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Kultur- und Transformationsforschung über Ost-West-Differenzen und innere Einheit in Deutschland

Eine metatheoretische Betrachtung

©2005 Magisterarbeit 116 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Vierzehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung scheinen die Deutschen in Ost und West von der so genannten „Inneren Einheit“ weiter entfernt zu sein als je zuvor. Insbesondere nationale Reformprojekte, die mit Einschnitten im Sozialsystem verbunden sind, machen dies immer wieder deutlich.
Die Transformationsforschung und die politische Kulturforschung hat im Laufe dieser eineinhalb Jahrzehnte eine Vielzahl von Erklärungsansätzen geliefert, die im einzelnen keine zufriedenstellende Erklärung des Problems liefern können und sich zum Teil sogar diametral gegenüberstehen, einander widersprechen oder gar das Problem der inneren Einheit als solches in Frage stellen. Obwohl die empirischen Befunde über das Transformations- und Einheitsprojekt im Prinzip recht eindeutig sind, wird die deutsche Einheit unterschiedlich bilanziert.
Jede Vereinigungsbilanz in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft bringt auch eine spezifische Position zum Stand der inneren Einheit hervor. Die Positionen verteilen sich dabei, je nach Blickwinkel des Betrachters, über ein weites Spektrum. Angefangen beim Standpunkt einer gelungenen Einheit, die auf dem richtigen Weg ist, bei der Wert- und Einstellungsdifferenzen zwischen den Deutschen im Osten und Westen des Landes als marginal bezeichnet werden und kaum über andere regionale Differenzen hinaus gehen, über die Position einer kulturellen Differenzierung über eine ostdeutsche Sonderidentität, die eine Normalisierung und Bereicherung der politischen Kultur der Bundesrepublik darstellt, bis hin zur Bilanz, dass fundamentale Wertunterschiede und eine Abgrenzungsidentität auf Seiten der Ostdeutschen ein hohes anomisches Potential besitzen, die die demokratische politische Kultur Deutschlands gefährden.
Es stellen sich folgende zentrale Fragen, die sehr unterschiedlich beantwortet werden: Wie verschieden sind, denken und handeln die Menschen in Ost und West? Wie notwendig ist eine Angleichung? Mit welchen Begriffen sind die Unterschiede zu fassen und wie wirkungsmächtig sind diese? Doch worin sind diese inkohärenten Urteile begründet, die als Antworten auf die gleichen Fragen mit der gleichen empirischen Datenbasis angeboten werden?
Ein Grund dafür stellt die mehrfach kritisierte mangelnde theoretische Fundierung der sozialwissenschaftlichen Analysen dar. Eine verbindliche Theorie liegt weder für die Transformation in Ost- und Mitteleuropa vor, noch für den spezifischen deutsch-deutschen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 9428
Töpfer, Birk: Kultur- und Transformationsforschung über Ost-West-Differenzen und
Innere Einheit in Deutschland - Eine metatheoretische Betrachtung
Druck Diplomica GmbH, Hamburg, 2006
Zugl.: Universität Leipzig, Magisterarbeit, 2005
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2006
Printed in Germany




3
I
NHALTSVERZEICHNIS
Danksagung----------------------------------------------------------------------------------------------- 2
Einleitung ------------------------------------------------------------------------------------------------- 5
1
DIE OSTDEUTSCHLANDFORSCHUNG ----------------------------------- 8
1.1
Historischer Verlauf --------------------------------------------------------------------------- 9
1.2
Die Entwicklung der theoretisch-methodischen Konzepte --------------------------- 13
1.3
Bilanzen der deutschen Einheit ------------------------------------------------------------ 18
2
BEGRIFFSKLÄRUNG UND THEORETISCHE ZUGÄNGE ----------20
2.1
Transformationsforschung ----------------------------------------------------------------- 20
2.2
Transformationstheorie --------------------------------------------------------------------- 25
2.3
Theoretische Konzepte der Transformationsforschung ------------------------------ 27
2.3.2 Systemtheoretische Konzepte --------------------------------------------------------------- 29
2.3.2.1 Kritische Anmerkungen -------------------------------------------------------------------- 30
2.3.2.2 Vereinigungsbilanzen ---------------------------------------------------------------------- 31
2.3.2.3 Validität -------------------------------------------------------------------------------------- 31
2.3.3 Modernisierungstheoretische Konzepte ---------------------------------------------------- 32
2.3.3.1 Kritische Anmerkungen -------------------------------------------------------------------- 35
2.3.3.2 Vereinigungsbilanzen ---------------------------------------------------------------------- 37
2.3.3.3 Validität -------------------------------------------------------------------------------------- 40
2.3.4 Akteur- und institutionentheoretische Konzepte ------------------------------------------ 41
2.3.4.1 Kritische Anmerkungen -------------------------------------------------------------------- 43
2.3.4.2 Vereinigungsbilanzen ---------------------------------------------------------------------- 43
2.3.4.3 Validität -------------------------------------------------------------------------------------- 47
2.3.5 Handlungstheoretische Konzepte ----------------------------------------------------------- 48
2.3.5.1 Kritische Anmerkungen -------------------------------------------------------------------- 50
2.3.5.2 Vereinigungsbilanzen ---------------------------------------------------------------------- 50
2.3.5.3 Validität -------------------------------------------------------------------------------------- 51
2.4.
Zwischenbilanz zu Transformationstheorie und ­forschung ------------------------ 51

4
3. INNERE EINHEIT ------------------------------------------------------------------53
3.1
,,Innere Einheit" ­ Begriffsklärung ------------------------------------------------------- 53
3.2
Positionen der Forschung ------------------------------------------------------------------- 55
3.2.1 Die vollzogene innere Einheit --------------------------------------------------------------- 57
3.2.2 Kulturelle Differenz als Chance------------------------------------------------------------- 60
3.2.2.1 Wurzeln der politisch-kulturellen Differenz--------------------------------------------- 63
3.2.2.2 Zwei politische Kulturen der Einheit? --------------------------------------------------- 65
3.2.3 Ostdeutsche Teilgesellschaft als Entwicklungsblockade -------------------------------- 69
3.2.4 Ostdeutsche als postfordistische Avantgarde---------------------------------------------- 71
3.3
Gründe für die Ost-West-Differenzierungen ------------------------------------------- 73
3.3.1 Sozialisationsthese ---------------------------------------------------------------------------- 74
3.3.2 Situationsthese --------------------------------------------------------------------------------- 76
3.3.3 Kompensationsthese -------------------------------------------------------------------------- 78
3.4
Zwischenbilanz zu innerer Einheit-------------------------------------------------------- 78
4 OSTDEUTSCHE IDENTITÄT----------------------------------------------------80
4.1 Personale Identität -------------------------------------------------------------------------------- 82
4.2 Kollektive und kulturelle Identität ------------------------------------------------------------ 84
4.3 Gedächtnis und kulturelle Erinnerung ------------------------------------------------------- 86
4.3.1 Gedächtnis-------------------------------------------------------------------------------------- 86
4.3.2 Erinnerung-------------------------------------------------------------------------------------- 88
4.3.3. Geteilte kollektive Erinnerung der Deutschen -------------------------------------------- 90
4.4.
Soziale Identität ------------------------------------------------------------------------------- 93
4.4.1. Ostdeutsche soziale Identität---------------------------------------------------------------- 94
4.4.2. Ost-Nostalgie---------------------------------------------------------------------------------- 98
4.5 Bilanz: Ostdeutsche Identität ­ ein multidimensionales Phänomen ------------------- 100
5. SCHLUSSBETRACHTUNGEN ---------------------------------------------- 103
Literaturverzeichnis --------------------------------------------------------------------------------- 105
Verzeichnis der Sammelbände -------------------------------------------------------------------- 112

5
Einleitung
Vierzehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung scheinen die Deutschen in Ost und
West von der so genannten ,,Inneren Einheit"
1
weiter entfernt zu sein als je zuvor.
Insbesondere nationale Reformprojekte, die mit Einschnitten im Sozialsystem verbunden
sind, machen dies immer wieder deutlich.
Die Transformationsforschung und die politische Kulturforschung hat im Laufe dieser
eineinhalb Jahrzehnte eine Vielzahl von Erklärungsansätzen geliefert, die im einzelnen keine
zufriedenstellende Erklärung des Problems liefern können und sich zum Teil sogar diametral
gegenüberstehen, einander widersprechen oder gar das Problem der inneren Einheit als
solches in Frage stellen. Obwohl die empirischen Befunde über das Transformations- und
Einheitsprojekt im Prinzip recht eindeutig sind, wird die deutsche Einheit unterschiedlich
bilanziert.
Jede Vereinigungsbilanz in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft bringt auch eine spezifische
Position zum Stand der inneren Einheit hervor. Die Positionen verteilen sich dabei, je nach
Blickwinkel des Betrachters, über ein weites Spektrum. Angefangen beim Standpunkt einer
gelungenen Einheit, die auf dem richtigen Weg ist, bei der Wert- und Einstellungsdifferenzen
zwischen den Deutschen im Osten und Westen des Landes als marginal bezeichnet werden
und kaum über andere regionale Differenzen hinaus gehen,
2
über die Position einer
kulturellen Differenzierung über eine ostdeutsche Sonderidentität, die eine Normalisierung
und Bereicherung der politischen Kultur der Bundesrepublik darstellt,
3
bis hin zur Bilanz,
dass fundamentale Wertunterschiede und eine Abgrenzungsidentität auf Seiten der
Ostdeutschen ein hohes anomisches Potential besitzen, die die demokratische politische
Kultur Deutschlands gefährden.
4
Es stellen sich folgende zentrale Fragen, die sehr unterschiedlich beantwortet werden: Wie
verschieden sind, denken und handeln die Menschen in Ost und West? Wie notwendig ist eine
Angleichung? Mit welchen Begriffen sind die Unterschiede zu fassen und wie
wirkungsmächtig sind diese? Doch worin sind diese inkohärenten Urteile begründet, die als
1
Der Begriff ,,Innere Einheit" tritt in zahlreichen Facetten auf und ist vorwiegend ein politischer, insofern auch
eine erst sozialwissenschaftlich zu füllende Worthülse. Dieser Tatsache wird mit den Anführungszeichen
Rechnung getragen. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird, aus praktischen Gründen, auf diese besondere
Kennzeichnung verzichtet.
2
Vgl. Zapf, Wolfgang (2000): Wie kann man die deutsche Vereinigung bilanzieren?, in: Noll, Heinz-Herbert
und Roland Habich (Hrsg.), Vom Zusammenwachsen einer Gesellschaft, Frankfurt am Main, New York, S. 15 f.
3
Vgl. Ahbe, Thomas & Gibas, Monika (2001): Der Osten in der Berliner Republik, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte, Nr. B 1-2/ 2001.
4
Vgl. Meulemann, Heiner (2002): Werte und Wertewandel im vereinigten Deutschland, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte, Nr. B 37-38.

6
Antworten auf die gleichen Fragen mit der gleichen empirischen Datenbasis angeboten
werden?
Ein Grund dafür stellt die mehrfach kritisierte mangelnde theoretische Fundierung der
sozialwissenschaftlichen Analysen dar. Eine verbindliche Theorie liegt weder für die
Transformation in Ost- und Mitteleuropa vor, noch für den spezifischen deutsch-deutschen
Transformationsfall, weshalb Erfolg und Misserfolg beider Fälle nicht genau definiert werden
können. Hinzu kommt, dass sich einzelne wirtschaftliche, soziale und kulturelle Tendenzen
der Vereinigung überlagern und zum Teil widersprechen. Deshalb können sie nicht eindeutig
klassifizieren werden.
5
Solche unterschiedlichen Urteile wären in einem pluralen
Wissenschaftsbetrieb kein Problem. Sie treten jedoch auch auf gesellschaftlicher und
politischer Ebene dort auf, wo sie auffällig mit dem jeweiligen Standort des Urteilenden und
dessen wahltaktischen Kalkülen korrelieren. Deshalb ist ein konzeptioneller und praktischer
Bewertungsmaßstab mit nachvollziehbaren Indikatoren gefordert. Dazu gibt es allerdings
weder eine gesamtdeutsche noch eine internationale Einigung in den Sozialwissenschaften
und darüber hinaus.
Nach einem immensen Forschungsboom bis Mitte der neunziger Jahre, der eine große Anzahl
empirischer Forschungen und einige tausend Publikationen zum Thema der
postsozialistischen Transformation und der deutschen Einheit hervorgebracht hat, ist in den
letzten Jahren die sozialwissenschaftliche Forschung und Theorienbildung zu diesen Themen
nahezu zum Erliegen gekommen, obwohl ­ wie einige Wissenschaftler anmerken ­ noch
immer weiterer Forschungsbedarf besteht und man nicht von einem wissenschaftlichen
Konsens über Bilanz und Perspektiven von Transformation und Einheit auf Grund
erschöpfender empirischer Datenbasis und theoretischer Fundierung sprechen kann.
In dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, einen Überblick über die Forschungen zur
deutschen Einheit und postsozialistischen Transformation in Ostdeutschland in ihrem
historischen Verlauf und ihren theoretischen Debatten zu skizzieren. Wegen der großen Zahl
von Forschungsarbeiten und Publikationen zu diesem Themenkomplex muss eine
erschöpfende
Darstellung
ausgeschlossen
und
eine
Fokussierung
auf
die
politikwissenschaftliche Forschung, insbesondere auf die politische Kulturforschung sowie
die Soziologie, vorgenommen werden. Eine weitere Spezifizierung findet die Arbeit in der
Konzentration auf die Erforschung und die theoretische Debatte zur sozialen und kulturellen
Einheit Deutschlands. Für diese Studie wurden Veröffentlichungen zum Thema innere Einheit
respektive den damit zusammenhängenden Begrifflichkeiten wie (ostdeutsche)
5
Vgl. Reißig, Rolf (2000a): Die gespaltene Vereinigungsgesellschaft, Berlin, S. 54 f.

7
Sondermentalität oder (kollektive) Identität untersucht, um eine theoretische Spurensuche
nach sozialwissenschaftlich operationalisierbaren Begriffen zu unternehmen, auf deren
Grundlage eine Einschätzung von Stand und Perspektiven der Einheit Deutschlands erst
ermöglicht wird. Zusätzlich wurden multidisziplinäre Ansätze in den Blick genommen und
herausgearbeitet, inwieweit diese ein höheres Erklärungspotential besitzen als unidisziplinäre
Zugänge.
Ziele dieser Arbeit sind, den Stand der Forschung und die theoretische Debatte zur inneren
Einigung Deutschlands zu reflektieren und zu klären, inwieweit die inzwischen weitgehend
marginalen sozialwissenschaftlichen Bemühungen um diesen Untersuchungsgegenstand
gerechtfertigt werden können, wo Bedarf nach weitergehender Forschung besteht und an
welchen theoretisch-methodischen Modellen diese anknüpfen sollten.
Im Einzelnen werden dafür zunächst die Ostdeutschlandforschung in ihrer Entwicklung seit
1989/90 und die dabei zu Grunde gelegten theoretisch-methodischen Fundierungen sowie
Bilanzen des Einigungsprozesses resümiert. (Kap. 1) Im Anschluss werden die theoretischen
Konzepte der Transformationsforschung und die Aufspaltungen in die verschiednen
Theorieschulen vorgestellt. Dieser Darstellung wird eine kritische Beleuchtung der Modelle
und Konzepte und ihre jeweils spezifischen Vereinigungsbilanzen gegenübergestellt. (Kap. 2)
Das dritte Kapitel widmet sich dem Begriff der ,,Inneren Einheit" und den entsprechenden
Positionen der Forschung. Für die Einschätzungen zum Status quo der inneren Einheit in
Deutschland sind im Wesentlichen drei Modellannahmen bestimmend, die ­ der
einschlägigen Literatur zum Thema folgend ­ zusammenfassend als Sozialisationsthese,
Situationsthese und Kompensationsthese bezeichnet werden. Alle drei werden hier kurz
vorgestellt. Vor dem Hintergrund der Zuordnung der Positionen der Forschung zur jeweiligen
methodischen Konzeption soll eine Zwischenbilanz zum Stand der inneren Einheit versucht
werden. Dabei wird der folgenden These nachgegangen: Das Problem der kulturellen und
sozialen Einheit Deutschlands wird durch die Beobachtung der Herausbildung eigenständiger
,,Wir"-Gruppen besser erfasst als mit dem Begriff der ,,Inneren Einheit" oder dem bloßen
Instrumentarium der politischen Kulturforschung über die Untersuchung von Wert- und
Einstellungsdifferenzen. (Kap. 3)
Um die Bedingungen der Möglichkeit dieser ,,Wir"-Gruppen untersuchen zu können, werden
die Ergebnisse der politischen Kulturforschung interdisziplinär betrachtet. Eingang finden
besonders historische und sozialpsychologische Ansätze der kulturellen respektive sozialen
Identität. In dieser Weise wird versucht einen operationalisierbareren Begriff zu finden und
damit dem Umstand Rechnung getragen, dass der Identitätsbegriff auf Grund seiner

8
semantischen Breite vielfach als diskreditiert gilt. Verschiedene Forschungsansätze, bei denen
der Identitätsbegriff bereits Eingang gefunden hat, werden aufgegriffen und auf ihr Potential
zur Erklärung ostdeutscher Wir-Gruppen-Identifikation untersucht. (Kap. 4)
Die gesamte Darstellung soll schließlich eine Einschätzung ermöglichen inwieweit die
inzwischen weitgehend marginalen Forschungsanstrengungen zur Vereinigung in
Deutschland als gerechtfertigt gelten können oder ob weiterer Forschungsbedarf besteht und
an welche Konzepte dieser anknüpfen sollte.
1 Die Ostdeutschlandforschung
Mit dem überraschenden Zusammenbruch der sozialistischen Systeme sowjetischen Typs in
Europa und deren damit notwendig gewordener Transformation, entstand ein neues
Forschungsfeld, für das zunächst keine theoretischen Grundlagen existierten, da dieser
Vorgang weder von der Wissenschaft noch der Politik antizipiert wurden. Gerade die
Sozialwissenschaften mussten für dieses ,,Unvermögen" der Vorhersage viel Häme
einstecken, hatten sie doch seit den siebziger Jahren, wie auch die Politik, auf Systemwandel,
Reform und west-östliche Koevolution gesetzt, anstatt auf Systemwechsel, Revolution,
Inkorporation und Vereinigung. Festgefahrene Arrangements und Strukturen der
Nachkriegsordnung brachen zusammen ­ gemeinsam mit Grundannahmen und Denkfiguren,
die bis dahin auch in den Sozialwissenschaften ihren festen Platz beansprucht hatten.
6
Dies
führte zu Irritationen und selbstkritischen Reflexionen.
7
Doch nicht jener ,,'Schwarze Freitag'
der Sozialwissenschaften"
8
gab die drängenden Fragen der Forschung nach 1989 auf, denn
diese Kritik konnte mit den Hinweisen auf die strukturelle Beschränkung der Sozialforschung
in totalitären Systemen sowie auf die Begrenzungen der Prognostizierbarkeit sozialer
Ereignisse auf Grund von Multikausalität, Nichtlinearität und Interferenz
9
abgeschwächt
werden. Sondern in den Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Fragestellung rückten vielmehr
die Folgen des Zusammenbruchs des Nachkriegssystems für die Entwicklung der westlichen
6
Christian Fenner weist in diesem Zusammenhang außerdem darauf hin, wie sehr sich DDR- und
Deutschlandforschung den Imperativen der Entspannungspolitik zu beugen hatten. Vgl. Fenner, Christian
(1991): Das Ende des 'realen Sozialismus' und die Aporien vergleichender Politikwissenschaft, in: Backes, Uwe
und Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremisums und Demokratie, Bonn, S. 35.
7
Vgl. Reißig, Rolf (2000b): 1989, Die Transformation der deutschen Sozialwissenschaften, in: Berliner Debatte
Initial, Nr. 11(2),, S. 9.
8
Beyme, Klaus von zitiert bei ebd. S. 9, von Beyme verwendet diesen Begriff in Analogie zum ,,Schwarzen
Freitag" als dem angeblichen Beginn der Weltwirtschaftskrise, mit dem New Yorker Börsenkrach am
25.10.1929. Der entscheidende Kurssturz war aber schon einen Tag früher, genau wie Tag des Falls der Berliner
Mauer am 9.11.1989 ein Donnerstag war, aber erst am darauffolgenden Freitag ,,realisiert" wurde.
9
Vgl. Kaase, Max und Rainer M. Lepsius (2001): Transformationsforschung, in: Kollmorgen, Raj und Hans
Bertram (Hrsg.), Die Transformation Ostdeutschlands, Opladen, S. 349.

9
Moderne, für den sozialen Wandel sowie die Menschen, die ihn zu gestalten oder schlicht zu
durchleben hatten. Nicht zuletzt standen Kategorien- und Theorienbildung der
Sozialwissenschaften selbst auf dem Prüfstand.
10
1.1
Historischer Verlauf
Nach der Überraschung von 1989 war die Stimmung von Aufbruch und großen Hoffnungen
geprägt. Viele Wissenschaftler sahen sich einer neuen Forschungssituation gegenüber, die die
seltene Chance bot, bisher dominierende theoretische Grundannahmen empirisch zu
überprüfen. Zudem galt es, einen bis dahin historisch erstmals auftretenden Prozess, der
gleichzeitigen wirtschaftlichen wie auch politischen Transformation ­ von der
Einparteienherrschaft zur parlamentarischen Demokratie und von der sozialistischen
Planwirtschaft zur freien Marktwirtschaft ­ direkt und zeitnah sozialwissenschaftlich zu
begleiten, d.h. eine empirische Datenbasis anzulegen und daran die Bildung neuer Theorien
der Transformation zu messen bzw. zu forcieren.
Es handelte sich also um ein wissenschaftsgeschichtlich wie auch gesellschaftspolitisch
attraktives Forschungsfeld. Anhand der großen Zahl empirischer Forschungsprojekte, die
direkt nach der 1989er-Wende gestartet wurden und den vielen Publikationen, die bereits ab
1990 erschienen, kann man nahezu eine Euphorie ablesen, die die internationale
Forschergemeinde erfasst hatte. Allein zum Thema Ostdeutschland und Transformation bzw.
Vereinigung bewegt sich nach FORIS die Größenordnung empirischer Forschungsprojekte
zwischen 1000 bis 1600 im Zeitraum zwischen 1990 und 2001.
11
Die Schwankungsbreite
resultiert
dabei
aus
der
definitorischen
Unschärfe
der
Abgrenzung
der
Ostdeutschlandforschung von der reinen DDR-Forschung und der Germanistik bzw. ,,German
Studies". So befasst sich Ostdeutschlandforschung, nach Raj Kollmorgen, aus
,,sozialwissenschaftlicher Perspektive mit gesellschaftlichen bzw. gesellschaftlich bedingten
Transformationsprozessen und deren Folgen in den ,fünf neuen Bundesländern' seit
1989/90".
12
Die DDR-Forschung hingegen betrachtet nur das historische und die Germanistik
nur das sprach- und literaturwissenschaftliche Objekt ­ beide jeweils ohne Bezug auf die
Transformation.
Im Folgenden soll die so definierte Ostdeutschlandforschung in ihrem Verlauf von 1989 bis
heute beschrieben werden. In diesem Kapitel wird es wesentlich um die Inhalte, also um
10
Vgl. Reißig 2000b (FN 7) S. 10.
11
Vgl. Kollmorgen, Raj (2003a): Das Ende Ostdeutschlands, in: Berliner Debatte INITIAL, Nr. 14(2), S. 4-18,
S. 10.
12
Ebd. S. 4.

10
Forschungsthemen der deutschen und speziell soziologischen und politikwissenschaftlichen
Analyse sowie um quantitative Angaben gehen. Im darauf folgenden Kapitel wird die
Entwicklung der theoretisch-methodischen Orientierungen näher beleuchtet.
Raj Kollmorgen bietet eine Vier-Phasen-Einteilung als Ordnungsschema für den zeitlichen
Verlauf der Ostdeutschlandforschung an, das jedoch wegen der geringen zeitlichen wie
inhaltlichen Trennschärfe als weitgehend willkürlich erscheint.
13
Auch Arno Waschkuhn
beschreibt die Ostdeutschlandforschung ähnlich in drei Phasen
14
und erfasst diese in einem
Schichtenmodell.
Die großen sozialwissenschaftlichen Fördereinrichtungen realisierten in Form von
Sonderprogrammen sowie durch neu eingerichtete Forschungs- und Förderinstitutionen breit
angelegte Analysen der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Transitionsprozesse in den
neuen Bundesländern. In den Anfangsjahren formulierte wesentliche wissenschaftspolitische
Forschungsabsichten waren erstens die umfassende Beschreibung und Archivierung des
welthistorisch bedeutenden Vorgangs der postsozialistischen Transformation auf Basis einer
staatsrechtlichen Vereinigung. Um die Daten dann der deutschen wie auch internationalen
Wissenschaftlergemeinde zur späteren Analyse zur Verfügung zu stellen. Zweitens sollten
Wissenslücken gegenüber der ostdeutschen Gesellschaft schnellst möglich geschlossen
werden, um der Wissenschaft und der Politik empirisch gesichertes Wissen zur weiteren
,,Verarbeitung" bereit zu stellen. Schließlich konnte drittens die Ostdeutschlandforschung
dazu genutzt werden, die Sozialwissenschaften vor Ort neu zu strukturieren und ostdeutsche
Forscher in die gesamtdeutsche Wissenschaftlergemeinschaft zu integrieren.
15
Die ersten Jahre der Forschung waren von Auseinandersetzungen mit den Verläufen und
Ursachen des politischen und ökonomischen Zusammenbruchs der DDR und des
Realsozialismus insgesamt geprägt. Damit sollte der Kritik begegnet werden, die
Sozialwissenschaften und ihre drei den Sozialismus je spezifisch erklärenden Globaltheorien
­ die Modernisierungs-, die Totalitarismus- und die Konvergenztheorie ­ hätten es nicht
vermocht, das Ende des sozialistischen Systems, sei es nun Revolution oder Implosion, zu
prognostizieren. In diesen Zusammenhang fällt auch die Einordnung des ostdeutschen Falls in
die Interpretation des epochalen Bruchs. Desweiteren beschäftigte sich besonders die
politische Kulturforschung mit politischen Stimmungen, Orientierungen und Wahlabsichten
im engeren Übergang, also der eigentlichen Wende und dem institutionellen
13
Jedoch werden alle Jahreszahlen und Statistiken zitiert nach ebd. S. 10 ff.
14
Vgl. Waschkuhn, Arno und Alexander Thumfart (1999): Politik in Ostdeutschland, München, S.12 ff. Die
Phaseneinteilung wird ähnlich wie bei Kollmorgen unternommen, wobei die vierte Phase etwa nach dem
Erscheinungsjahr 1999 einsetzen würde.
15
Vgl. Kollmorgen 2003a (FN 11) S. 9.

11
Vereinigungsgeschehen. Mit den gewonnenen Daten konnten politikwissenschaftliche
Analysen vorgenommen werden, die vorwiegend auf der theoretisch-methodischen Grundlage
von Fallstudien und sehr schnell auch repräsentativen Bevölkerungsumfragen erhoben
wurden. Von besonderem Interesse waren außerdem die Bereiche Arbeitsmarkt und
Beschäftigung sowie soziale Sicherung und Wohlfahrt und die dort zu beobachtenden
sozialpolitischen und ökonomischen Wirkungen der Inkorporation der ehemaligen DDR-
Bevölkerung.
Obwohl schon in den Anfangsjahren die Hoffnungen groß waren, mit den Untersuchungen
der postsozialistischen Transformation die tradierten Theorien sozialen Wandels kritisch zu
überprüfen, muss festgestellt werden, dass es sich kaum um empirische Theorietests handelte,
sondern eher um Datensammlungen, deren unterschiedliche theoretische Grundlagen eher als
orientierende Folien dienten.
16
Jene erste Phase kann auch als ,,empirisch orientierte Ad-hoc-
Forschung"
17
beschrieben werden. Waschkuhn benennt ein doppeltes Defizit der Forschungen
bis etwa 1993/94: Zum einen führte die gegenwartsfixierte, empirische Ausrichtung zur
Unterbelichtung
oder
gar
,,Ausblendung
theoretischer
Suchmuster
und
Problemartikulationen", so dass zum anderen ein Rahmen fehlte, der geholfen hätte, die
Studien anzuleiten und die Ergebnisse analytisch zu interpretieren.
18
Bis Mitte der neunziger Jahre nahmen die Breite empirischer Erhebungen und auch die
theoretischen und analytischen Diskussionen erheblich zu. Mit der ,,Vereinigungskrise"
19
um
die Jahre 1991 bis etwa 1994 drängten zunehmend die erheblichen Probleme in Ökonomie,
Sozialpolitik und Sozialkultur auf die wissenschaftliche Themenagenda. Etwa zwei bis drei
Jahre
später
gerieten
verstärkt
die
ost-
und
mittelosteuropäischen
Transformationsgesellschaften ins Blickfeld, jedoch ohne die dort gewonnenen Ergebnisse in
dem häufig geforderten Maß mit den Verhältnissen in Ostdeutschland zu vergleichen, um aus
den unterschiedlich strukturierten Rahmenbedingungen Erkenntnisvorteile ziehen zu können.
Erste Anzeichen einer Übersättigung des Ostdeutschlanddiskurses waren zu erkennen. Dies
wurde von Seiten der Politik, namentlich der damaligen Bundesregierung unter Helmut Kohl,
noch verstärkt. Aus wahltaktischen Überlegungen musste von der Unzufriedenheit der
Bevölkerung über die mangelhafte Erfüllung der Wahlversprechen aus den Wendejahren
abgelenkt werden, indem man öffentliche wie auch wissenschaftliche Debatten zum Thema
vermied. Die staatliche Forschungsförderung für ostdeutsche Transformationsforschung nach
16
Vgl. Kollmorgen 2003a (FN 11) S. 5 ff.
17
Waschkuhn/ Thumfart 1999 (FN 14) S. 11.
18
Ebd. S. 12.
19
Soweit dies von meiner Seite rekonstruiert werden konnte wurde der Begriff wesentlich geprägt von Jürgen
Kocka. Vgl. Kocka, Jürgen (1995): Vereinigungskrise: zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen.

12
dem starken Aufschwung zwischen 1992 und 1996 sukzessive zurückzunehmen, erleichterte
das. Insgesamt werden für diesen Zeitraum etwa eintausend sozialwissenschaftliche Projekte
mit
sehr
unterschiedlichem
Umfang
gezählt.
Überwiegend
westdeutsche
Forschungseinrichtungen und Hochschullehrer realisierten diese. Ostdeutsche Wissenschaftler
waren demgegenüber zum überwiegenden Teil auf Drittmittelförderung angewiesen.
20
Zu den genannten Themen kamen ab Mitte der neunziger Jahre Analysen zu den Finanz- und
Elitentransfers zwischen Ost und West sowie den damit verbunden strukturellen und
individuellen Folgen. Erstmals gerieten die deutsch-deutschen Kultur- und Identitätskonflikte
in den Blick der Wissenschaft. Wendungen vom ,,Bürger zweiter Klasse", von der
,,ostdeutschen Sonderidentität" oder einer spezifischen ,,politischen Kultur des Ostens"
wurden im Zuge dessen geprägt. Regionalen Disparitäten innerhalb von Transformation und
Vereinigung wurden zunehmend erforscht. Ab 1996 büßte das Thema Ostdeutschland
innerhalb der Sozialwissenschaften immer mehr an Attraktivität ein, obwohl oder trotzdem
noch einmal ein Aufleben der theoretisch-methodischen Diskussionen erkennbar wurde.
Komparative Analysen gewannen an Bedeutung. Langfristige soziokulturelle Eigenheiten der
Ostdeutschen traten stärker in den Vordergrund, dies knüpfte an die Debatte um spezifische
Ost-Identität an.
21
Wechselseitige Beeinflussungen zwischen Wissenschaft und medialer
Öffentlichkeit waren wiederholt zu beobachten. So nahm das Phänomen der Ost-Nostalgie zu,
wurde von den Medien aufgegriffen und vermarktet. Das wiederum veranlasste auch die
Wissenschaftler dazu, den Eigenheiten der Ostdeutschen nachzugehen, die wieder verstärkt
ostdeutsche Produkte kauften, sowie die ,,alten" Symbole und Zeichen der DDR-
Vergangenheit pflegten. Besonders in diesem Bereich wurde außerdem eine auch allgemein
zunehmende Multidisziplinarität der Ostdeutschlandforschung erkennbar.
Anlässlich der zehnjährigen Jubiläen von ,,Wende" und Vereinigung konnte noch einmal ein
erheblicher aber kurzer Anstieg der publizistischen Aktivitäten verzeichnet werden. Im
Besonderen erschienen eine Reihe von Bilanzen der deutsch-deutschen Verhältnisse und dem
Stand der Vereinigung.
22
Der Anteil der Ostdeutschlandforschung ging danach erneut weiter
zurück und betrug 1999/2000 nur noch ein Zehntel des Wertes von 1992.
23
Lediglich an den
Universitäten Halle und Jena wurde der erste Sonderforschungsbereich zu Ostdeutschland
(SFB 580) eingerichtet. Das konnte aber den stetigen und erheblichen Niedergang der
20
Vgl. Kollmorgen 2003a (FN 11) S. 7.
21
Vgl. Ebd. S. 8.
22
Exemplarisch: Schluchter, Wolfgang und Peter E. (Hrsg.) Quint (Hrsg.) (2001): Der Vereinigungsschock.
Vergleichende Betrachtungen zehn Jahre danach,
Weilerswist; Vilmar, Fritz (Hrsg.) (2000a): Zehn Jahre
Vereinigungspolitik,
Berlin.
23
1992 betrug der Anteil der Ostdeutschlandstudien fast 2 % aller gemeldeten Forschungsprojekte in FORIS.
Vgl. Kollmorgen 2003a (FN 11) S. 7.

13
Ostdeutschlandforschung nicht mehr aufhalten. Die vergleichende Perspektive gewann zwar
noch einmal an Aufschwung, das hat aber nur begrenzt zu einem Theoretisierungsschub
geführt. Wenn auch in den Jahren nach 2000 wieder ein Aufleben der theoretisch-
methodologischen Debatte erkennbar wurde, so ist doch bis heute keine generelle
Transformationstheorie zu verzeichnen. Da sich die Forschungsanstrengungen diesbezüglich
inzwischen auf einem quantitativ niedrigen Niveau bewegen, muss zunächst auch offen
bleiben, ob es diese Theorie aus wissenschaftslogischen Gründen nicht geben kann oder ob
einfach die Debatte nicht ausführlich genug geführt wurde. Eine Reihe von Wissenschaftlern
erteilt der Möglichkeit genuinen Transformationstheorie inzwischen auch eine Absage.
24
1.2
Die Entwicklung der theoretisch-methodischen Konzepte
Die begrenzte Zahl an Ordnungsoptionen, die sich innerhalb der Flächenstaaten in der
Moderne entwickelt hat, lässt sich in einer weitgehend undifferenzierten Zweiteilung politisch
auf demokratische und nicht-demokratische und ökonomisch in markt- und
planwirtschaftliche Varianten reduzieren. Innerhalb dieser Dichotomie wurden natürlich eine
Reihe wichtiger Differenzierungen getroffen. Hat man die immense Zahl menschlicher Opfer
im Blick, die Diktaturen kommunistischer und faschistischer Couleur zu verantworten haben,
kann man die Demokratie als die wünschenswerteste Ordnung politischer Systeme betrachten.
Wenngleich diese Aussage nicht zum Ausdruck bringen soll, dass die Demokratie gar keine
Opfer mit sich bringt, so kann man darauf doch wenigstens das Interesse der
Sozialwissenschaften begründen, wie die Bedingungen der Möglichkeit von Demokratie in
der Moderne verfasst sind und wie ein Übergang aus anderen Regierungsformen möglich
wird. Behält man darüber hinaus im Blick, dass noch Ende der achtziger Jahre das
sozialistische Gesellschaftsmodell als dauerhafte Herausforderung der westlichen Demokratie
galt, dann wird deutlich, in welch hochgradige Irritation der Zusammenbruch des
Staatssozialismus in Ost- und Mittelosteuropa die Sozialwissenschaften gestürzt hatte, die von
diesem Phänomen in besonderer Weise berührt wurden.
25
Für diesen gesamten Themenkomplex des Übergangs in eine andere Ordnungsform, sei sie
politischer wie auch ökonomischer Natur, hat sich in der deutschen Forschungslandschaft der
Begriff Transformationsforschung als weitgehender Konsens herausgebildet. Für die
Ostdeutschlandforschung bleibt zunächst festzuhalten, dass bei der schieren Masse an
24
Vgl. Kollmorgen, Raj (1999): Transformationstheorien - Karriere und metatheoretische Kritik, Dissertation,
Jena, S. 248 f.
25
Vgl. Kaase/ Lepsius 2001 (FN 9) S. 343 ff.

14
Publikationen ein erschöpfender Bewertungsversuch von vorneherein zum Scheitern verurteilt
bleibt. Außerdem scheint jedes Thema, jeder Gesellschaftsbereich, jeder Problemaspekt und
jede Gruppe bereits analysiert und für diese Analysen nahezu jeder theoretisch-methodische
Ansatz zur Anwendung gekommen zu sein. Das deutet auf eine Vereinzelung der Forschung
hin, weshalb ein Nachlassen derselben nicht als gerechtfertigt gelten kann.
26
An dieser Stelle soll versucht werden, den Verlauf der theoretischen Debatte ab 1989
nachzuzeichnen. Bei den ersten Forschungsarbeiten zwischen 1989 und 1991 hielten sich die
Wissenschaftler an die tradierten Themen und Instrumentarien gängiger Sozialforschung und
applizierten diese auf Ostdeutschland. Dabei orientierten sie sich vor allem an zuweil höchst
diffusen Modernisierungstheorien.
27
Theorien der Revolution und Konzepte des sozialen
Wandels wurden diskutiert. Einige Soziologen und Politikwissenschaftler mahnten zu
kritischen Revisionen und theoretischen Öffnungen. Die Ereignisse des epochalen Wandels
wurden aber schon frühzeitig in traditionalen Deutungsmustern festgeschrieben. Habermas
prägte den Begriff der ,,nachholenden Revolution", das implizierte, an den Revolutionen in
Ost- und Mitteleuropa wäre nichts Neues zu erkennen, sondern es würden lediglich
Entwicklungen nachvollzogen, die der moderne Westen schon hinter sich hat.
28
Der
Zusammenbruch des realsozialistischen Systems zeuge lediglich vom Ende der großen
Entwicklungsalternativen und deute auf den weltweiten Sieg der liberalen Demokratie.
29
Revolution und Zusammenbruch bilden zwei Pole der Deutung der Ereignisse von 1989,
dabei trifft die eher akteurszentrierte Vorstellung eines Revolutions-Ereignisses auf die
systemtheoretische Konstruktion eines Evolutionsprozesses. Letztlich bildete sich für die neue
Forschungssituation
und
die
einzigartige
Chance
diesen
ungewöhnlichen
Untersuchungsgegenstand vor sich zu haben, kein angemessenes Deutungsmuster. Die
Leitbegriffe der Sozialforschung über den Wandel in Ostdeutschland nach 1989 blieben
vorerst ,,Systemwechsel" und ,,nachholende Modernisierung und Individualisierung".
30
Werden
unterschiedliche
Modifizierungen
einmal
ausgeblendet,
ist
für
die
Modernisierungstheorie kennzeichnend, dass das Ziel von Modernisierung prinzipiell bekannt
ist. Da nun die Modernisierungstheorie der Rahmen war, an dem die empirischen Daten
normativ bewertet wurden, kann von drei verborgenen Grundannahmen ausgegangen werden,
die Waschkuhn folgendermaßen benennt: Erstens wurde das westdeutsche Modell als eine
26
Vgl. Land 2005 (FN 26) (2005): Paradigmenwechsel in der Ostdeutschlandforschung, in: Berliner Debatte
INITIAL, Nr. 16(2), S. 69-75, S. 69.
27
Welche Modernisierungstheorien das sind, darauf wird im Kapitel 3 näher eingegangen.
28
Vgl. Habermas, Jürgen (1990): Die nachholende Revolution, Frankfurt am Main.
29
Zapf, Wolfgang zitiert bei Reißig 2000b (FN 7) S. 10.
30
Reißig 2000b (FN 7) S.10.

15
oder die Blaupause betrachtet, nach der die gesellschaftlichen Verhältnisse in Ostdeutschland
zu arrangieren wären. Zweitens wurde die Transformation als exogen gesteuerter Prozess
konzipiert, der von den Ostdeutschen notwendige Anpassungsleistungen fordert und
schließlich drittens, konzentriert sich die Perspektive dabei wesentlich auf die institutionell-
organisatorischen Strukturen und blendet die handelnden Akteure weitgehend aus.
31
Mit der Kritik an dieser neoklassischen Form der Modernisierungstheorie und dem weiteren
Erlahmen der theoretischen Debatte insgesamt (schon zu Beginn der Hochzeiten der
Forschungsförderung seit etwa 1992) sowie der Besinnung auf tradierte Instrumentarien der
Sozialforschung wurde eine verstärkte Systematik der Forschung nötig, womit deren
Komplexität und Differenziertheit anwuchs. So genannte ,,Methoden-Mixe" kamen zum
Einsatz, um aufwendigere Studien und Querschnittsvergleiche zu ermöglichen. Die
durchgeführten Studien hatten meist die Analyse der Wirkung makrogesellschaftlicher und
institutioneller Strukturveränderungen auf spezifische Personengruppen und deren
Verhaltens- und Statusänderungen zum Ziel.
32
Die Bedeutung von Akteuren und deren
kulturelle Deutungswelten traten zunehmend in den Vordergrund. Neben die bisher erforschte
Struktur in Gestalt der Implementation politischer Institutionen trat die Kultur als
gesellschaftlicher, kultureller und historisch gewachsener Hintergrund der Individuen in Ost-
wie Westdeutschland. ,,Struktur und Kultur" sind dabei gleichwertige Parameter in einem
Prozess der Institutionenbildung, bei dem Makro-, Meso- und Mikroebene interdependent
miteinander verknüpft sind.
33
Mit dem stärkeren Bezug auf Personengruppen (also Akteure) standen die Mehrzahl jener
Analysen auf der Basis von Aggregatdaten, die streng genommen keine Aussagen über
Veränderungen und Stabilitäten von Merkmalen zulassen, auch nicht wenn mehrere
Messpunkte über einen gewissen Zeitraum verteilt wurden, das geschah immerhin noch
häufiger. Seltener waren Längsschnittstudien, mittels derer Messungen zu verschiedenen
Zeitpunkten an den selben Personen durchgeführt werden. Diese ermöglichten genauere
Aussagen über den gesellschaftlichen Wandel. Um aber verlässliche Aussagen machen zu
können und diese von individuellen Entwicklungen zu trennen, wäre zusätzlich ein
Kohortensequenzdesign erforderlich, da verschiedene Kohorten unterschiedlich von sozialem
Wandel betroffen sein können.
34
Größere durchgeführte Panelstudien, sind das Sozio-
31
Waschkuhn/ Thumfart 1999 (FN 14) S. 15.
32
Kollmorgen 2003a (FN 11) S. 7.
33
Waschkuhn/ Thumfart 1999 (FN 14) S. 16.
34
Trommsdorf, Gisela und Hans-Joachim Kornadt (2001): Innere Einheit im vereinigten Deutschland, in:
Bertram, Hans und Raj Kollmorgen (Hrsg.), Die Transformation Ostdeutschlands. Berichte zum sozialen und
politischen Wandel in den neuen Bundesländern, Opladen, S.378.

16
Ökonomische Panel-Ost (SOEPO) und das IAB-Betriebspanel, das seit 1997 auch für
Ostdeutschland erhoben wird. Insgesamt herrscht noch immer ein Mangel an Langzeitpanels.
Eine Reihe der Studien analysierten die Bildung organisierter Akteure in Ostdeutschland.
Dafür wurden verstärkt Vergleiche zwischen Ost- und Westdeutschland angestellt, die liefs
häufig auf Bilanzen hinaus, die Defizite und Negativanalysen auf verschiedenen Ebenen
hervorkehrten und interne Differenzierungen in den Landesteilen homogenisierten. Zusätzlich
zu den bereits erwähnten Schwierigkeiten von Befragungsdaten kommt die Tatsache, dass die
Aussagen der Befragten nicht unbedingt mit tatsächlichen Handlungsmaximen
übereinstimmen müssen. Aus diesen Eigentümlichkeiten der Umfrageforschung sowie der
Frageformulierung resultiert auch die Entdeckung des Phänomens ostdeutscher
Identitätsbildungen, zunächst als ,,ein konzeptuell nicht gestütztes und nicht erwartetes
Resultat".
35
Darauf wird später noch näher eingegangen.
36
Die steigende Bedeutung komparativer Analysen, die häufig auf Vereinigungsbilanzen
hinausliefen, hatte eine bedeutende Ursache in einer Argumentationsfigur, die sehr häufig den
Fragestellungen und Interpretationen zu Grunde lag: Viele der durchgeführten Analysen
lassen sich als Anpassungsstrategien klassifizieren und wurden beschrieben als eine Trias von
Transfer der fertigen Institutionen des Westens, Anpassungsprozessen an jene Institutionen
die nach der getrennten Sozialisation nötig waren und schließlich die wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Angleichung der Bevölkerung des Ostens Deutschlands an die des Westens.
Dafür diente die westliche, demokratisch organisierte Gesellschaft als Vergleichsmaßstab, um
die Wandlungsprozesse im Osten anhand der theoretisch-methodischen Analysekonzepte für
westliche Gesellschaften einschätzen zu können. Dies verengte den Blick auf die Wandlungen
in Ostdeutschland. Rolf Reißig benennt drei Folgen jener analytischen Perspektive: Erstens
bildete die Analyse der DDR als Ausgangsgesellschaft der Transformationsprozesse eher die
Ausnahme, zweitens ,,wurden die Komplexität, die Ambivalenzen und Paradoxien der
Transformationsprozesse in Ostdeutschland ­ zugespitzt formuliert ­ auf Anpassungsprozesse
der ,westdeutschen' Institutionen an die ,ostdeutschen Umweltbedingungen' reduziert" und
drittens wurden wichtige Bereiche, wie die Institutionenbildung und Herstellung
ökonomischer Randbedingungen, ausgeklammert. Reißig weist auf die Kehrseite dieser
zentralen Argumentationsfigur der deutschen Transformationsforschung hin: Die Folgen der
35
Woderich, Rudolf (2000): Allgegenwärtig, ungreifbar : Zur Entdeckung ostdeutscher Identitätsbildungen in
Befunden der Umfrageforschung,
in: Berliner Debatte Initial, Nr. 3(11), S. 104.
36
Vgl. Kapitel 3.

17
Strukturbrüche im Osten für die normativen und faktischen Prämissen und Institutionen im
Westen seien nicht hinreichend thematisiert worden.
37
Die häufig negativen Bilanzen, die auf Basis der beschriebenen komparativen Analysen
gezogen wurden, rückten gegen Ende der neunziger Jahre die spezifischen soziokulturellen
Eigenheiten der Ostdeutschen stärker in den Fokus des Forschungsinteresses. Damit kamen
auch komplexe mesogesellschaftliche Akteur-Institutionen-Dynamiken in nahezu allen
gesellschaftlichen Bereichen näher in den Blick. Die Engführung
38
der Jahre bis etwa 1999
löste sich etwas auf und es wurden verstärkt akteur- und institutionentheoretische sowie auch
soziokulturtheoretische Ansätze entwickelt und verwendet. Als sinnvoller Rahmen erschienen
dabei weiterhin Theorien mittlerer Reichweite
39
mit denen es möglich war, Klassen singulärer
sozialer Tatbestände zu erklären, mit denen aber keine allgemeine Gesellschaftstheorie
formuliert werden konnte.
40
So ist besonders in den Jahren nach 2000 mit der komparativen
Einbettung Ostdeutschlands in die anderen osteuropäischen Transformationsgesellschaften
ein Wiederaufleben der theoretisch-methodischen Debatten erkennbar.
41
Es fanden jedoch
keine Anknüpfungen an die neuen Ansätze und Themen statt.
Zusammenfassend kann dazu bemerkt werden, dass die Dominanz der in der Tradition von
Talcott Parsons konzipierten Modernisierungstheorie ­ in ihrer Rolle als generalisiertes
Legitimationsmuster für eine Reihe impliziter Annahmen ­ nicht vollständig überwunden
wurde.
42
Das hat eine Engführung zur Folge, die methodische und erkenntnistheoretische
Nachteile mit sich bringt, auf die im folgenden Kapitel dieser Arbeit noch explizit Stellung
genommen wird.
43
Zudem ist ein erheblicher Überdruss am Thema Ostdeutschland und
ostdeutschen Transformationsforschung erkennbar, sodass die wenigen verbliebenen
sozialwissenschaftlichen Projekte allenfalls noch eine Nische in der deutschen
Forschungslandschaft bilden. Dabei kann das Thema Transformation gerade auf sozialer und
kultureller Ebene noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden, denn Status und
37
Vgl. Reißig 2000b (FN 7) S. 11.
38
Dieses Wort steht nicht im deutschen Wörterbuch, ist aber ein in den Sozialwissenschaften verbreiteter
Begriff, der eine theoretische und/oder methodische Beschränkung im Vergleich zur möglichen Breite
bezeichnet.
39
Vgl. Kollmorgen 2003a (FN 11) S. 9.
40
Vgl. Hopfmann, Arndt und Michael Wolf (2001): Was heißt und zu welchem Ende betreibt man
Transformationsforschung?,
in: Ders. (Hrsg.), Transformationstheorie ­ Stand, Defizite, Perspektiven, Münster,
S. 22.
41
Vgl. exemplarisch Hopfmann/ Wolf 2001 (FN 52); Kollmorgen, Raj und Heiko Schrader (Hrsg.) (2003):
Postsozialistische Transformationen: Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur. Theoretische Perspektiven und
empirische Befunde,
Würzburg.
42
Vgl. Stojanov, Christo (2003): Zur Situation der Transformationsforschung, in: Kollmorgen, Raj und Heiko
Schrader (Hrsg.), Postsozialistische Transformationen: Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur. Theoretische
Perspektiven und empirische Befunde, Würzburg, S. 61.
43
Vgl. Kapitel 2.3.3.

18
Perspektiven der ostdeutschen Transformation und der deutschen Vereinigung sind vielfach
noch
ambivalent.
Ganz
abgesehen
von
den
Erkenntnisgewinnen
einer
gesamtgesellschaftlichen Einordnung der postsozialistischen Wandlungsprozesse in die neuen
Themen wie Globalisierung, Moral und (Post-) Modernisierungstrends. Dafür wäre allerdings
eine weitere thematische und konzeptionelle Öffnung notwendig.
1.3 Bilanzen der deutschen Einheit
Bei der Vielfalt der Analysen und Publikationen zur deutschen Einheit und ostdeutschen
Transformation und insbesondere bei den Versuchen, diese beiden Entwicklungsprozesse zu
bilanzieren, scheint der einzige übergreifende Konsens darin zu liegen, dass überhaupt in
regelmäßigen Abständen Bilanzen dieser Prozesse und Erfassungen des jeweiligen Status quo
vorgenommen werden. Die Bewertungen fallen aber so unterschiedlich aus, wie die ihnen
jeweils zu Grunde liegenden theoretischen Positionen und methodischen Herangehensweisen.
Die Positionen innerhalb der Debatte sind vielgestaltig und die Konflikte inhaltlicher und
methodischer Art toben teils so heftig, dass auf den ersten Blick der Eindruck entsteht, die
theoretischen Argumente und empirischen Belege seien, je nach Position, die es zu belegen
gilt, austauschbar. Die empirischen Befunde sind zwar recht eindeutig, eine einstimmige
Interpretation fällt jedoch im Wesentlichen aus drei Gründen schwer und führt zu den
verschiedenen Einschätzungen: Zum einen ist keine verbindliche Theorie der Transformation
und Vereinigung verfügbar, mit der Erfolg oder Misserfolg von Stand und Perspektiven der
beiden Prozesse definierbar wären. Zum anderen überlagern sich wirtschaftliche, kulturelle
und soziale Entwicklungen in einer Weise, die eine übereinstimmende Einschätzung
erschweren. Hinzu kommt, dass auf gesellschaftspolitischer Ebene ­ je nach
Betrachtungsstandpunkt ­ jeder einzelne Bürger und jede Partei aus persönlichen oder
wahltaktischen Kalkülen einen eigenen Bewertungs- und Vergleichsmaßstab hat. Rolf Reißig
fordert deshalb auf gesellschaftlicher Ebene der Evaluation einen konzeptionellen und
praktischen Bewertungsmaßstab mit nachvollziehbaren Indikatoren.
44
Die unterschiedlichen
Interessenlagen zum deutschen Vereinigungsprozess auf gesellschaftlicher Ebene wirken zum
Teil auch in die Wissenschaft
45
hinein. Deren Aufgabe wäre es aber, genau jenen
verbindlichen Bewertungsmassstab zu entwickeln.
44
Vgl. Reißig 2000a (FN 5) S.58 ff.
45
Wissenschaftler sind im Grunde auch Ost- oder Westdeutsche und werden ­ auch wenn sie dies um der
wissenschaftlichen Korrektheit zu vermeiden suchen ­ von ihren individuellen Hintergründen beeinflusst. Hinzu

19
Methodisch laufen im Prinzip alle Bilanzen auf einen Vergleich hinaus, dafür werden Ziele
und Ergebnisse sowie Gewinne und Verluste verglichen. Dabei kommen aber völlig
unterschiedliche zeitliche und räumliche Perspektiven zum Tragen.
46
Welche Perspektive die
angemessenste ist, hängt wieder von der jeweiligen theoretischen Ausgangsposition ab.
Thomas Bulmahn bemerkt dazu, dass bei der wissenschaftlichen Begleitung des ,,sozialen
Großversuchs" deutsche Einheit im Wesentlichen empirische Studien erstellt worden,
theoretische Innovationen aber weitgehend ausgeblieben sind. Er kritisiert die Orientierung an
den theoretischen Vorlagen aus dem Feld der Transformationsforschung, wodurch die
meisten Thesen zur deutschen Vereinigung den beiden traditionellen Paradigmen der
Systemtheorie oder der Akteurstheorie zuzuordnen wären. Entlang dieser beiden großen
Paradigmen haben sich zwei separate Debatten der Transformationsforschung ­ eine
modernisierungstheoretische, die der Systemtheorie zuzuordnen ist, und eine
akteurstheoretische Kontroverse ­ entwickelt. Entlang dieser beiden Debatten differenzieren
sich die Positionen weiter aus. Dabei fallen die Bilanzen mit modernisierungstheoretischem
Hintergrund eher positiv aus und treffen auf skeptische bis kritische Gegenthesen.
Akteurstheorien und neo-institutionalistische Ansätze bilden ein Nebeneinander und
beschreiben Steuerungsprobleme der Transformation. Sie ziehen meist negative Schlüsse.
47
Theoretische Positionen dazwischen blieben weitgehend unbesetzt, wie auch insgesamt
theoretische Positionen eine Mangelware darstellen. Bulmahn fasst die Schwachpunkte der
Diskussion in drei Stichworten zusammen: ,,Spaltung, Isolation und Negativperspektive".
48
Erst in den letzten Jahren ist mit der verstärkten Durchführung komparativer Studien eine
teilweise Auflösung der Isolation auf methodischer und diskursiver Ebene erkennbar.
Insbesondere theoretische Positionen, die sich aus der Erforschung der ost- und
mitteleuropäischen Transformation ergeben haben, stehen für ein realistischeres Gesamturteil
des deutschen Transformationsprozesses zur Verfügung, das schließt auch eine realistischere
Einschätzung der deutschen Wiedervereinigung als privilegierten Sonderfall mit ein.
49
Die
komparative Perspektive, in der Stand, Reichweite und Differenziertheit des Akteurs- und
Institutionentransfers erheblich besser beantwortet werden können, kommt jedoch insgesamt
kommt, dass die ostdeutschen Sozialwissenschaftler im gesamtdeutschen Kontext als unterrepräsentiert gelten
müssen, wenigstens was die Ausstattung mit Forschungsmitteln und die Berufung in Professuren angeht.
46
Vgl. Zapf 2000 (FN 2) S.17.
47
Vgl. Bulmahn, Thomas (1996): Vereinigungsbilanzen - Die deutsche Einheit im Spiegel der
Sozialwissenschaften,
Berlin, S. 2 ff.
48
Ebd. S. 25.
49
Vgl. besonders die Beiträge von R. Kollmorgen, C. Stojanov, H. Schrader, W. Ortlepp, U. Fuhrer und A. Born
in: Kollmorgen/ Schrader 2003 (FN 41) auch die von B. Lutz, R. Kollmorgen in: Brussig, Martin/ Frank Ettrich
und Raj Kollmorgen (Hrsg.) (2003): Konflikt und Konsens: Transformationsprozesse in Ostdeutschland,
Opladen. zur neueren theoretischen Diskussion vgl. Hopfmann/ Wolf 2001 (FN 52) und auch die anderen
Beiträge desselben Bandes!

20
gesehen noch viel zu kurz. In dem Maß wie Spaltung und Isolation der theoretisch-
methodischen Debatte nicht überwunden werden, werden die Bilanzen eher aus einer
Negativperspektive gezogen.
Beobachtbare Tendenzen innerhalb der neueren Transformations- und Vereinigungsforschung
sind Regionalisierung und Internationalisierung. In der Verbindung von Studien auf beiden
Ebenen liegt das theoretische Entwicklungspotential, das wiederum wegen der insgesamt
stagnierenden Forschung in diesem Feld noch weitgehend ungenutzt blieb. Methodisch
folgenreicher war da der Perspektivenwechsel von den zu überwindenden zu den zu
bewahrenden Unterschieden zwischen Ost und West.
50
2
Begriffsklärung und theoretische Zugänge
Im folgenden Kapitel werden nach einer Klärung der Begriffe Transformationsforschung und
Transformationstheorie
die
einzelnen
theoretischen
Ansätze
einer
möglichen
Transformationstheorie mit einigen exemplarischen Vertretern vorgestellt. Zu jedem Ansatz
wird die jeweils spezifische Vereinigungsbilanz kritischen Anmerkungen gegenübergestellt.
Anliegen ist es, zu einer Einschätzung der Validität der einzelnen theoretischen Zugriffe zu
gelangen.
2.1
Transformationsforschung
Von dem vielfach beschworenen epochalen Charakter des Zusammenbruchs des
Realsozialismus und der Systemübergänge in Ost- und Mitteleuropa sowie der Tatsache, diese
Vorgänge nicht antizipiert zu haben,
51
fühlten sich die Sozialwissenschaften besonders
herausgefordert, in umfassenden Forschungsprogrammen und vielen Einzelprojekten jene
Entwicklungen zu untersuchen. Die Bevölkerungen der ,,Gesellschaften sowjetischen Typs"
waren durch den Umbruch mit einem radikalen Strukturverlust konfrontiert.
,,Transformation" konnte deshalb zunächst übergreifend verstanden werden, als das Problem
zu neuen Formen der System- und Sozialintegration zu finden.
52
Unter der Bezeichnung
,,Transformationsforschung" hat sich ein Untersuchungsfeld herausgebildet, das seine
50
Vgl. exemplarisch Engler, Wolfgang (2001): Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin. ebenso die Beiträge in:
Busse, Tanja und Tobias Dürr (Hrsg.) (2003): Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance, Berlin.
51
,,Analysen Hannah Arendts, Ralf Dahrendorfs und Talcott Parsons' aus den 60er Jahren [enthielten noch ­
B.T.] eine Perspektive des östlichen Machtzerfalls." Vgl. Reißig 2000b (FN 7) S. 9.
52
Vgl. Müller, Klaus (2001): Konkurrierende Paradigmen der Transformation, in: Hopfmann, Arndt und
Michael Wolf (Hrsg.), Transformationstheorie ­ Stand, Defizite, Perspektiven, Münster, S. 202.

21
Konturen zuerst aus der empirisch vergleichsweise klar umrissenen Problematik des
Übergangs gewann, ohne ein theoretisch eindeutig verortetes Konzept zu sein. Die
Transformationsforschung hat also die Analyse von Systemwechseln mit allen ihren
politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Facetten zum Thema. Der
Begriff Transformation beschreibt so die formationsüberschreitende Umwandlung von
Gesellschaftssystemen, also einen Systemwechsel. Hopfmann und Wolf schlagen vor, diesen
als einen von Akteuren getragenen intentionalen Prozess zu denken, um ihn analytisch von
Kategorien wie ,,sozialer Wandel", ,,Modernisierung" oder ,,Transition" abzugrenzen. Für
eine genauere Definition von Transformation mag dies zutreffend sein. Betrachtet man
indessen einerseits die Forschungsarbeiten, die unter diesem Begriff subsumiert werden, und
andererseits den tatsächlichen Forschungsgegenstand, so muss man wohl zum Zwecke dieser
Darstellung mit einer gewissen analytischen Unschärfe Vorlieb nehmen. Denn ob und wie es
den Akteuren gelingt, einen Systemwechsel bewusst hervorzurufen, ist eben auch von
anderen
Wandlungsformen
abhängig.
Strukturelle
Hintergründe
und
modernisierungstheoretische Modelle müssen deshalb ebenso mitbedacht werden.
Desweiteren wird Transformation charakterisiert durch ,,zeitgleiche[s] Auftreten mehrerer
interdependenter Prozesse von denen das Gesellschaftssystem als Ganzes erfasst ist".
53
Diese
Wendung ist notwendig, um eine analytische Trennung von Begriff und Theorie der
Transition herzustellen. Das von O'Donnell, Schmitter und Whitehead 1986 entwickelte
Konzept ist wesentlich dadurch bestimmt, dass es einen in drei Phasen gegliederten und auf
die Veränderung der politischen Ordnung gerichteten Prozess beschreibt.
54
Aus Gründen der
Gleichzeitigkeit des Wandels mehrerer gesellschaftlicher Teilsysteme kommt das Modell der
Transition für eine Beschreibung der Prozesse in Ost- und Mitteleuropa nicht in Frage.
Hopfmann und Wolf weisen in diesem Zusammenhang auf die begriffs- und
ideengeschichtlichen Wurzeln des Begriffs Transformation in Polanyis ,,The Great
Transformation" von 1944 hin, in dem schon ein mehrere gesellschaftliche Subsysteme
umfassender Umbruchprozess beschrieben wird. Diesbezüglich hat Claus Offe bereits 1994
ausgeführt, dass eine Reform einzelner Subsysteme in den Staaten des Warschauer Pakts ­
entgegen der Konvergenztheorie ­ nicht zu einer Annäherung der konkurrierenden politisch-
ökonomischen Systeme geführt hat, sondern zu einer Destabilisierung der
staatssozialistischen Systeme als Ganzes. Dadurch wurde mit der Reform von oben eine
Revolution von unten ohne historisches Vorbild und ohne revolutionäre Theorie ausgelöst.
Die vergleichenden Studien über politische Modernisierungsprozesse unter dem Titel
53
Ebd. S. 20.
54
Vgl. Kaase/ Lepsius 2001 (FN 9) S. 345.

22
,,transition to democracy" erweisen sich jedoch auch in der Darstellung Offes zur Analyse der
Umbruchprozesse in Mittel- und Osteuropa als untauglich und irreführend, da die
Revolutionen dort aus zwei Gründen umfassender waren: Zum einen weil die territoriale
Integrität und die ,,bisherige" Bevölkerung nicht erhalten geblieben sind, wie in Südamerika
und Südeuropa, und zum anderen, weil neben der politisch-konstitutionellen auch die Reform
der Wirtschaftsverfassung vollzogen wurde.
55
Er unterscheidet nach Easton drei hierarchisch
gegliederte Ebenen: die Ebene der fundamentalen Identitätsbestimmungen, wie Bürgerrechte
und Grenzen eines national verfassten Gemeinwesens (1), die Ebene der Regeln, Verfahren
und Rechte, was sich in der Verfassung und im institutionellen Rahmen äußert (2) und die der
Entscheidungen über Verteilung politischer Macht und materieller Ressourcen (3). Zwischen
den Ebenen besteht eine asymmetrische und kausale Determination: Die jeweils untere Ebene
determiniert die darüber liegende mehr als umgekehrt und dies in nicht zweckgerichteter oder
strategischer Weise.
56
Diese von Offe so genannte Strategieneutralität zwischen den Ebenen
hängt mit einer unterschiedlichen Zeitstruktur zusammen. Die erste Ebene des politischen
Gemeinwesens Nation weist eine weit größere zeitliche Beständigkeit auf (möglicherweise
Jahrhunderte) als beispielsweise die dritte Ebene der Regierungen und Gesetze (wenige
Jahre). Die Entscheidungen, die im Zuge der Transformation getroffen werden müssen,
spielen sich auf allen Ebenen gleichzeitig ab. Damit können sie sich als gegenseitig
obstruierend oder als inkompatibel erweisen. In einer solchen Situation, in der alles
kontingent ist, fällt auch die Strategieneutralität weg, da strategisch handelnde Akteure jetzt
auf alle Ebenen Einfluss nehmen können. Die Prämissen des politischen Systems ­
ursprünglich Gegenstand evolutionärer Prozesse ­ werden nun zum Objekt strategischen
Handelns. Damit entsteht nach Offe ein ,,Dilemma der Gleichzeitigkeit". Insbesondere bei der
Demokratisierung und der Frage der Wirtschafts- und Eigentumsordnung wird dieses
Paradoxon deutlich. Die Marktwirtschaft kommt in vormals ,,zwangshomogenisierten"
Gesellschaften nur unter vordemokratischen Bedingungen in Schwung, da der revolutionäre
Aufbau einer Unternehmerklasse Einkommensunterschiede zunehmen lässt, die in Folge
dessen Gegner auf den Plan rufen.
57
Eine entwickelte Marktwirtschaft wird wiederum
gebraucht, um die sozialstrukturellen Bedingungen für eine stabile Demokratie herzustellen.
Andererseits ist die Einführung der Marktwirtschaft in postsozialistischen Gesellschaften aber
55
Vgl. Offe, Claus (1994): Der Tunnel am Ende des Lichts, Erkundungen der politischen Transformation im
Neuen Osten,
Frankfurt am Main, S. 58 ff.
56
Ebd. S. 61 ff.
57
Offe diskreditiert in diesem Zusammenhang den Begriff der ,,nachholenden Modernisierung" als
Bagatellisierung, da eine bisher nicht vorhandene Kategorie von Akteuren eingesetzt werden muss, ,,die auf
Grundlage von Eigentumstiteln im Marktwettbewerb stehen". Keine der bisherigen Umwälzungen hatte so etwas
zu bewältigen. Vgl. ebd. S. 60.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2005
ISBN (eBook)
9783832494285
ISBN (Paperback)
9783838694283
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Leipzig – Sozialwissenschaften und Philosophie
Note
1,7
Schlagworte
kultur identität wiedervereinigung
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