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Soziale Diagnostik in der Jugendberufshilfe - Theorien, Modelle, Praxis

©2006 Diplomarbeit 163 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Soziale Arbeit ist wie jede andere helfende Profession darauf angewiesen, sich zunächst ein Bild der Probleme bzw. Anliegen der AdressatInnen zu verschaffen. Professionen wie die Medizin oder die Psychologie greifen dabei auf feststehende Diagnosekriterien und -instrumente zurück, die ihnen eine anerkannte Analyse und Festlegung von Handlungsschritten – aufbauend auf ihrer Diagnose – ermöglichen. Die Soziale Arbeit verfügt bislang nur in Ansätzen über eine solche einheitliche Diagnoseanleitung, die sowohl die Vorgehensweise als auch die dabei zu beachtenden Aspekte beschreibt, wenngleich es in der Professionsgeschichte und auch aktuell Versuche einer diesbezüglichen Einführung gab und gibt. Ein Grund für die Schwierigkeit der Etablierung einer einheitlichen sozialpädagogischen Diagnose sind die vielfältigen und verschiedenen Handlungsfelder, in denen diese zum Einsatz kommen können muss.
In dieser Arbeit behandle ich den Gegenstand der sozialpädagogischen Diagnose im Bezug auf das Handlungsfeld der Jugendberufshilfe. Dort werden im Bereich der Berufsorientierung und -bildung seit Beginn der 1990er Jahre spezielle Diagnoseverfahren zur Erfassung von Kompetenzen eingesetzt, die ursprünglich aus der Personalentwicklung des Wirtschaftsbereichs kommen. Die Leitfrage dieser Arbeit ist, ob und inwieweit es sich bei diesen ursprünglich wirtschaftlich orientierten Kompetenzfeststellungen um Verfahren sozialpädagogischer Diagnostik handelt. Die einzelnen Kapitel gliedern sich wie folgt:
Im einleitenden 1. Kapitel führe ich die LeserInnen an das Thema heran, benenne meine wissenschaftliche Leitfrage und erkläre meine inhaltliche und formale Vorgehensweise.
Im 2. Kapitel befasse ich mich mit der Frage, was sozialpädagogische Diagnostik ist, wo sie herkommt, was man darunter versteht, was sie kennzeichnet und welche Gefahren und Chancen mit ihr verbunden sind.
In Kapitel 3 beschreibe ich die Jugendberufshilfe als Handlungsfeld Sozialer Arbeit, in ihrer Entstehung und derzeitigen Brisanz, anhand ihrer Zielgruppe und ihren Arbeitsansätzen sowie der rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen.
Im 4. Kapitel analysiere ich die Kompetenzfeststellung als in der Jugendberufshilfe angewandtes Diagnoseverfahren. Ich gehe dafür zunächst auf den Begriff der Kompetenz ein, bevor ich verschiedene Kompetenzbereiche unterscheide. Nach einer Vorstellung mehrerer Diagnoseverfahren und ihrer Bewertung bezüglich der Einsetzbarkeit zur […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Blandine Ehrl
Soziale Diagnostik in der Jugendberufshilfe
Theorien, Modelle, Praxis
ISBN-10: 3-8324-9627-0
ISBN-13: 978-3-8324-9627-2
Druck Diplomica® GmbH, Hamburg, 2006
Zugl. Fachhochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen, Hildesheim, Deutschland,
Diplomarbeit, 2006
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http://www.diplom.de, Hamburg 2006
Printed in Germany


,,Der Mensch wird Person...bzw. Fall,
indem in gewissen Weisen über ihn geredet wird
und so ,Erwartungskollagen' angefertigt werden.
Offizielle Varianten dieses Verfahrens sind Diagnosen,
Fallbeschreibungen, Persönlichkeitsprofile, Krankheitsbilder,
Kriminalitätskarrieren, Aktennotizen usw.
Mit Hilfe dieser Techniken, die nichts weiter sind als
,Fetische der Realität', macht man aus prinzipiell
unvorhersagbaren, unerklärlichen Objekten
(vertrauliche, abzählbare Größen),
die Voraussagen zu erlauben scheinen.
Sozialarbeiter können auf derartige Fetische nicht verzichten,
wohl aber darauf, sie zu fetischisieren!"
(Bachmann zit. n. Pantucek 2005b: 5)

Soziale Diagnostik in der Jugendberufshilfe
Theorien ­ Modelle ­ Praxis
Inhaltsverzeichnis
Seite
1
Einleitung... 1
2
Soziale Diagnostik... 4
2.1
Begrifflicher Zugang... 4
2.1.1 Etymologische Bestimmung und Bedeutung... 4
2.1.2 Geschichtliche Entwicklung und Anwendung... 10
2.2
Theoretische Betrachtung... 14
2.2.1 Theoretische Positionen... 15
2.2.2 Spannungsfelder... 18
2.2.3 Konzepte... 23
2.2.4 Modelle... 24
2.3
Inhalte... 27
2.3.1 Diagnoseverlauf... 28
2.3.2 Verfahren, Instrumente und Methoden... 30
2.3.3 Aufgaben und Ziele... 35
2.4
Gefahren und Chancen... 39
2.5
Zusammenfassung... 41
3
Jugendberufshilfe... 43
3.1
Jugendberufshilfe als Handlungsfeld Sozialer Arbeit... 43
3.1.1 Geschichtliche Entwicklung... 46
3.1.2 Zielgruppe... 46
3.1.3 Aktuelle Problemlage... 50
3.2
Rahmenbedingungen... 52
3.2.1 Bedeutung der Erwerbsarbeit...52
3.2.2 Rechtliche Grundlagen... 54
3.2.3 Finanz- und Bildungsträger... 57
3.3
Inhalte... 59
3.3.1 Sozialpädagogische Arbeitsansätze und Methoden... 59
3.3.2 Maßnahmen und Programme... 65
3.3.3 Aufgaben und Ziele... 67
3.4
Zusammenfassung... 68

4
Kompetenzfeststellung als Diagnoseverfahren der Jugendberufshilfe... 70
4.1 Kompetenzen... 71
4.1.1 Abgrenzung von Kompetenz zu Qualifikation... 72
4.1.2 Abgrenzung von Kompetenz zu Potenzial... 74
4.1.3 Kompetenzbereiche... 76
4.2 Kompetenzfeststellung... 80
4.2.1 Voraussetzungen... 80
4.2.2 Diagnostische Verfahren... 84
4.2.3 Gütekriterien und Qualitätsstandards... 94
4.3
Praxismodelle (MELBA, hamet 2, Start, DIA-TRAIN, TASTE)... 102
4.4 Zusammenfassung... 1
17
5
Anmerkungen zur Kompetenzfeststellung aus sozialdiagnostischer,
bildungstheoretischer und gesellschaftskritischer Sicht...
120
5.1
Konzeptionelle Unterschiede zwischen sozialpädagogischer Diagnostik im
Allgemeinen und Kompetenzfeststellung im Speziellen...
120
5.2
Reflexion des aktuellen Bildungsauftrags anhand der Kompetenzfeststel-
lungspraxis in der Jugendberufshilfe...
123
5.3
Kompetenzfeststellung als Instrument zur Ökonomisierung des Individuums..
126
6 Schlussbemerkung... 129
7 Literaturverzeichnis... 131
Anhang
Anlage 1: Spannungsfelder der Diagnostik
Anlage 2: Arbeitsregeln für den sozialpädagogischen Diagnoseprozess
Anlage 3: Gesetzestexte
Anlage 4: Entwicklung der Arbeitslosenquote
Anlage 5: Stärken- und Schwächenanalyse der Bundesagentur für Arbeit
Anlage 6: Fähigkeitsprofil
Anlage 7: Pizzadienstübung
Anlage 8: Merkmalsbeschreibung zur Pizzadienstübung
Anlage 9: Beobachtungsbogen zur Pizzadienstübung
Anlage 10: Beurteilungsbogen zur Pizzadienstübung

Soziale Diagnostik in der Jugendberufshilfe
Theorien ­ Modelle ­ Praxis
Abkürzungsverzeichnis
AC
AFG
Anl.
BA
BBiG
BBW
BIBB
BMBF
BMWA
bzw.
DIA-TRAIN
DSM-IV
d. A.
d. h.
ebd.
E./B.
EKV
etc.
EU
EWIV
f
ff
FAA
1
ggf.
GmbH
hamet 2
ICD-10
i. d. R.
i. e. S.
IMBSE
INBAS
IT
JarbSchG
JBH
JSA
Kap.
KJHG
MELBA
MEZ
NASW
NGO
o. S.
PIE
s.
S.
SGB
sic
s. u.
Start
TASTE
u. a.
usw.
u. v. m.
vgl.
vs.
z. B.
zit. n.
Assessment-Center
Arbeitsförderungsgesetz
Anlage
Bundesagentur für Arbeit
Berufsbildungsgesetz
Berufsbildungswerk
Bundesinstitut für Berufsbildung
Bundesministerium für Bildung und Forschung
Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit
beziehungsweise
Diagnose- und Trainingseinheit
(englisch) Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders ­ 4
th
Edition
dieser Arbeit
das heißt
ebenda
Enggruber/Bleck 2005
Eignungs- und Kompetenzfeststellungsverfahren
(lateinisch) et cetera: (deutsch) und die übrigen Sachen, und so weiter
Europäische Union
Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung
folgende
fortfolgende
FAA Bildungsgesellschaft
gegebenenfalls
Gesellschaft mit beschränkter Haftung
Handwerklich-motorischer Eignungstest 2
(englisch) International Classification of Diseases ­ 10
th
Edition
in der Regel
im engeren Sinne
Institut für Maßnahmen zur Förderung der beruflichen und sozialen Einrichtung e.V.
Institut für berufliche Bildung, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (GmbH)
Informations- oder Industrielle Technologie
Jugendarbeitsschutzgesetz
Jugendberufshilfe
Jugendsozialarbeit
Kapitel
Kinder- und Jugendhilfe Gesetz
Merkmalprofile für die Eingliederung Leistungsgewandelter und Behinderter in Arbeit
Mitteleuropäische Zeit
(englisch) National Association of Social Workers
(englisch) Nongovernmental Organization(s)
ohne Seitenangabe
(englisch) Person-in-Environment
siehe
Seite
Sozialgesetzbuch
(lateinisch): (deutsch) wirklich so
siehe unten
Stärken ausprobieren ­ Ressourcen
TechnikAusprobierenStärkenEntdecken
unter anderem bzw. und andere
und so weiter
und viele mehr
vergleiche
(lateinisch) versus: (deutsch) gegenüber
zum Beispiel
zitiert nach
1
Trotz Recherche auf der Internetseite www.faa.de konnte ich nicht herausfinden was diese
Abkürzung bedeutet.

Soziale Diagnostik in der Jugendberufshilfe
Theorien ­ Modelle ­ Praxis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildungen
Seite
Abbildung 1: Überbegriff ,,Soziale Diagnostik"... 6
Abbildung 2: Diagnose-Zweischritt... 32
Abbildung 3: Jugendberufshilfe als Leistung der Jugendhilfe... 44
Abbildung 4: Jugendberufshilfe als Handlungsfeld der Jugendsozialarbeit... 45
Abbildung 5: Schwellen zum Arbeitsmarkt... 45
Abbildung 6: Jugendträume... 51
Abbildung 7: Förder- und Qualifizierungsplan... 98
Abbildung 8: Unterscheidungsebenen der Praxismodelle... 103
Abbildung 9: Im Mittelpunkt steht immer der Mensch... 138
Tabellen
Seite
Tabelle 1: Theoretische Positionen und ihr Verfahrenscharakter... 15
Tabelle 2: Spannungsfeld Expertokratie ­ Subjektorientierung... 18
Tabelle 3: Spannungsfeld Regieren ­ Kommunizieren... 19
Tabelle 4: Gegenüberstellung Diagnosekonzepte... 23
Tabelle 5: Multiperspektivische Fallarbeit... 25
Tabelle 6: ,,Drei-Welten-Modell"... 27
Tabelle 7: Diagnoseverläufe im Vergleich... 28
Tabelle 8: Diagnoseverlauf nach B. Müller... 29
Tabelle 9: Diagnosetypen... 31
Tabelle 10: Diagnoseverfahren... 33
Tabelle 11: Diagnoseverfahren und -instrumente... 33
Tabelle 12: Prinzipen psychosozialer Diagnostik... 37
Tabelle 13: Definitionen des Jugendalters... 48
Tabelle 14: SGB VIII... 55
Tabelle 15: SGB II...56
Tabelle 16: BBiG...57
Tabelle 17: Tätigkeiten und Maßnahmen der Jugendberufshilfe... 65
Tabelle 18: Kompetenzbereiche des Praxismodells ,,DIA-TRAIN"... 112

1 Einleitung
1
1 Einleitung
Soziale Arbeit
1
ist wie jede andere helfende Profession darauf angewiesen, sich
zunächst ein Bild der Probleme bzw. Anliegen der AdressatInnen zu
verschaffen. Professionen wie die Medizin oder die Psychologie greifen dabei
auf feststehende Diagnosekriterien und -instrumente zurück, die ihnen eine
anerkannte Analyse und Festlegung von Handlungsschritten ­ aufbauend auf
ihrer Diagnose ­ ermöglichen. Die Soziale Arbeit verfügt bislang nur in
Ansätzen über eine solche einheitliche Diagnoseanleitung, die sowohl die
Vorgehensweise als auch die dabei zu beachtenden Aspekte beschreibt,
wenngleich es in der Professionsgeschichte und auch aktuell Versuche einer
diesbezüglichen Einführung gab und gibt. Ein Grund für die Schwierigkeit der
Etablierung einer einheitlichen sozialpädagogischen Diagnose sind die
vielfältigen und verschiedenen Handlungsfelder, in denen diese zum Einsatz
kommen können muss.
In dieser Arbeit behandle ich den Gegenstand der sozialpädagogischen
Diagnose im Bezug auf das Handlungsfeld der Jugendberufshilfe. Dort werden
im Bereich der Berufsorientierung und -bildung seit Beginn der 1990er Jahre
spezielle Diagnoseverfahren zur Erfassung von Kompetenzen eingesetzt, die
ursprünglich aus der Personalentwicklung des Wirtschaftsbereichs kommen.
Die Leitfrage dieser Arbeit ist, ob und inwieweit es sich bei diesen ursprünglich
wirtschaftlich orientierten Kompetenzfeststellungen um Verfahren sozial-
pädagogischer Diagnostik handelt. Die einzelnen Kapitel gliedern sich wie folgt:
1
Soziale Arbeit = Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Ich verwende im Folgenden den Begriff
,,sozialpädagogisch" für die wissenschaftlichen und professionellen Konzepte Sozialer Arbeit,
während ich den Begriff ,,Soziale Arbeit" für die Summe der Felder benutze, auf denen
sozialpädagogisch Handelnde tätig sind.

1 Einleitung
·
Im einleitenden 1. Kapitel führe ich die LeserInnen an das Thema heran,
benenne meine wissenschaftliche Leitfrage und erkläre meine inhaltliche
und formale Vorgehensweise.
·
Im 2. Kapitel befasse ich mich mit der Frage, was sozialpädagogische
Diagnostik ist, wo sie herkommt, was man darunter versteht, was sie
kennzeichnet und welche Gefahren und Chancen mit ihr verbunden sind.
·
In Kapitel 3 beschreibe ich die Jugendberufshilfe als Handlungsfeld Sozialer
Arbeit, in ihrer Entstehung und derzeitigen Brisanz, anhand ihrer Zielgruppe
und ihren Arbeitsansätzen sowie der rechtlichen und organisatorischen
Rahmenbedingungen.
·
Im 4. Kapitel analysiere ich die Kompetenzfeststellung als in der
Jugendberufshilfe angewandtes Diagnoseverfahren. Ich gehe dafür
zunächst auf den Begriff der Kompetenz ein, bevor ich verschiedene
Kompetenzbereiche unterscheide. Nach einer Vorstellung mehrerer
Diagnoseverfahren und ihrer Bewertung bezüglich der Einsetzbarkeit zur
Feststellung von Kompetenzen stelle ich fünf Praxismodelle zur
Kompetenzfeststellung vor.
·
Das 5. Kapitel fasst die Ergebnisse der vorherigen Kapitel zu einer
abschließenden Betrachtung zusammen, die einerseits klärt, ob die
Kompetenzfeststellung den Ansprüchen der sozialpädagogischen Diagnose
genügt und andererseits prüft, ob ihre Ziele dem Bildungsanspruch der
Jugendberufshilfe entsprechen. Darüber hinaus erläutere ich die Rolle der
Kompetenzfeststellung im Prozess der Ökonomisierung des Sozialen.
·
Zum Schluss nehme ich in Kapitel 6 persönlich Stellung zu den
Ergebnissen dieser Arbeit.
·
Im 7. Kapitel folgt das Literaturverzeichnis und im Anschluss daran der
Anhang.
2

1 Einleitung
3
Dem leidigen Problem einer sowohl geschlechtssensiblen als auch gut lesbaren
Schreibweise stelle ich mich im Fließtext dieser Arbeit mit aller
Unentschlossenheit: Aus Gründen der Lesbarkeit benenne ich bei
Singularformen meist nur das männliche Geschlecht, auch wenn gleichzeitig
das weibliche gemeint ist. Ich habe mich gegen die weibliche Form
entschieden, um nicht den Eindruck zu erwecken, Soziale Arbeit sei eine
Profession nur für Frauen, und um deutlich zu machen, dass die Profession
dringend mehr ausgebildete und engagierte Männer braucht. Um trotzdem
beide Geschlechter anzusprechen verwende ich bei Pluralformen häufig das so
genannte Binnen-,,I", weil es dort gut lesbar ist.
Ich zitiere in dieser Arbeit nach dem Harvard-System. Wörtliche Zitate sind im
Fließtext durch Anführungsstriche gekennzeichnet und als Auflistung eingerückt
sowie in kursiver Schrift dargestellt. Änderungen am Zitat sind durch runde
Klammern gekennzeichnet. Die Positionierung der Quellenangabe von
wörtlichen und/oder sinngemäßen Zitaten erfolgt im Fließtext entweder direkt
nach dem Zitat, am Ende des Satzes bzw. der Auflistung oder des Absatzes,
ebenfalls in runden Klammern. Quellenverweise ohne Seitenangabe betreffen
entweder Nachschlagewerke, Gesetzestexte oder Internetquellen ohne
Seitenangabe.
Blandine Ehrl, 15. Februar 2006

2 Soziale Diagnostik
4
2 Soziale Diagnostik
In diesem Kapitel behandle ich die Frage, was unter dem Begriff ,,soziale
Diagnostik" im Allgemeinen und in der Sozialen Arbeit im Besonderen
verstanden wird. Nachdem ich den Begriff operationalisiert habe, verorte ich ihn
zunächst im aktuellen theoretischen Diskurs, bevor ich ihn inhaltlich
ausdifferenziere um abschließend die damit verbundenen Chancen und
Gefahren zu benennen.
2.1 Begrifflicher Zugang
Um den Begriff ,,soziale Diagnostik" zu erläutern, werde ich ihn in den folgenden
Abschnitten unter drei Fragestellungen beleuchten:
1. Woher stammen seine Worte und was bedeuten sie in ihrer
Zusammensetzung?
2. Seit wann gibt es den Begriff in der Sozialen Arbeit?
3. Wie und in welchem Zusammenhang wird er heute in der Sozialen Arbeit
verwendet?
2.1.1 Etymologische Bestimmung und Bedeutung
Der Begriff ,,soziale Diagnostik" besteht aus zwei Wörtern, deren Herkunft ich im
Folgenden zunächst getrennt voneinander betrachte, bevor ich ihre Bedeutung
in zusammengesetzter Form beschreibe.
·
Sozial
Das Adjektiv ,,sozial" stammt vom lateinischen Wort ,,socius" ab und hat laut
Duden-Fremdwörterbuch (1997) folgende Bedeutungen:
1. die menschliche Gesellschaft bzw. Gemeinschaft betreffend,
gesellschaftlich
2. das Gemeinwohl betreffend, der Allgemeinheit nutzend
3. auf das Wohl der Allgemeinheit bedacht; gemeinnützig, menschlich,
wohltätig, hilfsbereit
4. die gesellschaftliche Stellung betreffend (
à
Sozialer Status)
5. gesellig lebend (ebd.: o. S.)

2 Soziale Diagnostik
5
Meyers Lexikon (1997) definiert ,,sozial" aus ethischer Sicht als ,,dem
Gemeinwohl dienend, den Schwächeren schützend" und im soziologischen
Sinne als ,,die Struktur der Gesellschaft betreffend" (s. ebd.: o. S.).
·
Diagnose/Diagnostik
Die Substantive ,,Diagnose" und ,,Diagnostik" gehen auf das griechische Verb
,,dia-gnoskein" zurück, was ,,durch und durch erkennen" (s. Duden-Etymologie
1963: o. S.) bzw. ,,auseinander erkennen" (s. Müller B.
2
1994: 53) heißt. Das
Duden-Fremdwörterbuch (1997) übersetzt ,,Diagnose" mit ,,unterscheidende
Beurteilung oder Erkenntnis". Diese besteht aus einer aufgrund genauer
Beobachtungen abgegebenen Feststellung bzw. Beurteilung des Zustands oder
der Beschaffenheit von etwas (z. B. einer sozialen Problemlage oder einer
Krankheit) (s. ebd.: o. S.). Anders gesagt ist ,,Diagnose" die methodische
Erforschung der Merkmale eines Gegenstands, um ihn mit schon bekannten
Begriffen erfassen zu können (s. Brockhaus zit. n. Müller B. 1994: 56). B. Müller
(1994) wählt als Übersetzung für ,,Diagnose" das Wort ,,Durchblick" (s. ebd.: 53).
Als ,,Diagnostik" bezeichnet man die Lehre von der Erkenntnis. An der Definition
des Duden-Fremdwörterbuchs (1997) von ,,Diagnostik" als der ,,Fähigkeit und
Lehre, Krankheiten zu erkennen" kann man erkennen, dass der Diagnosebegriff
an sich zunächst den Professionen der Medizin und Psychologie zugeordnet
wird (s. ebd.: o. S.).
·
Soziale Diagnostik
Nachdem die einzelnen Worte des Begriffs ,,soziale Diagnostik" in ihrer Herkunft
und Bedeutung beschrieben sind, füge ich sie nun zusammen und bearbeite die
Fragen:
1. Was ist ,,soziale Diagnostik"?
2. Worauf bezieht sich das Soziale der ,,sozialen Diagnostik" in der Sozialen
Arbeit? Auf den zu diagnostizierenden Gegenstand oder auf die Art und
Weise der Durchführung der Diagnose?
2
Da es im Bereich der Sozialen Arbeit viele wegweisende AutorInnen namens Müller gibt, füge
ich, um keine Verwirrung aufkommen zu lassen, bei diesem Namen den Initialen des
Vornamens bei, worauf ich bei den übrigen Namen verzichte.

2 Soziale Diagnostik
6
Wie die folgende Abbildung zeigt, fasst ,,Soziale Diagnostik" als Überbegriff
mehrere spezifische Ausdrücke zusammen, die nicht nur der Profession Soziale
Arbeit zuzuordnen sind:
Abbildung 1: Überbegriff ,,Soziale Diagnostik"
Da ich in dieser Arbeit Diagnostik als eine Tätigkeit/Methode der Sozialen Arbeit
betrachte, verwende ich im Folgenden statt des vagen Begriffs ,,soziale
Diagnostik" die spezifischeren Ausdrücke ,,sozialpädagogische bzw.
psychosoziale Diagnostik". Beide Adjektive werden in der Sozialen Arbeit
synonym verwendet. ,,Psychosozial" suggeriert eher eine Verbindung zur
Psychologie. Ich bevorzuge deshalb das Adjektiv ,,sozialpädagogisch", wegen
seines klaren Bezugs zur Profession Soziale Arbeit. Die Benennungen des
Diagnosevorgangs im sozialpädagogischen Praxis- und Fachjargon sind
mannigfaltig, wobei sich ihr Inhalt oft und zu großen Teilen überschneidet:
Biographisches Unterstützungsmanagement, Ethnographische Fallarbeit,
Fallabklärung, Fallanalyse, Fallmanagement, Fallverstehen, Kollegiale
Beratung, Lageanalyse, Problemanalyse, Problemdefinition, Situationsanalyse
etc.
Soziale
Diagnostik
pädagogische
sozialpädagogische
psychosoziale
Förder-
sozialmedizinische
heilpädagogische
sonderpädagogische

2 Soziale Diagnostik
7
Was sozialpädagogische Diagnose ist, definiert Klauer (1982) in einem Satz mit
folgenden Worten:
,,(Sozial-)Pädagogische Diagnostik ist das Insgesamt von
Erkenntnisbemühungen im Dienste aktueller (sozial-)pädagogischer
Entscheidungen." (s. ebd.: o. S. zit. n. Perleth 2005: 1)
Das Zitat von Klauer liefert eine prägnante ­ den Inhalt bzw. die Aufgabe
sozialpädagogischer Diagnostik betreffende ­ Antwort auf die erste Frage
dieses Abschnitts, was sozialpädagogische Diagnostik sei. Pantucek (2005a)
geht mit Klauer konform indem er sagt, dass sozialpädagogische Diagnostik die
Grundlage für Entscheidungen über professionelle Strategie und Taktik bildet
(s. ebd.: 3). Die Antwort auf die zweite Frage, was eine Diagnose
sozialpädagogisch mache, ihr Gegenstand oder die Art der Durchführung,
lautet: Beides. Wie im Folgenden dargelegt, ist sowohl der Gegenstand
sozialpädagogischer Diagnostik sozialer Natur als auch der Anspruch, dass die
Durchführung des Diagnoseprozesses vom Sozialarbeiter/-pädagogen sozial,
im Sinne von einfühlend/teilnehmend und wertschätzend, gestaltet wird.
Der Gegenstand der Profession Soziale Arbeit besteht aus sozialen Problemen
bzw. sozialem Hilfebedarf. Aufgabe der Sozialen Arbeit ist die Bearbeitung des
Gegenstands mit dem Ziel der positiven Veränderung für die AdressatInnen
(Auflösung der Problemlage bzw. Hilfebedarfsdeckung) sowie die Definition und
Analyse des Gegenstands selbst. Diese drei Aufgaben (Definition, Analyse,
Bearbeitung) verschmelzen in der Handlungsmethode der sozialpädagogischen
Diagnose und lassen sich dort nicht klar voneinander trennen (vgl. dazu Kap.
2.3.1 Diagnoseverlauf, S. 28 d. A.). Im gängigen Verständnis wird die sozial-
pädagogische Diagnose als besondere Art von Expertenaufgabe verstanden
(s. Müller B. 2005: 16).
Wie bereits erwähnt übersetzt B. Müller (1994) ,,Diagnose" mit ,,Durchblick"
(s. ebd.: 53). In dem Ziel, etwas zu durchblicken oder zu erkennen,
unterscheidet sich die sozialpädagogische nicht von der medizinischen oder
psychologischen Diagnose. Die Unterschiede liegen in der Art des zu
erkennenden Gegenstands, im Erkenntnisprozess selbst und in der

2 Soziale Diagnostik
8
Durchführung und Auswertung der Intervention
3
. Medizinische oder psychische
Zustände, wie z. B. ein gebrochener Arm oder eine psychische Störung, sind
als Gegenstand der Diagnose insofern objektiv, als sie ohne definitorische
Mitwirkung der Betroffenen festgestellt werden können, weil ihr Bezugsrahmen,
in diesem Fall die Röntgenaufnahme oder das DSM-IV
4
bzw. die ICD-10
5
,
objektiv ist (s. Müller B. 1994: 90).
Im Gegensatz dazu kann ein soziales Problem bzw. sozialer Hilfebedarf als
Gegenstand sozialpädagogischer Diagnostik nicht objektiv festgestellt werden,
weil es für ihn keinen objektiven Bezugsrahmen gibt und geben kann. Zwar gibt
es wenige Problemlagen, die auch als sozial gelten und die anhand offizieller
Definitionen objektiv feststellbar sind, wie z. B. materielle Armut (s. ebd.: 90),
jedoch bleibt auch hier die Definition der sozialen Problemlage und des
dazugehörigen Hilfebedarfs durch die Betroffenen individuell und damit
subjektiv. Das liegt daran, dass nicht alle Menschen die gleichen Probleme
haben bzw. dass ein Problem nicht von allen Menschen auch als solches
eingestuft wird. Jeder Mensch hat eine relative Autonomie gegenüber seiner
Lebenssituation und kann sich bewusst und zwischen verschiedenen Optionen
wählend dazu verhalten (s. Pantucek 2005b: 219). Wie oben erwähnt, sollte der
Sozialarbeiter in der Durchführung der Diagnose dieser subjektiven Realität des
Klienten Rechnung tragen, indem er dessen Wahrnehmungen und Gefühle
anerkennt und versucht, sich darin einzufühlen (s. Germain/
Gittermann 1988: 20). Soziale Probleme und sozialer Hilfebedarf können nicht
rein objektiv ermittelt werden, weil ihre Definition immer auch vom subjektiven
Zugang der Betroffenen mitbestimmt wird. Die Bedeutung des subjektiven
Zugangs zu einem Problem formulieren Germain und Gittermann (1988)
folgendermaßen (s. nächste Seite):
3
Der klassische Dreischritt der Medizin ­ Anamnese, Diagnose, Intervention ­ sieht eine klare
Trennung zwischen Diagnose und Intervention vor. Wie ich im Verlauf der Arbeit zeige, ist eine
solche Trennung in der Sozialen Arbeit nicht möglich (vgl. auch Kap. 2.3.1 d. A.).
4
DSM-IV = (englisch) Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders ­ 4
th
Edition
5
ICD-10 = (englisch) International Classification of Diseases ­ 10
th
Edition

2 Soziale Diagnostik
9
,,Ein Verstehen der subjektiven Realität muss ebenfalls erreicht
werden. Die Weise, wie die Menschen ihre innere und äußere Welt
sehen, beeinlfußt (sic) ihre Anpassungs- und Bewältigungs-
mechanismen. Persönliche Reaktionen, die den Ereignissen und
Prozessen zugeschriebene Bedeutung sowie die diesbezüglichen
Gefühle sind ebenfalls Fakten." (ebd.: 21)
Darüber hinaus ist die Definition eines sozialen Problems ein ,,(...) öffentlicher
diskursiver Prozess, ein seinem Wesen und letztlich auch seiner Form nach
politischer Prozess" (Pantucek 2005b: 18), woraus sich ein weiterer
Unterschied zu anderen Professionen ableitet. Soziale Arbeit zeichnet sich
durch ihre Kopplung mit der gesellschaftlichen Reaktion auf soziale Probleme
aus (s. ebd.: 29), und hat daher nicht die alleinige Definitionsmacht über den
Gegenstand ihrer Arbeit (s. ebd.: 18). Zwar gibt es Versuche, den
Bezugsrahmen sozialer Hilfebedürftigkeit zu objektivieren, diese scheitern
jedoch an dem ethischen Konflikt, dass Soziale Arbeit nicht einerseits das
Recht auf eine objektive Diagnose beanspruchen kann, ohne dabei
andererseits das Selbstbestimmungsrecht ihrer AdressatInnen zu verletzen
(s. Müller B. 1994: 90).
Der Umstand, dass Soziale Arbeit nicht ohne ihre AdressatInnen definieren
kann was deren Problem/Hilfebedarf ist, verlangt einen entsprechend
kommunikativen Erkenntnisprozess, in den die Klienten eingebunden sind.
Auch die Durchführung und Auswertung einer Intervention haben in der
Sozialen Arbeit einen dialogischen Charakter (s. Pantucek 2005b: 67). Der für
die Informationsbeschaffung nötige Beziehungsaufbau schafft bereits nach
kurzer Zeit auch die Voraussetzungen für eine kooperative Bearbeitung der
Probleme (s. Pantucek 2005a: 2). ,,Die Beteiligung de(r) Klienten bei der
Diagnosebildung sichert die erforderliche Übereinstimmung, was den
Brennpunkt des Hilfeprozesses und die einzuschlagende Richtung betrifft."
(Germain/Gittermann 1988: 23). Da diese Übereinstimmung ausschlaggebend
für den Erfolg des Hilfeprozesses ist, will auch B. Müller (1994) die
sozialpädagogische Diagnose als ,,kommunikatives Handeln mit andern" und
nicht als ,,distanzierte Beobachtung oder als Laborexperiment" verstanden
wissen (s. ebd.: 105).

2 Soziale Diagnostik
10
2.1.2 Geschichtliche Entwicklung und Anwendung
Der Terminus ,,Social Diagnosis" wurde von der aus den USA stammenden
Richmond durch ihr 1917 in New York erschienenes, gleichnamiges Buch in die
Soziale Arbeit eingeführt und von ihr geprägt. Salomon übersetzte den Begriff
im Titel ihres 1926 in Berlin erschienenen Buchs ,,Soziale Diagnose" ins
Deutsche. Soziale Diagnose zu explizieren war das Kernprogramm der
sozialpädagogischen Professionalisierung in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts (s. Müller B. 2005: 1). Sowohl Richmond als auch Salomon
verstanden darunter eine umfassende fachliche Kompetenz, die
Expertenaufgabe sei (s. ebd.: 1) und die durch individualisierte Diagnostik zur
Erhöhung der Effizienz und Effektivität sozialer Unterstützung beitrage
(s. Pantucek 2005a: 1). Die soziale Unterstützung besteht laut Salomon
einerseits aus den sachlichen Aufgaben der Vermittlung und Organisation und
andererseits aus den menschlich-persönlichen Aufgaben der Beratung und
Beeinflussung (s. Kuhlmann 2004: 16). Demzufolge muss eine soziale
Diagnose vor allem unterscheiden können, ob eine ,,sachliche" oder eine
,,persönliche" Notlage vorliegt (s. ebd.: 14). Das geforderte Expertenwissen ist
auf Informationen angewiesen die nur mithilfe von Beziehungsarbeit generiert
werden können (s. Pantucek 2005a: 1). Obwohl für Salomon bei der Diagnose
nicht die genaue Beschreibung/Analyse, sondern die damit verbundenen
Anwendungsmöglichkeiten bzw. die Umsetzung des richtigen Handelns im
Vordergrund steht (s. Kuhlmann 2004: 14), kommt Pantucek (2005a) zu der
Bewertung, dass weder ihr noch Richmond eine schlüssige Beschreibung des
eigentlichen Behandlungsprozesses gelungen ist, ihre Werke aber zur
Kultivierung der Beziehungsarbeit beigetragen haben, die bereits selbst hilfreich
und heilend ist (s. ebd.: 2).
1933 muss Salomon aufgrund der politischen Lage ihre Arbeit in Deutschland
einstellen (s. Kuhlmann 2004: 22). Schon in den 1920er Jahren kommt es in
Deutschland mit dem aufstrebenden Nationalsozialismus zu einem Bruch in der
sozialpädagogischen Methodenentwicklung (s. Schrappner 2004: 41f).

2 Soziale Diagnostik
11
Die Selektionsdiagnostik der Rassehygieniker und Euthanasieverfechter
6
,
ausgeführt durch die ,,Volkswohlfahrtspfleger" (Kuhlmann 2004: 22) der
nationalsozialistischen Fürsorge, führt zur Aussonderung und Ermordung von
Millionen von Menschen, sogenannter ,,minderwertiger Ballastexistenzen"
(ebd.: 22) (s. Schrappner 2004: 42). Nach Kriegsende 1945 wird die Diskussion
über diagnostische Professionalität in der Sozialen Arbeit bis in die 1960er
Jahre hinein nicht wieder aufgenommen. Mit der Studentenrevolte und dem
Beginn der sozialen Bewegungen (Frauen-, Friedens-, Ökologiebewegung) in
den 1970er Jahren findet eine radikale Umwertung von sozial unangepasstem
Verhalten statt (s. Kuhlmann 2004: 22):
,,(U)nangepasstes Verhalten wurde als Ausdruck der Rebellion
gegen ein ungerechtes, kapitalistisches Ausbeutungssystem
gedeutet und viele junge Professionelle der Sozialen Arbeit sahen
ihre Aufgabe darin, diesen Widerstand zu unterstützen. Das Erstellen
einer sozialen Diagnose hätte in ihren Augen bedeutet, sich auf
einzelne Fälle zu konzentrieren und die politischen Ursachen der
Notlagen zu verleugnen." (ebd.: 22)
Die aus
dieser Einstellung folgende einseitige Bevorzugung der
Gemeinwesenarbeit, welche Soziale Arbeit letztlich auf Sozialpolitik
beschränkte, ruft als Gegenbewegung eine starke Therapeutisierung hervor,
welche ihrerseits soziale Probleme zu Unrecht auf psychische Ursachen
reduziert (s. ebd.: 22f). Die Teilung Sozialer Arbeit in zwei Lager führt zu einem
gestörten Verhältnis zur eigenen Professionalität (s. ebd.: 22). In dieser Phase
der Fokusverschiebung (weg von der Diagnose hin zum Prozess), die von einer
grundsätzlichen Kritik an der Expertenrolle gekennzeichnet ist
(s. Müller B. 2005: 16), verschwindet der Diagnosebegriff nahezu vollständig
aus dem sozialpädagogischen Sprachgebrauch (s. Pantucek 2005a: 3).
6
Die Selektionsdiagnostik der Rassehygieniker und Euthanasieverfechter urteilte anhand
biologischer Merkmale über die psychischen Dispositionen und Entwicklungspotenziale von
Menschen und unterschied ,,rassisch wertvolle", ,,erbgesunde", ,,arische" und damit
förderungswürdige von ,,wertlosen", ,,gefährlichen" und damit ,,überflüssigen" Menschen
(s. Kuhlmann 2004: 22, Schrappner 2004: 42).

2 Soziale Diagnostik
12
Die Wende zur Alltags- und Lebensweltorientierung
7
Mitte der 1980er Jahre
ermöglicht der Sozialen Arbeit auch theoretisch (wieder) tragfähige
Vorstellungen ,,(...) die eine radikale Kritik an der gesellschaftlichen
Verursachung individuellen Leidens mit dem nüchternen Blick auf die
Veränderungspotenziale der Individuen im 'Hier und Jetzt' zu verbinden sucht."
(Schrappner 2004: 45). Die noch immer aktuelle Orientierung Sozialer Arbeit
am systemischen Lebensweltansatz, der sich auf das konkrete Alltagsleben der
KlientInnen bezieht, sieht soziale Notlagen nicht entweder in gesellschaftlichen
oder persönlichen/psychischen Ursachen begründet, sondern erkennt im
Verhältnis der Person zu ihrer Umwelt das Zusammenspiel beider Faktoren als
mögliche Ursache an (s. Kuhlmann 2004: 23).
Auf der einen Seite ist es die Rückbesinnung der Sozialen Arbeit der 1980er
Jahre auf die Perspektive des einzelnen Falls (als Kristallisationspunkt sowohl
allgemein gesellschaftlicher als auch individuell biographischer Lebens- und
Leidensprozesse), die eine breite explizit sozialpädagogische Entwicklung
verstehender und diagnostischer Konzepte und Methoden in Gang setzt
(s. Schrappner 2004: 45f). Auf der anderen Seite ist es die Feststellung, dass
den operativ tätigen Fachkräften in vielen Bereichen berufseigene Verfahren
systematischen Verstehens fehlen, die Bemühungen um hermeneutische,
rekonstruktive Verfahren des Fallverstehens zur Folge hat
(s. Nauerth 2005: 107). So findet der Diagnosebegriff Anfang der 1990er Jahre
mit Bucherscheinungen wie
·
,,Sozialpädagogische Diagnostik" (Mollenhauer/Uhlendorf 1992),
·
,,Sozialpädagogisches Können" (Müller B. 1993) und
·
,,Psychosoziale Diagnostik in der Jugendhilfe" (Harnach-Beck 1995) etc.
wieder seinen Weg zurück in den wissenschaftlichen Diskurs Sozialer Arbeit.
Mollenhauer und Uhlendorf machen in ihrem Ansatz die ,,Selbstthematisierung
eines Lebensthemas durch die Betroffenen zum Ausgangspunkt einer kollegial
validierten Diagnostik" (Kunstreich 2004: 30). B. Müller versucht die klinische
Auslegung der Diagnose zu überwinden indem er deren vier grundlegende
7
Lebenswelt = ,,Bezeichnung für das soziale Umfeld, in de(m) sich eine Person vorrangig
aufhält, ihre Erfahrungen gewinnt, an sozialen Interaktionen beteiligt ist und handelnd eingreift."
(Grosses Wörterbuch Psychologie 2004: 199)

2 Soziale Diagnostik
13
Elemente sozialpädagogisch als ,,Nicht-Nichtwissen" statt Anamnese,
,,Durchblick" statt Diagnose, ,,Dazwischentreten" statt Intervention und
,,gemeinsame Bewertung" statt Evaluation reinterpretiert (s. ebd.: 27). Harnach-
Beck kennzeichnet die zentrale Aufgabe der Diagnostik als
Übersetzungsleistung zwischen den normativen Festlegungen rechtlicher
Regularien und den Praxen sozialer Institutionen (s. ebd.: 28). In ihrem Buch
verknüpft sie die Diagnose mit dem materiellen Aspekt der im KJHG
8
rechtlich
verankerten Leistungsansprüche auf Hilfen zur Erziehung (§§ 27ff) (s. ebd.: 28).
Vor diesem Hintergrund interpretiert Kunstreich (2004) die Renaissance der
Diagnostik in der Sozialen Arbeit als freiwillige Unterwerfung der Profession
unter die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die in den neuen
Steuerungsmodellen des ,,manageriellen Effizienzdiskurses" zum Ausdruck
kommen (s. ebd.: 27f).
Gegenwärtige Funktion in der Profession Soziale Arbeit
Die Notwendigkeit der sozialpädagogischen Diagnose als Handlungsmethode
in der Sozialen Arbeit beschreibt Kunstreich wie folgt:
,,Um als Profession (...) anerkannt zu sein, muss (...) Soziale Arbeit
über spezielle Bearbeitungsformen verfügen, die nicht nur in ihren
Interventionen Wirkung zeigen. Sie müssen ­ indem sie
beanspruchen, auf unterscheidbare Probleme zu antworten ­ sich
darüber hinaus auch von denen anderer Professionen
unterscheiden. Wenn aber Probleme unterschieden werden, dann
sind 'Diagnosen' als spezifische Problemdeutungen für Professionen
konstitutiv." (Kunstreich 2004: 28f)
Ein standardisierter Diagnoseprozess mit spezifischen beruflichen Verfahren
hätte das Potenzial, die Professionalisierung Sozialer Arbeit voranzutreiben.
Ohne die gleichzeitige Einführung einer standardisierten Fachsprache, welche
bis dato nicht existiert, ist das jedoch nicht möglich. Vor dem Hintergrund der
vielfältigen Berufsfelder Sozialer Arbeit mit ihren unterschiedlichen
Anforderungen ist es fraglich, ob eine Standardisierung der Vorgehensweise
überhaupt sinnvoll ist. Da die Logik der Sozialen Arbeit eine Logik der
Individualisierung ist, geht es bei den sozialen Problemlagen um individuelle
Probleme der Lebensführung bzw. Alltagsgestaltung (s. Pantucek 2005a: 7).
8
KJHG = Kinder- und Jugendhilfegesetz

2 Soziale Diagnostik
14
Die spezifische Leistung der Sozialen Arbeit ist die Einzelfallarbeit
(s. Pantucek 2005b: 28). Diese Feststellung muss laut Pantucek (2005b) zum
Widerstand gegen eine durchgängige Standardisierung der
sozialpädagogischen Diagnose führen (s. ebd.: 28). Wo es keine nennenswerte
Zahl von Einzelfällen gibt, die die Sinnhaftigkeit eines standardisierten
Programms in Frage stellen, ist die spezifische Leistung professioneller Sozialer
Arbeit nicht erforderlich (s. ebd.: 28).
2.2 Theoretische Betrachtung
Vergleichbar mit Landkarten, die ein Gelände beschreiben, das sie
aufgenommen haben, beschreiben Theorien und Modelle die Wirklichkeit, mit
der sie sich beschäftigen (s. Willenbring 2001: 28). Keine Landkarte oder
Theorie kann jedoch eine perfekte Abbildung der Wirklichkeit sein, weil es
unmöglich ist in ihr alle Aspekte der Wirklichkeit wiederzugeben (s. ebd.: 28).
Die Wissenschaft besitzt nicht den Schlüssel zur Realität, weil es viele und
verschiedenartige Formen des Erkennens gibt, jedoch keine Norm der
Erkenntnis (s. Winch 1974: 132). Theorien versuchen einer komplexen,
unstrukturierten Realität eine Struktur zu geben, die helfen soll sich in ihr
zurechtzufinden, und haben so gesehen die Funktion von Wegweisern
(s. Willenbring 2001: 28). Es gibt Theorien zu allen möglichen Dingen und
Themen. Sowohl Alltagstheorien, die auf subjektiven Erfahrungen und/oder
Vermutungen beruhen, als auch wissenschaftlich begründete Theorien. Im
Kontext sozialpädagogischer Diagnostik sind neben den Theorien zum eigenen
Gegenstand auch andere Theorien von Belang. Zum Beispiel Theorien über
menschliche Kommunikation, menschliches Verhalten, menschliche
Entwicklung (medizinisch wie psychologisch), Beziehungsarbeit, Reflexion,
Evaluation und nicht zuletzt Theorien über die Wissenschaft bzw. Profession
der Sozialen Arbeit. Zur sozialpädagogischen Diagnostik selbst gibt es
grundsätzlich drei verschiedene theoretische Ansätze/Positionen, die ich im
Folgenden darlege.

2 Soziale Diagnostik
15
2.2.1 Theoretische Positionen
In der Diskussion um sozialpädagogische Diagnostik gibt es drei
vorherrschende Positionen: Die der ,,Neo-Diagnostiker", der ,,Anti-Neo-
Diagnostiker" und der ,,Hermeneutiker" (s. Müller B. 2005: 16). Schrappner
(2004) charakterisiert die Verfahren dieser drei Positionen folgendermaßen
(s. ebd.: 46ff):
Position
Verfahrenscharakter
Neo-Diagnostik
entscheidungsorientiert-legitimatorisch
Anti-Neo-Diagnostik
beziehungsanalytisch-inszenierend
Hermeneutische Diagnostik
biographisch-rekonstruktiv
Tabelle 1: Theoretische Positionen und ihr Verfahrenscharakter
·
Die Neo-Diagnostik vertritt den klassischen Begriff der sozialen Diagnose ­ oft
wird hier auch von psychosozialer Diagnose gesprochen ­ im Sinne einer
Expertendiagnose (s. Müller B. 2005: 2). Danach ist die Diagnose eine
besondere Art von Expertenaufgabe, bei der es um praktische Probleme geht,
die mit Mitteln des einfachen, gesunden Menschenverstandes nicht zu klären
sind (s. ebd.: 1). Die Expertendiagnose entwickelt aus möglichst vielen
Informationen eine Expertensicht, die als Fachwissen höher gestellt ist als die
Selbsteinschätzung der AdressatInnen Sozialer Arbeit (s. ebd.: 2). Es geht
darum die Lage abzuklären (gesundheitlich, rechtlich, psychologisch, usw.)
und dadurch fähig zu sein das Problem zu erklären (s. ebd.: 3). Vertreter der
Neo-Diagnostik sind zum Beispiel Petermann (2002), Harnach-Beck (1999,
2004) oder Fröhlich-Gildhoff (2002) (s. ebd.: 2).
·
Anti-Neo-Diagnostiker wie Peters (1999) oder Kunstreich (2003, 2004) lehnen
den Begriff der Diagnose ab, weil er einerseits ­ durch den Versuch
,,objektiver" Definitionen ­ professionelles Wissen als höherwertiges Wissen
gegenüber der eigenen Sichtweise von AdressatInnen setzt; sie sehen
Diagnosekonzepte als verdeckte soziale Kontrolle an (s. ebd.: 3).
Andererseits warnen sie vor dem ,,Machbarkeitswahn" (Peters 1999: 17
zit. n. Müller B. 2005: 3), der mit dem Diagnosebegriff verbunden ist, weil

2 Soziale Diagnostik
16
gewöhnlich die Existenz von Instrumenten, die der Behebung diagnostizierter
Probleme dienen, unterstellt wird (s. Müller B. 2005: 1). Die Anti-Neo-
Diagnostik bevorzugt Begriffe wie ,,Fallverstehen" oder ,,Dialog" und betrachtet
die Wissensdomänen der Profession und der AdressatInnen als gleichwertig.
Aus ihrer Sicht können soziale Probleme nur durch Aushandlungsprozesse
geklärt werden, in denen alle Sichtweisen auf ein Problem gleichermaßen
genutzt werden (s. ebd.: 3). In der konkreten Interaktionssituation werden die
jeweiligen Wissensdomänen als gleichrangige und gleichwertige
Deutungsmuster derselben Situation nebeneinander gestellt bzw. miteinander
verbunden (s. Kunstreich 2004: 33). ,,Dabei ändert die herrschaftliche
Verortung nichts an der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Wissensdomänen in
der Situation des Dialogs Gleichberechtigter, aber Ungleicher." (ebd.: 33).
·
Die Position der sozialpädagogischen Hermeneutik
9
bejaht gemeinsam mit
der Position der Neo-Diagnostik die diagnostische Aufgabe (s. ebd.: 3).
Jedoch betont sie nicht das diagnostische Denken, das ,,objektive"
Problemlagen ermittelt und ,,subsumptionslogisch" zu klassifizieren versucht
(s. ebd.: 3). Hermeneuten wie Mollenhauer und Uhlendorff (1992) geht es
nicht darum individuelle Problemlagen oder Verhaltensweisen in allgemeinere
Kategorien zu ordnen, denn es geht ihnen nicht um das Problem an sich,
sondern um seine individuelle, ,,affektlogische" Bedeutung für die
AdressatInnen (s. ebd.: 3). Sozialpädagogische Hermeneutik bemüht sich
systematisch um Enthaltsamkeit gegenüber vorschnellen Etikettierungen und
Problemlösungsmustern (s. ebd.: 6). Das Eigene, Besondere des jeweiligen
Falles bzw. der jeweiligen Lebenslage und die Selbstdeutung der
AdressatInnen sollen dadurch sichtbar werden (s. ebd.: 3). Die
sozialpädagogische Hermeneutik will in methodischer Disziplin prüfen, ob die
subjektiven Sichten und die verallgemeinernden Problembeschreibungen und
-lösungen zusammenpassen, statt von vornherein nach einem Schema zu
verfahren (s. ebd.: 6). Es geht darum möglichst genau zu verstehen, wie ein
Klient seine Situation erlebt und was die innere Logik seines Handelns ist
9
Hermeneutik = ,,das Verstehen von Sinnzusammenhängen in Lebensäußerungen aller Art"
(Meyers Lexikon 1997: o. S.)

2 Soziale Diagnostik
17
(s. ebd.: 3). Die Frage die dahinter steht lautet: Was könnte den Klienten
motivieren, herausfinden zu wollen, was das eigentliche Problem ist? In
gewisser Weise stellt sozialpädagogische Hermeneutik die Sichtweise der
AdressatInnen über das Expertenwissen, indem sie die innere Logik des
Adressaten für seine Ziele nutzbar macht. Expertenwissen ist so gesehen nur
das Mittel das eingesetzt wird um die (Gefühls-)Logik einer Lebenslage/-
führung herauszufinden und sie dann für den Zweck der Problemlösung
einzusetzen.
Nun bestreiten Neo-Diagnostiker nicht, dass mit Klienten auch verhandelt
werden muss, Anti-Neo-Diagnostiker bestreiten nicht die Notwendigkeit des
sorgfältigen Fallverstehens und Hermeneuten bestreiten nicht die
Notwendigkeit auch zu erklären oder auch zu kategorisieren (s. ebd.: 4). Im
Blick auf die Alltagspraxis können alle drei Ansätze ihre Notwendigkeit zeigen,
so dass sich der Streit zwischen ihnen eigentlich
10
erübrigt (s. ebd.: 16).
Allerdings kann jeder dieser Ansätze für sich genommen in Sackgassen führen
(s. ebd.: 16), weshalb ­ wie so oft ­ eine gute Mischung aus allen dreien die
beste Lösung darstellt.
Die obige Abgrenzung der drei vorherrschenden Theorieansätze habe ich
anhand des zentralen Dissenspunktes in der aktuellen Diskussion zur
sozialpädagogischen Diagnostik, der Frage inwiefern professionelles Wissen
höher- oder gleichwertig ist, vollzogen. Neben diesem zentralen Dissens gibt es
noch weitere Punkte an denen sich ,,die Geister" scheiden. Diese bestehen zum
Beispiel aus den Fragen nach dem Verhältnis von Teilbereichanalysen zum
Gesamtzusammenhang der Lebenssituation (= Breite und Tiefe der Diagnostik)
oder der Bedeutung der Analyse der Vergangenheit (s. Nauerth 2005: 110).
Übereinstimmung herrscht in der kritischen Beurteilung der Diagnose als
repressive Machtausübung und damit verbundener Entmündigung, die durch
Klassifizierungen möglich ist (s. ebd.: 108). Darüber hinaus besteht Einigkeit im
10
Aber eben auch nur eigentlich, denn selbst wenn Zwei das Gleiche tun, ist es nicht Dasselbe,
wenn die Intentionen unterschiedlich sind.

2 Soziale Diagnostik
18
Ziel der Sicherstellung emanzipatorisch wirkender Verfahren und Methoden
sozialpädagogischer Diagnostik (s. ebd.: 108).
2.2.2 Spannungsfelder
Eine Denkfigur, die gut geeignet ist theoretisch gegenläufige Tendenzen
aufzuzeigen, ist das Spannungsfeld. Mit ihm werde ich im Folgenden noch
näher auf die theoretische Position der Anti-Neo-Diagnostik eingehen.
Theorien, Konzepte und Modelle sozialpädagogischer Diagnostik bewegen sich
im Spannungsfeld zwischen ,,Expertokratie" und Subjektorientierung
(s. Heckmann 2005: o. S.). Die folgende Tabelle nennt eine repräsentative
Auswahl von Stichworten die sich den Begriffen in diesem Spannungsfeld
zuordnen lassen:
Expertokratie
Subjektorientierung
- Fallverstehen
- Diagnostik als Aufgabe des
Sozialarbeiters
- Etikettierung, Stigmatisierung
- Klassifizierung
- unflexibel, unkomplex
- Menschverstehen
- Biographien
- Wahrnehmung des Menschen
- Partizipation
- Lebensweltorientierung
- Aushandlungsprozesse
Tabelle 2: Spannungsfeld Expertokratie ­ Subjektorientierung
In Anlehnung an Foucaults Begriff der ,,Gouvernementalität" (,,Regierungs-
mentalität") beschreibt Langhanky (2005
)
Diagnostik als ein Verfahren, das die
Tendenz oder Kraftlinie unterstützt, die zur Vorherrschaft eines Machttypus
führt, den man als ,,Steuerung" bezeichnen kann und dessen Hauptzielscheibe
die Bevölkerung ist (s. ebd.: 10). Er beschreibt das Spannungsfeld der
Diagnostik mit den Begriffen des Regierens und Nicht-Regiert-Werdens
(= Kommunizieren) und differenziert es in vier Unterbereiche. Dabei wird
Diagnostik als eine spezifische ,,Kunst modernen Steuerns" dargestellt
(s. ebd.: 9):

2 Soziale Diagnostik
19
Regieren
oder
Kommunizieren
1) Klassifizieren
oder
Betrachten
2) Verstehen
oder
Verständigen
3) Erklären
oder
Klarheit gewinnen
4) Herrschaft
oder
Macht
Tabelle 3: Spannungsfeld Regieren ­ Kommunizieren
1) Klassifizieren oder Betrachten
An die Stelle der einfachen Beobachtung setzt Diagnostik eine systematische
Beobachtung, die Klassifizierung, Standardisierung und Rubrizierung zum Ziel
hat (s. ebd.: 10). Kern der Diagnostik ist es durch Systematisierung zu einer
Ordnung zu kommen (s. ebd.: 10). Klassifizierung ist die Analyse der wenigen
Dinge, die sich im konfusen Reichtum der Repräsentationen der Wirklichkeit
analysieren lassen, weil sie, von allen erkannt, einen Namen erhalten können
den jeder versteht (s. ebd.: 12). Sinneswahrnehmungen, Ahnungen und andere
implizite Formen des Wissens, die im professionellen Handeln täglich in
Unschärfe dieses Handeln strukturieren und in die Beobachtung substanziell
mit einfließen, werden tendenziell als nicht validierbar eliminiert (s. ebd.: 11f).
Die Diagnostik als Klassifizierung gibt die Ergebnisse ihrer systematischen
Beobachtung als objektive Erkenntnisse aus (s. ebd.: 12). Als Betrachtung
hingegen ist die Diagnostik sich der subjektiven und damit selektiven Struktur
jeder Beobachtung bewusst und daher konsequenterweise unsicher bezüglich
deren Validität (s. ebd.: 12).
2) Verstehen oder Verständigen
In diesem Spannungsfeld stehen sich das Verstehen der herrschaftlich
professionell gefällten Diagnose und die dialogische Verständigung über eine
Erkenntnis gegenüber (s. ebd.: 12). Langhanky (2005) beleuchtet dieses
Spannungsfeld unter dem Aspekt der Zeit als eine Form des Regierens durch
zeitlich dauerhafte Begriffe. Er bedient sich dazu Julliens Unterscheidung der
Zeit in die Fälle der Okkurrenz und der Okkasion. Die Okkurrenz beschreibt ein
Geschehen in der Zeit bzw. in dem Moment in dem es passiert und betrachtet

2 Soziale Diagnostik
20
beides als untrennbare Einheit (s. ebd.: 13). Die Okkasion löst ­ in irgendeinem
bestimmten Moment bzw. bei einer günstigen Gelegenheit ­ das Geschehen
von der Zeit bzw. dem Moment in dem es passiert ab und konstituiert dadurch
eine Wahrheit, die Permanenz vortäuscht, was ihr strategische Bedeutung gibt
(s. ebd.: 13). Die Okkasion transformiert die Okkurrenz zu einer Idee, die sich
von der ,,Verständigung im Moment" ablöst und zu einem ,,dauerhaften
Verstanden-Haben" wird (s. ebd.: 13). Eine Diagnose ist nichts anderes als ein
bei einer bestimmten Gelegenheit gebildetes Wort, was der Definition von
Okkasion entspricht (s. ebd.: 13). Diagnose als Okkasion reduziert ,,(d)as Bilden
einer sprachlichen Einheit im Sprechakt der Verständigung, die Immanenz des
Moments und die Öffnung durch die Opportunität des Moments (...)" (ebd.: 13).
Bezüglich der Funktion der Diagnostik in der Profession Soziale Arbeit kommt
Langhanky (2005) zu dem Schluss:
,,Sie (die Diagnostik) ist ein strategisches Element, das der
Unschärfe einer auf Begegnung und momentanem Geschehen
aufbauenden situationsgebundenen Profession zu mehr Validität und
zu begründbarem Handeln verhelfen soll." (ebd.: 13)
3) Erklären oder Klarheit gewinnen
Die Diagnostik verfolgt zweierlei Formen der Erklärung, sie erklärt das Handeln
des Subjekts ­ losgelöst von der Person und dem Moment ­ und das
entsprechend angemessene professionelle Handeln (s. ebd.: 13). Klarheit
gewinnen ist an die Situation, den Dialog und ein Inventar von Erfahrungen
gebunden, denen eine gründliche Empirie des eigenen Handelns zugrunde liegt
(s. ebd.: 13f). In Anlehnung an Jullien bedeutet Klarheit gewinnen, sich von der
strategischen Position des Regierens durch Klassifizieren, Festlegen von
Begriffen und Erklären des Handelns abzuwenden und sich einer Empirie des
eigenen Handelns zuzuwenden (s. ebd.: 14). Es geht also nicht darum fremde
(die des Adressaten) und eigene (professionelle) Handlungsweisen zu
identifizieren und in diagnostischen Herrschaftsbegriffen zu erklären, sondern
sie zu inventarisieren und zu evaluieren um den eigenen Erfahrungsschatz zu
erweitern (s. ebd.: 14). Denn die Theorie ist nur ein Hilfsmittel, professionelle
Kompetenz basiert auf praktischer Erfahrung (s. Müller B. 1994: 150).

2 Soziale Diagnostik
21
4) Herrschaft oder Macht
Die Frage nach einer (Neo-)Diagnostik in der Sozialen Arbeit verlangt laut
Langhanky (2005) die paradigmatische Entscheidung zwischen
·
Steuerung oder Entfaltung durch Partizipation,
·
fachlicher Diagnostik oder partizipativer Entscheidung,
·
Herrschaft durch Steuerung (,,Gouvernementalität") oder Macht (im Sinne
Arendts) durch Mitwirkung (s. ebd.: 16).
Nach Arendts Definition ist Macht nicht etwas das jemand besitzt, sondern
etwas das zwischen den Menschen entsteht wenn sie zusammen handeln
(Macht = gemeinsames Handeln) und verschwindet wenn sie sich zerstreuen
(s. ebd.: 16). Das Gegenstück zur Macht des gemeinsamen Handelns ist die
Herrschaft der Klassifikation (s. ebd.: 16). Ob Soziale Arbeit herrscht oder
gemeinsames Handeln möglich macht, hängt davon ab, wie sie die Räume
konstituiert in denen sie ihren AdressatInnen begegnet und in denen die
Hilfeentscheidungen getroffen werden (s. ebd.: 16). Bezogen auf die Soziale
Arbeit behauptet Langhanky (2005), dass alle Klassifizierungen eine Schande
für die ,,Kunstlehre der Sozialen Arbeit" sind, die ihren Kern in der
prozesshaften und partizipativen Gestaltung sozialer Situationen hat und damit
einer anderen Wirksamkeitslogik folgen sollte als jener, der sie sich mit einer
Neo-Diagnostik nochmals zu unterwerfen scheint (s. ebd.: 16f).
Die Gegensatzpaare der Tabelle 3 (Spannungsfeld Regieren ­ Kommunizieren)
und die dazugehörigen Erläuterungen zeigen meines Erachtens sehr deutlich,
welcher autoritäre Anspruch hinter ,,harmlos" anmutenden Begriffen wie
,,Verstehen" oder ,,Erklären" steckt, wenn man sie dialogorientierten Ausdrücken
wie ,,Verständigen" oder ,,Klarheit gewinnen" gegenüberstellt (s. dazu auch die
Abbildung im Anhang: Anl. 1).
Eine Soziale Arbeit, die in der Gestaltung sozialer Kontexte die Entfaltung von
Macht als wesentlich anerkennt, muss eine Form der Wirksamkeitslogik
verfolgen, die nicht der Logik der Modellbildung/des Herstellens entspricht,
sondern der Logik der prozesshaften Gestaltung sozialer Situationen
(s. ebd.: 17). Mit den Worten Julliens muss sie eine ,,mit der Praxis verbundene

2 Soziale Diagnostik
22
Form der Intelligenz" entwickeln, die sich durch ,,Spürsinn, Scharfsinn,
Voraussicht, geistige Geschmeidigkeit, List, Gewieftheit, Wachsamkeit und
einen Riecher für gute Gelegenheiten" auszeichnet (s. ebd.: 17). Obwohl diese
Form der Klugheit, die den Prozess für sich arbeiten lässt und mit der Handlung
auf eine gute Gelegenheit wartet, nicht auf ein bestimmtes modellhaftes Ziel
festgelegt, sondern auch auf die Umwelt und ihre Bedingungen ausgerichtet ist
(s. ebd.: 17f), handelt sie trotzdem zielgerichtet. Sie verfolgt die Herstellung von
Macht durch partizipatives Handeln in der Gestaltung sozialer Situationen
(s. ebd.: 18).
Diagnostik führt, als eine Form der Selbstregierung der Profession, zum
Regieren über Subjekte, wenn sie
Ø
ein System bzw. einen einschränkenden Rahmen voraussetzt,
Ø
Raum, Zeit und soziales Umfeld reduziert und teils ausblendet sowie
Geschichten daraus löst,
Ø
Normierungen in Form willkürlicher Setzungen vornimmt,
Ø
das Andere/Fremde ignoriert,
Ø
ihre eigenen Fehler (Fehldiagnosen) missachtet (s. ebd.: 18).
In Anlehnung an Foucault entwickelt Kunstreich die Kritische Soziale Arbeit als
Alternative zur Diagnostik (s. ebd.: 18). Kritische Soziale Arbeit folgt den
Geschichten, Gewitztheiten und Tragiken ihrer AdressatInnen zunächst ohne
sie ihnen zu entreißen oder von ihrer Situation abzulösen (s. ebd.: 18).
Kasuistische Analyseverfahren (von Heiner auch Metaanalysen genannt), die
nicht nur das Subjekt, sondern dessen Fall (Situation, Beziehungen etc.) im
Blick haben und zusätzlich die beruflichen Anforderungen und Handlungen
Sozialer Arbeit einbeziehen, helfen dieses Vorgehen abzusichern (s. ebd.: 18ff).

2 Soziale Diagnostik
23
2.2.3 Konzepte
Bevor ich näher auf Modelle sozialpädagogischer Diagnostik eingehe, sollen an
dieser Stelle vorab verschiedene Diagnosekonzepte benannt werden. Um einer
inhaltlichen Vermischung vorzubeugen, erscheint es mir sinnvoll die
psychologischen Diagnosekonzepte gegen die der Sozialen Arbeit
abzugrenzen
11
. Die Psychologie unterscheidet zwischen terminalen Konzepten
der Selektions- und Klassifikationsdiagnostik einerseits und prozessualer,
dialogischer Modifikationsdiagnostik andererseits (s. Heiner 2001: 254). In der
Sozialen Arbeit unterscheidet man die Konzepte der Orientierungs-, Beschluss-
und Gestaltungsdiagnostik (s. ebd.: 258). Die sozialpädagogische Diagnostik
der Sozialen Arbeit liegt quer zu den zentralen Grundrichtungen der
psychologischen Diagnostik und stellt eine spezifische Mischung der Elemente
der Selektions- und Klassifikationsdiagnostik einerseits und der
Modifikationsdiagnostik andererseits dar (s. ebd.: 255). Untenstehende Tabelle
stellt die verschiedenen Konzepte beider Professionen gegenüber. Die
Psychologie betreffend handelt es sich nur um eine Aufzählung und Zuordnung
der verschiedenen Konzepte, ohne dass dabei eine bestimmte Reihenfolge
eingehalten wird. Auf der Seite der Sozialen Arbeit sind die übergeordneten
Konzepte in ihrer zeitlichen Abfolge aufgezählt, was durch Pfeile angedeutet ist.
Psychologie:
Soziale Arbeit:
- Selektions- /
Klassifikationsdiagnostik
·
Eigenschaftsdiagnostik
·
Verhaltensdiagnostik
·
Statusdiagnostik
- Modifikationsdiagnostik
·
Prozessdiagnostik
- Orientierungsdiagnostik
?
- Beschlussdiagnostik
?
- Gestaltungsdiagnostik
·
Problemverhaltensdiagnostik
·
Kompetenzniveaudiagnostik
·
Interventionssituationsdiagnostik
·
Netzwerkdiagnostik
Tabelle 4: Gegenüberstellung Diagnosekonzepte
11
Für eine professionsübergreifende Unterscheidung diagnostischer Konzepte bietet sich die
Einteilung in objektivistische und konstruktivistische Ansätze an, die sich beide sowohl in der
Psychologie als auch in der Sozialen Arbeit wiederfinden (s. Heiner 2001: 255).

2 Soziale Diagnostik
24
2.2.4 Modelle
Ich verwende den Begriff Modell synonym für Theorie. Ein Modell ist eine
Nachbildung bzw. Abbildung der Wirklichkeit, eine vereinfachende Darstellung
(s. Pantucek 2005b: 122). Seine Funktion ist die Transformation der Realität
(s. ebd.: 60). ,,Modelle sind Instrumente, um Lösungsmöglichkeiten auffinden zu
können. Aber Modelle bilden immer nur Ausschnitte der realen Komplexität ab."
(s. ebd.: 60). Im Folgenden stelle ich exemplarisch zwei kasuistische
Analysemodelle Sozialer Arbeit vor, die sich dadurch kennzeichnen, dass sie
nicht nur den Adressaten, sondern den Adressaten in seiner Situation
wahrnehmen. Zuerst gehe ich auf B. Müllers ,,Fall von ­ Fall für ­ Fall mit" und
danach auf Bootsmas ,,Drei-Welten-Modell" ein. Beide Modelle nehmen durch
eine multiperspektivische Sicht
12
auf die Situation deren Vielschichtigkeit wahr.
,,Fall von ­ Fall für ­ Fall mit"
B. Müller (1994) bezieht sein Modell auf Einzelsituationen im Hilfeprozess und
verzichtet damit auf die Entwicklung eines komplexen Modells des gesamten
Hilfeprozesses von Anfang bis Ende (s. ebd.: 10). Daraus wird ersichtlich, dass
er der Diagnose ,,nur" die Funktion eines Zwischenergebnisses im Prozess
sozialpädagogischen Handelns zuschreibt. Demnach dient sie immer nur als
Entscheidungsgrundlage für die darauffolgende Intervention und kann nicht als
Endergebnis betrachtet werden. Die Besonderheit seines Modells ist die
Gebundenheit an induktives Vorgehen (s. ebd.: 16). Er entwickelt keine
allgemeinen Arbeitsprinzipien, aus denen sich Arbeitsmethoden oder
Arbeitsverfahren ableiten lassen (s. ebd.: 16). B. Müller zeigt mit seinem Modell,
dass eine Situation auf verschiedene Weisen als ,,Fall" gelesen werden kann,
als ,,Fall von", als ,,Fall für" und als ,,Fall mit" (s. ebd.: 18). Diese drei Typen von
Lesarten bzw. Perspektiven sind auf unterschiedliche Weise für
sozialpädagogisches Handeln von Belang,
-
als Handeln, das vorgegebene Tatbestände (z. B. Rechtstatbestände)
verwaltet und anwendet (,,Fall von")
-
als verweisendes und vermittelndes Handeln (,,Fall für") und
12
Die multiperspektivische Betrachtungsweise ist ein Vorgehen, wonach sozialpädagogisch
Handelnde bewusste Perspektivenwechsel zwischen unterschiedlichen Bezugsrahmen (z. B.
rechtlich, soziologisch, psychologisch) vornehmen (s. Müller B. 1994: 15).

2 Soziale Diagnostik
25
-
als Handeln in persönlichen Beziehungen (,,Fall mit") (s. ebd.: 18).
B. Müller ergänzt den methodischen Dreischritt von Anamnese, Diagnose und
Behandlung um den Punkt der Evaluation und nimmt eine sozialpädagogische
Re-Interpretation der vier Begriffe vor (s. ebd.: 18). In seinem Modell verbindet
er den neuen Vierschritt (Anamnese ­ Diagnose ­ Intervention ­ Evaluation) mit
den drei Betrachtungsperspektiven eines Falls (Fall von ­ Fall für ­ Fall mit) und
entwickelt somit ein Schema, das die Beachtung aller drei Perspektiven auf
jeder Stufe der Fallbearbeitung verlangt (s. ebd.: 60):
Fall von
Fall für
Fall mit
Anamnese
Diagnose
Intervention
Evaluation
Tabelle 5: Multiperspektivische Fallarbeit (entnommen aus Müller B. 1994: 60)
Der Begriff der Diagnose hat in den verschiedenen Perspektiven verschiedene
Bedeutungen. ,,Fall von" erfordert eine Zuordnungsdiagnostik, ,,Fall für" erfordert
eine Verweisungsdiagnostik und ,,Fall mit" erfordert eine Deutungsdiagnostik
(s. ebd.: 56). B. Müller hat für den Prozess der Fallbearbeitung, der vom
Ausfüllen der Felder des obigen Schemas begleitet wird, einen Katalog von 30
Arbeitsregeln entwickelt, die durch alle Stufen der Fallbearbeitung führen
(s. Anhang: Anl. 2). Diese Arbeitsregeln sind nicht als anleitende
Handlungsregeln zu verstehen, was bei der Vielfalt sozialpädagogischer Fälle
unsinnig wäre, sondern vielmehr als Erkenntnisregeln, die die Fälle
durchsichtiger machen sollen (s. ebd.: 94).

2 Soziale Diagnostik
26
,,Drei-Welten-Modell"
Wie das Analyseverfahren von B. Müller ist auch Bootsmas Modell
mehrperspektivisch angelegt. Wie B. Müllers Modell zeigt, kann man ein
Problem aus verschiedenen Blickwinkeln oder Perspektiven analysieren.
Bootsma nennt diese Blickwinkel ,,Welten" und unterscheidet die objektive, die
soziale und die subjektive Welt
13
(s. Pebesma 2005: 2). In der objektiven Welt
geht es um faktische Aspekte einer Situation wie, z. B. die Höhe von Schulden,
Krankheit etc., die auch für andere wahrnehmbar und kontrollierbar sind
(s. ebd.: 2). Die soziale Welt thematisiert die Interaktion zwischen den
Menschen, die durch Normen und Werte geregelt ist, und in der subjektiven
Welt geht es um Gefühle (s. ebd.: 3). Im Gegensatz zu B. Müller bezieht
Bootsma sein Modell nicht auf den zeitlichen Aspekt der Vorgehensweise in der
Fallbearbeitung. Bootsma benennt jedoch Handlungsregeln in Form dreier
,,Kriterien für sorgfältiges Analysieren und Handeln":
·
Schenke den objektiven, sozialen und subjektiven Aspekten eines
Problems gleichwertige Aufmerksamkeit
·
Sorge für ein offenes Gespräch in dem die Partner gleichwertig gelten
·
Vermeide Bevormundung und/oder Nachlässigkeit (s. ebd.: 2)
Die Fragen, die sich der Sozialarbeiter im Hinblick auf die Wahrheit der
Informationen und Angemessenheit des Verhaltens der AdressatInnen zu
stellen hat, nennt Bootsma ,,Gültigkeitsclaims" (Fragen nach dem
Gültigkeitsanspruch) (s. ebd.: 2).
13
entsprechend dem Weltenmodell von Habermas, wie es z. B. Sager (2005) abbildet (s. ebd.: 15)

2 Soziale Diagnostik
27
Die folgende Tabelle fasst das ,,Drei-Welten-Modell" grafisch zusammen:
Welt
Thema
Gültigkeitsclaim Kompetenz
Verkürzung
Objektiv
Fakten
Wahr/Unwahr
Methodisch-
technische
oder
instrumentelle
Professionalität
Versachlichung
Sozial
Normen und
Werte
Angemessen/
Unangemessen
Normative
Professionalität
Moralisierung
Subjektiv
Gefühle
Echt/Unecht
Persönliche
Professionalität
Psychologisierung/
Therapeutisierung
Tabelle 6: ,,Drei-Welten-Modell" (leicht verändert übernommen aus Pebesma 2005: 7)
In der letzten Spalte, mit der Überschrift ,,Verkürzung", stehen die Gefahren, die
drohen, wenn SozialarbeiterInnen die Welten im Hilfeprozess nicht gleich
gewichten bzw. sich auf eine davon beschränken. Bootsma sieht vor, dass sich
auch sozialpädagogisch Handelnde am Modell reflektieren, indem sie z. B. in
der sozialen Welt selbst ihre Einstellung zum AdressatInnen-Verhalten prüfen.
2.3 Inhalte
Bevor ich den Diagnoseprozess inhaltlich beschreibe, möchte ich ihn noch im
Hilfeprozess verorten. Der Hilfeprozess besteht im Wesentlichen aus drei
Phasen: der Eingangs-, der Arbeits- und der Ablösungsphase (s. Germain/
Gittermann 1988: 20). Diagnostische Prozesse finden nur in den ersten beiden
Phasen statt, nicht mehr in der Ablösungsphase, die von der Beendigung des
Hilfeprozesses geprägt ist (s. ebd.: 21).
Mit der inhaltlichen Beschreibung
möchte ich näher auf den Verlauf der Diagnose eingehen, einen groben
Überblick über Verfahren, Instrumente und Methoden sozialpädagogischer
Diagnostik geben und im Anschluss daran Aufgaben und Ziele benennen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2006
ISBN (eBook)
9783832496272
ISBN (Paperback)
9783838696270
DOI
10.3239/9783832496272
Dateigröße
2.7 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst - Fachhochschule Hildesheim, Holzminden, Göttingen – Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit
Erscheinungsdatum
2006 (Juni)
Note
1,0
Schlagworte
sozialpädagogik psychosoziale diagnostik jugendsozialarbeit kompetenzanalyse jugendarbeitslosigkeit
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Titel: Soziale Diagnostik in der Jugendberufshilfe - Theorien, Modelle, Praxis
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