. Geyer 2002, S. 76; Stumpp 2003, S. 5).
,,Außerdem wurde bislang in keiner Untersuchung in Bezug gesetzt, wie sich
Kohärenzgefühl und kritische Lebensereignisse zueinander verhalten und ob sich
Veränderungen des Kohärenzgefühls durch Psychotherapie oder Beratung erzielen
lassen" (Stumpp 2003, S. 5).
Wie Antonovsky selbst voraussagte, fanden auch nachfolgende Studien keinen
direkten Zusammenhang zwischen SOC und gesundheitsbewusstem Verhalten wie
z.B. Sport zu treiben oder auf Ernährung zu achten. Verschiedene Studien finden
dagegen einen Zusammenhang zwischen niedrigem SOC und gesundheitsschädi-
gendem Copingverhalten wie z.B. Suchtmittel-Missbrauch; diese Forschungen sind
jedoch sowohl widersprüchlich als auch dürftig (vgl. BzgA 2001, S. 49-50).
Weitere Forschungen ergaben die auch bei Franke erwähnten Zusammenhänge
zwischen SOC und Geschlecht bzw. SOC und Alter, keinen Zusammenhang zwischen
SOC und Kulturkreis (wie Antonovsky voraussagte; jedoch bei noch unzureichender
Forschungslage) und keine klare Aussage über den Bezug zwischen SOC und
Bildungsstand, wobei der SOC in einer Studie mit dem Ansehen, der Eigenständigkeit

21
und dem Einkommen einer betrieblichen oder geschäftlichen Position korrelierte (vgl.
Franke 1997, S. 177; BzgA 2001, S. 50-52).
Antonovsky selbst sieht sein Modell als Beschreibung für die direkte Verbindung
zwischen Lebensorientierung und körperlicher Gesundheit. Umwege über das
Gesundheitsverhalten, psychische Komponenten oder die Verbindung zwischen SOC,
psychischer Gesundheit und Lebenszufriedenheit bewertet er sehr zurückhaltend.
Nachfolgende Forschungen deuten jedoch auf das Gegenteil hin: Während ein direkter
Zusammenhang zwischen dem Kohärenzgefühl und körperlicher Gesundheit nicht
eindeutig feststellbar ist, weisen verschiedene Studien zwischen SOC und
psychischen Komponenten signifikante Korrelationen auf; in Bezug auf Ängstlichkeit
und Depressivität sind sogar so große Übereinstimmungen zu finden, dass sich das
Kohärenzgefühl nur schwer davon abgrenzen lässt (vgl. BZgA 2001, S. 43-46).
Allerdings gab es bisher nur Studien zum Kohärenzgefühl (gemessen mit dem SOC-
Test) in Bezug auf einzelne Bereiche körperlicher Gesundheit; diese Zusammenhänge
müssten in weiteren ,,Studien mit angemessenem Forschungsdesign" (BzGA 2001, S.
46) genauer geklärt werden. Hierzu sollte auch über eine geeignetere, genauere
Methode zur Messung des individuellen Kohärenzgefühls nachgedacht werden.
2.3 Kritik am Instrument des SOC-Fragebogens
Die bisher erfolgten Forschungen zur Salutogenese beziehen sich zum größten Teil
auf das Kohärenzgefühl, welches bisher gemessen wurde mit dem von Antonovsky
erstellten ,,Fragebogen zur Lebensorientierung", dem ,,SOC-Test". Die testtheoreti-
schen Anforderungen an ein solches Messinstrument sind in dieser Skala im Prinzip
erfüllt; die Konstruktvalidität wurde im Vergleich mit ähnlichen Konstrukten als gültig
befunden. Dennoch weist das Instrument des SOC-Tests ernstzunehmende Probleme
und Mängel auf. So werden sehr hohe SOC-Werte von Antonovsky selbst als
unrealistische Lebenseinschätzung angesehen, welche er wiederum als geschwächtes
oder unstabiles Kohärenzgefühl deutet. Damit gibt es jedoch keinen klar benannten
,,Idealwert" (hohe SOC-Werte bedeuten nicht immer ein hohes Kohärenzgefühl), was
die Arbeit mit dieser Skala erschwert. Zudem weisen die bei Franke (1997, S. 177)
beschriebenen Ergebnisse vieler Forschungen darauf hin, dass die Mittelwerte des
SOC-Tests tendenziell Männern einen höheren SOC-Wert als Frauen und Älteren
einen höheren SOC-Wert als jungen Menschen zuschreiben; ob diese Werte die
tatsächlichen Stärke des Kohärenzgefühl ausdrücken oder durch das Messinstrument
bedingt sind, ist nicht geklärt. Weiter wurde festgestellt, dass die negativen Korrela-
tionen zu Angst und Depression so hoch sind, dass man fast von einer Konfundierung
sprechen könnte, d.h. die SOC-Skala stellt möglicherweise deren Kehrseite dar. Die

22
Methode, mit korrelativen Vergleichen Konstruktvalidität zu messen, wird ebenfalls
kritisiert, nur gibt es bisher keine bessere Möglichkeit (vgl. BzgA 2001, S. 40-41).
Siegfried Geyer (2002, S. 71-83) kritisiert ebenfalls, dass der SOC zu eng mit den
Maßen für Angst und Depression zusammenhänge und eigentlich diese messe.
Zudem seien Antonovskys Konstrukte und Instrumente zu wenig hinterfragt. Da es fast
nur Querschnittstudien zum SOC gebe, liege kaum Grundlagenforschung vor; die
empirischen Befunde zum SOC seien daher nicht eindeutig. Geyer fordert eine
Neubearbeitung der Messinstrumente und die Untersuchung des SOC auf zeitliche
Stabilität und Sozialisationsbedingungen; die Operationalisierung des SOC durch den
vorhandenen Test stehe in Frage: ,,Hohe negative Korrelationen zwischen SOC-
Scores und Maßen beeinträchtigter Gesundheit sowie Überschneidungen in den Item-
Formulierungen lassen es fraglich erscheinen, ob das Konstrukt tatsächlich gemessen
wird" (Geyer 2002, S. 75). ,,Als Hauptproblem auf der empirischen Ebene kann aber
der Fragebogen gelten, dessen Defizite eine komplette Revision erforderlich macht"
(ebd. S. 80). Zudem stellt Geyer die Hypothese auf, dass ein starker SOC nur in
mittlerer bis hoher Schichtzugehörigkeit entwickelt werden könnte, wo entsprechende
Handlungskompetenzen und Entscheidungsoptionen gegeben seien; somit sollte ,,der
SOC mit steigender sozialer Schichtzugehörigkeit zunehmen" (ebd. S. 78). Er plädiert
für hinreichende Grundlagenforschung, bevor das Modell und besonders der Frage-
bogen zur Anwendung kommen.
Erstaunlicherweise wurde bei fast allen bisherigen Studien trotz bestehender Kritik am
SOC-Test dieser als Meßmethode für das Kohärenzgefühl eingesetzt; ein anderes
Mittel wurde bisher nicht entwickelt.
2.4 neuere Forschungen zum Kohärenzgefühl in der Biografie
Bemühungen um eine gesundheitswissenschaftliche Theoriebildung auf der Grundlage
der Salutogenese, welche der Komplexität des Ansatzes gerecht werden will, finden
sich in der Biografieforschung von Gabriele Stumpp. Ihr Ansatz ist es, in konsequent
salutogenetischer Sichtweise Biografieforschung zu betreiben durch Interviews mit der
Fragestellung, was Menschen in ihrem Leben gesund erhält. Diese Vorgehensweise
ähnelt Antonovskys 51 unstrukturierten Interviews und somit dem Ausgangspunkt
salutogenetischer Forschung. Dabei stellt sie fest, ,,dass es eben nicht
die
Gesundheit
gibt, also nicht eine für alle und noch nicht einmal ein und dieselbe für eine Person zu
allen Zeiten" (Stumpp 2003, S. 1). Um Gesundheit unter dem Blickwinkel der Saluto-
genese zu erforschen, müsse erst eine vollständigere Ablösung der Gesundheits-
forschung und der praktischen Arbeit im Gesundheitssystem vom Paradigma der
Pathogenese erfolgen (vgl. Faltermaier 1994); die Frage nach den Bedingungen für

23
Gesundheit müsse in den Vordergrund rücken. Außer dem Modell der Salutogenese
sind laut Stumpp auch die Theoriebildung zu subjektiven Gesundheitskonzepten
(Faltermaier 1994; Flick 1998) und das Konzept der sozialen Repräsentationen
(Herzlich 1973) aufschlussreich für einen Paradigmenwechsel in Richtung Gesundheit.
Hierbei sollte Gesundheit als Diskurskonstrukt verstanden werden, in welchem die
Diskursebenen ,,gleichermaßen kooperativ wie kritisch zueinander in Bezug gesetzt
werden" sollten (Stumpp 2003, S. 2).
Subjektive Vorstellungen von Gesundheit beinhalten einen wichtigen Beitrag zum Wis-
sen über Gesundheit sowie über die soziale Konstruktion und Repräsentation von Ge-
sundheit mit deren gesellschaftlicher Rollen- Identitäts- und Geschlechtszugehörigkeit,
sozialen Zwängen, gesellschaftlichen und historischen Bedingungen sowie anderer-
seits konstruktive Möglichkeiten des Umgangs damit als ,,Widerstandsfaktoren" auf
individueller und sozialer Ebene (vgl. Faltermaier 1994; Antonovsky 1997, S. 91ff).
Inwieweit soziale und individuelle Ebenen hier ineinander wirken, ist ebenfalls kaum
erforscht.
Auch in Antonovskys Konzept und seiner impliziten Gesundheitsvorstellung findet
Stumpp ,,zwei zentrale Perspektiven, nämlich die auf (Gesundheits-)Biografien und
subjektive Theorien einerseits sowie jene, welche die Bedingungen der Lebenslagen in
den Blick nimmt, in denen diese Biografien stattfinden und wo soziale Repräsen-
tationen von Gesundheit und Krankheit sich niederschlagen" (Stumpp 2003, S. 4).
Die Salutogenese bietet laut Stumpp angesichts der Probleme des traditionellen
Gesundheitssystems eine ,,fruchtbare Rahmentheorie" mit komplexen und aktuellen
Fragen, welche die interdisziplinäre Forschung anregen und wichtige Impulse geben
kann (Stumpp 2003, S. 4; vgl. Faltermaier 2000, S. 186). Sie vermutet die Ursachen
für die bisher magere theoretische und empirische Entwicklung der Salutogenese vor
allem in Unklarheiten des Konzepts, welche nicht systematisch bearbeitet worden
seien, so z.B. die Begriffsklärung von ,,Gesundheit" und ,,Krankheit" und deren Zusam-
menhang mit dem Kohärenzgefühl. Dadurch werde die Operationalisierung des
Modells für die Empirie erschwert. Ebenfalls problematisch sei die ungenügende Güte
des SOC-Fragebogens, welcher der Komplexität der Theorie nicht gerecht werde
(Stumpp 2003, S. 5).
Eine weitere wichtige, noch ungeklärte Frage ist laut Stumpp, ob das Kohärenzgefühl
wirklich, wie von Antonovsky angenommen, vom frühen Erwachsenenalter an ein
Leben lang stabil bleibt. Bisher hat keine Untersuchung dieser These z.B. in Bezug auf
kritische Lebensereignisse oder in Bezug auf Veränderungen des SOC durch Therapie
bzw. Beratung stattgefunden. Die Klärung dieser Frage sei jedoch für die praktische
Anwendung unerlässlich. Stumpp schlägt vor, hierzu die Methoden der Biografie-

24
forschung und Langzeitstudien einzusetzen; darauf aufbauend berichtet sie von ihrem
Forschungsprojekt ,,Biografie und Gesundheit".
Ausgehend von der These, ,,dass eine biografische Untersuchung subjektiver Gesund-
heitstheorien die komplexe Konstruktion von Kohärenz verdeutlichen kann" (ebd. S. 6),
und in Bezug auf Antonovskys ausdrücklichen Hinweis, außer dem SOC-Test seien
auch andere Möglichkeiten zur Erforschung des SOC zu nutzen (Antonovsky 1997, S.
71), entscheidet sie sich für einen tiefen Blick in Biografien, um die darin enthaltene
,,Kohärenz" als jeweils individuelle globale Lebensorientierung herauszuarbeiten. Inter-
viewt wurden erst alte Menschen und alleinerziehende Frauen, später zum Vergleich
auch chronisch psychisch kranke Männer und junge Frauen mit selbstverletzendem
Verhalten; so konnten ,,gesunde" und aus medizinischer Sicht ,,kranke" Menschen aus
salutogenetischer Perspektive miteinander verglichen werden. Es kristallisierten sich
folgende Schwerpunkte heraus: Art und Kontext der Definition von Gesundheit, die
Konstruktion von Gesundheit im Zusammenhang der Biografie, und Hinweise auf
gesund erhaltende Konstrukte bzw. Widerstandsfaktoren gegen Belastungen (vgl.
Stumpp 2003, S. 6). Die Konstrukte an sich zeigten eine große Variationsbreite, so
dass man sagen kann, jedes Leben hat eine ganz eigene Dynamik und bildet eigene
und ,,eigensinnige" Konstrukte, ,,in denen sich individuelle Widerstandsfaktoren
verdichten" (ebd. S. 4). Aus diesen Interviews zieht Stumpp (2003, S. 7) den Schluss,
dass ,,die biografische Perspektive eine empirisch wie theoretisch relevante
Erweiterung des Kohärenzbegriffs ermöglicht".
Diese Forschung bestätigt, dass mit Blickrichtung auf Gesundheit und deren Erhalt
andere Antworten erfolgen als auf die Frage nach Krankheit. Alle Befragungen älterer
Menschen begannen z.B. mit deren Kindheit, da sie sich in ihrem lebensweltlichen
Kontext verstanden wissen wollen. ,,Der historisch-gesellschaftliche und sozio-
kulturelle Kontext erweist sich als zentrale Ausgangs- und Deutungskategorie der
subjektiven Erzählungen." (Stumpp 2003, S. 3). Sowohl Gesundheit als auch Krankheit
werden biografisch konstruiert und müssen als voneinander unabhängige,
eigenständige Größen verstanden werden (vgl. ebd. 2004, S. 7). Hierbei gibt es Unter-
schiede im Hinblick auf Geschlecht, Alter, Lebenslage und aktuelle Krisen; es macht
einen Unterschied, ob Probleme anstehen oder bereits bewältigt sind. All diese
Parameter beeinflussen die spezifischen Sorgen und Stressoren einer Person und
damit auch die Gegenmaßnahmen bzw. die zu mobilisierenden Widerstands-
ressourcen und prägen, möglicherweise langfristig, das inhärente Gesundheits- und
Lebensverständnis, auf dessen Hintergrund sie zuerst aufbauen. Dies wird deutlich an
den verschiedenen untersuchten Gruppen; der SOC einer alleinerziehenden Frau
nach dem Trauma der Trennung ist erschüttert und muss sich bestenfalls regene-

25
rieren; drastischer ist es bei chronischen Erkrankungen wie die der psychisch kranken
Männer, welche auf dem Hintergrund der Erkrankung ein neues Selbstverständnis und
auch eine neue Balance im Verhältnis zu Gesundheit finden müssen. Das medizinisch
gesehen pathogene Symptom selbstverletzenden Verhaltens erscheint innerhalb des
Gesamtkontextes eines extrem schwierigen Lebenshintergrundes aus salutoge-
netischer Sicht sogar gesundheitserhaltend. So kann man schlussfolgern, dass, im
Sinne von Antonovskys Balance der Heterostase, Gesundheit als ein Prozess ver-
standen werden kann, in dem durch den Einsatz von Widerstandsfaktoren gegen
belastende Erfahrungen immer wieder ein Gleichgewicht hergestellt und verteidigt
werden muss (vgl. ebd. S. 7-8). Es liegt jedoch auch die Vermutung nahe, dass das
Kohärenzgefühl durchaus auch in späteren Jahren noch veränderbar ist und verändert
wird.
In der Tiefenanalyse der Interviews fand Stumpp (2003, S. 8) so genannte ,,widerspen-
stige Kernkonstrukte"; dabei handelt es sich um Themen innerhalb der subjektiven
Gesundheitstheorie, welche ,,quasi die ,individuelle Begründungslogik' der subjektiven
Theorie" (ebd. S. 8) bilden. Diese ist so eigen, dass sie sich ,,weder in den populären
Gesundheitsvorstellungen noch in Kategorien von ,Funktionieren' oder ,subjektivem
Wohlbefinden'" finden lässt und nur aus dem individuellen Lebenslauf verstehbar wird.
Nur so wird verständlich, ,,wieso Menschen ähnliche Belastungen unterschiedlich be-
werten und unterschiedlich bewältigen" (ebd. S. 8). Hier vermutet Stumpp den Schlüs-
sel zur ,,subjektiven Gesundheitssteuerung" (ebd. S. 9) auf einer Metaebene, der hilft,
trotz äußerer Widrigkeiten gesund zu bleiben, d.h. Gesundheit immer wieder herzustel-
len. - Die Parallelen zur Salutogenese mit ihrer zentralen Fragestellung sind deutlich.
Aus dieser ,,individuelle(n) Begründungslogik" entsteht ein eigenwilliges persönliches
Widerstands- und Ressourcenpotential, welches Antonovskys GRR-GRD sehr ähnelt;
zudem weisen diese Konstrukte ,,starke Parallelen mit identitätstheoretischen Erklä-
rungsansätzen auf" (ebd. S. 9); so dass sich die Frage stellt, inwieweit das Kohärenz-
gefühl mit der Identität zusammenhängt. Bisherige Biografieforschung ergab, dass
identitätsrelevanter Stress (z.B. durch nicht bewältigte mangelnde Anerkennung,
Gewalterfahrungen oder Exklusion) zu einer Veränderung der Konstrukte führt (vgl.
ebd. S. 9). Laut Keupp unterliegt die Identitätsbildung einer ständig neuen Anpas-
sungsleistung, in der ,,ein prozessual verstandenes Kohärenzprinzip für die Identitäts-
bildung nicht zur Disposition gestellt werden darf" (Keupp et. al. 1999, S. 246; vgl.
Höfer 2000). In Interviews mit Älteren wurde jedoch auch sichtbar, das Identität und
Kohärenz zwar immer wieder neu hergestellt werden mussten, dass dies jedoch um
ein beständiges Kernkonstrukt herum geschah. Dieses Konstrukt ist gleichzeitig
einerseits verknüpft mit der Identität und andererseits in ,,Interaktion mit bestimmten

26
kulturellen und sozialen Strukturmustern" (Stumpp 2003, S. 4). Somit müssten zutiefst
eigene Erfahrungen mit herrschenden gesellschaftlichen Ansichten über Gesundheit
ausbalanciert werden und hieraus entstehende Paradoxien müssten integriert werden.
Inwieweit kritische Lebensereignisse dieses Kernkonstrukt nun tangieren, erschüttern
oder verändern, eröffnet ein neues Forschungsfeld. Falls Identität und Kohärenz
wirklich so eng verbunden sind, könnte ein Einfluss auf die Identität auch auf den SOC
wirken; diese Verbindung wiederum könnte sich auch therapeutisch zur Stärkung des
Kohärenzgefühls nutzen lassen.
Wenn die von Stumpp gefundenen Konstrukte tatsächlich mit dem von Antonovsky
beschriebenen Kohärenzgefühl übereinstimmen sollten, eröffnete diese Vorgehens-
weise neue Möglichkeiten theoretischer und empirischer Forschung, in der das SOC
als ,,qualitatives Konstrukt" und nicht als ,,quantifizierbare Größe" dargestellt würde, da
es ,,nicht unabhängig von individuellen Kernkonstruktionen verstehbar ist" (ebd. S. 9).
Somit müssten auch die drei Komponenten auf dieses individuelle Konstrukt reflexiv
rückbezogen werden. Im Gegensatz zu ,,relativ fixen Skalenwerten" hinge das SOC
dann ab ,,von der Dynamik jenes widerspenstigen Konstrukts, das die individuellen
Widerstandsressourcen integriert" (ebd. S. 9). Für weitere Forschungen schlägt
Stumpp vor, durch die Arbeit an Gesundheitsbiografien von verschiedenen Personen-
gruppen noch ,,detaillierter zu klären, wie sich Kohärenz und Identität in ihrer Entwick-
lung zueinander verhalten" (ebd. S. 9), und anstatt objektivierbarer, dafür jedoch
statischer Daten den Blick auf das Prozessgeschehen zu richten, welches ein lebens-
langes ,,Austarieren zwischen der eigenen Handlungswirksamkeit und der oftmals
widersprüchlichen und vielfach belasteten Lebenswelt" (ebd. S. 10) einbezieht. Weiter-
hin fordert sie, den Blick auf soziale Gegebenheiten mehr einzubeziehen, um
,,ungleiche Chancenverteilungen zur Ausbildung und Aufrechterhaltung von Kohärenz"
auszugleichen und nicht einseitig die ,,Zuständigkeit für (gesundheitliche) Wider-
standsressourcen" zu individualisieren. Auf die Ergebnisse dieser Arbeit baut die
nunmehr in der vorliegenden Forschung gestellte Frage, ob und inwieweit es möglich
ist, das Kohärenzgefühl bzw. das subjektive Gesundheitsempfinden in Beratungs-
gesprächen herauszuhören, und darauf aufbauend ,,das individuelle Kohärenzgefühl
so zu stärken, dass adäquate, d.h. für die Person jeweils gesündere Strategien für den
Umgang mit den Belastungen gefunden werden können" (ebd. S. 10).

27
3. Konzept der lösungsorientierten Beratung
3.1 Theoretischer Hintergrund
Wie können wenige Beratungsgespräche bewirken, dass das Kohärenzgefühl einer
Person angehoben wird, und ihr Gesundheitszustand sowie ihre Lebensqualität
verbessert werden? Ist dies überhaupt möglich? Und falls es möglich ist, welche
Techniken könnten sich dazu eignen? - Der systemische Ansatz von lösungs-
orientierter Beratung und Therapie bietet der Ansicht unseres Forschungsteams nach
geeignete Techniken, um Einfluss zu nehmen, wobei wir davon ausgehen, dass die
Grenzen zwischen Beratung und Kurztherapie fließend sind. Dieser Ansatz kommt in
unseren
Salutogenetischen
Beratungsgesprächen
sowohl
als
theoretischer
Hintergrund als auch praktisch in Form der Techniken zur Anwendung und soll daher
hier knapp dargestellt werden.
Das Konzept der Kurztherapie wurde am Brief Family Therapy Center in Milwaukee,
USA entwickelt; sein Hauptvertreter ist Steve de Shazer. Er orientiert sich vor allem an
der Hypnotherapie nach Milton Erickson und an der Systemtheorie, des Weiteren an
Watzlawick, Haley und an systemischer Familientherapie. Beschrieben werden die
Erfahrungen von gegenseitiger Supervision in einem Therapeutenteam, in dem
Therapeuten verschiedener Schulen gemeinsam und durch gegenseitiges Beobachten
die effektivsten Strategien ihrer verschiedenen Ansätze herausfanden. Dadurch
entstand ein Set von anwendbaren Techniken, welche zu Veränderungen im Verhalten
von Klienten und in Systemen führen.
In der Systemtheorie ist ein ,,menschliches System" (d.h. ein Beziehungsgeflecht) mehr
als die Summe seiner Teile. Es besteht aus Individuen und ihren Beziehungen
untereinander und wird somit komplex. ,,Jeder Teil des Systems ist mit den anderen
Teilen so verbunden, dass eine Änderung in einem Teil eine Änderung in allen Teilen
und damit dem ganzen System verursacht" (Watzlawick u. a. 1967, S. 123, bzw. dt. S.
119, zit. n. de Shazer 1997, S. 146). Demnach kann diese Komplexität genutzt
werden, um durch eine kleine Veränderung an einer Stelle wie ein Welleneffekt eine
Bewegung im ganzen System zu erreichen. In der darauf folgenden Neuordnung
können sich gewünschte Lösungen dauerhaft etablieren.
Wie der Name schon sagt, wird der Fokus vom Problem weg und hin auf eine
möglichst rasche Lösung gerichtet; in der Regel reichen dazu fünf bis zehn Gespräche
aus. Dies soll jedoch nicht einfach weniger Zeit für dieselben therapeutischen
Prozesse bedeuten oder eine rein zeitliche Begrenzung darstellen, sondern stellt ein
Verfahren dar, das es sich zur Aufgabe macht, die Bewältigung menschlicher
Schwierigkeiten auf neue Weise anzupacken und erfolgreiche Lösungen rasch
herbeizuführen. Der Therapeut ähnelt darin eher z.B. einem Hausarzt oder einem

28
Menschen, der ,,den Tonkopf einer hängen gebliebenen Schallplatte kurz anhebt, um
ihn in die nächste Rille zu setzen, so dass die Musik des Lebens weiterspielen kann"
(Madelung 1996, S. 89). Die scheinbare Oberflächlichkeit dieses Ansatzes gegenüber
tiefenpsychologischen Verfahren begründet de Shazer in einer kritischen, struktu-
ralistischen Auseinandersetzung mit dem Thema Sprache in Bezug auf Tiefen- und
Oberflächenstruktur (vgl. de Shazer 1998, S. 34-41). In analytischen Therapiekon-
zepten wird davon ausgegangen, dass sich hinter der Oberfläche eine ,,verdrängte"
Tiefenstruktur befindet, welche erst die vollständige Bedeutung der Oberflächen-
struktur enthalte. Demnach muss im therapeutischen Prozess nach dieser
Tiefenstruktur geforscht werden, um von dort aus das vom Klienten Gesagte zu
verstehen und dort nach Heilungswegen zu suchen. De Shazer bemerkt nun kritisch,
dass auch diese Tiefenstruktur unvollständig sein kann, bzw. dass sich sogar in deren
Zentrum ein Loch befinden könnte. Der Therapeut muss somit auf der Suche nach
Lösungen diese geheimnisvollen Tiefen interpretieren bzw. deren Hintergründe
,,erraten", was wiederum in einen endlosen, unfruchtbaren Prozess münden kann.
Denn letztlich gibt es laut de Shazer kein Ende oder keinen Boden in dieser
Tiefenstruktur, auf dem eine Interpretation mit Sicherheit als endgültig oder richtig
verstanden gelten kann (vgl. ebd. 1998, S. 38-39). Demgegenüber setzt sich de
Shazer intensiv mit dem Thema Sprache auseinander, über welche sowohl die
Oberflächen- als auch die Tiefenstruktur kommuniziert werde. Worte beziehen sich
aufeinander und beziehen ihre Bedeutung voneinander (vgl. ebd. S. 42). Nach de
Shazer ist es dabei fraglich, ob das Bezeichnete tiefer oder ,,wahrer" als die
Bezeichnung ist, und er sieht es daher als ratsam an, ,,textfokussiert" an der wahr-
nehmbaren Oberfläche des Gesagten zu bleiben.
3.2 Textfokussierung statt Interpretation
Der Begriff ,,Text-fokussiertes Lesen" wurde von de Shazer als Alternative zu dem
problematischeren, da vorbelasteten Begriff ,,Dekonstruktion" geprägt und bedeutet,
die innere Logik des Anliegens eines Textes (oder einer Erzählung) aus dessen
Kategorien- und Wertesystem zu verstehen, d.h. im Anliegen, in der Struktur und der
inneren Logik (oder Unlogik) und auch in der Wortwahl des vorgegebenen Materials zu
bleiben (vgl. ebd. 1998, S. 38 und S. 53-56). Dies erfordert ein sehr genaues,
sorgfältiges Lesen, welches ebenfalls beachtet, was im Text z.B. ausgelassen oder nur
am Rande erwähnt wurde. Es darf jedoch nichts in den Text interpretiert werden, das
nicht im Sprachgebrauch des Textes selbst schon liegt, d.h. es darf kein allgemeiner
oder übergeordneter Kontext angenommen werden. ,,Jedem Text wohnt die
Möglichkeit potentiellen Ver-lesens durch Ein-lesen zusätzlicher Bedeutung inne" (de

29
Shazer 1998, S. 56), welche ein Leser aus seinem eigenen Erfahrungshintergrund
mitbringt, und welche mögliche Fehlerquellen im Verständnis darstellen.
Im Kontrast dazu steht das ,,Leser-fokussierte Lesen". Hier liest der Leser einen Text
als von außerhalb des Anliegens stehend, aus der Sicht und im Kategoriensystem des
Lesers; diese Haltung wird oft unreflektiert eingenommen. Die beiden Systeme können
jedoch zu sehr verschiedenen Schlüssen führen. Im ersten Fall wird darauf geachtet,
was ein Text oder Klient wirklich sagt; im zweiten Fall wird ihm die Interpretation und
das Weltbild des Lesers oder Zuhörers übergestülpt.
Auf Beratungssituationen übertragen, verlangt die Aktivität der Beraterin in einer
Lösungsorientierten bzw. Salutogenetischen Beratung ein ähnlich genaues, ,,textfokus-
siertes" Zuhören, d.h. das vom Klienten Gesagte wird genau so als ,,wahr" genommen,
wie es dargestellt wird. Dies bewirkt u. a. einen widerstandsfreien Zugang zum
Klienten. Letztlich gilt, dass ein Berater durch Worte nie wirklich den ganzen
Hintergrund eines Klienten erfassen bzw. verstehen kann, so wie die Situation sich für
den Klienten subjektiv darstellt (vgl. ,,Daher gibt es keine Möglichkeit sicher zu gehen,
dass wir uns genau das vorstellen, was der Autor wirklich gemeint hat."; de Shazer
1998, S. 56). Dieses Wissen um die eigene Fehlbarkeit im Verstehen jedoch, gepaart
mit vorurteilslosem bzw. nicht-interpretativem Zuhören, kann mehr Offenheit ermög-
lichen, um dann passende Lösungen zu finden.
Nach de Shazer sind Worte für den Therapeuten wiederum das Werkzeug, um mit der
vom Klienten dargestellten Welt zu arbeiten. Therapie als Konversation richtet das
Augenmerk auf Sprache, auf Worte und damit verbundene Implikationen. Sachverhalte
können durch kreatives Missverstehen und Umdeuten geändert und mit Hilfe von
lösungsorientiertem Sprachgebrauch gelöst werden; hierzu kann der Therapeut den
Rahmen ermöglichen, in dem Klienten ihre eigenen kreativen Lösungen kreieren. So
findet de Shazer z.B. durch aufmerksames Zuhören die Ideen für ungewöhnliche
Interventionen in den Worten der Klienten selbst (vgl. ebd. S. 51).
3.3 Die Konstruktion von Problemen und Lösungen
Klienten benennen Schwierigkeiten ihres Lebens (in der Salutogenetischen Beratung
sind das solche, die vorwiegend ihre Gesundheit beeinträchtigen). Diese stehen im
Zusammenhang mit einem Verhalten, welches durch das Weltbild der Klienten
zustande gekommen ist. Der Klient befindet sich in der Überzeugung, dass das, was er
bezüglich der Schwierigkeiten zu tun beschlossen hat, das einzig Richtige und
Logische gewesen sei, und sieht keine andere Möglichkeit, als ,,mehr desselben
Verhaltens" zu zeigen (Watzlawick u. a., 1974), weil die zweite Hälfte des Entschei-
dungsprozesses abgelehnt bzw. vergessen wurde und eine lösungsorientierte

30
Umdeutung des Sachverhalts dem Klienten selbst meist nicht mehr möglich ist. Durch
das Hilfesuchen des Klienten wird das Problem jedoch zur Umwandlung freigegeben.
,,Unter der Annahme, dass Erfahrungen Bedeutungen zugeschrieben werden, die die
Art beeinflussen, wie die Welt erlebt wird, ist eine Änderung der Bedeutung auch eine
Änderung der Erfahrung" (Geiling 2002, S. 79). Es ist nach de Shazer Aufgabe des
Therapeuten, passendere Zusammenhänge zu konstruieren und so Wege zur
Bewältigung zu öffnen; dies entspricht einer Ausweitung von Widerstandsfaktoren
(GRR) bei Antonovsky.
Für ein befriedigendes Ergebnis müssen jedoch erst die Ziele des Klienten geklärt
werden. Zieldefinition bewirkt eine neue Erwartungshaltung, in der die Zukunft eine
gesteigerte positive Bedeutsamkeit für die Gegenwart erhält (diese ist vergleichbar mit
der motivationalen Bedeutsamkeitskomponente des SOC nach Antonovsky). Daher ist
die Frage, woran der Klient merkt, dass sein Problem nicht mehr da ist, von
Bedeutung. Eine passgenaue Lösung wird erreicht, wenn das Ziel und die Vorgehens-
weise nicht vom Therapeuten, sondern vom Klienten gesetzt werden. Der Therapeut
leistet hierbei wichtige Hilfestellung, indem er Probleme neu konstruiert, so dass sie zu
einer Lösung führen. Die Neubewertung der Situation durch eine Autorität wie den
Therapeuten schafft einen Rahmen, welcher das Aufkommen neuer Erwartungen und
Verhaltensweisen begünstigt (vgl. de Shazer 1997, S. 109). Jede vom Klienten selbst
bewirkte Veränderung ist ein Anzeichen für Passgenauigkeit und kann zur Lösung
beitragen. Dieser Prozess erfordert die Rekonstruktion des Problems aus dem
beklagten Sachverhalt, Kenntnis über die Ziele des Klienten sowie über mögliche
Lösungswege. Eine spätere Neukonstruktion des Sachverhalts und Umdeutung
problematischer Themen erfolgt aus verschiedenen Komponenten wie z.B. Häufigkeit,
Kontext und Bedeutung des Geschehens, bestimmten Verhaltenssequenzen, der
Kontrollfähigkeit des Klienten, Bezugspersonen zum Geschehen, verantwortlichen
Personen, Vergangenheit, Zukunftsbild und Erwartungen. Die Praktiker der
Kurztherapie legen in der Regel den Hauptakzent auf das systemische Konzept der
Ganzheit: Der Therapeut muss den Sachverhalt plus mögliche Lösungen sehen und
mit dem Klienten die am besten handhabbare Lösung finden. ,,Die Veränderung ist ein
interaktioneller Prozess, an dem beide, der Klient und der Therapeut, teilhaben. Sie ist
nicht etwas, das der Therapeut dem Klienten - als einem passiven Empfänger dieser
Leistung - angedeihen ließe" (de Shazer 1997, S. 97).

31
3.4 Lösungsorientierte Techniken
Nach De Shazer gibt es drei einfache Basisregeln für Lösungsorientierte Therapien
(vgl. Walter / Peller 1999, S. 8):
·
Wenn etwas nicht kaputt ist, dann repariere es auch nicht.
·
Wenn du weißt, was funktioniert, mach' mehr davon.
·
Wenn etwas nicht funktioniert, dann hör' auf damit; mach' etwas ander(e)s.
Für Bereiche, die nicht funktionieren und daher verändert werden sollen, bietet de
Shazer zur Umstrukturierung und Lösung folgende Techniken an, welche auch in die
Salutogenetische Beratung einfließen werden (vgl. de Shazer 1997, Kap. 1-8; de
Shazer 1998):
·
Kooperation:
Der Klient wird in seinem Anliegen immer als veränderungswillig
und kooperativ angenommen (Abschied vom Konzept des ,,Widerstandes"
gegenüber Therapie). Der Therapeut bietet dem Klienten kooperatives Verhal-
ten an; in der Folge beantwortet bzw. spiegelt er das Verhalten des Klienten mit
einer gleichartigen Reaktion (,,Tit for Tat", vgl. de Shazer 1997, S. 101-108).
Das Vertrauen des Klienten wird gewonnen durch Respekt, Verständnis und
Anerkennung für seine bisherigen Leistungen und Lösungsversuche; erst wenn
der Klient sich verstanden fühlt und Vertrauen gewinnt, kann ihm ein neuer
Weg vorgeschlagen werden. Wichtig ist, dass ,,das Problem" als eigentlicher
Patient angesehen wird, und nicht der Klient als Mensch. Therapeut und Klient
arbeiten gemeinsam an der Konstruktion einer Lösung; will der Klient eine
mögliche Lösung nicht annehmen, so ist es die falsche.
·
Komplimente:
Eine therapeutische Botschaft wird immer mit einem
Kompliment eingeleitet; dies kann Respekt vor den bisherigen Bewältigungs-
strategien einbeziehen und ebnet gleichzeitig den Weg für etwas Neues.
·
Skalierungsfragen:
Der Klient ordnet seine subjektive Wahrnehmung in
Bezug auf eine Gegebenheit auf einer (imaginären) Zahlenskala, z.B. von eins
(sehr schlecht, miserabel) bis zehn (sehr gut, optimal) ein. Dies verdeutlicht
seinen momentanen subjektiven Stand in dieser Angelegenheit. Subjektives
Empfinden und Gefühlszustände sowie mögliche Fortschritte werden konkret in
Zahlen ausgedrückt, und es kann subjektiv ,,messbar" auf Wunschzustände
oder eine Lösung hingearbeitet werden.
·
Kristallkugel-Technik:
Eine von Milton Erickson übernommene Technik, in der
der Klient in einer leichten Trance in eine imaginäre Kristallkugel schaut, und so
z.B. in der Vergangenheit positive Ausnahmen finden kann, um dann selbst
eine positive Zukunftsvision zu entwerfen und (Lösungs-)Wege für die
Entstehung dieser Zukunft zu finden. Der Therapeut führt in diesen bildhaften

32
Zustand, begleitet, fragt vorsichtig nach und merkt sich die Geschehnisse und
Lösungshinweise. Abgekürzt beinhaltet diese Technik die Frage, wie denn die
Dinge aussehen werden, wenn das Problem gelöst ist (vgl. Wunderfrage).
·
Wunderfrage:
Der Klient wird gefragt, wie sein Leben aussähe, wenn wie
durch Zauberhand eines Morgens alle seine Probleme verschwunden wären.
Er soll beschreiben, was genau dann anders ist, woran er bzw. sein Umfeld das
merken wird und was er dann Neues zu tun in der Lage ist. Dies lässt sich als
,,Wunder" leicht phantasieren. Die gefundene hypothetische Information oder
Vision dient als Diagnostik der Problemlage sowie als Zielbild und Orientierung
für eine Lösung. Hierbei können sehr konkrete Alltagssituationen heraus-
gearbeitet werden, auf deren Erreichung im Folgenden (z.B. durch Hausauf-
gaben oder Dietriche, s. u.) hingearbeitet wird. Bereits die Konstruktion und
Erwartung einer Veränderung im therapeutischen Kontext wirkt auf eine Lösung
hin und bewirkt eine neugierige, offene Haltung der Zukunft gegenüber.
·
Konfusions-Technik
: Der Therapeut gesteht die eigene Konfusion bzw.
Ratlosigkeit angesichts des Problems ein und gibt so dem Klienten die Chance,
aus sich selbst heraus Klarheit und Ziele zu entwickeln, woraus sich neue
Lösungen ergeben können. Sie wirft den Klienten auf sich selbst zurück und
verhindert, dass der Therapeut ihm etwas überstülpt.
·
Umdeutung / Rahmung
: dem problematischen Symptom wird eine neue,
normalisierende oder nützliche Bedeutung zugeschrieben bzw. es wird in einen
neuen Kontext gestellt, so dass es der Zielerreichung nicht weiter im Weg
steht, sondern indirekt sogar zur Lösung beitragen kann (vergleichbar dem
,,Reframing" des NLP).
·
Polyokulare Sichtweise:
Wenn mehrere Therapeuten mit einem Problem
befasst sind, hat jeder durch seinen Erfahrungshintergrund und implizite
Annahmen eine eigene Sichtweise bzw. entwirft einen eigenen Lageplan des
Themas und seiner Lösungsmöglichkeiten. Zusammengenommen führt dies zu
einer mehrdimensionalen ,,Tiefensicht" und kann zu kreativen Lösungen
beitragen, wenn die Beteiligten offen für diese Verschiedenheiten sind und
keine Wertung im Sinne von ,,richtiger" oder ,,falscher" Sicht vornehmen.
·
Ockhams Regel bzw. ,,Rasiermesser":
Für ein Problem sollte immer die
einfachste brauchbare Erklärung oder Lösungsmöglichkeit gefunden werden.
·
Doppelbindung / Seltsame Schleife:
Der beklagte Sachverhalt stellt sich als
eine Zwickmühle bzw. als verwirrender Kreislauf dar, in welcher der Klient mit
jeder möglichen Wahl von Handlung ein unerwünschtes Ergebnis erzielt bzw.
erzielen könnte, und sich daher handlungsunfähig fühlt. Die Situation kann

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2005
ISBN (eBook)
9783832496753
ISBN (Paperback)
9783838696751
DOI
10.3239/9783832496753
Dateigröße
4.8 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen – Sozial- und Verhaltenswissenschaften 08, Erziehungswissenschaften
Erscheinungsdatum
2006 (Juli)
Note
1,1
Schlagworte
gesundheitsberatung prävention lösungsorientierte beratung alleinerziehende kurzzeittherapie
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Titel: Salutogenetische Beratung in der Praxis
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