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Das Verhältnis zwischen den deutschen Revisionisten und dem westeuropäischen Sozialismus 1895 - 1918

©1980 Magisterarbeit 70 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
„Die ganze internationale Arbeiterbewegung empfing von Deutschland aus Befruchtung…“ und „an ihren Erfolgen begeisterten sich die Sozialisten anderer Länder, aus ihren Erfolgen schöpften sie immer neuen Mut zum Verharren unter dem erkorenen Banner, aus ihm Anfeuerung zu stets neuer Aktion für die Erringung des Wahlrechtes.“ Diese Worte stammen von Eduard Bernstein, dem Begründer des sogenannten Revisionismus.
Ist das Selbstbewusstsein, das Bernstein schon 1901 auf dem Höhepunkt der Revisionismus-Debatte an den Tag legt, berechtigt, war die deutsche Arbeiterbewegung und darin die im Mittelpunkt des theoretische Streites stehenden Revisionisten wirklich so beispielgebend für den europäischen Sozialismus? Gab es diesen Modellcharakter im Verhältnis des deutschen Revisionismus zu den Sozialisten in den westeuropäischen Bruderparteien? Diese Fragen sollen im Rahmen dieser Arbeit geklärt werden.
England und Südeuropa bleiben bei dieser Erörterung ausgespart. Zwar hat es auch nach diesen Seiten hin wichtige Beeinflussungen durch und von Bernstein selbst ausgehend gegeben, doch sind diese einerseits schon eingehend untersucht (England), andererseits lassen sich südeuropäische und mitteleuropäische Arbeiterbewegung nur schwerlich mit einander vergleichen.
Eine grundlegende Analyse, die heute in keiner Weise veraltet ist, weder wissenschaftlich, noch politisch. Im Gegenteil: in der politischen Standortbestimmung der linken Parteien Europas, gerade auch im europäischen Integrationsprozess, knüpft man immer wieder an die Thesen und Gegenthesen der Revisionismus-Debatte um die Jahrhundertwende 1800/1900 an. Revolutionäres Reden und reformistisches Handeln beschreiben diesen Spannungszustand.
Die Arbeit behandelt die Wechselwirkungen dieser Debatte vor dem westeuropäischen Hintergrund. Hauptuntersuchungsgegenstand sind dabei die ‚Sozialistischen Monatshefte’ als Diskussionsorgan der Revisionisten. Die wichtigsten Thesen der Studie:
Bedingt durch die begrenzte Verbreitung der Marx’schen Lehre gab es in Westeuropa wohl marxistisches Denken, aber wenig fundierte Marx-Rezeption. Daher waren Sozialisten, die über eingehende Marx-Rezeption zur eingehenden Marx-Kritik fanden, auch Einzelgänger, so der als Begründer des Revisionismus gekennzeichnete Eduard Bernstein.
Unabhängig von der Entwicklung des Marxismus oder der Marx-Kritik waren reformistische Konzepte in den sozialistischen Parteien Westeuropas politischer Alltag geworden, […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Gliederung

Einleitung
- Quellenlage
- Was ist Revisionismus?
- Wer sind „die deutschen Revisionisten“?

Revisionismus in Europa
- Revisionismus in Frankreich
- Die Guesdisten
- George Sorel
- Jaurés und die Unabhängigen
- Modell SPD

Revisionismus in Belgien

Revisionismus in den Niederlanden

Verbreitung des Revisionismus in Westeuropa

Der westeuropäische Reformismus als Maßstab für den deutschen Revisionismus
- Fall 1: Koalitionen und Regierungsbeteiligung
- Der „Cas Millerand“
- Die Frage der Wahlbündnisse
- Fall 2: Die Kolonialfrage
- Frankreich als Beispiel für eine „vernünftige Kolonialpolitik“
- Der belgische und niederländische Kolonialismus
- Fall 3: Der Generalstreik
- Generalstreiks in Belgien als Exempel
- Generalstreiks in Holland
- Streikbewegungen in Frankreich

Schlussbetrachtung

Anmerkungen

Literaturliste

Einleitung

„Die ganze internationale Arbeiterbewegung empfing von Deutschland aus Befruchtung…“ und „an ihren Erfolgen begeisterten sich die Sozialisten anderer Länder, aus ihren Erfolgen schöpften sie immer neuen Mut zum Verharren unter dem erkorenen Banner, aus ihm Anfeuerung zu stets neuer Aktion für die Erringung des Wahlrechtes…“ (1). Diese Worte stammen von Eduard Bernstein, dem Begründer des sogenannten Revisionismus. Ist das Selbstbewußtsein, das Bernstein schon 1901 auf dem Höhepunkt der Revisionismus-Debatte an den Tag legt, berechtigt, war die deutsche Arbeiterbewegung und darin die im Mittelpunkt des theoretische Streites stehenden Revisionisten wirklich so beispielgebend für den europäischen Sozialismus? Gab es diesen Modellcharakter im Verhältnis des deutschen Revisionismus zu den Sozialisten in den westeuropäischen Bruderparteien? Diese Fragen sollen im Rahmen dieser Arbeit geklärt werden.

England und Südeuropa bleiben bei dieser Erörterung ausgespart. Zwar hat es auch nach diesen Seiten hin wichtige Beeinflussungen durch und von Bernstein selbst ausgehend gegeben, doch sind diese einerseits schon eingehend untersucht (England), andererseits lassen sich südeuropäische und mitteleuropäische Arbeiterbewegung nur schwerlich mit einander vergleichen.

Quellenlage

Aus ganz Europa kamen jedenfalls eingehende Berichte für die allgemein als Organ der deutschen Revisionisten angesehene Zeitschrift „Sozialistische Monatshefte“, die im Mittelpunkt dieser Arbeit steht. Die Konzentration auf die Sozialistischen Monatshefte ist deshalb erforderlich, weil die Geschichte des Revisionismus schwierig zu dokumentieren ist. Zum einen liegt das an den Definitionsproblemen, zum anderen an der Figur Bernstein selbst. Bernsteins schriftstellerische Tätigkeit hat in seinem 83jährigen Leben einen derartigen Umfang angenommen, daß erst in einigen Jahren eine vollständige Übersicht erreicht sein dürfte. Er schrieb für zahllose Zeitungen und Zeitschriften über 500 Artikel und Aufsätze, eine Reihe von grundlegenden Büchern sowie ungezählte bisher noch nicht ausgewertete Briefe. Sein umfangreicher Nachlaß liegt mit dem Parteiarchiv der deutschen Sozialdemokratie im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam, in dem man sich mit der Sichtung des Nachlasses beschäftigt. Bernsteins für die Entwicklung der Theorie und ihrer Verknüpfungen in Europa vermutlich sehr interessanten Briefwechsel mit Kautsky – etwa 1000 Briefe – werden zur Zeit von Hans-Josef Steinberg bearbeitet, mit der Herausgabe ist etwa 1983 zu rechnen.

Zurück zu den Sozialistischen Monatsheften, die als Nachfolgerin des „Sozialistischen Akademikers“ seit 1897 erschienen. In den Monatsheften, laut anfangs regelmäßig abgedrucktem Redaktions-Vorwort „ein freies Diskussionsorgan für alle Anschauungen auf dem gemeinsamen Boden des Sozialismus“, fanden die wesentlichen Entgegnungen der Revisionisten auf Vorwürfe und Debatten in anderen Parteiorganen statt. Was die Zeitschrift für das hier anstehende Thema besonders wertvoll macht (neben der peniblen Dokumentierung der internationalen Streikbewegung sowie sozialistischer Kommunalpolitik), sind die bis Kriegsbeginn regelmäßigen Berichte aus der europäischen Arbeiterbewegung und einer Kommentierung der innerparteilichen Auseinandersetzungen.

Die Sozialistischen Monatshefte stehen nicht zuletzt wegen der Definitionsprobleme im Revisionismus im Mittelpunkt. Revisionismus ist kein eindeutiger Begriff (siehe unten), schon gar nicht ist der Kreis der Revisionismus eng zu umreißen. So ist es ein wichtiges Merkmal der deutschen Revisionisten, daß sie in den Sozialistischen Monatsheften publizierten, jedenfalls so lange, wie die Ereignisse des Jahres 1914 nicht auch die innerparteilichen Fronten durcheinander geraten ließen. Wie weit diese erste kurze Bestimmung auch für die Beiträge aus den westeuropäischen Bruderparteien gilt, hängt davon ab, ob dort theoretische Strömungen ausgemacht werden können, die den Namen Revisionismus verdienen.

Was ist Revisionismus?

Helga Grebing, die sich ausgiebig mit der Ideengeschichte des Revisionismus bis in die Gegenwart beschäftigt hat, gesteht, „was Revisionismus ist, meinen viele zu wissen; nur wenige verstehen darunter jeweils das gleiche“ (2). Je nach ideologischem Standpunkt innerhalb der Literatur der Arbeiterbewegung differiert der Revisionismus-Begriff: von militant-reformistisch (hier wird ohne Untersuchung der Stellewerte der theoretischen Debatten in den jeweiligen Parteien und ohne weitere Differenzierung eine mächtige Woge von Revisionismus in ganz Europa gesehen) bis hin zur marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung, die ihrerseits jede Bewegung abseits des offiziellen Marxismus als „revisionistisch“ verdächtigt (3).

Obwohl niemals eine geschlossene Fraktion innerhalb der deutschen Sozialdemokratie besteht die „relative Einheit“ der Revisionisten (4) erst einmal in der Ablehnung dessen, was das Parteizentrum als marxistisches Dogma bewahren wollte. So ist der theoretisch begründete Evolutionarismus wesentlich aus der Kritik an der Erwartung eines revolutionären Zusammenbruches der bürgerlichen Gesellschaft hervorgegangen. Revisionismus ist der Versuch, ausgehend vom Marx der Kritik an den Marx’schen Prognosen über die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften eine theoretische Basis zu verleihen. Doch da es nicht einmal einen eindeutig definierten Marxismus gibt, allenfalls zur Rechtfertigung von bestehenden, sich marxistisch nennenden Systemen, sondern nur eine Reihe von Stufen und Abwandlungen selbst bei Marx, kann es aus der Kritik am Marx’schen Gedankengebäude auch keinen eindeutigen Revisionismus geben. Revisionismus ist eine Reihe von Versuchen verschiedener Autoren um Edurad Bernstein, Marx’schen Prognosen und das, was das Parteizentrum für Marx’sche Prognosen hielt, mit der Realität zu vergleichen, zu kritisieren und neue, nicht dogmatisch festgelegte Wege in die sozialistische Gesellschaft zu suchen (5). Die „charakterliche Eigenschaft (des Revisionismus) besteht vielmehr in der Erkenntnis, daß wie die Gesellschaft in beständigem Fluß der Entwicklung ist, keine Gesellschaftstheorie, auch die genialste nicht, das letzte Wort über Gang und Formen dieser Entwicklung sagen, sondern sich immer nur der Wahrheit mehr als ihre Vorgänger annähern kann, und daß daher alle entdeckten Gesetze dieser Entwicklung nur bedingten Wahrheitswert haben und des beständigen Nachprüfens bedürfen“ (6). Diese wissenschaftlich-theoretische Nachprüfung der gesellschaftlichen Entwicklung ist es auch, die den Revisionismus vom Reformismus trennt, auch wenn in der politischen Praxis reformistische und revisionistische Politik identisch werden (7). Helga Grebing nennt es „formalistisch-dogmatisch“, den Revisionismus als den theoretischen Ausdruck des Reformismus zu definieren, da die immer zahlreicheren Differenzierungen der Positionen in der Sozialdemokratie es nahelegten, die schematischen Zuordnungen aufzugeben (8). So scharf die Trennung Revisionismus-Reformismus auch sein mag, sie erlaubt einen ersten Zugriff auf jene Autoren – gerade in den Sozialistischen Monatsheften, die mehr als praktische Arbeit leisten wollten. Da bei vielen Reformisten der theoretische Hintergrund völlig fehlt, soll diese Differenzierung hier beibehalten werden.

Wer sind die deutschen Revisionisten?

Nicht alle jene Sozialisten, die sich um Bernstein rankten und in den Sozialistischen Monatsheften publizierten, waren Revisionisten. Revisionist war eigentlich nur Bernstein selber, der in seiner Biographie den Weg vom orthodoxen Marxisten über die eigene wissenschaftliche Überprüfung bis hin zur kompletten Kritik am praktizierten Marxismus fand. Nicht zuletzt war Bernstein einer der wenigen, der seinen Marx gut kannte, galt er doch bis zum Revisionismus-Streit als einer der führenden Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie. Als Revisionisten, wenn auch meist ohne einen ähnlichen biographischen Hintergrund , aber doch mit gleichem theoretischen Verständnis sind allenfalls noch Paul Kampffmeyer und Eduard David zu nennen, die sich in den heftigen innerparteilichen Kämpfen auch offen auf die Seite Bernsteins stellten. Wenn sich in den Sozialistischen Monatsheften auch andere Sozialisten als Revisionisten bezeichnen, geschieht dies meist zu der Zeit, als sich Reformpolitik bereits auch bei den angeblich Orthodoxen zeigt, als der Reformismus nicht mehr nur „die heimliche Ideologie einer beträchtlichen Mehrheit der Arbeiterbewegung in Deutschland“ war (9), sondern sich der Revisionismus allgemein durchgesetzt hatte.

Im Rahmen dieser Arbeit werden als Revisionisten noch andere Namen genannt werden wie Wolfgang Heine, Adolf von Elm und andere, jeweils soweit sie Bernstein’sche Kritik aufgreifen und fortzuentwickeln suchen und sich offen für den Revisionismus erklären. Reine „Praktizisten“ (10) wie Georg von Vollmar und andere, die “eine unproblematische Verbindung marxistischen Geschichtsdeterminimus und konzeptionslosen Tagespragmatismus“ suchten (11), bleiben allgemein außerhalb dieses Kreises. Daß dieser Kreis relativ klein blieb, ist nicht verwunderlich. Die theoretischen Debatten verstanden und interessierten immer nur eine kleine Schicht akademischer Parteimitglieder (12). Entsprechend gering ist auch der Umfang theoretischer Erörterungen in den sozialistischen Monatsheften, deren Hauptteil die Diskussion reformerischer Einzelmaßnahmen darstellt.

Dieser Gegensatz bleibt nicht auf Deutschland beschränkt, es ist eine Tendenz in der gesamten westeuropäischen Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende. In den wesentlich weiter demokratisierten Ländern stellte sich die Frage der Berechtigung des Reformismus somit in erheblich geringerer Schärfe.

Revisionismus in Europa

Der Reformismus war schon vor der Formulierung des Revisionismus eine breite Strömung in ganz Europa. Ihm eine theoretische Basis zu geben, war jedoch, abgesehen von der Frage der Notwendigkeit, erheblich schwieriger als in Deutschland. Zum einen lagen die Werke Marx’ noch nicht lange vor, zum anderen wurden sie erst nach und nach in andere Sprachen übersetzt, die Verbreitung von Fremdsprachenkenntnissen war noch dürftig. So gab es in der europäischen Arbeiterbewegung zwar marxistisches Denken, aber erst wenig Marx-Rezeption. Demzufolge stand auch die fundierte Marx-Kritik noch weit zurück und konzentrierte sich auf Einzelgänger.

„Ich hätte gern die Schriftsteller aufgezählt, die mir in der Richtung, der ich folge, vorangegangen sind… Man würde Sozialisten aller Länder und Schulen, zeitgenössische Sozialisten und Sozialisten früherer Generationen finden“ (13), kokettierte Bernstein. Doch in der Tat geht die Reihe der gegenseitigen Be-einflussungen quer durch Europa. In seinem Standardwerk über die „ideegeschichtlichen Voraussetzungen“ des Bernstein’schen Revisionismus weit Bo Gustaffsson folgende Vorgänger nach: „Was die praktisch orientierten Fabier Bernstein nicht bieten konnten, mußte er sich woanders suchen. Bei dem liberalen Coce fand er eine theoretische Kritik der Geschichtsauffassung und der ökonomischen Theorie des Marxismus, die er sich zunutze machte. Aber Coces Kritik war in höchstem Maße unvollständig. Der Anarchist Merlino hatte nach seiner Wandlung sicher dazu beigetragen, Coces Kritik erhöhten Nachdruck zu verleihen, und er verfügte über ein bedeutend breiteres Register als dieser… Aber was weder die Fabier noch die beiden Italiener Bernstein bieten konnten, fand er bei Marx’ neuen Kritikern in Frankreich“ (14), vor allem in Jaurés’ „integralem Sozialismus“. „Ein aktiver Einfluß läßt sich jedoch nicht beweisen. Bernstein wies niemals auf Jaurés als Inspirator hin“ (15). Immerhin sei der philosophische Hintergrund ein gemeinsamer gewesen.

Revisionismus in Frankreich

Von besonderer Bedeutung für das Verhältnis zwischen den deutschen Revisionisten und Westeuropa ist Frankreich, nicht zuletzt wegen der historischen Beispielhaftigkeit der französischen Revolution, der Kommune von 1871 sowie der geographischen Nähe. Die Vorgänge in der französischen sozialistischen Bewegung werden in den Sozialistischen Monatsheften stets mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Wie zu zeigen sein wird, sind Deutschland und Frankreich was die parteiinternen Auseinandersetzungen angeht, von einem besonderen Spannungsverhältnis gekennzeichnet. In Frankreich ist das revolutionäre Land Mitteleuropas schlechthin zu finden, trotz aller Bedrohungen des Erbes der Revolution durch die Rechte ein weitgehend demokratisiertes Land, in dem Entwicklungen möglich sind, die für die deutsche Sozialdemokratie zunächst völlig undenkbar scheinen. Und doch, die französische Arbeiterbewegung ist durch eine weitgehende Aufsplitterung und einen geringen Organisationsgrad bestimmt; insofern fehlt dem französischen Sozialismus die zahlenmäßige Stärke ihrer deutschen Bruderpartei. Die deutsche Sozial-demokratie wird ihrerseits zum Spiegel für die Möglichkeiten und Entwicklungstendenzen einer machtvollen, einheitlichen Arbeiterbewegung, die allerdings durch weitreichende Beschränkungen in dem monarchistischen System von der Teilhabe an der Macht ausgeschlossen bleibt. Welche Voraussetzungen sind es, die dieses Spannungsverhältnis begründen?

Auch wenn die Richtungskämpfe in der französischen sozialistischen Bewegung bis in die 80er Jahre hinein – wie noch länger in Südeuropa – um Anarchismus und Syndikalismus kreisen, konnte sich doch 1880 ein orthodox-marxistischer Flügel unter Jules Guedes durchsetzen: die Fédération du Parti des Travailleurs Socialistes. Ihr noch von Marx redigiertes Parteiprogramm entsprach in wesentlichen Punkten dem späteren Programm von Erfurt. Zahlreiche Abspaltungen in den folgenden Jahren zeigten nun an, dass auch im französischen Sozialismus die Frage um Reform oder Revolution den prominentesten Rang in den Debatten erklommen hatte. Die 1882 durch Paul Brousse gegründete Fédération des Travailleurs Socialistes en France, später „Possibilisten“ genannt, stritt offen für eine reformistische Politik, die, und da nahm sie Bernstein schon vorweg, in Zusammenwirken mit fortschrittlichen bürgerlichen Kräften durchgesetzt werden sollte. Seilhac, der dieser Gruppe zuzurechnen ist, nennt diese Entwicklung polemisch einen Weg fort von der Tyrannei von Marx“: Der Marxismus besteht schon nicht mehr darin, Anhänger der Marx’schen Ideen zu sein. Wäre es so, so würden sehr viele seiner gegenwärtigen Gegner und besonders Schreiber dieser Zeilen Marxisten sein. Der Marxismus besteht hauptsächlich in dem System, nicht die marxistische Lehre zu verbreiten, sondern sie auch in allen Einzelheiten gewaltsam aufzudrängen“ (16). Aus diesem Verständnis wollten die Possibilisten einen Sozialismus entgegenstellen, der neben fast karitativen Zügen an die „Kollektivisation“ als eigenständiges Entwicklungsprinzip glaubte, an die Unterhöhlung des Privateigentums durch Reformen wie Gewinnbeteiligung: „…während die Gesellschaft selbst unter der Herrschaft der Bougoisie ihren Einkommensmodus in Kommune und Staat umformt, entsteht nach ihr ganz allmählich der Kollektivbesitz, gleichviel, unter welchem Namen“, zitierte Seilhac (17). Diese Unterhöhlung sollte auf kommunaler Ebene beginnen und hier eine Vergesellschaftung von Industrie und Staat durch die Erringung von möglichst vielen Mandaten in Stadt- und Kommunalverwaltungen einleiten. Dieses Konzept eines „Munizipal-Sozialismus“ (Braunthal) würde dann auch eine große Revolution überflüssig machen: „Erst wenn die politische Macht errungen, wenn 150 bis 200 sozialistische Deputierte in die Kammer eingezogen wären und zahlreiche revolutionäre Gemeinden existierten, dann wäre die Zeit einer Revolution gekommen, … Aber wer weiß, ob das noch nötig sein wird? Die Bourgeoisie wird schon vorher ohne Blutvergießen kapituliert haben“ (18).

Diese Vorstellungen über die ungesicherten Aussichten und Notwendigkeiten einer Revolution teilte auch Proudhon, der ähnlich den deutschen Revisionisten meinte, dass eine gewaltsame Umwälzung, sollte sie überhaupt nötig sein, nur dann Erfolg haben könnte, wenn sie eine gesicherte wirtschaftliche Grundlage hätte.

Die Guesdisten

Solche noch weitgehend unausgegorenen Thesen eines Reformsozialismus mußten vor allem in Frankreich unvollständig bleiben, da sie in erster Linie nur ein Gegenstück waren zu einer „dogmatischen marxistischen Theorie, die zum Widerspruch herausforderte“ (19). Der Marxismus der Guesdisten – und nur diese betrachten sich anfangs als Marxisten – zeichnete sich nämlich durch „Übervereinfachung, durch Unvollständigkeit und … Verfälschungen in einem solchen Ausmaße an, dass er dem französischen Revisionismus (s.u.) im besonderen wirksam den Weg gebahnt haben muß“, wie Gustaffsson vermutet (29). Denn Marx’ und Engels’ Werke waren kaum ins Französische übersetzt, erst 1895 erschien das „manifest“ als Broschüre. „schon vor diesem Hintergrund kann man ernsthaft die Frage stellen, ob die revisionistische Bewegung, die im Lauf der neunziger Jahre in Frankreich erstarkte, wirklich so viel zu revidieren hatte“, fragt Gustaffsson ( hier schon ausgehend von einem undifferenzierten Revisionismus-Begriff) (21). Und weiter: „Der unvollständige Marxismus war eine Bedingung für den Anfang der neunziger Jahre einsetzenden Übergang vom Marxismus zum Revisionismus (22). Als schließlich den Guesdisten 1891 der Sprung ins Parlament gelang, sich der Durchbruch noch stärker in den Gemeindewahlen zeigte, und die Werbung um mehr Wähler sich im schwach industrialisierten Frankreich jetzt auch um die Bauern und den Mittelstand drehte, kamen auch die guesdistischen Bastionen ins Wanken. Für dieses Verhalten handelten sich die Guesdisten sogar heftige Kritik von Engels ein, der meinte, sie würden noch stärker zum Opportunismus neigen als die deutschen Sozialdemokraten.

George Sorel

In dieser Zeit der Auflösung ideologischer Verbindlichkeiten griff George Sorel vorhandene reformistische Ansätze auf. Auch er war Intellektueller, der zur sozialistischen Bewegung gefunden hatte, auch er gründete eine theoretische Zeitschrift, „Le Devenir Social“, in der er seine Thesen untermauerte. Ganz wie Bernstein geht Sorel von einer ethischen Begründung des Sozialismus aus. Die Entscheidung für den Sozialismus sei eine moralische Frage, eine subjektive Entscheidung für eine gerechterer Gesellschaft und kein Naturgesetz. Diese Vorstellungen werden in den Sozialistischen Monatsheften mit Interesse verfolgt. Bernstein stand vermutlich mit Sorel seit 1895 in Kontakt. Eine längere Korrespondenz bestand im Herbst 1899 „La Critica“ druckte in der Nummer 25/1927 eine Brief Sorels an Croce, in dem er davon berichtetet (23).

Als Sorel die Situation der französischen Sozialisten untersucht, kommt er zum Ergebnis einer größeren Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, ganz ähnlich wie Bernstein: „Seit einigen Jahren hat sich eine große Veränderung in den Geistern vollzogen; die Sozialisten verachten nicht mehr so wie früher die kleinen Reformen; sie bemühen sich, ins politische Leben der gegenwärtigen Gesellschaft einzutreten und Programme zu verwirklichen, die mit der Existenz des Kapitalismus vereinbar sind; es scheint, daß die offiziellen Repräsentanten des Marxismus die Gewerkschaften und die Kooperationen nicht so sehr verachten wie früher. Überall beschäftigt man sich damit, einen Druck auf die öffentlichen Gewalten auszuüben, um bessere Lebensbedingungen für die Arbeiter zu erlangen. Diese Verbesserungen bilden alle Vorbereitungen für eine neue Ordnung der Dinge“ (24). In seinem wichtigsten Werk „L’Avenir socialiste des Sysndicats“ geht er noch weiter. Der Kampf der Arbeiter um bessere Lebensbedingungen müsse sogar zum Kern des Sozialismus werden, nicht mehr der politische Kampf (25).

Doch Sorels Gedanken bleiben widersprüchlich, er ist kaum einzuordnen. Eine grundsätzliche Kritik an Marx bleibt aus (26). Eine durchgehende Linie ortet Kolakowski, der ihn ebenfalls als Konservativen ansieht, darin, daß er sich ausgehend von seiner ureigensten Marx-Interpretation für heroische Situationen begeisterte. So habe er zu Vorstellungen von Arbeiterklasse, Klassenkrieg und Revolution gefunden, zu einem „Kult der Gewalt“ (27), die er sich groß und überwältigend dachte, so wenig dies auch mit den von ihm geforderten kleinen Reformschritten in Einklang zu bringen ist (28). Schließlich blieb Sorel isoliert, „er nahm an keiner politischen Bewegung teil, die Anspruch auf das geistige Erbe von Marx erhob … Er stand abseits der politischen Zwistigkeiten und Parteistreitigkeiten“ (29), doch war Sorel immerhin „einer der originellsten, wenn auch unberechenbarsten Köpfe…“ (30).

Jaurés und die Unabhängigen

Von erheblich größerem Einfluß waren andere Reformsozialisten, deren Namen später noch erheblichen Wirbel in die europäische Arbeiterbewegung bringen sollten: die Gruppe unabhängiger Sozialisten um Millerand und Jaurés. Bereits im Mai 1896 hatte Alexandre Millerand zum reformistischen Programm erhoben, was er „Sekretion des Sozialismus aus dem Kapitalismus“ nannte (31). Daß „die Evolution … die Revolution (,macht)“, hatte er ein Jahr vorher schon in einem Artikel verkündet (32). So sehr diese ansichten auch der marxistischen Orthodoxie widersprachen, so anziehend wirkten doch die Unabhängigen, nicht zuletzt wegen ihres parlamentarischen Einflusses. 1893 schon hatte sich ein Wahlbündnis zwischen Guesdisten und Unabhängigen ergeben, 1896 schließlich ein erneutes Wahlbündnis aller sozialistischen Strömungen, das einen außerordentlichen Wahlerfolg hatte: Die Stimmenzahl konnte verdoppelt werden.

Die Feier dieses Wahlerfolges wurde auch zur Feier des Erfolges des Reformismus. In Sait Mandé bei Paris stellte Millerand einige Leitsätze eines Reform-Programms auf: „Staatliche Eingriffe zur Nationalisierung verschiedener Arten von kapitalistischen Produktions- und Tauschmitteln, soweit sie für gesellschaftliches Eigentum reif sind; Eroberung der Staatsgewalt mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechtes; internationaler Bund der Arbeiter…“ (33).

Eine „grundlegende Theorie des Reformismus“, wie Gustaffsson mein (34), lieferte die andere große Gestalt aus den Reihen der Unabhängigen, Jean Jaurés, der von Bernstein sehr verehrt wurde. „im Unterschied zu den ganz typischen Marxisten seiner Zeit war Jaurés nie der Ansicht, dass sich die Idee des Sozialismus als eine wissenschaftliche Theorie … objektivieren lasse“ (35), der Jaurés’sche Marxismus war geprägt durch einen intensiven moralischen Gehalt. Obwohl niemals orthodoxer Marxist, bekannte er sich doch zu wesentlichen Teilen des Marxismus. Sein Konzept war eine Verknüpfung von historischem Materialismus und Idealismus, in der sich allerdings „vorwiegend die Aktion der wirtschaftlichen Kräfte geltend“ machen würde (36). Der moralische Gehalt des Sozialismus, von Marx geleugnet, war bei Jaurés schon immer von Bedeutung. „Der Sieg des Vierten Standes wird nicht der Triumph einer neuen Eigentumsform werden, sondern der sieg der Humanität selbst; der Sozialismus wird nichts anderes sein als der sieg der Humanität“ (37). Der materialistische Sozialismus der deutschen Marxisten sowie die moralische Komponente, die er im französischen Sozialismus sah, sollten sich verbinden, um jene Humanität zu erringen. Im Rahmen des Revisionismus-Streits sollte er zwar für die Marxisten Stellung nehmen, er versuchte aber doch, zu vermitteln, indem er zwei Wege zum Sozialismus offen halten wollte. Ohne eine revolutionäre Entwicklung ganz auszuschließen, sollte nach dem besseren Weg gesucht werden. Jaurés hielt es für nötig, sich auf einen plötzlichen Umsturz vorzubereiten, aber gleichzeitig „durch tägliche Arbeit, durch ständige und tiefgreifende Infiltration des kapitalistischen Systems mit dem Sozialismus, die Auflösung dieses Systems zu beschleunigen“ (38). Diese Haltung erlaubte es ihm, zwei Jahre später offen eine reformistische Strategie zu verfolgen. Diese Wendung Jaurés’ zum Reformismus, ja Revisionismus, wie Gustaffsson behauptet, war ihm auch deshalb erleichtert worden, weil erstens sich „Bernsteins Anhänger als zahlreicher und stärker erwiesen hatten“ (39), und zweitens sich durch das vorläufige Scheitern der Einigungsbemühungen im französischen Sozialismus für die Unabhängigen wieder mehr ideologischer Freiraum ergab. In Abgrenzung zur marxistischen Linie fragte er in den „Etudes Socialistes“, wie der Sozialismus nun verwirklicht werden solle; denn die von Marx genannten Bedingungen für eine Revolution schien ihm überholt. Es sei jetzt die zeit der friedlichen Revolution, die durch das Wahlrecht, die Gewerkschaften und Genossenschaften bereits eingeleitet sei. Jetzt verwies er besonders auf die Fehlprophezeiungen des Marxismus und leugnete die Möglichkeit und Notwendigkeit einer revolutionären Entwicklung. „Nicht durch den Zusammenbruch der kapitalistischen Bougoisie, sondern durch das Anwachsen des Proletariats wird eine kommunistische Ordnung schrittweise in unserer Gesellschaft errichtet werden“ (40). So verwundert es nicht, daß Jaurés bereits 1899 von dem französischen Sozialisten Severac in den Sozialistischen Monatsheften gegen den Vorwurf des Revisionismus in Schutz genommen werden mußte. „Die Thesen Bernsteins sind mit der Taktik Jaurés’ ebenso wenig unauflöslich verknüpft, wie etwa die Kautsky’sche Doktrin mit der Taktik Guesde-Vaillant-Lafargue … Sein (Jaurés’) Sozialismus hat nichts von dem an sich, was sich manche Genossen unter Opportunismus vorstellt; die völlige Umgestaltung der Gesellschaft bleibt sein Endziel“ (41).

Modell SPD

Bestimmend für das Verhältnis zwischen den sozialistischen Parteien Westeuropas ist der ausgesprochene Modellcharakter der deutschen Sozialdemokratie zur Zeit der Zweiten Internationale. Dieser Modellcharakter gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen deutschen und französischen Sozialisten.

Die deutsche Sozialdemokratie war stets „das klassische Vorbild“, für die Franzosen „niemals erreichbar“ (42); ähnlich Jaques Droz: Die SPD habe nicht nur das Erfurter Programm als Vorbild für die Programme der Bruderparteien geliefert, sie sei überhaupt „die weitaus stärkste und geistig glanzvollste Partei der Sozialistischen Internationale gewesen“ (43). Es waren nicht nur die deutschen Parteiführer, die Bewunderung im Ausland fanden, es war auch die offizielle Geschlossenheit der Partei, die unbestreitbare Disziplin der organisierten Arbeiter, die im Frankreich der zersplitterten Linken und der wilden Streiks anerkannt wurden. „Zwar fehlt es in Frankreich auch nicht an tüchtigen Kräften; ... aber die bewunderungswürdige Disziplin der deutschen Partei haben die französischen Arbeiter sich bisher nicht zu eigen machen können“, beklagt sich Seilhac in den sozialistischen Monatsheften (44). Noch euphorischer äußert sich Laubier: „Wir französischen Sozialisten sind immer von dem ernsthaften Wunsch beseelt, daß unsere Taktik und unsere politischen Handlungen den Beifall der deutschen Genossen finden mögen“ (45). Was die Franzosen besonders faszinierte, war die „Gegengesellschaft“, die die Sozialdemokratie in Deutschland gebildet hatte. „Das außergewöhnlich verzweigte Netz von Gruppierungen, Vereinigungen, Gesellschaften, Genossenschaften, Gewerkschaften, das den Arbeiter von seiner Geburt an umgab, um ihn bis zu seinem Tode zu führen, für seine kulturelle Ausbildung Sorge zu tragen, ohne den sozialistischen Horizont aufzugeben, gewann die Bewunderung der Franzosen (46).

Die Gefahr, dass der bürokratische Apparat dieses „Staates im Staate“ (47) zum Selbstzweck werden könnte, wurde im Ausland nur zaghaft kritisiert. Es blieb jedoch der Eindruck haften, dass die Doppelstrategie der SPD, nämlich eine reformistische Partei zu sein – in der Lage die materiellen Bedingungen der Arbeiterklasse zu verbessern – und zugleich eine revolutionäre Partei, die – wenn der Augenblick hierfür gekommen sei – die Erbschaft des gefallenen kapitalistischen Systems antreten würde“ (48), nur in der Theorie schlüssig wäre.

Heftigere Kritik handelte sich die Sozialdemokratie aber gerade durch diese Doppelstrategie ein, denn bei aller Bewunderung erschien es vielen unerklärlich, wie es zum „Widerspruch zwischen Schein und Wirklichkeit, zwischen rein organisatorischer Macht und Kampfbereitschaft der SPD und der Gewerkschaften“ kommen konnte (49). Jaurés, der sich seit langem mit dem Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich beschäftigt hatte, auch ohne selbstkritische Töne zu vermeiden (50), sah trotzdem die verbindenden Element. Für ihn blieb die Sozialdemokratie eine „unentbehrliche Verbündete“, und schon gar nichts hielt er von Rezepten, wie sie schon 1901 angesichts des Revisionismus-Streites in Deutschland Vaillant anbot. Die Kontroversen der „Bernsteinianer“ mit dem Parteizentrum involvierten eine Kräftevergeudung, die man der für Vaillant rätselhaften Einigkeit der Partei opfere. Die Klärung zwischen „radikal-revolutionärer“ und „opportunistisch-reformatorischer“ Richtung sei wie in allen sozialistischen Parteien nötig (52). Solche Forderungen entstammten der offensichtlichen Furcht orthodoxer Kreise in Frankreich, die Revisionismus-Debatte könnte in der gleichen Schärfe wie in Deutschland auch in Frankreich stattfinden. Es war dies die Furcht, mit der allgemeinen Bewunderung für die SPD und ihre Gegengesellschaft könnte sich der in dieser Gegengesellschaft weit verbreitete Revisionismus auch in Frankreich ausdehnen. Diese Befürchtung war begründet, gab es doch weit über den Kreis der erklärten Reformpolitiker hinaus noch reformistische, also revisionistische Politik in rankreich. Im gleichen Maße jedoch, wie auch die französischen sozialistischen Gruppen den Eigengesetzlichkeiten parlamentarischer Parteien unterlagen, verringerten sich Neigung wie reale Möglichkeiten zu einer umfassenden Marx-Kritik.

Reformistische Grundlagen in Belgien

Ein anderes Land, auf das die deutschen Revisionisten stets aufmerksam blickten, ist Belgien, ohne dass es jemals einen derartigen Charakter eines Maßstabes wie Frankreich haben sollte., an dem sich die Revisionisten Möglichkeiten und Chancen eines reformistischen Sozialismus ablesen könnten. Ausgehend von relativ früher Industrialisierung bildeten sich ebenso früh sozialistische Gruppen, in der wallonischen Bevölkerung unter eher anarchistischem Aspekt, bei den Flamen nach dem Vorbild der deutschen Marxisten. Doch ganz ähnlich wie in Frankreich war dies ein Marxismus, der schwach ausgebildet war. In diesem schwachen Eindringen des Marxismus in Belgien sowie dem „Einfluß humanistischer und antiautoritärer Traditionen“ (53) ist es begründet, dass von Anfang an der Weg zum Reformismus offen war. „So verdient sich der belgische ‚Sozialismus’, der in der offiziellen Nomenklatura der Partei abwesend ist, seine Ehre von Beginn an durch seinen außerordentlichen ‚praktischen’ Charakter und durch den ideologischen Leerraum…“ (54).

Nachdem die widerstreitenden Flügel der Arbeiterbewegung sich 1889 wiedervereinigt hatten, nachdem die Streikbewegung 1892/93 ein modifiziertes Mehrheitswahlrecht erreicht hatte, zeigte sich der erste große parlamentarische erfolg: Vorwiegend auf Kosten der Liberalen gewann die Arbeiterpartei auf Anhieb 28 Mandate im Jahre 1894. Als parlamentarische Führer erwiesen sich Edouard Anseele und Emile Vandervelde, einem Reformisten, der zwar seinen Marx gelesen hatte, ihn aber auf reinen Ökonomismus reduzierte. „Dieser geborene Parlamentarier, der mit Überzeugung vom Klassenkampf spricht, ist tief von der Wohlbegründetheit einer industriellen Gesellschaft überzeugt, die unter schweren Mißbräuchen leidet, aber eben doch nur Mißbräuchen“ kennzeichnet Rébérioux seine Haltung (55). So verrät auch die im März 1894 angenommene Charta der POB Vanderveldes Handschrift, die ein ethisches Verständnis von Kapitalismus bekundet, mit dem der Kapitalismus nicht vereinbar sei (56). Jean Volders nannte die aufgaben, die sich aus dem Wahlerfolg ergaben: „Wir wollen die Änderung der herrschenden Gesellschaftsordnung… Wir wollen auch die großen politischen Reformen, die zur Gleichheit der Bürger führen. Wir sind Demokraten und fordern das allgemeine Wahlrecht“ (57).

Unter dem Einfluß der reformistischen Parlamentarier wuchs auch der Einfluß der Genossenschaften und Gewerkschaften, die Macht der rein politischen Arbeiterligen in der Partei ging stark zurück. Ähnlich wie in Deutschland entstand eine Organisation der POB zur umfassenden Gegengesellschaft mit einer Arbeiter-bürokratie mit ihren eigenen Entwicklungsgesetzen. Daß diese Gegengesellschaft nicht wirkungslos blieb, zeigte das verhalten, als die Regierung dem schnellen Anwachsen der sozialistischen Wählerschaft durch ein Ausnahmegesetz begegnen wollte. Mit parlamentarischer Unterstützung, Streiks und Demonstrationen wurde dieses Vorhaben vereitelt. In der Folge wuchs die Partei immer mehr an, ein offensichtlicher Erfolg des Reformkurses, der parlamentarischen und spontane Aktion zu verbinden wußte. Louis Bertrand schrieb 1910, mehr Rückblick als Rechtfertigung, in den sozialistischen Monatsheften, „Wir erstreben die Vergesellschaftung der Produktions- und Austauschmittel. Da wir aber wissen, daß sich die neue Ordnung nicht mit einem Schlag verwirklichen läßt, vielmehr das Ergebnis einer Reihe von Teilreformen sein wird, so bemühen wir uns, diese so rasch wie möglich durchzusetzen. Wir sind der Meinung, daß es den Gewerkschaften möglich ist, in die kapitalistische Macht Bresche zu legen, sie zu mindern und endlich ganz zu zerstören, dadurch, daß sie dem Unternehmertum immer mehr Rechte und immer bessere Arbeitsbedingungen bringen werden“ (58). Sein Credo war: „Wir sind der Ansicht, wenn man Sozialist ist, so ist man damit von selbst revolutionär, weil man eine vollständige Umformung der heutigen Gesellschaft anstrebt. Alles andere ist eine Frage der Methode“ (59).

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1980
ISBN (eBook)
9783832494896
ISBN (Paperback)
9783838694894
DOI
10.3239/9783832494896
Dateigröße
1013 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München – Philosophische Fakultät, Neuere Geschichte
Erscheinungsdatum
2006 (April)
Note
1,0
Schlagworte
revisionismus eduard bernstein westeuropa partei
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Titel: Das Verhältnis zwischen den deutschen Revisionisten und dem westeuropäischen Sozialismus 1895 - 1918
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