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Das Thema der zerstörten Unschuld in ausgewählten Werken Stephen Kings

©2003 Magisterarbeit 134 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Kinder werden zum Inbegriff der verfolgten Unschuld, da es ihnen an weltlicher Erfahrung mangelt und sie frei von Schuld und Sünde sind; sie können sich nicht allein helfen – so die Annahmen, die den Reiz ausmachen, sie als Protagonisten für eine Grusel- oder Horrorgeschichte auszuwählen.
In der Magisterarbeit „Das Thema der zerstörten Unschuld in ausgewählten Werken Stephen Kings“ untersucht die Claudia Gottschalk die Kinderdarstellung in der zeitgenössischen Horrorliteratur und betrachtet dabei sieben Werke Stephen Kings, in denen zahlreiche kindliche und jugendliche Charaktere entscheidende Bedeutung erlangen. Das Motiv der verfolgten Unschuld lässt sich bei vielen dieser Protagonisten finden. Doch King treibt die Verfolgung der unschuldigen Kinder auf die Spitze – bis zur Zerstörung der Unschuld.
In ihrer Arbeit widerspricht die Autorin die Grundprämisse der meisten Arbeiten über Kings kindliche Charaktere, dass diese unschuldig seien, was es ihnen ermögliche moralisch gute und richtige Entscheidungen zu treffen und das Böse zu besiegen, wenn sie es schaffen, sich ihre Unschuld zu bewahren. Gottschalk zeigt, dass die Zerstörung der kindlichen Unschuld die Voraussetzung für das moralische Handeln der Hauptcharaktere ist, aber dieses nicht zwingend zur Folge hat, da die Kinder nach dem Verlust der Unschuld die Möglichkeit haben, freie Entscheidungen zu treffen.
Im Detail untersucht die Autorin, ob und wie King die Unschuld seiner Protagonisten zerstört, welche Bedeutung die Begriffe Initiation, Manipulation sowie Korruption dabei haben und zu welchen Ergebnissen diese Zerstörung der Unschuld jeweils führt. Dabei betrachtet sie die Erzählung „The Body“, den Roman It, die jugendliche Protagonistin in Carrie, die kindliche Charlie des Romans Firestarter, die Kurzgeschichte „Children of the Corn“, die Erzählung „Apt Pupil und Gage Creed aus dem Roman Pet Sematary näher.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
I.Einleitung3
II.Gothic Fiction – Die Tradition8
2.1Der britische Ursprung9
2.2Amerikanische Genreadaption11
2.3Multimediale Einflüsse im 20. Jahrhundert14
2.4Kings Einfluss auf das Genre15
III.Zerstörte Unschuld in Stephen King16
3.1Initiation – Born to Grow Up?16
3.1.1Rites de Passage und Initiation16
3.1.2„The Body: Fall from Innocence” (1982)19
3.1.2.1Vor der Reise21
3.1.2.2Das Ritual26
3.1.2.3Initiation?29
3.1.3It (1986)35
3.1.3.1Die Verlierer 195837
3.1.3.2Das Ritual43
3.1.3.3Die […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Gothic Fiction – Die Tradition
2.1. Der britische Ursprung
2.2. Amerikanische Genreadaption
2.3. Multimediale Einflüsse im 20. Jahrhundert
2.4. Kings Einfluss auf das Genre

III. Zerstörte Unschuld in Stephen King
3.1. Initiation – Born to Grow Up ?
3.1.1. Rites de Passage und Initiation
3.1.2. “The Body: Fall from Innocence” (1982)
3.1.2.1. Vor der Reise
3.1.2.2. Das Ritual
3.1.2.3. Initiation?
3.1.3. It (1986)
3.1.3.1. Die Verlierer 1958
3.1.3.2. Das Ritual
3.1.3.3. Die Verlierer 1985
3.1.4. Zerstörte Unschuld und Initiation
3.2. Manipulation – Born to Be Bad?
3.2.1. Mütter und Väter in Carrie und Firestarter
3.2.2. Gesellschaft und Staat in Carrie und Firestarter
3.2.2.1. Entindividualisierte Gegner
3.2.2.2. Menschliche Antagonisten
3.2.2.3. Hilfreiche Bekanntschaften
3.2.3. Zwischen Gut und Böse
3.2.4. Zerstörte Unschuld und Manipulation
3.3. Korruption – Born to Kill ?
3.3.1. “Children of the Corn“ (1978)
3.3.2. “Summer of Corruption: Apt Pupil” (1982)
3.3.2.1. Vermeintliche Autoritäten
3.3.2.2. Tatsächliche Autorität
3.3.2.3. Die Schuldfrage
3.3.3. Pet Sematary (1983)
3.3.4. Zerstörte Unschuld und Korruption

VI. Zusammenfassende Schlussbetrachtung

V. Bibliografie
5.1. Primärliteratur
5.2. Sekundärliteratur

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

I pulled off all my clothes to an under petticoat; and then hearing a rustling again in the closet, I said, ‘Heaven protect us! But I must look into this closet, before I come to bed.’ And so was going to it slip-shoed, when O dreadful! Out rushed my master, in a rich silk morning gown.

I screamed, and ran to the bed; […] and he said, ‘I’ll do you no harm’ […].

‘No,’ said Mrs Jervis, ‘I will not stir, my dear lamb; I will not leave you. I wonder at you, sir!’ and kindly threw herself upon my coat clasping me around the waist. ‘You shan’t hurt this innocent; for I will lose my life in her defence. Are there not,’ added she, ‘enough wicked ones in the world for your base purpose, but you must attempt such a lamb as this!’ (Richardson 95-6)[1]

I. Einleitung

Verfolgte Unschuld oder innocence in distress ist ein Topos, dem im 18. Jahrhundert wesentlich von Samuel Richardsons Romanen Pamela; or Virtue Rewarded und Clarissa; or The History of a Young Lady zu Einfluss verholfen wurde (von der Lühe 11: 264). In Pamela wehrt sich, wie der obige Textausschnitt zeigt, die gleichnamige Protagonistin gegen eine Vergewaltigung durch ihren Herren, was schließlich aufgrund ihrer Standhaftigkeit zur Ehe mit ihm führt. Entscheidend dabei sind die Worte innocent und lamb, die die Unschuld und Tugendhaftigkeit der ‚armen’ Pamela betonen. Dementsprechend wird der „Terminus ‚verfolgte Unschuld’ […] in der philosophischen Literatur der Neuzeit zumeist im Zusammenhang mit der Frage nach dem Lohn der Tugend und dem Problem der Theodizee als ‚Kurzformel’ für die erfahrbare Ungerechtigkeit in der Welt gebraucht“ (von der Lühe 11: 264). Wichtig ist der Begriff innocence in distress jedoch nicht nur in Verbindung mit den Klassikern der englischsprachigen Literatur. Vielmehr erwies sich der Topos als äußerst geeignet für das Genre des Schauerromans, das sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausbildete, wie in Kapitel II genauer erläutert wird.[2]

Der Begriff ‚Unschuld’ bildet einen Teil des Themas dieser Arbeit. Für den Begriff gibt es folgende Möglichkeiten der Auslegung:

- Mangel an weltlicher Erfahrung bzw. Wissen i. S. v. “ignorance” (“Innocence” Def. 1d2), „Ahnungslosigkeit, Arglosigkeit“ („Unschuld“ Def. 2b, 9: 4122),
- Unkenntnis des Bösen (“Innocence” Def. 1a; “Innocence” Def. 2, 645),
- Unfähigkeit, Böses zu tun („Unschuldig“ Def. 2a, 9: 4122; “Innocence” Def. 2, 645),
- Schuldlosigkeit (“Innocence” Def. 1c, 1d1; „Unschuldig“ Def. 3, 9: 4122),
- ungerechte Behandlung, i. S. v. “suffering harm although not involved” (“Innocent” Def. 2, 645) sowie
- Keuschheit (“Innocence” Def. 1b) i. S. v. „Unberührtheit, Jungfräulichkeit“ („Unschuld“ Def. 3, 9: 4122).

Ich werde in meiner Arbeit zeigen, dass die Eigenschaften der von mir gewählten Protagonisten, die den Auslegungen der Unschuld entsprechen, zum Teil zunichte gemacht werden bzw. werde ich sie als nicht mehr vorhanden nachweisen und die Folgen davon betrachten. Von besonderer Wichtigkeit sind dabei die ersten vier von mir genannten Interpretationsmöglichkeiten des Begriffs Unschuld.

Kinder werden zum Inbegriff der verfolgten Unschuld, da es ihnen an weltlicher Erfahrung mangelt und sie frei von Schuld und Sünde sind; sie können sich nicht allein helfen – so die Annahmen, die den Reiz ausmachen, sie als Protagonisten für eine Grusel- oder Horrorgeschichte auszuwählen, was Stephen King in seinem Roman It bestätigt: ”’Help,’ the small voice said again, […] it was like the voice of a child who cannot help itself” (37).

Peter Freese erläutert in seiner Dissertation Die Initiationsreise: Studien zum jugendlichen Helden im modernen amerikanischen Roman mit einer exemplarischen Analyse von J. D. Salingers The Catcher in the Rye[3] von 1969, dass Kinder und Jugendliche seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend zu Protagonisten der englischen Literatur wurden (15). Statt der „Idee vom Kind als einem sündhaften und verdammten Wesen, das erst durch eine Konversion im Erwachsenenalter zum christlichen Gemeindemitglied werden konnte“, war nun die literarische Kinderdarstellung geprägt vom Gegenteil: „der romantischen Verherrlichung kindlicher Unschuld zur Einsicht in die Eigengesetzlichkeit und Individualität kindlichen und jugendlichen Seins“ (Freese, Initiationsreise 15). Wie Freese erläutert, hatte man „das Kind aus dem ‘easiest room in hell’ befreit und auf den Thron romantischer Verherrlichung gehoben, um nun damit zu beginnen, ihm seinen Platz im mit­menschlichen Gefüge zuzuweisen und seine Stärken und Schwächen gleichermaßen zu sehen“ (Initiationsreise 15). Er erkennt, dass Kinder und Jugendliche „in zunehmendem Maße zu Verkörperungen des Konflikts zwischen individueller Unschuld und gesellschaftlicher Erfahrung, zu Repräsentanten der Spannung zwischen innocence und experience” wurden (Initiationsreise 15).

Ich werde in meiner Arbeit die Kinderdarstellung in der zeitgenössischen Horrorliteratur untersuchen und dabei sieben Werke Stephen Kings betrachten, dessen Bücher mit Kindercharakteren gefüllt sind (Indick, ”Children” 201). King selbst ist der populärste Horrorschriftsteller der Gegenwart (Casebeer 207; Gallagher 37). Seine Bücher tragen bedeutend zum Umsatz der Buchindustrie bei, der durchschnittliche Amerikaner kennt seinen Namen und sein Gesicht (Casebeer 207). Doch paradoxerweise stehen die Bücher auch ganz oben auf der Liste zensierter Autoren (Casebeer 207). Vielleicht deshalb, weil er Literatur und Kino schafft, die man lieber vermeiden würde: “modern meaninglessness, physical corruptibility, and death” (Casebeer 207). Aufgrund zahlreicher Erfahrungen mit jungen Menschen, die er als Vater und früherer Lehrer machte, lassen sich besonders in seinen frühen Werken häufig kindliche und jugendliche Charaktere finden. In Carrie, The Shining, The Dead Zone und Firestarter sind die kindlichen Charaktere mit außergewöhnlichen psychokinetischen Fähigkeiten ausgestattet; ‘Salem’s Lot, “The Mist“, Cujo, Christine, Different Seasons und Pet Sematary handeln von gewöhnlicheren Kindern und Jugendlichen (Indick, ”Children” 201). Die Bücher sind für ein erwachsenes Publikum intendiert, obwohl ihre Popularität sich auch auf zahlreiche Teenager ausgeweitet hat (Indick, ”Children” 201).

Das Motiv der verfolgten Unschuld lässt sich bei zahlreichen dieser kindlichen und jugendlichen Protagonisten Kings finden. Diese Ansicht vertritt auch Tony Magistrale in dem Kapitel “Inherited Haunts: Stephen King’s Terrible Children“ seines Buches Landscape of Fear, wenn er schreibt, dass King die Kinder in den Handlungsmittelpunkt so vieler seiner Bücher stelle, weil

their physical size and worldly unsophistication make them exceptionally vulnerable. King’s children […] are perfect victims – their confrontations with evil initially appear overwhelming – and their plights elicit intensely sympathetic responses from the reader. Moreover, the child’s heightened sensivities and imagination put him in a position where fear consists of definite textures and smells untempered by the mechanisms of denial and rationality. (73-4)

Doch King treibt diese Verfolgung der unschuldigen Kinder auf die Spitze – bis zur Zerstörung der Unschuld.

Viel ist bereits über die Kinder in Stephen Kings Werken geschrieben worden. Für diese Arbeit besonders wichtige literaturkritische Werke sind, neben Magistrales oben genanntem Kapitel “Inherited Haunts“, Joe Abbotts Dissertation Family Survival: Domestic Ideology and Destructive Paternity in the Horror Fictions of Stephen King , Arthur W. Biddles Aufsatz “The Mythic Journey in ’The Body’“ und Jonathans Davis’ Stephen King’s America. Ich werde an geeigneter Stelle näher auf sie eingehen. Die Grundprämisse der meisten Arbeiten scheint jedoch zu sein, dass Stephen Kings Kinder unschuldig sind, was es ihnen ermöglicht – ähnlich wie Huckleberry Finn – moralisch gute und richtige Entscheidungen zu treffen. Obwohl die Unschuld der Kinder durch verschiedene Quellen – besonders aus der Richtung einer korrupten Erwachsenenwelt – bedroht wird, seien die Kinder in der Lage, das Böse zu besiegen, wenn sie es schaffen, sich ihre Unschuld zu bewahren (Davis 48, 50; Magistrale, Landscape 77). Dieser Annahme werde ich in meiner Arbeit widersprechen und zeigen, dass die Zerstörung der kindlichen Unschuld – auf welche Art auch immer – die Voraussetzung für das moralische Handeln der Hauptcharaktere ist, aber dieses nicht zwingend zur Folge hat, da nach dem Verlust der Unschuld die Kinder die Möglichkeit haben, freie Entscheidungen zu treffen. Wiederholt wird in der Literatur betont, dass Kings Charaktere bewusste und freie Entscheidungen treffen, wodurch sie Zerstörung oder Rettung über sich bringen.[4]

Ich werde in dieser Arbeit untersuchen, ob und wie King die Unschuld seiner Protagonisten zerstört und zu welchen Ergebnissen diese Zerstörung führt. Zunächst werde ich dabei in dem Kapitel „Initiation“ Kings Protagonisten der Erzählung “The Body“ und seines Romans It analysieren, mich mit ihrer zerstörten Unschuld auseinandersetzen und erläutern, ob und wie sich diese auf ihre Einführung in die Erwachsenenwelt auswirkt. Ich werde klären, inwiefern es den Kindern dieses Kapitels möglich ist, erwachsen zu werden. Dabei werde ich mich zunächst mit den Begriffen rite de passage und ‚Initiation’ auseinandersetzen und mich dann der Erzählung “The Body“ zuwenden, deren vier Hauptcharaktere einführen, sie danach auf ihrer Suche nach einem toten Jungen begleiten und gleichzeitig prüfen, welche der Ereignisse auf ein rite de passage hinweisen, um mich schließlich mit dem Ergebnis ihrer Reise zu beschäftigen. Ähnlich gehe ich bei meiner Untersuchung des Romans It vor. Zunächst erläutere ich die destruktiven Einflüsse der Stadt Derry auf die sieben Protagonisten, betrachte die Begegnung der Kinder mit dem Monster hinsichtlich Hinweisen auf ein rite de passage und wende mich dem Ergebnis und den Gründen für die Wiederholung ihres Kampfes mit dem Monster zu.

In Kapitel 3.2. „Manipulation“ betrachte ich die jugendliche Protagonistin in Carrie und die kindliche Charlie in Firestarter. Die Manipulation und Zerstörung ihrer Unschuld durch eine antagonistische Umwelt führt schließlich dazu, dass sich beide Mädchen gewalttätig gegen diese zur Wehr setzen. Ich werde in diesem Kapitel genau auf die Faktoren eingehen, die zur Zerstörung ihrer Unschuld und schließlich ihrer Umwelt führen, die Frage der moral choice der beiden aufwerfen und erörtern, ob sie von Geburt an schlecht waren.

Von gewalttätigen Kinderdarstellungen in 3.2. wende ich mich im darauf folgenden Kapitel „Korruption“ den bösartigen Kindern zu. Freese betrachtet das literarische Konzept des bösen Kindes, das der romantischen Überhöhung und Verklärung gegenüber steht. Er legt dar, dass Henry James in “The Turn of the Screw“ (1898) die Möglichkeit des Bösen in Kindern ergründet habe, doch seine Interpretation mehrdeutig beließ, so dass sie noch heute in der Literaturkritik umstritten ist (Initiationsreise 39). Das Thema des evil child wird dann in Richard Hughes’ Roman A High Wind in Jamaica (1929) erneut betrachtet, „wo eingeborene Bosheit und ’diabolic yeast’ das Mädchen Emily zur kaltblütigen Mörderin werden lassen“, ähnlich wie in William Goldings Lord of the Flies (1954), „wo das von dem zwölfjährigen Ralph beweinte ’end of innocence’ nicht durch die Welt, sondern durch die korrupte menschliche Natur, durch ’the darkness of man’s heart’ bewirkt wird” (Freese, Initiationsreise 39). Die Kinder aus Stephen Kings Kurzgeschichte “Children of the Corn“ werden zu Mördern der Erwachsenen, um einer Korruption durch diese zu entkommen. In der Erzählung “Apt Pupil“ trifft Todd Bowden auf den ehemaligen Nationalsozialisten Kurt Dussander; Todd wird zum Spielball zwischen vermeintlichen Autoritäten, die seine Erziehung beeinflussen sollten, jedoch nicht können, und Dussanders Lehre als tatsächlicher Autorität. Zwischen beiden muss er sich schlussendlich entscheiden. Gage Creed aus dem Roman Pet Sematary verwandelt sich in einen wahrlich bösartigen und unmenschlichen Charakter. Ich werde den Ursachen dafür auf den Grund gehen und zeigen, dass sowohl die Wandlung der “Children of the Corn“, als auch die Wandlung von Todd und Gage mit der Korruption ihrer früheren Unschuld in enger Verbindung steht.

II. Gothic Fiction – Die Tradition

Als einer der erfolgreichsten Schriftsteller in der Geschichte des Horrors hat Stephen King seine Werke auf einer sicheren Wissensbasis über die Literatur seiner Vorgänger aufgebaut (Indick, ”Literary” 15). Verweise auf Autoren und Titel lassen sich im Überfluss in seinen Romanen finden. Zu den verschiedenen Quellen, deren Einfluss in Kings Werken deutlich erkennbar ist, zählen sowohl klassische amerikanische Horrorautoren wie Hawthorne und Poe, später James und Lovecraft als auch im 20. Jahrhundert die Creature Features, B-Movies und Comic-Bücher der fünfziger Jahre; er schreibt: ”Those horror comics of the fifties still sum up for me the epitome of horror, that emotion of fear that underlies terror, an emotion which is slightly less fine, because it is not entirely of the mind” (Danse 22).

Doch ist es nicht nur das Horrorgenre, das King beeinflusste – eindeutig macht er Gebrauch von den Konventionen des Märchens. Das mag daran liegen, dass Horrorgeschichten und Märchen viele Gemeinsamkeiten haben. Wie im Märchen spielt die Horrorgeschichte mit Urängsten – dem Zerbrechen familiärer Beziehungen, Tod, Isolation, Separation (Magistrale, Second 34; Badley 24). In beiden Genres sind die Leser gezwungen, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen und Lösungsversuche zu entwickeln (Magistrale, Second 34; Badley 24). Chelsea Quinn Yarbro weist in ihrem Aufsatz “Cinderella’s Revenge: Twists on Fairy Tale and Mythic Themes in the Work of Stephen King“ darauf hin, dass Mythen und Märchen die Vorlagen für einen großen Teil der Literatur sind (5). King zeigt die bösen Wesen nicht in Schlössern und Höhlen, sondern in Highschools und Eigentumswohnungen, er verlässt sich zur Erzeugung von Spannung nicht auf das Exotische, sondern auf das Alltägliche (Yarbro 5). Genauso wie Mythen und Märchen sich mit Gebrauch und Missbrauch von Macht beschäftigen, so ist dies bei King oftmals das zentrale Thema (Yarbro 13). Er zeigt den Unterschied zwischen Stärke und Tyrannei, zwischen Überzeugung und Manipulation: ”Almost all horror fiction, no matter who writes it, relies on these earlier images to some degree to create the environment required to move its readers. That King is especially sensitive to these archetypes is evinced in the quality of his work and its wide popularity” (Yarbro 13).

Ich werde nun im Folgenden die Entwicklung des Horrorgenres von den britischen Ursprüngen bis ins 20. Jahrhundert nachvollziehen und dabei deutlich machen, inwiefern King beeinflusst wurde, auf welche Traditionen er sich stützt und welche Bedeutung er für die weitere Entwicklung des Genres hatte.

2.1. Der britische Ursprung

Bewusst erzeugter literarischer Schrecken ist älter als der moderne Roman selbst (Davis 13). Doch war es die ausgehende Romantik, die die übernatürliche Geschichte im heutigen Sinne hervorbrachte. Der Begriff gothic novel – Schauerroman – kennzeichnet ein Genre, das sich in Großbritannien herausbildete. 1764 schrieb Horace Walpole The Castle of Otranto. Daraufhin entstanden viele ähnlich inspirierte Schauerromane (Indick, “Literary“ 16).

Da sich die Bezeichnung gothic formal und inhaltlich auf sehr verschiedene Texte dreier Jahrhunderte bezieht, muss der Begriff weit definiert werden. Mit Bezug auf die klassische Epoche der gothic novel – von Walpoles The Castle of Otranto bis Charles Maturins Melmoth the Wanderer (1820) – stimmen Literaturhistoriker mit einer Grunddefinition überein, die jedoch vor allem eine Aufzählung thematischer und stilistischer Eigenschaften ist (Taubenböck 31-3). David Punter betrachtet die folgenden Konventionen als typisch für den klassischen Schauerroman:

an emphasis on portraying the terrifying, a common insistence on archaic settings, a prominent use of the supernatural, the presence of highly stereotyped characters and the attempt to deploy and perfect techniques of literary suspense [...]. Used in this sense, ‘Gothic’ fiction is the fiction of the haunted castle, of heroines preyed on by unspeakable terrors, of the blackly lowering villain, of ghosts, vampires, monsters and werewolves. (Punter 1)

Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang, dass viele Kritiker die evocation of terror als gemeinsames Charakteristikum des Schauerromans betrachten (Letellier 131; Just 24). In weit entfernten Ländern, die häufig Handlungsschauplätze der britischen Schauerromane sind (Plesch 143), existiert meist ein isolierter Haupthandlungsort, wo Bedrohungen und Geheimnisse auf die Heldin warten, die sie entdecken muss (Taubenböck 97). Die Natur im Schauerroman dient typischerweise als Spiegel der Gefühle der Heldin, als Folie für die Atmosphäre der Geschichte und für den Gegensatz zwischen Gut und Böse (Taubenböck 97).

King kennt die Konventionen des Schauerromans und macht sie sich zu Nutze, wenn sie ihm passend erscheinen, um einen bestimmten Effekt zu erzeugen. So vergleicht er die Stadt Derry in seinem Roman It indirekt mit einem gruseligen Haus aus einem Schauerroman:

A town’s history is like a rambling old mansion filled with rooms and cubbyholes and laundry-chutes and garrets and all sorts of eccentric little hiding places … not to mention an occasional secret passage or two. If you go exploring Mansion Derry, you’ll find all sorts of things. Yes. You may be sorry later, but you’ll find them, and once a thing is found it can’t be unfound, can it? Some of the rooms are locked, but there are keys […]. (130)

King appliziert die Konventionen auf eine zeitgenössische amerikanische Umgebung, was deutlich wird, wenn Zack Denbrough das unterirdische System der Kanalisation Derrys als neuzeitliches gothisches Labyrinth beschreibt:

A dozen different town governments have built on them since 1885 or so. During the Depression the WPA put in a whole secondary drain system and a tertiary sewer system; there was lots of money for public works back then. But the fellow who bossed those projects got killed in World War II, and about five years later the Water Department found out that the system blueprints were mostly gone. That’s about nine pounds of blues that just disappeared sometime between 1937 and 1950. My point is that nobody knows where all the damned sewers and drains go, or why. (King, It 539)

Protagonisten klassischer gothic novels waren – wie bereits erwähnt – oftmals junge Heldinnen, die bedroht wurden. In diesem Zusammenhang erlangte das Thema der bedrohten Unschuld oder Schönheit, das auch von King in seinen Werken aufgegriffen wird, große Bedeutung (Plesch 154; Just 24). King jedoch führt das Motiv innocence in distress bis zur Zerstörung der Unschuld fort, die vor der eigentlichen Konfrontation mit dem Bösen oder währenddessen stattfindet. Dabei ist zu bemerken, dass King selten jugendliche Heldinnen wählt, sondern sich viel eher mit kindlichen, insbesondere männlichen, Charakteren beschäftigt.

Den Höhepunkt seiner Popularität erreichte das Genre des Schauerromans um 1800 mit der Veröffentlichung von Ann Radcliffes und Matthew Lewis’ Romanen. Sowohl Radcliffe als auch Lewis’ waren die Repräsentanten einer spezifischen Ausformung des Schauerromans: Während Radcliffe das Übernatürliche als Produkt natürlicher Ursachen erklärte, bestand Lewis auf der Realität des Übernatürlichen: “Radcliffe’s is a Gothic of sublime terror; Lewis’s, of horror, of physicality observed with ’libidinous minuteness’“ (Miles 41). Das Ende des Genres wird um 1820 angesetzt (Dorner-Bachmann 10), und obwohl der ursprüngliche Schauerroman langsam verschwand, florierten übernatürliche Elemente, besonders die Geistergeschichte (Indick, ”Literary” 16).

Im 19. Jahrhundert entstanden drei britische Werke, die entscheidenden Einfluss auf die Horrorgeschichten und -filme der Gegenwart hatten: Frankenstein, or the New Prometheus von Mary Wollenstonecraft Shelley (1818), The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde von Robert Louis Stevenson (1896) und Bram Stokers Roman Dracula (1897) (Davis 13; King, Danse 50).

2.2. Amerikanische Genreadaption

Obwohl es Romane gab, die bereits vor 1800 veröffentlicht wurden, gilt Charles Brockden Brown als erster professioneller amerikanischer Schriftsteller (Docherty 1). Sein erster Roman, Wieland, or, The Transformation: An American Tale von 1798 ist eine Schauergeschichte (Docherty 1), deren Publikation den Anfang der American gothic fiction markiert (Ringe 13). Der Einfluss Radcliffes und ihrer Nachfolger ist darin besonders deutlich zu erkennen, da Brown viele Mittel der britischen Schauerromantik auf einen amerikanischen Handlungsort überträgt (Oakes 33). So nutzt er beispielsweise die Wildnis anstatt eines heimgesuchten Schlosses (Oakes 33). Die externen Elemente des Schauerromans nehmen bei Brown symbolische Bedeutungen an, die, eng mit den mentalen Zuständen der Charaktere verbunden, durch das gesamte Buch hindurch erhalten bleiben (Ringe 54-5). Brown untersucht den Ursprung der menschlichen Motivation, berührt die unbewussten Quellen des Terrors und impliziert, dass die Gründe für Verrücktheit in den eigenen Kindheitserfahrungen oder ererbten Eigenschaften liegen (Ringe 45).

Den nächsten großen Schritt im literarischen American gothic macht Washington Irving, der zusammen mit William Irving und James Kirke Paulding eine zweite Richtung des American gothic entwickelt (Ringe 81). In Washington Irvings Werken gibt es nur wenige Hinweise auf den Einfluss britischer Schauerromane oder der Romane Browns (Ringe 81). Irving wendet seine Aufmerksamkeit der Funktionsweise der Vorstellungskraft beim Hervorrufen fälschlicher Wahrnehmungen zu und erhält gleichzeitig seine Vorliebe für Humor (Ringe 85). Zwar nutzt er teilweise erschütternde Effekte der Schauer­romantik, aber diese reflektieren Irvings Glauben, dass Geister, Kobolde und Erscheinungen nichts weiter als mentale Täuschungen seien (Ringe 87). Er erschafft eine gothic- Welt, die die menschlichen Fehler und Schwächen kommentiert und doch immer Raum für den gutmütigen Humor lässt, der sein unverkennbares Markenzeichen ist (Ringe 101).

Edgar Allan Poe wird von der englischen und deutschen Schauerromantik beeinflusst, aber er bringt auch seine eigenen speziellen Interessen in die Schauerliteratur ein, beschäftigt sich mit zeitgenössischen Themen und Obsessionen (Docherty 3). In vielen seiner Geschichten gibt es keine externe Kraft oder abstrakte Gegenwart des Bösen, mit dem die Charaktere konfrontiert werden. Ihre Strafe entwickelt sich meist direkt aus ihren Handlungen, für die sie die volle Verantwortung übernehmen müssen (Indick, ”Literary” 17). Bei Poe lauern die Bedeutungen oft unter der Handlungs­oberfläche; die Geschichten laden den Leser ein, hinter die fantastischen Schauplätze und bizarren Ereignisse auf ihre tiefgründigere Bedeutung zu blicken (Ringe 141). Andere Schriftsteller, wie Charles Brockden Brown und Richard Henry Dana machten ihre schaurigen Effekte zu Hinweisen auf die mentalen Zuständen ihrer Charaktere. Poe entwickelt die Beziehung zwischen den Details des Handlungsschauplatzes und den verstörten Geisteszuständen seiner Charaktere weiter; und mehr als Godwin und Maturin nutzt er die Darstellungsweise, um ein sich ständig entwickelndes Thema zum Ausdruck zu bringen. Poe präsentiert die phänomenale Welt so, wie sie von den Protagonisten wahrgenommen wird und fühlt nicht die Notwendigkeit, seine übernatürlichen Ereignisse hinwegzuerklären oder auf ihrer Realität zu bestehen (Ringe 151). Indem er diese Haltung einnimmt, befreit Poe die Schauergeschichte von ihren einschränkenden Grenzen. Alles in seinen Geschichten muss sowohl für die Wirkung als auch für die Bedeutung arbeiten (Ringe 151).

Thomas Harris, Arthur C. Clarke und Stephen King schufen einige ihrer Arbeiten in entschiedener Anlehnung an Poe (Dameron 4). Der Schritt von Poe zu King ist sehr klein, wie Magistrale erläutert, da sich ihre Protagonisten oft in ähnlich klaustrophobischen Situationen befinden (Landscape 17); von Poe lernte King, ”how to visualize the confinement of an interior atmosphere” (Magistrale, Second 38). King nutzt, ebenso wie Poe, physische Schauplätze als Spiegel für den Geisteszustand des Charakters (Magistrale, Landscape 17). Wie Poes Gebäude ist Kings Architektur erfüllt von einem Eigenleben, das die Charaktere und die Geschichte ihrer ehemaligen Bewohner reflektiert (Magistrale, Landscape 17).

Wenn man sich von Poe Hawthorne zuwendet, nimmt man gleichzeitig wahr, wie wichtig die Stilrichtung in der amerikanischen Literatur geworden ist: Bei beiden lässt sich der starke Einfluss des Schauerromans erkennen, ebenso wie ihre geschickte Anpassung seiner Techniken an verschiedene intellektuelle und künstlerische Absichten (Ringe 152). Die Welt in Hawthornes Werken dient einem wichtigen thematischen Zweck: Sie stellt ein angemessenes Vehikel für die düsteren Wahrheiten dar, von denen Hawthorne glaubte, dass die Amerikaner seiner Generation sie kennen müssten (Ringe 176). Hawthornes Wälder sind ein Ort des spirituellen Geheimnisses. Statt Spiegel der Reinheit des Selbsts und der grenzenlosen Möglichkeiten, die die Transzendentalisten mit der Natur Neuenglands assoziierten, sind die Wälder von Hawthorne und King Reflexionen der Dunkelheit des Selbsts und der menschlichen Veranlagung zur Sünde (Magistrale, Moral 59). Wie Hawthornes Reisende fühlen Kings Charaktere selten eine pastorale Harmonie in der Landschaft von Maine; Kings Maine ist ein Ort der Einsamkeit, an dem die Natur der menschlichen Gegenwart antagonistisch gegenübersteht und der von zwischen­menschlicher Entfremdung gekennzeichnet ist (Magistrale, Second 39-40). Hawthornes Beschreibungen moralischer Konflikte in Neuengland werden durch Kings Behandlung des zeitgenössischen Maine parallelisiert (Magistrale, Second 40): Während alle Menschen zu bösartigen Handlungen fähig sind, hat jeder auch das Potenzial, Gutes zu tun (Magistrale, Landscape 108) und sein Schicksal selbst zu wählen (Magistrale, Moral 64).

Die Publikation von The Marble Faun durch Hawthorne 1860 beendet die Hauptphase des American gothic. Der Bürgerkrieg leitet ein Zeitalter der schnellen Industrialisierung und Verstädterung ein. Die Stadt wird zum Ort künstlerischen Interesses, und Realismus beginnt die kritische amerikanische Literaturtheorie zu dominieren, was zu einem geringeren Interesse am Genre des American gothic führt (Ringe 177). Ebenso trägt der Aufschwung des Spiritualismus zum sinkenden Interesse an der Schauerliteratur bei, da die Beschäftigung mit dem Übernatürlichen nur noch der spielerischen gesellschaftlichen Unterhaltung dient (Ringe 181). Doch hilft der Beginn der übernatürlichen Forschung als respektabler Disziplin, eine teilweise Erneuerung herbeizuführen. Die wissenschaftliche Erforschung des Okkulten führt zu einem Interesse bei Schriftstellern (Ringe 182-3). Doch der Umgang der Schriftsteller des späten 19. Jahrhunderts mit dem psychologischen gothic weicht von dem ihrer Vorgänger ab: Zum einen präsentieren Autoren ihre Erscheinungen in einem realistisch beschriebenen Umfeld, und zum anderen benutzen sie einen Stil, der wenig von der romantischen Implikationsfähigkeit ihrer Vorgänger beinhaltet (Ringe 183). Der Stil der gothic -Literatur von William Dean Howells, Ambrose Bierce und Henry James differiert kaum von dem, den sie in ihren realistischsten Werken verwenden (Ringe 183). Obwohl sie das Zubehör der Schauerliteratur nutzen, besitzen diese Elemente selten die Vorherrschaft, die sie vorher hatten. Viel eher dienen sie als suggestive Hinweise dafür, dass das Okkulte zumindest möglich ist. Das Hauptinteresse liegt jedoch meist bei dem Charakter und seinem Geisteszustand (Ringe 183). Dieses kurze Wiedererscheinen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war nur von geringer Wichtigkeit in der Geschichte des American gothic. Insgesamt verlor die Richtung an Bedeutung (Ringe 189).

King steht in der Tradition des gothic -Genres: Seine Werke sind mit Inventar des Schauerromans ausgestattet. Doch eines der deutlichsten Elemente, die King mit der Tradition des Schauerromans verbindet, ist sein Angriff der Basis und Werte, auf denen die Gesellschaft aufgebaut ist (Magistrale, Landscape 106). Er schreibt Fiktion aus der Perspektive einer gefallenen menschlichen Welt; wie in Poe, Melville, Hawthorne und Twain ist kein Individuum gegen die Versuchung des Bösen immun (Magistrale, Landscape 20-1).

2.3. Multimediale Einflüsse im 20. Jahrhundert

Im Interview befragt, welche Schriftsteller ihn beeinflussten, nennt King zunächst Ray Bradbury, Robert Bloch, William Sloane und Arthur Machen. Er las H. P. Lovecraft, als er jung war (King, ”Jugular” 1981, 17; King, ” Carrie” 1978, 63). Lovecraft band im 20. Jahrhundert Raum und Zeit in das Horrorgenre ein, um dem Horror neue Dimensionen zu verleihen (Indick, ”Literary” 19). King kombiniert Quellen der Destabilisierung mit einer Sichtweise des Universums, begründet in Lovecrafts “cosmicism“ (Oakes 178).

In den dreißiger Jahren wurden Horrorklassiker in Filme übersetzt (Fiedler 47); es entstanden die Universal-Studios-Monster der Depression: Frankensteins Monster, der Wolfsmann, die Mumie und Dracula (King, Danse 28). Doch als die Filme erschienen, wurden sie von besorgten Eltern mit Feindseligkeit betrachtet. Diese versuchten, ihre Kinder von den Kinos fernzuhalten (Fiedler 48). Ab 1939 nahm das Interesse am Horror ab (King, Danse 30). Als wichtigste Werke zwischen 1939 und 1960 betrachtet King u. a. Lovecrafts “The Outsider” und “Beyond the Wall of Sleep”, Henry S. Whiteheads “Jumbee”, Robert Blochs The Opener of the Way und Pleasant Dreams sowie Ray Bradburys Dark Carnival (Danse 29). Nach dem Zweiten Weltkrieg verschlimmerte sich die Ablehnung des Genres, da die Eltern überzeugt waren, dass imaginative Gewalt echte Gewalt hervorrufe, anstatt sie widerzuspiegeln (Fiedler 48). Zuerst gingen sie gegen Comic-Bücher vor, gefolgt von Grimms Märchen, auch gegen Walt Disneys Zeichen­trickversionen der Grimmschen Märchen und sogar gegen Donald Duck wandten sie sich (Fiedler 48). Es war eine Zeit der Repression, doch die Kinder der fünfziger Jahre beschäftigten sich trotzdem mit Horrorliteratur, während sie Rockmusik hörten, die ihre Eltern missbilligten (Fiedler 48). Sie wurden zu einem neuen Publikum für die bisher gettoisierten Formen des Pop (Fiedler 48). Gefragt, wie er zu seiner Faszination mit dem Horrorgenre kam, nennt King als ersten Auslöser die E. C. Comics der frühen fünfziger Jahren und die Horrorfilme eben dieser Zeit, darunter die Creatures Features der American-International Pictures, die für ihn interessant blieben, weil sie oftmals Teenager involvierten und den Horror in alltägliche Schauplätze führten (King, ” Carrie” 1978, 63).

Am erfolgreichsten waren sämtliche Werke, die das Schreckliche und das Unanständige verbanden, so wie Ira Levins Rosemary’s Baby (1967) und William Peter Blattys The Exorcist (1971), die erst in Buchform und dann als Film erschienen. In den frühen siebziger Jahren belebten diese Produktionen das öffentliche Interesse am Horrorgenre, indem sie sich auf dessen urbane Möglichkeiten konzentrierten. Sich willentlich von den Science-Fiction-Anlehnungen, die das Genre in den fünfziger und sechziger Jahren charakterisierten, wegbewegend, bringen sie den Schrecken zurück auf die Erde (Magistrale, Landscape 15).

2.4. Kings Einfluss auf das Genre

King verwandelt das Horrorgenre – lange ein Außenseiter im Verlagswesen – in eine Kraft, mit der man rechnen muss (Barker 55). Während es nicht allein durch ihn zu einem überaus profitablen Genre wurde, lässt es sich doch – laut Fiedler – nicht leugnen, dass kein anderer Schriftsteller dieser Stilrichtung jemals zuvor eine so lange Reihe von Erfolgen in Hardcover, Paperback und auf der Leinwand produzierte (50). Stephen King hat die Form revolutioniert, und es für andere Horrorschriftsteller möglich gemacht, ihre Werke ebenfalls zu veröffentlichen (Crawford 44; King, “Interview” 1987, 269). Seit dem späten 19. Jahrhundert vernachlässigt, wurde die übernatürliche Fiktion von Kings Porträts des zeitgenössischen Lebens wieder belebt, modernisiert und amerikanisiert. Seine Vampire und Geister greifen eine Welt von Schulessen, Liebesaffären und Berufen an – King arbeitet mit dem amerikanischen Alltag (Reesman, ”Naturalism” 106). Doch er bringt das Übernatürliche in den Alltag hinein, ohne von der Unheimlichkeit abzulenken. Seine Vampire sind Vampire und lassen sich nicht hinwegerklären (Reesman, ”Naturalism” 107). Kings Erfolg signalisiert die Wiederauferstehung des Horrorromans, da die Kurzgeschichte seit Jahrzehnten das Hauptdarstellungsmittel für Horror war (Crawford 44). Er ist der Erbe der “American Gothic tradition in that he has placed his horrors in contemporary settings and has depicted the struggle of an American culture to face the horrors within it” (Crawford 44-5). Er hat eine wichtige Position in der Tradition des American gothic eingenommen und ähnlich wie Lovecraft oder Leiber die Alpträume der idealistischen amerikanischen Zivilisation aufgezeigt (Crawford 45). Kings Werke mit ihrer Vulgarität und ihrem schwarzen Humor sprechen die Sprache der siebziger und achtziger Jahre (Crawford 42). Während Lloyd Rose in dem Artikel ”The Triumph of the Nerds” argumentiert, dass King ”supernatural soap operas” schriebe (103), erklärt Oakes in seiner Dissertation Twentieth-Century American Gothic Literature as Cultural Artifact: ”The works of Stephen King demonstrate the continuing vitality of Gothic Fiction at the end of the twentieth century. […] He exposes the dark sides of American culture to his readers, warning of terrible consequences if changes do not come to pass” (253).

III. Zerstörte Unschuld in Stephen King

In diesem Teil meiner Arbeit werde ich anhand der Betrachtung von sieben Werken Stephen Kings auf das Thema der zerstörten Unschuld bei Kindern und Jugendlichen eingehen. Dabei befasse ich mich zunächst mit den Werken “The Body“ und It, in denen die zerstörte Unschuld Auswirkungen auf das rite de passage der kindlichen Protagonisten hat. Dann wende ich mich mit Carrie und Firestarter zwei Romanen zu, in denen die Zerstörung der Unschuld als Folge von Manipulation dargestellt wird und die Zerstörung der Umwelt durch die Protagonistinnen der Romane zur Folge hat. Schließlich beschäftige ich mich mit der Kurzgeschichte “Children of the Corn“, der Erzählung “Apt Pupil“ und dem Roman Pet Sematary, in denen Korruption die Zerstörung der Unschuld bedingt, wodurch die Kinder und Jugendlichen dieser Romane zu brutalen Mördern werden.

3.1. Initiation – Born to Grow Up ?

In diesem Kapitel werde ich mich mit dem Phänomen der rites de passage in Kings Werken “The Body“ und It auseinandersetzen. Dabei gehe ich besonders auf den Themen­komplex der Initiation ein, ein Aspekt, der intensive Aufmerksamkeit in der Literaturkritik erhalten hat. Der Begriff der Unschuld und deren Verlust bzw. Zerstörung ist dabei von zentraler Bedeutung.

3.1.1. Rites de Passage und Initiation

Rainer Zwick definiert in seiner Dissertation Rites de Passage in den Romanen Why Are We in Vietnam? und An American Dream von Norman Mailer von 1979 Übergangsriten folgendermaßen:

[R]ites de passage zeigen einen Aufbau in drei aufeinander folgende Phasen, die als Trennung (separation), Übergang (transition), und Wiedereingliederung (incorporation) verstanden werden. Ursprünglich aus territorialen Übergängen entstanden, werden rites de passage auf soziale Vorgänge übertragen. Rites de passage sind Riten, und sie sind als Riten durch drei Merkmale gekennzeichnet: erstens nehmen die Handlungen, die den Ritus darstellen, einen traditionell festgelegten Verlauf; zweitens treten diese Handlungen regelhaft wiederkehrend, periodisch oder zyklisch, auf; und drittens sollen diese Handlungen mit Hilfe übernatürlicher Kräfte etwas bewirken. Die Wirkung, die ein rite de passage erzielen soll, ist die Beruhigung einer Krise, die durch die Statusänderung einer oder mehrerer Personen für die Personen selbst wie für die Gruppe bzw. die Sozietät insgesamt entstanden ist. Das Geschehen der rites de passage wird in Mythen gespiegelt, die das Schema von Auszug, Übergang und Wiedereingliederung variieren und das in einigen Fällen mit der Vorstellung eines Zweimalgeborenwerdens oder eines new life verbunden wird, in einigen Fällen auch als Tod und Wiedergeburt verstanden wird. (79)

Der Terminus rite de passage wurde in der Anthropologie und Ethnologie geprägt, ebenso wie der Terminus ‚Initiation’ (Zwick 8; Wittke 1). 1908 benutzte Arnold van Gennep erstmals den Begriff rite de passage und prägte das Verständnis der Dreiteilung der Übergangsriten bestehend aus Trennung, Übergang und Wiedereingliederung. (Zwick 11).[5]

Den Begriff ‚Initiation’ benutzte erstmals der französische Missionar Joseph François Lafitau 1724 in einer Publikation über die Pubertätsriten der kanadischen Indianer (Freese, “American“ 364). Von da an wurde der Terminus nicht nur für eine individuelle religiöse Wandlung, sondern auch für ein kollektives “coming-of-age ritual“ der Jugendlichen zur Zeit der sozialen Pubertät verwendet (Freese, “American“ 364). Cleanth Brooks und Robert Penn Warren übertrugen den Begriff ‚Initiation’ in ihrem Buch Understanding Fiction von 1943 erstmals auf die Literaturwissenschaft (Wittke 1). 1949 schrieb Joseph Campbell das Buch The Hero With a Thousand Faces, in dem er sich mit der Vielzahl der Mythen beschäftigt, die mit der Initiation einhergehen. Aus dieser Vielzahl schafft er einen Monomythos, der für ihn die Standardformel der Initiation als Trennung, Einführung und Rückkehr verkörpert (Zwick 48). Mordecai Marcus griff den Terminus ‚Initiation’ später auf, um die Bedeutung der Initiation in der Literatur der sechziger Jahre zu erklären (Wittke 1).

Robert Bickham vertritt 1961 in seiner Dissertation The Origins and Importance of the Initiation Story in Twentieth Century British and American Fiction die Ansicht, dass sich in der Nebenhandlung der Odyssee von Homer ein Initiationsmuster erkennen lasse (98). Freese betrachtet die Initiationsgeschichte dagegen als ein typisch amerikanisches Genre, das die amerikanische Wertschätzung der Jugend oder sogar das Sehnen nach ihr zum Ausdruck bringe (“American“ 367). Er ist der Auffassung, dass mit der Veröffentlichung von Nathaniel Hawthornes Geschichte “My Kinsman, Major Molineux” (1832) ein Geschichtstyp geprägt wurde, der sich zu einem der amerikanischsten Genres der Literatur der Vereinigten Staaten entwickelte (“American“ 363).

Gabriele Wittke kritisiert 1991 in ihrer Dissertation Female Initiation in the American Novel, dass Ihab Hassan und Peter Freese in ihren Veröffentlichungen zur Initiation davon ausgingen, im Kanon der amerikanischen Initiationsliteratur käme vor allem männlichen Helden eine besondere Bedeutung zu. Sie betont, dass die Ansätze durch die Auslassung der weiblichen Initianden verzerrt seien (2). Die zahlreichen Kategorien der Initiationserfahrung, die Freese nennt, dienen Wittke als Beweis ihrer Kritik, da sich diese Kategorien vor allem auf konventionelle männliche Rollen von Kämpfern, Jägern oder Soldaten bezögen, die es Freese ermöglichten, Arbeiten männlicher Autoren zu untersuchen (3).

So berechtigt Wittkes Kritik bezüglich der Vernachlässigung einer weiblichen Perspektive auch sein mag, widme ich mich in meiner Arbeit jedoch ebenfalls einem männlichen Autor, der sich vor allem mit den Übergangserfahrungen von Jungen beschäftigt – unter elf Protagonisten in “The Body“ und It ist nur ein Mädchen zu finden. Aus diesem Grund ist die Verwendung der Kategorisierungen, die Freese sowohl in Die Initiationsreise als auch in seinen Aufsatz ”The American Dream ‘from the Detroit House of Correction’: Joyce Carol Oates’s Experiment with the Story of Initiation” vornimmt, für diese Arbeit durchaus angebracht.

Die Initiation wird dabei in diesem Kapitel als nur eine Art der rites de passage betrachtet. Entsprechend der lateinischen Wortbedeutung ‚Einweihung’ ist sie meist ein Prozess der Einführung in eine Gesellschaft durch den symbolischen Übergang von Kindheit ins Erwachsenenleben (“Initiation“ Def. 2, 10: 508). Freese führt aus, dass eine Initiation ursprünglich eine existenzielle Wiedergeburt bedeutete (“American“ 364). In seiner Dissertation behandelt er rituelle Initiationsvorgänge in der Literatur und nimmt eine grundlegende Definition der literarischen Initiationsgeschichte vor:

Die Initiation ist ein in den drei Phasen von Ausgang, Übergang und Eingang ablaufender menschlicher Wandlungs- und Entwicklungsvorgang, der im innermenschlichen Bereich als Individuationsprozeß, im zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen Bereich als Sozialisationsprozeß und im religiösen Bereich als Offenbarungsprozeß abläuft und dessen Ergebnis eine so umfassende und grundlegende existentielle Änderung ist, daß er als ein Tod des alten und eine Wiedergeburt eines neuen Menschen symbolisiert wird. Zum traditionellen Symbolinventar der Initiation, die immer über das einmalige konkrete Geschehen hinausweisende, rituelle Züge enthält, gehören die Vorstellungen von der Rückkehr in den Mutterleib zum Zwecke einer Neugeburt, vom Abstieg in die Unterwelt zum Zwecke einer Überwindung der Todesverfallenheit und von der Nachtmeerfahrt zum Zwecke der Läuterung und Erneuerung sowie – als Bild für die Schwierigkeiten der Übergangsphase – die Vorstellung vom paradoxen Durchgang. Dem Initianden, dessen Wiedergeburt äußerlich vielfach durch einen Kleiderwechsel, durch die Annahme eines neuen Namens oder durch eine Taufe verdeutlicht wird, steht nahezu immer ein Mentor oder Tutor helfend und beratend zur Seite. (155-6)

Bickham bemerkt, dass die Initiationsriten im westlichen Kulturkreis im 20. Jahrhundert weitgehend ihre Bedeutung verloren haben: ”To the majority of Westerners the word initiation suggests little more than the curious, sometimes ludicrous, rites of admission of exclusive clubs or associations. With the exception of a few religious orders, membership in such a group determines only a very small portion of the life of the member” (11).

Dennoch stellt die story oder novel of initiation einen breiten Korpus an Geschichten und Romanen, was Angela Schmidt 1996 in ihrer Dissertation The Invention of Initiation: Ein amerikanisches Genre unter dem Aspekt der Geschlechterdifferenz vor allem damit begründet, dass die „ story of initiation […] die literaturkritische Formulierung des innocence-Paradigmas“ sei, „das für viele Intellektuelle der Nachkriegszeit geschichtliche Erfahrung sprachlich umsetzte und ermöglichte. […] Die Initiation ist im Verständnis der meisten Kritiker ein Zwitterwesen: Sie ist Abbildung tiefer gemeinsamer Glaubenssätze und literarische Struktur” (39). Der Übergang von der innocence to experience war, laut Wittke, schon immer ein Hauptthema fiktionaler amerikanischer Texte, was sich in einer großen Zahl adoleszenter Charaktere widerspiegele, deren Einführung in die Welt der Erwachsenen zumeist als Initiation bezeichnet werde (1).

Wichtig ist demnach, dass die Initiation ein Ereignis ist, das die Bewegung von innocence in Richtung experience beschreibt. Freese betont: „Alle diese Entwicklungen vom Kind zum Erwachsenen, von der innocence zur experience sind immer wieder Bewegungen zu einem ‚neuen Leben’ […]. Aber diese Entwicklungen zu einer reiferen Existenzphase sind nicht nur Gewinn eines neuen Lebens, sondern zugleich auch immer Verlust früherer Sicherheiten“ (Initiationsreise 88).

Ich werde in meiner Arbeit zeigen, dass Merkmale der Initiation in Kings beiden Werken „The Body“ und It durchaus auftreten, werde mich aber auch mit den folgenden Fragestellungen beschäftigen, die sich auf die Funktionalität der Initiation beziehen und deren Antworten in der zerstörten Unschuld der Protagonisten begründet liegen:

- „Zu welchem Ergebnis führt der Initiationsvorgang, leitet er den Initiierten in die Gesellschaft hinein oder aus ihr heraus?“ (Freese, Initiationsreise 103).
- „Welchen Erfolg bringt die Initiation, ermöglicht sie ein neues, erfülltes Leben, führt sie zu Fehlschlag und Scheitern oder bleibt ihr Ausgang offen und unentschieden?“ (Freese, Initiationsreise 103).
- Handelt es sich überhaupt um eine Initiation oder vielleicht um ein anderes rite de passage ?

3.1.2. “The Body: Fall from Innocence” (1982)

Die vier Erzählungen aus Different Seasons wurden zwischen 1974 und 1980 geschrieben, doch erstmals in dieser Sammlung 1982 zur Veröffentlichung angeboten. ”Their different tones and textures reflect the ‘different seasons’ of the title, yet beneath each lurks a decidedly macabre quality”, so schreibt Douglas Winter in The Art of Darkness (105). Sowohl die Erzählung ”The Body”, als auch ”Apt Pupil”, die in Kapitel 3.3. behandelt wird, entstammen der Sammlung.

Verschiedene Kritiker rühmen Kings “The Body” wegen seiner Beschreibung der Kindheit und frühen Jugend, so auch Don Herron in seinem Aufsatz ”Stephen King: The Good, the Bad, and the Academic”: ”The depiction of what it is like to be a boy in the country in ‘The Body’ is wonderful – not earthshaking material, not writing that is likely to make you forget any of the highpoints in world literature, but wonderful nonetheless, recalling many memories” (162).[6] Winter erkennt autobiografische Elemente in der Erzählung ”The Body”, die von dem Schriftsteller Gordon Lachance, ”who is a doppelgänger for Stephen King”, erzählt wird (107).[7]

Zwar impliziert der Titel ”The Body”, dass es in der Geschichte vor allem um eine Leiche geht (Heldreth, “Viewing“ 65), das ist aber nur zum Teil richtig. Keith Silvas Meinung nach versuche die Erzählung, Sterblichkeit zu erklären (139). Er liest ”The Body” in seinem Aufsatz ”A Requiem for Ray Brower: Encountering Death in Stephen King’s ‘The Body’” als eine Geschichte über den Tod, der nur in Begleitung mit Leben existieren kann (143). Gordon versuche, mit dem Tod von Brower, Vern und Teddy sowie schließlich auch mit dem Tod von Chris umzugehen, was den Beginn seines Verständnisses nicht nur seiner eigenen Sterblichkeit, sondern auch seiner Einsicht, dass die zeitweilige Freiheit vom Tod Leben sei, verdeutliche (Silva 143). Tatsächlich handelt die Geschichte auch von dem, was Gordon und Chris während ihres Abenteuers über sich selbst und übereinander lernen (Collings, Engebretson 92). In Landscape of Fear betont Magistrale, dass ”the four children in King’s novella The Body [sic] are as much in flight from their homes and community as they are curious about seeing Ray Brower’s corpse” (92).

Im Folgenden werde ich zeigen, dass ”The Body” eine Initiationsgeschichte ist, was schon der Untertitel der Geschichte: ”The Fall from Innocence” suggeriert – womit sich King zum einen auf die Jahreszeit Herbst, entsprechend des Sammelbandtitels Different Seasons bezieht, zum anderen aber auf eine nicht schmerzfreie Initiation unter Anspielung auf den biblischen Sündenfall. Freese schreibt über den fall, er sei ein zentrales Motiv “as the basic Christian image of the ambiguous move from innocence to experience” (“American“ 367), wobei ein wesentliches Merkmal von Initiationsgeschichten bereits im Untertitel der Geschichte von King angesprochen wird.

Zunächst werde ich die vier Protagonisten vorstellen und überprüfen, inwiefern sie vor Antritt ihres Abenteuers unschuldig waren. Danach betrachte ich den Verlauf dieser Reise hinsichtlich ihrer initiatorischen Merkmale. In Kapitel 3.1.2.3. schließlich analysiere ich den Ausgang des Rituals mit seinen Ergebnissen und beantworte die Frage, ob es sich bei dem rite de passage in der Erzählung überhaupt um eine Initiation handelt.

3.1.2.1. Vor der Reise

Tim Underwoods Aufsatz ”The Skull Beneath the Skin” zufolge ist die Erzählung “The Body“ ein ”offbeat look at Growing Up in Rural America [sic]”; eine Erfahrung, die das Leben unschuldiger Kinder zerstöre (270). Er weist darauf hin, dass die physische Umgebung für die vier zwölfjährigen Protagonisten der Erzählung schlecht sei: ”The surrounding scenery, as the boys practise growing up, is affectionately littered with images of repair and rural life among decay […]” (273). Castle Rock ist unfruchtbar, was aus der langen Dürreperiode und der starken Hitze des Sommers 1960, während dem sich die Handlung zuträgt, resultiert. Aber auf einer tieferen Ebene ist dies die ”aridity of a community that cannot love” (Biddle 86).

Die Reise, die die Kinder unternehmen, führt sie durch ”the befouled depth of twentieth-century America, past garbage dumps and polluted rivers […] a wasteland reflecting the moral values of the society which produced it. […] Traveling through this valley of corruption, the boys are, in a basic sense, traveling through an inferno of the Damned [sic]” (Magistrale, Landscape 93). Underwood macht deutlich, dass die psychologische Umgebung für die Jungen viel schädlicher sei als die geografische – als wäre letztere nur ein Spiegel für die emotionale Umgebung –, dass schreckliche Ereignisse ”have already misshapen these youngsters – accidents, deaths of loved ones, betrayal at the hands of adults” (273). Er bemerkt, dass ”The Body” im Gegensatz zu Kings früheren Werken nur eine einzige Dimension des Bösen enthalte, nämlich ”man’s inhumanity to man” (270). Im Falle der Jungen in ”The Body” sind die Erwachsenen, die Autoritäten im Leben der Kinder, nicht verlässlich, sondern verkörpern Gleichgültigkeit bzw. Aggressivität und Gefahr. Leonard Heldreth betont in seinem Aufsatz ”Viewing ‘The Body’: King’s Portrait of the Artist as Survivor”, dass jeder der Jungen in eine soziale Identität gedrängt werde, die er hasse und dass für jeden der Jungen das Zuhause ein Ort der Einschränkung sei (65). Sämtliche Autoritäten in ihren Leben werden angezweifelt, in Frage gestellt und sind nicht akzeptabel. Sie sind für die Jungen weder Vorbilder, noch bedeuten sie Schutz. Gordon, der Erzähler der Geschichte, spricht sogar von “adult monsters“ (King, “Body“ 380). Die Geschichte wird von dem erwachsenen und berühmten Horrorschriftsteller Gordon Lachance retrospektiv und subjektiv geschildert, der in seiner Erinnerung an Zeit und Ort seiner Jugend zurückkehrt, ”in search of himself”, wie Thomas Frazier in seiner Dissertation Everbody Has One: Stephen King and the Jungian Shadow schreibt (31). Nur dadurch, dass Gordon die Ereignisse der zwei Septembertage später aufschreibe, verstehe er die Bedeutung der Ereignisse und das, was er und seine Freunde – laut Frazier – wirklich erreicht hätten: ”they confronted and defeated the collective fears and found a place in which to belong” (34).

Underwood betont, dass die Erzählung ein schmerzhaftes Erlebnis sei, gerade weil sie impliziere, dass es eine bessere Welt gäbe, die irgendwie für diese Kinder möglich gewesen wäre (271). Auch Magistrale charakterisiert die Gesellschaft, der Gordon und seine Freunde auf ihrer Reise entlang der Bahnschienen begegnen, ”in terms of violent constriction; the adult world and its institutions seek to entrap and exploit [the] boys – and when this fails, to kill them” (Landscape 91). Underwood betont, dass die ”offstage adults function as models of weakness, foolishness and failure”, und er legt dar, dass King eine dunkle Sicht auf die amerikanische Gesellschaft präsentiere, wie Charles Dickens ”on a very rainy day”, dass er aber im Gegensatz zu Dickens keine soziale Reform einleiten wolle (272). Die Jungen erkennen das Abenteuer als Gelegenheit, Aufmerksamkeit und Zuneigung zu erringen (Biddle 87). Schmidt weist darauf hin, dass die “Gesellschaft, die den jugendlichen Helden der amerikanischen Literatur die Aufnahme verweigert, […] in den literaturkritischen Aufsätzen als steril, materialistisch, gewalttätig und leer gekennzeichnet” wird (43). Bei King gilt es zu untersuchen, ob ein Umkehrschluss zulässig ist: Verweigern Gesellschaften, die steril, materialistisch, gewalttätig und leer sind, den Initianden die Aufnahme? Schmidt schreibt weiterhin, dass der junge Held meist ein „Einzelgänger und von Familie und Gemeinschaft isoliert“ ist (42). Dem Helden als Außenseiter stehe eine Gesellschaft mit restriktiven Praktiken und Institutionen gegenüber (Schmidt 42).

Ich möchte an dieser Stelle genauer darauf eingehen, wie die Erwachsenen auf die Psyche der vier Helden wirken und sie durch ihre Handlungsweise zu gesellschaftlichen Außenseitern machen, lange bevor sie ihre Initiationsreise antreten. Diese gesellschaftliche Ausgrenzung ist, laut Schmidt, der Ausgangspunkt für den Initiationsvorgang (42). Doch die Art der Ausgrenzung der Jungen untergräbt eine wesentliche Funktion der Initiation, nämlich die Entdeckung des Bösen in der Welt als Konfrontation des „unschuldigen und unwissenden jungen Menschen mit der Schuld und der Sünde” (Freese, Initiationsreise 95).

Vern Tessio – einer der vier Jungen, der sich auf die Reise begibt, um Ray Browers Leiche zu sehen – fürchtet sich vor seinem älteren Bruder, der ihn verprügelt, und seine Eltern scheinen unwillig bzw. nicht in der Lage, ihn vor der täglichen Gewalt zu schützen (Magistrale, Landscape 92; King, “Body“ 297, 300, 428). Joseph Reino verdeutlicht in seinem Buch Stephen King. The First Decade, wie unachtsam Verns Mutter ihrem Sohn gegenüber handelt, denn sie verbrennt seine Schatzkarte zu dem von ihm vergrabenen Penny-Glas zusammen mit alten Hausarbeiten, Comics und Witzbüchern, um am Morgen das Feuer zum Kochen zu entfachen (128). Vern fürchtet, dass sein älterer Bruder das Penny-Glas gefunden haben könnte, weigert sich jedoch, diese Erklärung zu akzeptieren und gräbt deshalb in regelmäßigen Intervallen unter der Veranda nach seinem Schatz, wobei er von der Lokalität der Leiche Ray Browers erfährt (King, “Body“ 297).

Teddy Duchamp ist ein weiterer Abenteurer. Bereits äußerlich bietet Teddy Gleichaltrigen Anlass zum Spott – er trägt eine starke Brille (King, “Body“ 291) und außerdem ein Hörgerät, da seine Ohren entstellt sind:

One day when he was eight, Teddy’s father got pissed at him for breaking a plate. His mother was working at the shoe factory in South Paris when it happened and by the time she found out about it, it was all over.

Teddy’s dad took Teddy over to the big woodstove at the back of the kitchen and shoved the side of Teddy’s head down against one of the cast-iron burner plates. He held it down there for about ten seconds. Then he yanked Teddy up by the hair of the head and did the other side. […]

Teddy’s dad had stormed the beach at Normandy, and that’s just the way Teddy always put it. Teddy was proud of his old man […]. (King, “Body“ 292)

Die Abwesenheit seiner Mutter führt dazu, dass Teddy mit seinem Vater, der offensichtlich seine Kriegserfahrungen nicht bewältigen kann, allein ist. Abgesehen von der körperlichen Misshandlung und Entstellung, hat das Verhalten seines Vaters auch ”Teddy’s own psychological maladjustments” zur Folge (Magistrale, Landscape 92). Magistrale betont, dass Teddy davon besessen sei, Risiken einzugehen, die sein Leben in Gefahr bringen (Landscape 92) – als versuche er, seinem Vater nachzueifern, der während des Zweiten Weltkriegs an der Front in der Normandie kämpfte. Hinzu kommt, dass Gordon Teddy als ”the dumbest guy we hung around with” beschreibt und hinzufügt, ”he was crazy” (King, “Body“ 293). Teddys und Gordons Einstellungen zu ihren Vätern differieren maßgeblich. Gordon wundert sich, “how Teddy could care so much for his dad when his dad had practically killed him, and how I couldn’t seem to give much of a shit one way or the other about my own dad, when so far as I could remember, he had never laid a hand on me since I was three and got some bleach from under the sink and started to eat it (King, “Body“ 349). Abbott erklärt in Family Survival dieses für Gordon unbegreifliche Verhalten am Beispiel von Brett Cambers aus Kings Roman Cujo, der ebenfalls von seinem Vater misshandelt wird: ”In typical oedipal fashion, however, Brett’s fear of his father is tempered with an admiration for his behaviour […]” (115).

Gordon, der mit seinen Freunden die Leiche sucht, ist ein sensibler und talentierter Zwölfjähriger, der von seinen Eltern ignoriert wird. Er leidet extrem unter der Vernachlässigung und dem Desinteresse, das seine Eltern ihm entgegenbringen und auch bereits vor dem Tod seines älteren Bruders Dennis entgegenbrachten (King, “Body“ 294). Für Gordon ist sein Zuhause ein leeres, gefühlsarmes Haus, seine Mutter eine Fremde, deren einziges Kind tot ist. Er begreift seine eigene Bitterkeit (King, “Body“ 304), ist aber nicht in der Lage, sie zu durchdringen (Collings, Engebretson 92). Wenn Gordons Eltern Interesse an ihm zeigen, dann nur, um seine Freunde zu kritisieren und ihn durch diese Implikationen als ”social misfit” zu kategorisieren (Biddle 85):

‘A thief and two feebs. Fine company for my son.’

[…] He was judging Vern the way he judged all my friends, from having seen them off and on, mostly going in and out of the house. He was wrong about them. And when he called Chris a thief I always saw red, because he didn’t know anything about Chris. […] He was sixty-three years old, old enough to be my grandfather.

My mom was fifty-five – no spring chicken, either. […] They wanted me to think I was a special delivery from God and I wasn’t appreciating my great good fortune in being conceived when my mother was forty-two and starting to gray. […]

This business about being ignored: I could never really pin it down until I did a book report in high school on this novel called The Invisible Man. […] This Invisible Man is about a Negro. Nobody ever notices him at all unless he fucks up. (King, “Body“ 305-6)

Seine Eltern, die Gordon nur beachten, wenn er negativ auffällt, geben ihm nicht nur das Gefühl, dass seine Geburt ein unglücklicher Zufall war, sie treiben ihn sogar dazu, sich zu fühlen, als hätte er anstelle seines Bruders sterben sollen. In Gordons Träumen begegnet ihm Dennis’ sprechender Leichnam, der sagt: ”It should have been you, Gordon. It should have been you” (King, “Body“ 309).

Der intelligente Chris Chambers leidet ebenfalls unter seinen Eltern, besonders unter seinem Vater:

Chris didn’t talk much about his dad, but we all knew he hated him like poison. Chris was marked up every two weeks or so, bruises on his cheeks and neck or one eye swelled up and as colorful as a sunset, and once he came into school with a big clumsy bandage on the back of his head. […]

Chris came from a bad family, all right, and everybody thought he would turn out bad … including Chris. His brothers had lived up to the town’s expectations admirably. (King, “Body“ 302-3)

Chris wirkt sehr reif für sein Alter und kümmert sich um Gordon. An einer Stelle nennt Gordon Chris im Scherz sogar seinen Vater (King, “Body“ 377). Gordons schrift­stellerisches Talent wird zu Hause nicht gefördert, da seine Eltern sein Bedürfnis, sich auszudrücken, nicht erkennen. Er versucht, der Ignoranz seiner Eltern in Bezug auf seine Existenz durch seine Freunde zu entkommen, während seine Freunde ebenfalls versuchen, auf diese Art und Weise, ihrem eigenen Missbrauch durch Erwachsene zu entfliehen (Frazier 33).

Chris Chambers erkennt Gordons Schreibtalent und animiert ihn als sein erster Kritiker dazu, härter zu arbeiten und weiterzuschreiben. Aber viel wichtiger sei, Michael Collings und David Engebretsons Buch The Shorter Works of Stephen King zufolge, dass er Gordon warnt, sich nicht von Freunden seine Zukunftsperspektiven zerstören zu lassen, sondern unabhängig von ihnen zu bleiben (93). Dieser Rat überzeugt Gordon, da Chris die erste Person ist, die sich tatsächlich so verhält, als würde sie sich um Gordon sorgen (Collings, Engebretson 93):

’It’s asshole if your friends can drag you down,’ Chris said finally. ‘I know about you and your folks. They don’t give a shit about you. Your big brother was the one they cared about. […] Your dad doesn’t beat on you, but maybe that’s even worse. He’s got you asleep. You could tell him you were enrolling in the fuckin shop division and you know what he’d do? He’d turn to the next page in his paper and say: Well, that’s nice, Gordon, go ask your mother what’s for dinner. […]

It’s like God gave you something, all those stories you can make up, and he said: This is what we got for you, kid. Try not to lose it. But kids lose everything unless somebody looks out for them and if your folks are too fucked up to do it then maybe I ought to.’ (King, “Body“ 377-8)

Gordon erinnert sich, dass Chris älter wirkt, als er all das zu ihm sagt:

Chris Chambers was twelve when he said all that to me. But while he was saying it his face crumpled and folded into something older, oldest, ageless. He spoke tonelessly, colorlessly, but nevertheless, what he said struck terror into my bowels. It was as if he had lived that whole life already, that life where they tell you to step right up and spin the Wheel of Fortune, and it spins so pretty and the guy steps on a pedal and it comes up double zeros, house number, everybody loses. (King, “Body“ 378)

Chris selbst ist Teil des unbarmherzigen Amerikas, das King beschreibt: ein Verlierer. Er verdeutlicht einen Prozess, in dem gesellschaftlich niedrig gestelltere Schichten weiterhin durch eine gesellschaftliche Oberschicht unten gehalten werden, die ihre Machtposition ausnutzt. Die Geschichte von Chris’ gestohlenem Milchgeld ist der Inbegriff dafür:

‘So just say that I stole the milk-money but then old lady Simons stole it from me. Just suppose I told that story. Me, Chris Chambers. Kid brother of Frank Chambers and Eyeball Chambers. You think anybody would have believed it?’ […]

‘And do you think that bitch would have dared try something like that if it had been one of those dootchbags from up on The View that had taken the money?’ (King, “Body“ 379)

Magistrale erläutert in seinem Buch The Moral Voyages of Stephen King den Grund für das Verhalten der Lehrerin Mrs. Simons: ”The Chambers have worked hard to maintain a reputation of failure […]” (84). Diesen Ruf nutzt sie skrupellos zu ihrem eigenen Vorteil aus. Gordon ist der Meinung, dass Chris Collegekurse wählen sollte, da er klug genug dafür sei, was dieser schließlich auch tut. Die beiden bleiben die besten Freunde die gesamte Highschool-Zeit hindurch. Magistrale betont, dass Gordons und Chris’ Beziehung sich herausbildet, um eine Leere zu füllen, die sich aufgrund der Abwesenheit elterlicher Unterstützung und ihrem starken Wunsch, der Gesellschaft Castle Rocks zu entkommen, herausgebildet hat, so dass Gordon und Chris füreinander ”surrogate parent and confidant” werden (Moral 84). Er führt weiterhin aus: “Each boy thus assumes the duties and responsibilites which normally fall upon the shoulders of the parents. Their mutual support system extends beyond mere friendship or loyalty – it is a bridge that transverses the chasm created by the absence of parental love and involvement” (Moral 85). Auch Carroll Terrell ist dieser Ansicht und fasst es in ihrem Buch Stephen King. Man and Artist treffend zusammen: ”In fact, a life of abuse was one of the things that bonded these kids together” (110).

Im Sinne meiner anfänglichen Auslegungsmöglichkeiten der Unschuld[8] lässt sich nun feststellen, dass die vier Jungen nicht arglos bzw. ahnungslos sind. Sie sind nicht ignorant – besonders Chris und Gordon verstehen, wie die Gesellschaft funktioniert, aber auch Teddy und Vern haben gelernt, Angst zu haben, Gut und Böse voneinander zu unterscheiden, da sie schlechte Erfahrungen mit ihrer Umwelt machten. In diesem Sinn ist ihre Unschuld durch die gesellschaftlichen Institutionen zerstört worden. Hinsichtlich der anderen Auslegungsarten des Unschuldsbegriffs sind und bleiben sie unschuldig: schuldlos, ungerecht behandelt und keusch. Entsprechend der Definition von Initiationsgeschichten ist es die auf mangelnde Erfahrung bezogene Unschuld, die den Ausgangspunkt für das Ritual darstellt (Freese, Initiationsreise 88), die jedoch aufgrund ihrer Zerstörung in “The Body“ nicht den Ausgangspunkt dafür bilden kann und auch nicht bildet.

3.1.2.2. Das Ritual

Diese vier Jungen, deren auf Erfahrungsmangel beruhende Unschuld also nicht mehr intakt ist, begeben sich auf eine Reise, um die Leiche des toten Jungen Ray Brower zu sehen, da sie nach Jahren in einer feindlichen Umgebung alles tun würden ”just not to be sneered at for awhile” (Terrell 112). Sie erzählen ihren Eltern, sie seien zelten und beginnen ihre Reise entlang der Eisenbahnschienen. Was Arthur Biddle in seinem Aufsatz ”The Mythic Journey in ‘The Body’” von 1992 nur auf Gordon bezieht, gilt für alle vier Jungen: Ihre Egos sind derartig unterentwickelt, dass sie die Leiche Ray Browers sehen müssen, um sicher zu sein, dass sie es nicht selbst waren, die gestorben sind (85).

Ihre Reise beinhaltet verschiedene Abenteuer, die als Initiationsstufen betrachtet werden können. Das Abenteuer der Jungen, so Biddle, ”recapitulates the timeless rites of passage that order human experience” (84). Er erläutert, dass die unterschwellige Struktur der Geschichte deutlich die von Campbells dreiteiligem Monomythos sei (84): ”a separation from the world, a penetration to some source of power, and a life-enhancing return” (Campbell 35).

Sozial isoliert als Außenseiter der Gesellschaft aufgrund ihrer bereits gezeigten familiären Verhältnisse, beginnen die vier Jungen ihre geografische und spirituelle Reise entlang der Bahngleise, die sie aus der Gesellschaft herausführt. Das erste Hindernis, das sie überwinden müssen, ist die Müllkippe Castle Rocks. Sie dient laut Biddle als das, was Campbell die Grenze nennt, als das, was die Regionen des Unbekannten repräsentiere (Campbell 81-2; Biddle 87). Milo Pressman, der Wärter der Müllkippe und sein Hund Chopper versperren ihnen den Weg als Grenzwächter. Campbell weist darauf hin, dass der Wächter als Bewahrer der etablierten Grenzen des Bewusstseins diene (35). Durch die Überquerung der Müllhalde vollenden Gordon und seine Freunde die erste Phase des Übergangsrituals: ”separation from the known world” (Biddle 88).[9]

Das zweite Hindernis, auf das sie treffen, ist eine Eisenbahnbrücke, die sie überqueren und auf der sie vor einem Zug, der ebenfalls diese Brücke überquert, fliehen müssen. King weist, wie erwähnt, bereits im Untertitel ”Fall from Innocence” darauf hin, dass es sich um eine Initiationsgeschichte handelt, und der Ich-Erzähler Gordon Lachance nimmt wiederholt Bezug auf das rite de passage der Jungen, mit den Schienen als ihrem Tunnel: “the rite of passage is a magic corridor […]. Our corridor was those twin rails, and we walked between them, just hopping along toward whatever this was supposed to mean” (King, “Body“ 399). Magistrale schreibt, dass das Bild des ”narrow passageway” dafür benutzt werde, die Ängste der Charaktere zu beleuchten, die ihn durchqueren müssen (Landscape 90). Die Vollendung dieses Übergangs symbolisiert ”the emergence of a new stage in the development of the individual involved” (Magistrale, Landscape 90). Außerdem ist die Brücke das, was Freese als die Überwindung eines scheinbar unüberwindlichen Hindernisses betrachtet, das den Durchgang der Jungen verdeutlicht und die Übergangsphase des Initiationsablaufs symbolisiert (Initiationsreise 155).

Nachdem sie dem Zug entkommen sind, folgt der Kampf mit dem symbolischen Drachen bzw. Monster, der am nächsten Tag stattfindet (Biddle 91). Sie nehmen ein Bad in einem Biberteich und legen dafür all ihre Kleidung ab. Beim Baden handelt es sich um einen Reinigungsritus vor der Begegnung mit dem Monster (Freese, Initiationsreise 117), das Ablegen der alten Kleidung symbolisiert die Veränderung (Freese, Initiationsreise 155). In dem See gibt es zahlreiche Blutegel. Biddle interpretiert die Blutegel als symbolische Drachen: ”The snake-dragon-leech […] is attempting to prevent maturation and the subsequent ego independence it represents” (92-3). Als die Jungen aus dem See steigen, sehen sie die Blutegel und befreien sich davon. Doch einer befindet sich direkt auf Gordons Penis. Voller Abscheu kann er sich nicht dazu bringen, den Blutegel zu berühren, doch als er Chris bittet, ihn zu entfernen, kann Chris ihm nicht helfen, da jeder Junge seine eigenen ‘Monster’ besiegen muss. Und obwohl Gordon den Blutegel schließlich tötet, wird er verwundet – fällt sogar in Ohnmacht. Symbolisch ist die Wunde tödlich; damit kann eine Wiedergeburt stattfinden. Diese Veränderung markiert einen bedeutenden Schritt in seiner ”passage from childhood to maturity”, die Gordons Ego unabhängig von dem seiner Eltern entwickelt (Biddle 93). Gordons Begegnung mit dem Blutegel kann auch als symbolische Beschneidung interpretiert werden, die seinen Wandel repräsentiert (Freese, Initiationsreise 117).

Als die Jungen schließlich die Leiche Ray Browers finden, sammeln sich elementare Kräfte, um die Klimax des Abenteuers zu akzentuieren (Biddle 93). Ein blau-weißer Feuerball rast die Schienen entlang, vorbei an den Jungen und verschwindet dann spurlos (King, “Body“ 402). Es scheint, als hätten die Jungen das gleißende Licht am Ende des Tunnels erreicht. “When Gordie and his companions arrive at Ray Brower’s body, the skies open and rain pours down for the first time in three months, ending the devastating drought that has plagued the land” (Biddle 96). Der Regen säubert sie rituell (Freese, ”American” 367). Während des Unwetters taucht ein zweites Monster auf, dem sich die Jungen stellen müssen: Vern und Teddy fliehen vor diesem Monster, repräsentiert durch die jugendlichen Straftäter, die mit dem Auto kommen, um die Leiche selbst mit­zunehmen, und vor dem erneut heftig einsetzenden reinigenden Gewitter und Hagel (King, “Body“ 412). Heldreth betrachtet diese Konfrontation als “climax of this expedition“ und als “test of masculinity“ (“Viewing“ 68). Chris zieht die Pistole seines Vaters und kann die Gang Ace Merrills, der auch sein und Verns Bruder angehören, verjagen. Nach der Vertreibung der älteren Jungen diskutieren Chris und Gordon, was sie mit der Leiche Browers tun sollen. Die Stärke von Chris’ Bedürfnis, die Leiche aus den Wäldern mitzunehmen, impliziert seinen Wunsch nach Anerkennung und Akzeptanz durch seine Eltern und die gesamte Erwachsenenwelt. Schließlich überzeugt Gordon ihn, von der Leiche abzulassen, um keinen Ärger mit einer ihnen feindlich gesinnten Umwelt zu riskieren (Biddle 94-5). Erst als Chris akzeptiert, dass er die Leiche nicht mitnehmen kann, hört der reinigende Regen schließlich auf (King, “Body“ 415), was das Ende des Übergangsrituals symbolisiert (Freese, ”American” 367; Freese, Initiationsreise 117).

Erwähnt sei an dieser Stelle noch die Funktion des die Initiation begleitenden Initiationshelfers, des weisen alten Mentors, der dem verwirrten Protagonisten hilft und rät, so dass er die richtige Entscheidung treffen möge, mit beunruhigenden Erfahrungen umgehen könne und der in fast jeder Initiationsgeschichte zu finden ist (Freese, Initiationsreise 155; Freese, ”American” 367). Dieser Mentor scheint in der Erzählung nicht explizit aufzutreten. Doch ich bin der Ansicht, dass sowohl Chris für Gordon als auch Gordon für Chris als Mentor betrachtet werden kann, wodurch die Rollen von Initiationshelfer und Initianden verschmelzen. Chris wird von Gordon wiederholt als alt, weise und väterlich beschrieben (King, “Body“ 377-8, 404). Während Gordon als Erzähler seine Wirkung auf Chris nicht beschreiben kann, so gibt er Chris doch Ratschläge, die dazu beitragen, dass Chris sein Potenzial und seine Möglichkeiten im Leben erkennt (King, “Body“ 380). Für Vern und Teddy hat keiner diese Funktion des Initiationshelfers inne.

Der Rückweg der Jungen wird nur kurz geschildert. Nachdem sich Chris und Gordon zurück in Castle Rock für ihren Heimweg trennen, muss Gordon, Biddle zufolge, noch den letzten Teil seines Abenteuers bestehen: ”the ritual cleansing and dressing of wounds” (95). In der Küche wäscht er sich – besonders im Schritt, eine kleine Narbe vom Kampf mit dem Blutegel wird bleiben (Biddle 95). Ich bin jedoch der Ansicht, dass die rituelle Reinigung bereits, wie oben erläutert, durch den Regen versinnbildlicht wurde.

Es wird deutlich, dass Stephen King in seiner Erzählung das Muster der Initiationsgeschichte entsprechend der Darlegungen Campbells und Freeses verwendet. Wichtig ist jedoch, dass bei ihm der Ausgangspunkt für die Initiationserzählung nicht innocence, sondern die zerstörte Unschuld der vier Jungen ist.

3.1.2.3. Initiation?

In der Literatur wird hinsichtlich des Initiationserfolges unterschiedlich argumentiert: Davis bezeichnet Kings Erzählung in seinem Buch Stephen King’s America als ”tour de force of coming of age stories”, die ebenfalls darstelle, dass junge Menschen die Stärke besitzen ”to make the transition from innocence to experience” (55). Auf dieser Reise beginnen die vier Jungen die Bedeutung ihrer kleinen Gruppe zu begreifen und seien in der Lage ”to grasp the splendor of childhood bonding, which provides the catapult to accomplishing their task” (Davis 55). Davis betrachtet Gordon als Sprecher der Gruppe und behauptet, dass

[...]


[1] Die in dieser Arbeit verwendeten Zitate entsprechen den im Literaturverzeichnis angegebenen Werkausgaben, Änderungen werden entsprechend gekennzeichnet. Als Richtlinie für Literaturangaben und Zitierweisen wurde für diese Arbeit das MLA Handbook for Writers of Research Papers, herausgegeben von Joseph Gibaldi, in der 5. Auflage verwendet.

[2] In dieser Arbeit werde ich aus Gründen der Übersichtlichkeit anstatt männlicher und weiblicher Substantivendungen nur männliche Substantivendungen verwenden. Dabei ist keine Diskriminierung beabsichtigt.

[3] Die unveränderte Neuauflage der Dissertation von 1998 zeigt die noch anhaltende Bedeutung und Aktualität von Freeses Studie.

[4] Vgl. dazu Bosky, “Mind“ 243; Davis 36, 42; Magistrale, Landscape 62.

[5] Auch Angela Schmidt in ihrer Dissertation The Invention of Initiation (1996) und Thomas Hine in The Rise and Fall of the American Teenager (1999) betonen diese Dreiteilung (Schmidt 46; Hine 46).

[6] Ähnlicher Ansicht ist auch George Beahm in seinem Buch The Stephen King Story (126).

[7] Vgl. Reinos The First Decade, Fraziers Everbody Has One: Stephen King and the Jungian Shadow sowie Collings’ und Engebretsons The Shorter Works of Stephen King für eine ausführlichere Darstellung der Parallelen zwischen Gordon Lachance und Stephen King (Reino 117; Frazier 30; Collings, Engebretson 91).

[8] Vgl. Interpretationsmöglichkeiten des Begriffs ‚Unschuld’ auf den Seiten 3 und 4 dieser Arbeit.

[9] Zum Ablauf der Initiation siehe auch Freeses Die Initiationsreise auf Seite 153.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832494063
ISBN (Paperback)
9783838694061
DOI
10.3239/9783832494063
Dateigröße
1.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen – Philosophie
Erscheinungsdatum
2006 (März)
Note
1,0
Schlagworte
gothic fiction initiation body pupil
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Titel: Das Thema der zerstörten Unschuld in ausgewählten Werken Stephen Kings
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