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Autonome Dysregulation bei Patienten mit Angst- und somatoformen Störungen

Effekte eines aeroben Ausdauertrainings

©2005 Doktorarbeit / Dissertation 225 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Angst- und somatoforme Störungen stellen zwei klinisch problematische und besonders gefährdete Patientengruppen dar. Bei einem bedeutenden Anteil der Betroffenen liegen gestörte autonome Regulationsprozesse vor, die mit einer durch Schonverhalten verminderten körperlichen Leistungsfähigkeit sowie einer verzerrten Wahrnehmung und Interpretation körperlicher Sensationen, insbesondere kardiovaskulärer Symptome, verbunden sind. Da regelmäßiges Ausdauertraining bei gesunden Probanden die autonome Regulation zu verbessern scheint, stellt sich die Frage, ob eine autonome Dysregulation bei Patienten mit einer Angst- oder somatoformen Störung durch ein moderates, aerobes Ausdauertraining normalisiert und eine Verbesserung der psychischen Befindlichkeit und des Rehabilitationserfolges bewirkt werden kann. In der vorliegenden Studie wurde diese Fragestellung an Patienten mit einer Angst- und Patienten mit einer somatoformen Störung in einer Psychosomatischen Fachklinik untersucht.
Die zentralen Indices kardiovaskulärer autonomer Regulation Herzratenvariabilität und Baroreflexsensitivität wurden unter Ruhe und Belastung (Reaktionstest) frequenzanalytisch bestimmt, und die Stress-Reaktivität aus der Differenz berechnet. Die körperliche Leistungsfähigkeit wurde in einer fahrradergometrischen Belastungsuntersuchung nach dem WHO-Schema bestimmt. Psychometrische Parameter wurden mit der Symptom Checklist, dem Fragebogen zum Gesundheitszustand und der Hospital Anxiety and Depression Scale erhoben. Das Aktivitätsverhalten wurde mit dem Freiburger Fragebogen zur körperlichen Aktivität erfragt. Alle Daten wurden zu Beginn der Rehabilitationsbehandlung, vier Wochen später und als Katamnese sechs Monate später erhoben. Zum zweiten Messzeitpunkt wurde der subjektiv eingeschätzte Rehabilitationserfolg mit dem Fragebogen zur Beurteilung der Rehabilitation erfragt.
An der Studie beteiligten sich 139 Patienten, 106 weiblich, durchschnittlich 43,8 Jahre alt, 167 cm groß und mit einem BMI von 24,1 kg/m². Die Patienten wurden getrennt nach Geschlecht und Störungsbild per Zufallslisten randomisiert der Experimental- bzw. Kontrollgruppe zugeteilt. Als Intervention wurde mit der Experimentalgruppe dreimal wöchentlich über vier Wochen ein 30minütiges aerobes Ausdauertraining durchgeführt. Die Trainingsintensität wurde anhand der ersten Ergometrie mit 70% der Leistung festgelegt, die der metabolischen Intensität von 4 mmol/l Blutlaktat entsprach. Die […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 9392
Brauer, Frauke: Autonome Dysregulation bei Patienten mit Angst- und somatoformen
Störungen - Effekte eines aeroben Ausdauertrainings
Druck Diplomica GmbH, Hamburg, 2006
Zugl.: Deutsche Sporthochschule Köln, Dissertation / Doktorarbeit, 2005
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http://www.diplom.de, Hamburg 2006
Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1
2 Störungsbilder
3
2.1 Angststörungen
3
2.1.1 Epidemiologie
3
2.1.2 Diagnose-Kriterien
6
2.1.3
Störungsbild nach ICF
7
2.1.3.1 Schädigungen
der
Körperstrukturen und Körperfunktionen 8
2.1.3.2 Beeinträchtigungen der Aktivitäten
10
2.1.3.3 Beeinträchtigungen
der Partizipation
11
2.1.3.4
Sporttherapie als fördernder Kontextfaktor
11
2.2 Somatoforme
Störungen
12
2.2.1 Epidemiologie
12
2.2.2 Diagnose-Kriterien
14
2.2.3
Störungsbild nach ICF
15
2.2.3.1 Schädigungen
der
Körperstrukturen und Körperfunktionen 16
2.2.3.2 Beeinträchtigungen der Aktivitäten
17
2.2.3.3 Beeinträchtigungen
der Partizipation
18
2.2.3.4
Sporttherapie als fördernder Kontextfaktor
19
3 Autonome
Regulation
20
3.1 Physiologische
Grundlagen
20
3.2
Indices autonomer kardiovaskulärer Regulation
25
3.2.1 Herzratenvariabilität
25
3.2.2 Baroreflexsensitivität
28
3.2.3 Kardiovaskuläre
Reaktivität
30
3.3 Autonome
Dysregulation
31
3.3.1 Autonome
Dysregulation bei Angststörungen
32
3.3.2
Autonome Dysregulation bei somatoformen Störungen
35
4 Ausdauerleistungsfähigkeit
38
4.1 Definition
Ausdauerleistungsfähigkeit
38
4.2 Ausdauertraining
39
4.3
Effekte von Ausdauertraining
40
4.3.1
Effekte auf die Baroreflexsensitivität und Herzratenvariabilität
41

4.3.2
Effekte auf die kardiovaskuläre Reaktivität
55
4.3.3
Effekte bei Angststörungen
60
4.3.4
Effekte bei somatoformen Störungen
64
5
Fragestellung und Hypothesen
70
6 Methodik
72
6.1 Behandlungskonzept der Klinik
72
6.2 Stichprobe
der
Untersuchung
73
6.3 Kontrollvariablen
79
6.4
Erhebung der physiologischen Parameter
80
6.4.1 Abgeleitete
Parameter
80
6.4.1.1 Elektrokardiogramm
80
6.4.1.2 Blutdruck
81
6.4.1.3 Atemfrequenz
82
6.4.2
Indices der autonomen Regulation
82
6.4.2.1 Spektralanalyse
82
6.4.2.2 Baroreflexsensitivität
84
6.4.3 Untersuchungsbedingungen 86
6.4.3.1 Ruhephase
86
6.4.3.2 Belastungsphase
86
6.5
Messung der aeroben Ausdauerleistungsfähigkeit 87
6.5.1
Bestimmung der Laktatkonzentration
87
6.5.2
Messung der Herzfrequenzen
88
6.5.3
Vergleichswerte für die Ausdauerleistungsfähigkeit
88
6.6
Erhebung der psychometrischen Parameter
89
6.6.1 Symptom
Checklist
SCL90-R
89
6.6.2
Fragebogen zum Gesundheitszustand SF-36
90
6.6.3
Hospital Anxiety and Depression Scale HADS
92
6.6.4
Fragebogen zur Beurteilung der Rehabilitation FBReha
93
6.7 Erhebung
des
Aktivitätsverhaltens mit dem Freiburger Fragebogen zur
körperlichen Aktivität FFKA
94
6.8 Intervention Ausdauertraining
95
6.9 Untersuchungsdurchführung
96
6.10 Untersuchungsauswertung
98
7 Ergebnisse
101

7.1
Vergleich der Experimental- und Kontrollgruppe hinsichtlich der
Kontrollvariablen 101
7.2
Vergleich der Experimental- und Kontrollgruppe hinsichtlich ihres
Aktivitätsverhaltens 104
7.2.1 Körperliche
Aktivität
105
7.2.2 Sportliche
Aktivität
106
7.3
Vergleich der Experimental- und Kontrollgruppe hinsichtlich der
Ausdauerleistungsfähigkeit, Überprüfen der Intervention
108
7.3.1 Maximale
Leistungen
108
7.3.2
Herzfrequenzen bei definierten Leistungsstufen
111
7.3.3 Laktatkonzentrationen
bei
definierten Leistungsstufen
112
7.4
Vergleich der Gruppen hinsichtlich der Indices der autonomen
kardiovaskulären Regulation
114
7.4.1
Vergleich der beeinträchtigten Gruppen
114
7.4.1.1 Herzratenvariabilität
im gesamten Frequenzspektrum
114
7.4.1.2 Herzratenvariabilität im High Frequency-Band
115
7.4.1.3 Herzratenvariabilität im Mid Frequency-Band
117
7.4.1.4 Herzratenvariabilität
im Respiratorischen Band
118
7.4.1.5 Baroreflexsensitivität
119
7.4.2 Veränderungsprüfung der unbeeinträchtigten Gruppen
121
7.4.2.1 Herzratenvariabilität
im gesamten Frequenzspektrum
121
7.4.2.2 Herzratenvariabilität im High Frequency-Band
122
7.4.2.3 Herzratenvariabilität im Mid Frequency-Band
122
7.4.2.4 Herzratenvariabilität
im Respiratorischen Band
123
7.4.2.5 Baroreflexsensitivität
124
7.4.3 Störungsspezifischer
Vergleich in den beeinträchtigten und den
unbeeinträchtigten Gruppen hinsichtlich der autonomen Regulation 126
7.4.3.1 Herzratenvariabilität
im gesamten Frequenzspektrum
126
7.4.3.2 Herzratenvariabilität im High frequency-Band
128
7.4.3.3 Herzratenvariabilität im Mid frequency-Band
129
7.4.3.4 Herzratenvariabilität
im Respiratorischen Band
130
7.4.3.5 Baroreflexsensitivität
131
7.5
Vergleich der Experimental- und Kontrollgruppe hinsichtlich des subjektiv
eingeschätzten Rehabilitationserfolges
132

7.6
Vergleich der Experimental- und Kontrollgruppe hinsichtlich der
psychometrischen Parameter
133
7.6.1 Symptom
Checklist
SCL90-R
133
7.6.1.1
Die neun Skalen
134
7.6.1.2
Die globalen Kennwerte
136
7.6.2
Fragebogen zum Gesundheitszustand SF-36
137
7.6.3
Hospital Anxiety and Depression Scale HADS-D
140
7.6.3.1 Angstskala
140
7.6.3.2 Depressionsskala
142
7.7
Vergleich der Experimental- und Kontrollgruppe hinsichtlich der
kardiovaskulären Stress-Reaktivität
144
7.7.1 Herzratenvariabilität
im gesamten Frequenzspektrum
144
7.7.2 Herzratenvariabilität im High Frequency-Band
145
7.7.3 Herzratenvariabilität
im Mid Frequency-Band
146
7.7.4 Herzratenvariabilität
im Respiratorischen Band
147
7.7.5 Baroreflexsensitivität
147
7.8
Prüfung des Zusammenhanges zwischen sportlicher Aktivität und den
kardiovaskulären Parametern
149
7.8.1
Kardiovaskuläre Parameter in der Ruhephase
149
7.8.2
Kardiovaskuläre Parameter in der Belastungsphase
150
7.8.3
Kardiovaskuläre Parameter als Stress-Reaktivitätswerte
150
8 Diskussion
152
8.1 Interventionseffekte
152
8.2 Kardiovaskuläre
Parameter
154
8.3 Subjektiv
eingeschätzter Rehabilitationserfolg
158
8.4 Psychometrische
Parameter
158
8.5 Kardiovaskuläre
Stress-Reaktivität
160
8.6 Ausblick
162
9 Zusammenfassung
164
10 Literatur
168
Danksagung 191
Lebenslauf 192
Anhang
193

Verzeichnis der Abkürzungen
A Angststörung
AD Arterieller
Blutdruck
AG Aktiengesellschaft
Aufl. Auflage
AvgRR
Abstand aller RR-Intervalle im gewählten Zeitbereich
B Belastung
BD Blutdruck
BDI Beck-Depressions-Inventar
BMI
Körpermassenindex (Body-Mass-Index)
BR arterielle
Barorezeptoren
BRD Bundesrepublik
Deutschland
BRS Baroreflexsensitivität
bzw. beziehungsweise
CARSPAN Cardiovascular Signal Analysis
cm Zentimeter
CR Chemorezeptoren
d.h. das
heißt
diastol. diastolisch
DSM-III-R Diagnostisches
und Statistisches Manual psychischer Störungen
durchschnittl. durchschnittlich
ECA-Studie
Epidemiological Catchment Area Study
EDSP-Studie
Early Development Stages of Psychopathology-Studie
EG Experimentalgruppe
EG dys
Experimentalgruppe mit autonomer Dysfunktion
EG norm
Experimentalgruppe mit unauffälliger autonomer Regulation
EKG Elektrokardiogramm
EMG Elektromyogramm
Ergom. Ergometrische
Belastungsuntersuchung
et al.
und andere (et altera)
etc.
und so weiter (et cetera)
f. folgende
FFKA
Freiburger Fragebogen zur körperlichen Aktivität
Finapes
FINger Arterial PRESsure
geb. geboren
GmbH
Gesellschaft mit beschränkter Haftung
GSI
Grundsätzliche psychische Belastung
h Stunde
(hour)
HADS
Hospital Anxiety and Depression Scale

HF High
Frequency
HMV Herzminutenvolumen
HR Herzrate
HR
max
Maximale
Herzrate
HR
Ruhe
Herzrate in Ruhe
Hrsg. Herausgeber
HRV Herzratenvariabilität
Hz Hertz
IBI Interbeatintervall
ICD-10
Internationale Klassifikation psychischer Störungen
ICF
Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und
Gesundheit
insulinpflicht. insulinpflichtig
J. Jahre
Jr. Junior
kg Kilogramm
KG Kontrollgruppe
KG dys
Kontrollgruppe mit autonomer Dysfunktion
KG norm
Kontrollgruppe mit unauffälliger autonomer Regulation
kg/m²
Kilogramm pro Quadratmeter
KHK Koronare
Herzkrankheit
km Kilometer
körperl. körperlich
LF Low
Frequency
LF%
Prozentualer LF-Anteil am Gesamtspektrum
LPR Low
pressure-Rezeptoren
M Arithmetisches
Mittel
männl. männlich
MFS
Münchner 7-Jahres-Follow-up-Studie
mg Milligramm
min Minute
mmHg Millimeter
Quecksilbersäule
mmol/l
Millimol pro Liter
ms Millisekunden
n Stichprobengröße
n.s. nicht
signifikant
n.u. normalisierte
Einheit
NG
Gruppe der Nichttrainierten
nm Nanometer
o.J. ohne
Jahresangabe
p Wahrscheinlichkeit

pa arterieller
Gasdruck
pNN50 Prozentsatz
aufeinander
folgender
RR-Intervalle, die mehr als 50 ms
voneinander abweichen
POD Peroxidase
PSDI
Stress-Index der Beschwerden
PST
Anzahl der Symptome mit vorliegender Belastung
PWC170
Leistung bei einer Herzfrequenz von 170 S/min
(Physical Work Capacity)
r
Korrelationskoeffizient der Stichprobe
R Ruhe
rMSSD
Quadratwurzel des quadrierten Mittelwertes der
Summe aller Differenzen sukzessiver RR-Intervalle
RR-Intervall
Abstand zwischen zwei Herzschlägen
RRSD Standardabweichung
aller
RR-Intervalle
RSA Respiratorische
Sinusarrhythmie
S Somatoforme
Störung
s. siehe
S. Seite
S/min
Schläge pro Minute
s.o. siehe
oben
Schlagnr. Schlagnummer
SCL90-R Symptom-Checkliste
SD Standardabweichung
SD1
Zeitbereichsparameter für die Kurzzeitvariabilität
SD2 Zeitbereichsparameter
für die Langzeitvariabilität
SDNN Standardabweichung
aller
RR-Intervalle
SF-36
Fragebogen zum Allgemeinen Gesundheitszustand
SNRI
Serotonin-Noradrenalin Reuptake Hemmer
SSRI
Selektive Serotonin Reuptake Hemmer
St. Sankt
Suppl. Supplement
SV Schlagvolumen
sympath. sympathisch
systol. systolisch
T Messzeitpunkt
TACOS-Studie
Transitions in Alcohol Consumption and Smoking-Studie
tägl. täglich
Task Force
Task Force of the European Society of Cardiology and the North
American Society of Pacing and Electrophysiology
TG
Gruppe der Trainierten
TPR peripherer
Gesamtwiderstand

Trizykl. Antidepr.
Trizyklische Antidepressiva
u.a. unter
anderem
U/min
Umdrehungen pro Minute
unveröff. unveröffentlichte
USA
Vereinigte Staaten von Amerika (United States of America)
v.a. vor
allem
vgl. vergleiche
VK venöse
Kapazität
VLF
Very Low Frequency
VO
2max
Maximale
Sauerstoffaufnahme
VR venöser
Rückfluss
vs. gegenüber
(versus)
W Watt
weibl. weiblich
WHO
Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization)
wöchentl. wöchentlich
z.B. zum
Beispiel

Einleitung
1
1 Einleitung
Psychische und psychosomatische Störungen sind weit verbreitete Formen von Er-
krankungen, die mit einer starken, oft dauerhaften Einschränkung der Lebensführung
für die Betroffenen verbunden sind. Da die Behandlung und Folgen der Störungen
zugleich sehr kostenintensiv sind, stellen sie eine große Belastung für das Gesund-
heitssystem dar (W
ITTCHEN
, M
ÜLLER
,
P
FISTER
,
W
INTER
&
S
CHMIDTKUNZ
, 1999). Zwei
klinisch problematische und besonders gefährdete Patientengruppen stellen Patien-
ten
1
mit Angst- und somatoformen Störungen dar. Häufig stehen kardiovaskuläre
Symptome wie Herzrasen, Atemnot oder Schwindel im Mittelpunkt der Erkrankung.
Nach den gebräuchlichen Diagnoserichtlinien dürfen organ-pathologische Befunde
zur Diagnosestellung beider Störungsformen nicht vorhanden sein bzw. nicht das
Ausmaß der beklagten Symptomatik erklären. Neuere Untersuchungen weisen aller-
dings darauf hin, dass zumindest bei einem bedeutenden Anteil der Betroffenen ge-
störte autonome Regulationsprozesse vorliegen (L
AEDERACH
-H
OFMANN
,
M
USSGAY
,
W
ILDE
&
R
ÜDDEL
, 2002; Y
ERAGANI
et al., 1998).
Regelmäßige körperliche Aktivität führt präventiv bei Gesunden nachgewiesenerma-
ßen zu einer Reihe positiver Effekte wie die Reduktion der kardiovaskulären und ge-
samten Mortalität, ein verbessertes Lipidmuster, Senkung des Erkrankungsrisikos
bestimmter Karzinomarten, große Durchblutungssteigerungen im Gehirn mit gemin-
derter Schmerzintensität, gesteigertem Wohlbefinden, Reduktion von Angst- und de-
pressiver Symptomatik sowie verbesserten kognitiven Prozessen auch im Sinne re-
duzierter Alterungsvorgänge im Gehirn (H
OLLMANN
&
L
ÖLLGEN
, 2002; H
OLLMANN
,
S
TRÜDER
&
T
AGARAKIS
,
2003). Auch im Zusammenhang zahlreicher bestehender Er-
krankungen ist die Wirksamkeit körperlicher Aktivität inzwischen gut belegt wie bei-
spielsweise die sekundär-präventiven Effekte bei einer eingeschränkten Glucosetole-
ranz Übergewichtiger, bei koronarer Herzkrankheit (s. H
ALLE
,
B
ERG
&
H
ASENFUSS
,
2003) oder bei bestehender Angststörung (B
ROOCKS
, 2000, 86). Es gibt Hinweise
darauf, dass ein regelmäßiges Training auch die autonome Regulation verbessern
kann (M
C
D
ONALD
,
S
ANFILIPPO
&
S
AVARD
, 1993). Die Ergebnisse wurden vor allem
mithilfe gesunder Probanden, in geringerem Umfang aber auch mit klinischen Stich-
1
An der vorliegenden Studie nahmen sowohl Frauen als auch Männer teil. Zugunsten einer besseren
Lesbarkeit wird in dieser Arbeit die männliche Sprachform bei Personenbezeichnungen verwendet
.

Einleitung
2
proben gewonnen. Über die notwendige Indikation und Dosierung von körperlicher
Aktivität zum Erreichen bestimmter Effekte, d.h. welche Art von körperlicher Bewe-
gung mit welcher Frequenz, Dauer, Intensität und bei welcher Störung durchgeführt
werden muss, gibt es vor allem bezüglich psychischer und psychosomatischer Stö-
rungen keine einheitlichen Richtlinien.
Bei Patienten mit einer Angststörung oder einer somatoformen Störung entwickelt
sich häufig ein übersteigertes Schonverhalten mit zunehmender Inaktivität, das zu
einer stark eingeschränkten körperlichen Leistungsfähigkeit führt (B
ROOKS
et al.,
1997; R
IEF
&
H
ILLER
, 1998, 63), die wiederum im Zusammenhang mit einer autono-
men Dysfunktion gesehen wird.
Bisher sind mögliche Effekte eines Ausdauertrainings auf die autonome Regulation
bei Patienten dieser Störungsgruppen nicht bekannt. In der vorliegenden Arbeit wird
erstmals untersucht, ob sich bei Patienten mit einer Angst- bzw. somatoformen Stö-
rung die autonome Regulation durch gezielte körperliche Aktivität verbessern lässt
und damit eine Besserung der Symptomatik erzielt werden kann. Zunächst werden
die beiden Störungsbilder beschrieben, die autonomen Regulationsprozesse darge-
stellt sowie eine Übersicht der in der Literatur beschriebenen Effekte eines Ausdau-
ertrainings auf die autonome Regulation und auf die beiden Störungsbilder vorge-
nommen. Anschließend wird die durchgeführte Untersuchung mit den Hypothesen
und der Methodik vorgestellt. Die dargestellten Untersuchungsergebnisse werden
anhand der aufgeführten Studienergebnisse diskutiert. Es soll geprüft werden, ob ein
aerobes Grundlagenausdauertraining, das nach präventiv-medizinischen Gesichts-
punkten konzipiert ist, die Behandlung von Patienten mit Angst- und somatoformen
Störungen erweitern und verbessern kann.
Die Untersuchung wurde als Projekt im Rahmen des Förderschwerpunktes Rehabili-
tationswissenschaften im Forschungsverbund Freiburg/Bad Säckingen durch den
Verband Deutscher Rentenversicherungsträger sowie das Bundesministerium für
Forschung und Technologie unterstützt.

Störungsbilder
3
2 Störungsbilder
In die Untersuchung einbezogen wurden Patienten mit einer Angst- bzw. somatofor-
men Störung, die von einem erfahrenen Kliniker zu Beginn des Klinikaufenthaltes
anhand der
I
nternational
C
lassification of
D
iseases ICD-10 (D
ILLING
,
M
OMBOUR
&
S
CHMIDT
, 1993) diagnostiziert wurde. Die ICD-10 stellt das derzeit gültige Klassifika-
tionssystem im Rahmen der psychosomatischen Rehabilitationsbehandlung dar. Die
I
nternationale
K
lassifikation der
F
unktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit
(ICF), im Mai 2001 von der WHO verabschiedet, rückt mit den Begriffen der Aktivität,
Teilhabe und Kontextfaktoren die Auswirkungen von Schädigungen bestimmter
Funktionen und Strukturen in den Mittelpunkt. Da es für den Bereich der psychischen
und psychosomatischen Störungen noch keine Anwendungshilfen zur Umsetzung
der allgemeinen Rahmenrichtlinien gibt (vgl. S
CHUNTERMANN
, 2003), stellen die ICF in
ihrer vorläufigen Fassung (D
EUTSCHES
I
NSTITUT FÜR MEDIZINISCHE
D
OKUMENTATION
,
2004) sowie die Rahmenempfehlungen zur ambulanten Rehabilitation bei psychi-
schen und psychosomatischen Erkrankungen (B
UNDESARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR
R
E-
HABILITATION
, 2003) lediglich eine Orientierung zur Beschreibung der beiden Stö-
rungsbilder dar, die im Folgenden vorgestellt werden.
2.1 Angststörungen
Eine häufige Form psychischer Störungen stellen die Angststörungen dar. Sie wer-
den anhand von epidemiologischen Daten, Kriterien zur Diagnostik sowie einer Ein-
ordnung in die ICF ­ Rahmenrichtlinien beschrieben.
2.1.1 Epidemiologie
Epidemiologische Untersuchungen weisen auf eine weite Verbreitung von Angststö-
rungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung hin. Zwei repräsentative Befragun-
gen mittels standardisierter Erhebungsinstrumente ergaben eine Punktprävalenz von
rund 9%. Demnach wiesen in einer Zusatzauswertung des Bundesgesundheitssur-
veys 1998 8,87% der 18-65jährigen Deutschen im Zeitraum der letzten vier Wochen
eine Angststörung auf, wobei es keinen Unterschied zwischen den alten und neuen
Bundesländern gab (W
ITTCHEN
et al., 1999). In der Dresdner Angststudie (M
ARGRAF
&
P
OLDRACK
, 2000) wurde eine Punktprävalenzrate von 8,8% für die gesamtdeutsche
Bevölkerung, bezogen auf behandlungsrelevante Angstsyndrome, erfasst durch das

Störungsbilder
4
Beck-Angst-Inventar, ermittelt. Der Münchner 7-Jahres-Follow-up-Studie zufolge
entwickeln 13,9% der deutschen Allgemeinbevölkerung im Verlauf ihres Lebens eine
Angststörung. Die Häufigkeitsangaben entsprechen weitgehend den Ergebnissen
US-amerikanischer, kanadischer, australischer und britischer Untersuchungen (vgl.
A
NDREWS
,
H
ALL
,
T
EESSON
&
H
ENDERSON
, 1999; K
ESSLER
et al., 1994; L
IN
,
G
OERING
,
L
ESAGE
&
S
TREINER
, 1997; S
INGLETON
,
B
UMPSTEAD
,
O'B
RIEN
,
L
EE
&
M
ELTZER
, 2000)
sowie regional durchgeführter Erhebungen der EDSP-Studie in Süddeutschland
(W
ITTCHEN
,
M
ÜLLER
&
S
TORZ
, 1998). Die Prävalenz der unterschiedlichen Angststö-
rungen sowie deren Gesamtprävalenz für die USA und die BRD zeigt Tabelle 2.1.
Tabelle 2.1.
Lebenszeitprävalenzen von Angsterkrankungen in den USA (ECA-Studie)
und in der BRD (MFS-Studie) (nach M
ORSCHITZKY
, 2002, S. 151).
Lebenszeiterkrankung in %
Art der Angststörung
USA (ECA-Studie)
BRD (MFS)
Alle Angsterkrankungen
14,6
13,9
Agoraphobie 5,2
5,7
Panikstörung 1,6
2,4
Generalisierte Angststörung
8,5
Spezifische Phobie
10,0
8,0
Soziale Phobie
2,8
2,5
ECA ­ Epidemiological Catchment Area Study, MFS ­ Münchner 7-Jahres-Follow-up-Studie
Angststörungen stellen bei Frauen die häufigste, bei Männern nach der Alkoholab-
hängigkeit die zweithäufigste der psychischen Störungen dar (M
ORSCHITZKY
, 2002,
152). Frauen sind verglichen mit Männern mehr als doppelt so häufig betroffen (M
AI-
ER
,
L
INDEN
&
S
ARTORIUS
, 1996; W
ITTCHEN
et al., 1999).
B
ANDELOW
(2001, 32) beschreibt für die Patienten einer Angstambulanz eine Häu-
fung von Panikstörungen und Agoraphobie für die Altersgruppe zwischen 20 und 40
Jahren und einen Abfall ab dem 50. Lebensjahr. W
ITTCHEN
et al. (1999) stellten in
ihrer Stichprobe von 18-65jährigen keine Unterschiede zwischen den Altersgruppen
bezüglich der Häufung von Angststörungen fest. Für den Altersbereich der Kinder
fehlen epidemiologische Studien. Panikstörungen scheinen hier allerdings selten
vorzukommen, sondern erst mit dem Beginn der Pubertät aufzutreten (s. B
ANDELOW
,
2001, 32) und am häufigsten zwischen dem 30. und 44. Lebensjahr zu beginnen
(E
ATON
et al., 1989).

Störungsbilder
5
Die häufigsten Formen von Angststörungen sind in klinischen Stichproben die Ago-
raphobien und sozialen Phobien. In der Allgemeinbevölkerung überwiegen dagegen
neben den sozialen Phobien die spezifischen Phobien (M
ORSCHITZKY
, 2002, 152). In
einer Studie der WHO wiesen mehr als 10% der Patienten in Allgemeinarztpraxen
behandlungsbedürftige Angststörungen auf, davon 1,6% akute Agoraphobien, 1,3%
akute Panikstörungen und 8,5% generalisierte Angststörungen, wobei spezifische
und soziale Phobien nicht erfasst wurden (M
AIER
,
L
INDEN
&
S
ARTORIUS
, 1996). Dabei
wurden von den Allgemeinmedizinern als erst behandelnde Ärzte 50% aller nach
ICD-10 vorliegenden Angststörungen nicht erkannt bzw. fehl diagnostiziert, und die
Diagnose einer Angststörung führte häufig nicht zu einer entsprechenden Behand-
lung (S
ARTORIUS
,
Ü
STÜN
,
L
ECRUBIER
&
W
ITTCHEN
, 1996).
Angststörungen treten häufig im Zusammenhang mit weiteren Störungen auf. Bei der
überwiegenden Anzahl von Betroffenen tritt im Verlauf des Lebens mindestens eine
weitere Angsterkrankung auf. Reine Angststörungen bestehen nach W
ITTCHEN
und
V
OSSEN
(1996) lediglich bei 8% der Panikstörungen, 25% der Agoraphobien und 44%
der spezifischen und sozialen Phobien (lebenszeitlich in der BRD). Jeder zweite an
Angststörung erkrankte Deutsche entwickelt mindestens einmal eine weitere psychi-
sche Störung. Am häufigsten findet sich die Komorbidität zwischen einer Angststö-
rung und einer Depression. Darüber hinaus finden sich Überschneidungen mit Suizi-
dalität, hypochondrischen Syndromen, somatoformen Störungen, Persönlichkeitsstö-
rungen, Medikamentenmissbrauch sowie Alkoholabhängigkeit (s. B
ANDELOW
, 2001,
43-50; M
ORSCHITZKY
, 2002, 156-166).
Angststörungen besitzen eine hohe gesundheitsökonomische Bedeutung. Die Pati-
enten suchen im Vergleich zu Patienten mit anderen psychischen Störungen am
häufigsten Allgemeinarztpraxen auf (K
LERMAN
et al., 1991) und finden sich oft als
Notfälle in medizinischen Einrichtungen ein. Es entstehen hohe Kosten durch unnöti-
ge medizinische Maßnahmen aufgrund von Fehldiagnosen (s. K
LERMAN
,
H
IRSCHFELD
&
A
L
, 1993, 19f.). Ein hoher Kostenfaktor entsteht aus der vollständigen oder einge-
schränkten Arbeitsproduktivität der Betroffenen. Betroffene gaben für die vergange-
nen vier Wochen 0,8 Arbeitsunfähigkeitstage und 4,6 Tage mit eingeschränkter Ar-
beitsproduktivität aufgrund ihrer psychischen Probleme an und lagen damit deutlich
höher als Personen ohne psychische Störungen mit 0,1 bzw. 0,3 Tagen (W
ITTCHEN
et

Störungsbilder
6
al., 1999). M
ASSION
,
W
ARSHAW
und K
ELLER
(1993) zufolge erhielten etwa 26% der
untersuchten Patienten mit einer generalisierten Angststörung Arbeitsunfähigkeitsbe-
züge. Nach B
ROOCKS
(2000, 23) entstehen auch bei Patienten mit einer Panikstörung
erhebliche wirtschaftliche Kosten durch Arbeitsausfallzeiten und vorzeitige Berentun-
gen. Panikstörungen beeinträchtigen den Allgemeinzustand der Betroffenen in vielen
Bereichen und führen zu einer erhöhten Mortalität.
2.1.2 Diagnose-Kriterien
Angststörungen werden nach der ICD-10 in phobische Störungen (F40) und in ande-
re Angststörungen (F41) eingeteilt. Bei den phobischen Störungen handelt es sich
um eine Störungsgruppe, ,,bei der Angst ausschließlich oder überwiegend durch ein-
deutig definierte, im allgemeinen ungefährliche Situationen oder Objekte ­ außerhalb
der betreffenden Person ­ hervorgerufen wird. Diese Situationen oder Objekte wer-
den charakteristischerweise gemieden oder voller Angst ertragen" (D
ILLING
,
M
OM-
BOUR
,
S
CHMIDT
&
S
CHULTE
-M
ARKWORT
, 1994, S. 143). Die psychischen oder vegetati-
ven Symptome müssen primäre Manifestationen der Angst sein und nicht auf Sym-
ptomen wie Wahn- oder Zwangsgedanken beruhen.
Als Angstsymptome werden vegetative Symptome wie Herzklopfen, erhöhte Herzfre-
quenz oder Schweißausbrüche, Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen wie
Atembeschwerden, Beklemmungsgefühl oder Thoraxschmerzen, psychische Sym-
ptome wie Gefühle von Schwindel oder Schwäche, Angst vor Kontrollverlust oder die
Angst zu sterben sowie allgemeine Symptome wie Hitzewallungen, Kälteschauer o-
der Gefühllosigkeit beschrieben. Das Vermeidungsverhalten oder die Angstsympto-
me stellen eine deutliche emotionale Belastung dar, und die Betroffenen haben die
Einsicht, dass diese übertrieben oder unvernünftig sind. Die Symptome beschränken
sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen oder Gedan-
ken an diese (D
ILLING
et al., 1994, S. 115f.).
Bezogen auf die angstauslösende Situation bzw. das angstauslösende Objekt wer-
den drei Untergruppen von Phobien beschrieben:
Bei der
Agoraphobie
(F40.0) muss die Angst in mindestens zwei der folgenden um-
schriebenen Situationen auftreten: in Menschenmengen, auf öffentlichen Plätzen, bei
Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause oder bei Reisen alleine.

Störungsbilder
7
Bei den
sozialen Phobien
(F40.1) treten die Ängste in sozialen Situationen wie Essen
oder Sprechen in der Öffentlichkeit auf, in denen die Betroffenen im Zentrum der
Aufmerksamkeit stehen.
Spezifische (isolierte) Phobien
(F40.2) beziehen sich auf ein bestimmtes Objekt wie
z.B. Insekten oder auf eine bestimmte Situation bzw. Örtlichkeit wie z.B. im Fahrstuhl
oder im Tunnel.
Die Kategorie F41 umfasst andere Angststörungen, bei denen die Angstsymptome
wie oben beschrieben auftreten.
Die
Panikstörung
(episodisch paroxysmale Angst, F41.0) ist durch wiederholte Pa-
nikattacken gekennzeichnet, die nicht auf eine spezifische Situation oder ein spezifi-
sches Objekt bezogen sind. Eine Panikattacke wird charakterisiert durch ,,eine ein-
zelne Episode von intensiver Angst oder Unbehagen, sie beginnt abrupt, sie erreicht
innerhalb weniger Minuten ein Maximum und dauert mindestens einige Minuten"
(D
ILLING
et al., 1994, S. 119).
Die
generalisierte Angststörung
(F41.1) bezieht sich auf einen Zeitraum von mindes-
tens sechs Monaten, im dem Anspannung, Besorgnis und Befürchtungen bezogen
auf Alltagsprobleme und ­ereignisse vorherrschen. Dabei müssen mindestens vier
der beschriebenen Angstsymptome vorliegen, eins davon aus dem Bereich der vege-
tativen Symptome. Als weitere Symptome kommen nach Dilling et al. (1994) Sym-
ptome der Anspannung wie Muskelverspannung, Schmerzen, Ruhelosigkeit oder
Gefühle von Aufgedrehtsein sowie andere unspezifische Symptome wie Erschreckt-
werden, Leeregefühl und Einschlafstörungen wegen der Besorgnis in Frage (s.o.,
S.121).
2.1.3 Störungsbild nach ICF
Die Beschreibung der Angststörungen ist entsprechend der ICF in vier Teile geglie-
dert. Nach den Schädigungen werden die daraus resultierenden Beeinträchtigungen
der Aktivitäten und Partizipation sowie die Möglichkeiten der Sporttherapie als för-
dernder Kontextfaktor dargestellt.

Störungsbilder
8
2.1.3.1
Schädigungen der Körperstrukturen und Körperfunktionen
B
ANDELOW
(2001, 169) beschreibt für Patienten mit Panikstörung und Agoraphobie
eine ,,ererbte Vulnerabilität oder konstitutionelle Disposition für das Auftreten von
Angst". Dabei handelt es sich ,,nicht um eine allgemeine Ängstlichkeit, sondern um
eine selektive Überempfindlichkeit in Hinblick auf bestimmte körperliche Sensatio-
nen" (S. 173). An sich harmlose körperliche Stimuli werden von den Betroffenen als
bedrohlich bewertet. G
ORMAN
,
K
ENT
,
S
ULLIVAN
&
C
OPLAN
(2000) nehmen ein soge-
nanntes überempfindliches ,,Angstnetzwerk" bestehend aus der Amygdala, dem Hip-
pocampus, dem Thalamus, dem Hypothalamus und dem Griseum centrale im Mittel-
hirn an. Aus neurobiologischer Sicht scheinen die Neurotransmitter Serotonin und
Noradrenalin die Angstentstehung zentral zu beeinflussen (B
ANDELOW
, 2001, 152).
Abbildung 2.1.
Reduzierte kardiopulmonale Fitness als pathogenetisch wirksame Komponente inner-
halb eines multifaktoriellen Modells zur Genese der Panikstörung (nach B
ROOCKS
et al., 1997b, 388).
Bewegungsmangel
reduzierte kardiopulmonale Fitness
Vermeidungsverhalten
auch in Bezug auf Sport
psychosozialer Rückzug
vegetative Übererregbarkeit
erhöhter Sympathikotonus
Laktatintoleranz
Wahrnehmung vegetativer, besonders
kardialer Symptome, Panikattacken,
Hyperventilation, ,,Herzneurose"
psychische Disposition
kognitive Faktoren
biologische Disposition

Störungsbilder
9
Die Zusammenhänge sind jedoch letztendlich noch ungeklärt. B
ROOCKS
et al.
(1997b) bewerten die ,,reduzierte kardiopulmonale Fitneß als pathogenetische wirk-
same Komponente innerhalb eines multifaktoriellen Modells" (S. 388) als eine wichti-
ge Komponente in der Entstehung von der Panikstörung (s. Abbildung 2.1). Auch
geringe körperliche Belastungen lösen die Symptome und Reaktionen aus, so dass
die Betroffenen sich noch mehr in ihrem Schonverhalten bestätigt sehen, und der
Bewegungsmangel in einem Teufelskreis verstärkt wird.
Im Sinne der ICF- ,,
Klassifikation der Körperfunktionen
" (S
CHUNTERMANN
, 2002, 10-
20) können Angststörungen zu Einschränkungen folgender Funktionen führen (vgl.
B
ANDELOW
, 2001, 11, 17-24; B
ROOCKS
, 2000, 21-24; H
AND
, 2005; M
ASSION
, 1993;
M
ORSCHITZKY
, 2002, 6,14):
· Emotionale
Funktionen im Sinne übersteigerter Angst, Anspannung und Sorgen
· Funktionen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung
durch Aufmerksamkeitsrichtung auf mögliche angstauslösende, körperliche Sym-
ptome und deren unrealistische Bewertung
· Funktionen des Denkens durch unlogische Vermutungen über mögliche Gefah-
ren, da die sonst logisch arbeitenden Zentren des Gehirns durch die Ängste un-
terdrückt werden
· Funktionen des Schlafes durch Besorgnis
· Funktionen des kardiovaskulären Systems bestehend in einer autonomen Dysre-
gulation (s. Abschnitt 3.3.2)
· Funktionen der kardiorespiratorischen Belastbarkeit, da aufgrund des Schonver-
haltens die Ausdauerleistung, aerobe Kapazität und Belastbarkeit teilweise ex-
trem eingeschränkt sind (vgl. Übersicht bei B
ROOCKS
et al., 1997b)
· Atmungsfunktionen, da es häufig durch erlebten Luftmangel zu erhöhter Atemfre-
quenz, verflachter Atmung und zur Hyperventilation kommt
· Mit dem kardiovaskulären und Atmungssystem verbundene Empfindungen wie
Aussetzen des Herzschlages, Herzklopfen, Kurzatmigkeit, Empfindung von
Brustenge, Erstickungsgefühl etc.
· Funktionen der Muskelkraft durch das Schonverhalten
· Funktionen des Muskeltonus durch ständige Anspannung
· Mit den Funktionen der Muskeln und der Bewegung in Zusammenhang stehende
Empfindungen wie Muskelanspannung oder Muskelverspannung

Störungsbilder
10
2.1.3.2
Beeinträchtigungen der Aktivitäten
Aufgrund der funktionellen Beeinträchtigungen ist es den von einer Angststörung Be-
troffenen nur noch eingeschränkt bzw. nicht mehr möglich, eine Reihe von Aktivitäten
auszuführen, die unter der ,,Klassifikation der Aktivitäten und Partizipation" in der ICF
(s. S
CHUNTERMANN
, 2002, 23-32) aufgeführt werden (vgl. B
ANDELOW
, 2001, 11, 17-24;
B
ROOCKS
, 2000, 21-24; H
AND
, 2005; K
LERMAN
et al., 1991; M
ASSION
, 1993; M
OR-
SCHITZKY
, 2002, 6,14):
· Die tägliche Routine durchführen: das eigene Aktivitätsniveau handhaben.
· Die psychische Belastbarkeit ist eingeschränkt, so dass der Umgang mit Stress
und anderen psychischen Anforderungen schwierig ist.
· Die
Mobilität ist durch das Vermeidungsverhalten teilweise extrem eingeschränkt.
Weite Entfernungen gehen oder sich auf andere Weise fortbewegen wie rennen,
joggen, Treppen steigen oder schwimmen ist aufgrund der eingeschränkten kar-
diorespiratorischen Belastbarkeit nicht möglich. Besonders bei agoraphobischen
Störungen entfernen die Betroffenen sich nicht weit vom vermeintlich sicheren
Zuhause, so dass sie sich nicht mehr in verschiedenen Umgebungen fortbewe-
gen können. Die Fortbewegung mit Transportmitteln ist stark eingeschränkt, da
Agoraphobiker öffentliche Verkehrsmittel meiden, Schiffs- und Flugreisen umge-
hen und Angst vor dem Autofahren haben.
· Aufgrund der als schädlich bewerteten körperlichen Sensationen und durch das
folgende Schonverhalten erhalten die Betroffenen kein angemessenes Niveau
körperlicher Aktivität aufrecht, das einen wichtigen Teil zur Krankheitsbewälti-
gung darstellen würde.
· Das Beschaffen von Lebensnotwendigkeiten wie beispielsweise Waren und
Dienstleistungen des täglichen Bedarfs ist aufgrund des Vermeidungsverhaltens
eingeschränkt, da die Betroffenen Menschenansammlungen wie im Kaufhaus
oder der Einkaufsstrasse nicht aufsuchen.
· Komplexe interpersonelle Interaktionen werden eingeschränkt, da viele Betroffe-
ne auf ihre Angststörung mit sozialem Rückzug reagieren und Veranstaltungen
und öffentliche Einrichtungen nicht mehr aufsuchen.

Störungsbilder
11
2.1.3.3 Beeinträchtigungen der Partizipation
Infolge der vielen eingeschränkten Aktivitäten sind die Betroffenen von einigen ge-
meinschaftlichen Lebensbereichen ausgeschlossen. Das Erholungs- und Freizeitver-
halten ist stark eingeengt, da viele Aktivitäten außerhalb des eigenen Zuhauses und
häufig mit vielen anderen Menschen stattfinden. Viele Formen von Freizeitaktivitäten
entfallen durch die Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit und durch das
Schonverhalten.
Die Lebensqualität ist durch eine Angststörung oft erheblich eingeschränkt, insbe-
sondere, wenn entsprechende unterstützende Möglichkeiten fehlen. Die Betroffenen
sind physisch und psychisch auf Bezugspersonen angewiesen, mit deren Hilfe sie
ihren Alltag organisieren und ihre Angst vor dem Alleinsein in den Griff bekommen.
Die Folgen des sozialen Rückzuges sind die Einschränkung sozialer Interaktionen,
Schwierigkeiten, Beziehungen aufzubauen bzw. aufrechtzuerhalten sowie der Verlust
der sozialen Integration.
Auch der Bereich Arbeit und Beschäftigung ist häufig beeinträchtigt, da sich die Be-
troffenen aufgrund ihrer psychischen Probleme nicht in der Lage sehen, ihrer Arbeit
nachzugehen, und sich um Krankschreibungen bemühen (B
ROOCKS
et al., 1997a).
Wenn in dieser Weise die Erwerbsfähigkeit betroffen ist, ist schließlich auch die wirt-
schaftliche Eigenständigkeit bedroht, da viele Betroffene finanziell abhängig werden
von ihren Eltern oder ihrem Partner.
2.1.3.4
Sporttherapie als fördernder Kontextfaktor
Von den denkbaren Kontextfaktoren soll im Hinblick auf die untersuchte Studienin-
tervention in Form eines Ausdauertrainings lediglich der sporttherapeutische Ansatz
mit den entsprechenden Möglichkeiten erläutert werden. Das Hauptziel liegt in dem
Durchbrechen des beschriebenen Teufelskreises bedingt durch das Schonverhalten
(s. Abbildung 2.1). B
ROOCKS
et al. (1997b) halten ,,die Reattributierung angstbesetz-
ter Körpersensationen für einen entscheidenden Wirkfaktor...Während der Ausdau-
erbelastung erlebt der Patient die mit den Angstzuständen assoziierten Symptome
wie Herzrasen, Schwitzen, schnelles Atmen und leichten Schwindel als völlig norma-
le physiologische Reaktionen, die nach kurzer Zeit von selbst verschwinden" (S.
389). Ein entsprechendes Programm soll das Erleben körperlicher Leistungsfähigkeit
und deren Beeinflussbarkeit mit Hilfe gezielter Trainingsmaßnahmen ermöglichen, so
dass die Betroffenen wieder Vertrauen in ihren Körper, die Wahrnehmung und Be-

Störungsbilder
12
wertung der Körpersignale aufbauen. Darüber hinaus lässt sich durch die Bewegung
die Fähigkeit vermitteln, über die Bewegung die eigene Befindlichkeit selbst zu stabi-
lisieren bzw. zu verbessern. Soziale Interaktionen können in der Sportgruppe wieder
aufgenommen und verbessert werden. Entsprechende Kontextfaktoren stellen Lauf-
bzw. Walking-Treffs, Sportgruppen oder Vereinsangebote dar.
2.2 Somatoforme
Störungen
Eine weitere Form psychischer Störungen, die häufig auftritt, stellen die somatofor-
men Störungen dar. Sie werden anhand von epidemiologischen Daten, Kriterien zur
Diagnostik sowie einer Einordnung in die ICF ­ Rahmenrichtlinien beschrieben.
2.2.1 Epidemiologie
Die vorhandenen epidemiologischen Daten sind infolge unklarer Diagnosekriterien
und hochselektiver Stichproben nur bedingt aussagekräftig. M
ORSCHITZKY
(2000) be-
schreibt für die Allgemeinbevölkerung ,,eine Lebenszeithäufigkeit von 0,2-0,5% bei
Konversionsstörungen, von 0,4-0,5% bei der streng definierten Somatisierungsstö-
rung und von 4-13% beim multiplen Somatisierungssyndrom" (S. 165). Im Zusatzsur-
vey ,,psychische Störungen" wurde für die deutsche Durchschnittsbevölkerung im
Alter zwischen 18 und 65 Jahren eine Vier-Wochen-Querschnittsprävalenz von 7,5%
bezogen auf eine somatoforme Störung nach ICD-10 Kriterien diagnostiziert festge-
stellt (W
ITTCHEN
et al., 1999). Dabei lag die Rate in den alten Bundesländern mit
8,0% höher als in den neuen Bundesländern mit 5,5%. Die Divergenz zu den Ergeb-
nissen anderer Untersuchungen führen die Autoren auf Unterschiede in der Definiti-
on und Befragung zurück. Sie vermuten, dass die Angabe subjektiv geäußerter psy-
chischer Beschwerden von den manifesten Formen einer somatoformen Störung
abweicht. In der im norddeutschen Raum erhobenen TACOS-Studie ergab sich für
die 18- bis 64-jährigen eine Lebenszeitprävalenz von 12,9% (M
EYER
,
R
UMPF
,
H
APKE
,
D
ILLING
&
J
OHN
, 2000).
Frauen sind häufiger als Männer von einer somatoformen Störung betroffen (9,99%
vs. 4,93%). Altersgruppenspezifische Unterschiede wurden bei W
ITTCHEN
et al.
(1999) nicht gefunden, M
ORSCHITZKY
(2000, 166) beschreibt jedoch eine zweigipflige
Altersverteilung mit einer Häufung bei den 15-25jährigen und den 45-55jährigen.

Störungsbilder
13
In der Bremer Jugendstudie (E
SSAU
,
C
ONRADT
&
P
ETERMANN
, 2000) wurde eine Le-
benszeitprävalenz für somatoforme Störungen von 13,1% der untersuchten 12- bis
17jährigen festgestellt. Die Häufigkeit nahm mit dem Alter zu.
Laut R
IEF
und H
ILLER
(1998, 16f.) ist die Somatisierungsstörung mit einem niedrige-
ren Bildungsniveau und einer niedrigeren sozialen Schicht assoziiert und scheint in
städtischen Gebieten häufiger zu sein.
Bei somatoformen Störungen besteht in den meisten Fällen eine Komorbidität mit
anderen psychischen Erkrankungen. Am häufigsten besteht nach R
IEF
und
H
ILLER
(1998, 19-21) bei den Patienten mit einer somatoformen Störung bzw. einem multip-
len Somatisierungssyndrom eine Lebenszeitkomorbidität mit einer Depression (fast
zwei Drittel) oder einer Angststörung (20-50%). Die von Komorbidität betroffenen Pa-
tienten weisen eine schwerere Symptomatik auf und sind in ihren psychosozialen
Funktionen deutlich beeinträchtigter.
Medizinische Behandlungseinrichtungen werden häufig aufgrund von unklaren kör-
perlichen Beschwerden aufgesucht. In diesen klinischen Stichproben wird eine we-
sentlich höhere Prävalenz von somatoformen Störungen bzw. dem weiter gefassten
Somatisierungssyndrom festgestellt (s. N
ANKE
&
R
IEF
, 2003). Patienten mit einer so-
matoformen Störung nehmen häufig medizinische Leistungen in Anspruch. So such-
ten in einer Studie von N
ANKE
und R
IEF
(2003) Patienten mit unklaren Körperbe-
schwerden relativ zum bundesweiten durchschnittlichen Arztbesuch fast dreimal so
häufig einen Arzt auf (durchschnittlich fünfzehn Arztbesuche in den letzten sechs
Monaten vs. elf jährliche Arztbesuche). S
MITH
,
M
ONSON
und R
AY
(1986) stellten fest,
dass die Behandlungskosten bei somatoformen Störungen verglichen mit der Durch-
schnittsbevölkerung im Durchschnitt bis zu 9fach erhöht sind. Die Eingriffe sind dabei
oft erheblich.
Die ökonomischen Kosten werden durch Arbeitsunfähigkeitszeiten erheblich erhöht.
Laut W
ITTCHEN
et al. (1999) waren die Arbeitsunfähigkeitstage und die Tage mit ein-
geschränkter Arbeitsproduktivität bedingt durch eine somatoforme Störung bei den
Betroffenen höher als in der Vergleichsgruppe ohne psychische Störungen (0,7 vs.
0,1 bzw. 2,7 vs. 0,3 Tage in den letzten vier Monaten). R
IEF
,
C
UNTZ
und F
ICHTER
(2001) fanden in einer klinischen Erhebung sogar eine durchschnittliche Arbeitsunfä-
higkeitszeit von 128 Tagen in den vergangenen 24 Monaten.

Störungsbilder
14
2.2.2 Diagnose-Kriterien
Die unter F45 im ICD-10 beschriebenen somatoformen Störungen lassen sich durch
,,die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen
Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Er-
gebnisse" (D
ILLING
et al., 1993, S. 170) charakterisieren. Die multiplen und wech-
selnden Symptome lassen sich nicht durch eine diagnostizierte körperliche Krankheit
erklären bzw. wenn vorhanden, erklären sie nicht ,,die Schwere, das Ausmaß, die
Vielfalt und die Dauer der körperlichen Beschwerden oder die damit verbundene so-
ziale Behinderung" (D
ILLING
et al., 1994, S. 130).
Die Diagnose einer Somatisierungsstörung (F45.0) umfasst Klagen über multiple
Symptome seit mindestens zwei Jahren, die zu einem andauernden Leiden und
mehrfachen ärztlichen Konsultationen oder Zusatzuntersuchungen führen. Die Pati-
enten weigern sich hartnäckig zu akzeptieren, dass medizinisch keine ausreichende
körperliche Ursache für die Symptome festzustellen ist. Insgesamt müssen mindes-
tens sechs der folgenden Symptome aus mindestens zwei Gruppen nach D
ILLING
et
al. (1994, S. 131) vorliegen:
Gastro-intestinale Symptome:
1. Bauchschmerzen
2. Übelkeit
3. Gefühl von Überblähung
4. schlechter Geschmack im Mund oder extrem belegte Zunge
5. Klagen über Erbrechen oder Regurgitation von Speisen
6. Klagen über häufigen Durchfall oder Austreten von Flüssigkeit aus dem Anus
Kardiovaskuläre Symptome:
7. Atemlosigkeit ohne Anstrengung
8. Brustschmerzen
Urogenitale Symptome:
9. Dysurie oder Klagen über die Miktionshäufigkeit
10. unangenehme Empfindungen in oder um den Genitalbereich
11. Klagen über ungewöhnlichen oder verstärkten vaginalen Ausfluss
Haut- und Schmerzsymptome:
12. Klagen über Fleckigkeit oder Farbveränderungen der Haut
13. Schmerzen in den Gliedern, Extremitäten oder Gelenken
14. unangenehme Taubheit oder Kribbelgefühl.

Störungsbilder
15
Für die
undifferenzierte Somatisierungsstörung
(F45.1) gelten die Diagnosekriterien
der Somatisierungsstörung bezogen auf einen Zeitraum von mindestens sechs Mo-
naten. Die ärztlichen Konsultationen bzw. die Anzahl der Symptome müssen jedoch
nicht vollständig erfüllt sein.
Die
hypochondrische Störung
(F45.2) ist vor allem gekennzeichnet durch die beharr-
liche Beschäftigung mit der Möglichkeit, an einer oder mehreren schweren und fort-
schreitenden körperlichen Erkrankungen zu leiden. Die ständige Sorge verursacht
andauerndes Leiden oder eine Störung des alltäglichen Lebens. Die medizinische
Feststellung, dass es keine ausreichende körperliche Ursache gibt, wird hartnäckig
zurückgewiesen.
Bei der
somatoformen autonomen Funktionsstörung
(F45.3) werden hartnäckige und
störende Symptome der vegetativen Stimulation wie Herzklopfen, Schwitzen, Zittern
oder Erröten sowie zusätzliche subjektive, unspezifische Symptome (fließende
Schmerzen, Brennen, Schwere) als Anzeichen einer körperlichen Erkrankung ge-
schildert. Die häufigsten und auffallendsten Beispiele beziehen sich auf das kardio-
vaskuläre System (,,Herzneurose"), das respiratorische System (psychogene Hyper-
ventilation) und das gastrointestinale System (,,Magenneurose" oder ,,nervöser
Durchfall"). Es gibt dabei keinen Nachweis einer Störung von Struktur oder Funktion
der betroffenen Organe oder Systeme.
Die anhaltende
somatoforme
Schmerzstörung
(F45.5) beinhaltet einen mindestens
sechs Monate kontinuierlichen, an den meisten Tagen anhaltenden, schweren und
belastenden Schmerz in einem Körperteil, der Hauptfokus für die Aufmerksamkeit
der Patienten ist. Hierbei muss eine funktionelle Komponente nachgewiesen werden.
2.2.3 Störungsbild nach ICF
Die Beschreibung der somatoformen Störungen ist entsprechend der ICF in vier Tei-
le gegliedert. Nach den Schädigungen werden die daraus resultierenden Beeinträch-
tigungen der Aktivitäten und Partizipation sowie die Möglichkeiten der Sporttherapie
als fördernder Kontextfaktor dargestellt.

Störungsbilder
16
2.2.3.1
Schädigungen der Körperstrukturen und Körperfunktionen
Somatoformen Störungen scheint eine multifaktorielle Genese zugrunde zu liegen,
die sich in einem kognitiv-bio-psycho-sozialen Erklärungsmodell niederschlägt (M
OR-
SCHITZKY
, 2000, 203; R
IEF
&
H
ILLER
, 1998, 28; R
IEF
&
N
ANKE
, 1999). Zwillings-, Adop-
tiv- und Familienstudien weisen auf eine genetische Prädisposition hin (R
IEF
&
H
IL-
LER
, 1998, 29). Patienten mit somatoformen Störungen scheinen eine verringerte
basale Aktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse aufzuwei-
sen, was sich in Veränderungen des Kortisolspiegels zeigt. Die Betroffenen sind so-
mit anfälliger für Stressbelastungen und besitzen eine verstärkte Schmerzwahrneh-
mung (vgl. M
ORSCHITZKY
, 2000, 205f.). R
IEF
,
S
HAW
und F
ICHTER
(1998) sowie R
IEF
und
A
UER
(2001) fanden eine physiologische Übererregung bei Patienten mit soma-
toformen Störungen, die sich besonders unter einer mentalen Belastung in der er-
höhten Herzrate und in einem zunehmenden Anspannungsgefühl zeigte. Laut M
OR-
SCHITZKY
(2000) weisen ,,Somatisierungspatienten bei selektiven Aufmerksamkeits-
prozessen und intensiven emotionalen Reizen spezifische hirnphysiologische Aktivie-
rungsmuster auf" (S. 207). W
ITTLING
(1998) zufolge spielt das Gehirn eine zentrale
Rolle bei der Entstehung somatoformer Störungen, die durch spezifische Funktions-
merkmale des neuronalen Systems, insbesondere über das autonome Nervensys-
tem beeinflusst wird (s. hierzu auch Abschnitt 3.3.2).
Im Sinne der ICF- ,,
Klassifikation der Körperfunktionen
" (S
CHUNTERMANN
, 2002, 10-
20) können somatoforme Störungen zu Einschränkungen folgender Funktionen füh-
ren (vgl. M
ORSCHITZKY
, 2000, 208-216; R
IEF
, 2005; R
IEF
&
H
ILLER
, 1998, 34-38):
· Funktionen der Wahrnehmung: im Sinne eines interozeptiven Wahrnehmungs-
stils, bei dem körperliche Empfindungen als intensiv, schädlich und beeinträchti-
gend erlebt werden
· Funktionen der Aufmerksamkeit: die Körperfunktionen werden intensiv und ängst-
lich beobachtet, die Aufmerksamkeit auf unangenehme Körperempfindungen und
körperliche Beschwerden fokussiert, ständiges ängstliches Beobachten des Kör-
pers (,,Checking") und häufige Selbstuntersuchungen
· Funktionen des Denkens: Körpersignale werden als bedrohliche Krankheitszei-
chen fehlinterpretiert, Aufbau einer persönlichen Krankheitstheorie mit dysfunkti-
onalen Einstellungen zum Gesundheitsbegriff, falschen Annahmen über Körper-
funktionen, physiologischen Zusammenhängen und Kausalattribuierungen sowie

Störungsbilder
17
mit übertriebenen Ansprüchen an die Medizin, übermäßige Beschäftigung mit der
Thematik von Gesundheit und Krankheit auch in Gesprächen mit Verwandten und
Bekannten
· Emotionale Funktion: Verstärkung der Angstgefühle verbunden mit wachsender
Besorgnis
· Die Selbstwahrnehmung betreffende Funktionen: Selbstverständnis von Schwä-
che, geringe Belastbarkeit oder körperliche Verletzlichkeit, stark gestörtes Kör-
pererleben, häufig wird jede bewusste körperliche Wahrnehmung vermieden bzw.
die Konfrontation mit bestimmten Körperbereichen gemieden
· Schmerz: gesteigerte Schmerzwahrnehmung und ­empfindung
· Funktionen der kardiorespiratorischen Belastbarkeit: Ausdauerleistungsfähigkeit
aufgrund des Schonverhaltens teilweise extrem niedrig
· Funktionen von Muskelkraft, -tonus und -ausdauer: durch das Schonverhalten
bedingt kommt es zu einer Muskeldysbalance, die Kraft der zur Schwäche nei-
genden Muskelgruppen ist zu gering, die zur Verkürzung neigenden Muskelgrup-
pen sind nicht ausreichend dehnfähig
· entsprechend der individuellen Symptomatik können in unterschiedlicher Kombi-
nation Funktionen im Zusammenhang mit dem kardiovaskulären und Atmungs-
system, dem Verdauungssystem, dem Stoffwechsel- und endokrinen System,
dem Urogenital- und reproduktiven System sowie neuromuskuloskeletale, bewe-
gungsbezogene und Funktionen der Haut beeinträchtigt sein.
2.2.3.2
Beeinträchtigungen der Aktivitäten
Aufgrund der funktionellen Beeinträchtigungen ist es den von einer somatoformen
Störung Betroffenen nur noch eingeschränkt bzw. nicht mehr möglich, eine Reihe
von Aktivitäten auszuführen, die unter der ,,Klassifikation der Aktivitäten und Partizi-
pation" in der ICF (s. S
CHUNTERMANN
, 2002, 23-32) aufgeführt werden (vgl. M
OR-
SCHITZKY
, 2000, 210-214; N
ANKE
&
R
IEF
, 2003; R
IEF
, 2005; R
IEF
&
H
ILLER
, 1998, 34-
38; S
MITH
,
M
ONSON
&
R
AY
, 1986; Z
IELKE
, 1998, 71-73):
· Die tägliche Routine durchführen: Chronifizierte somatoforme Störungen beinhal-
ten eine zunehmende Passivität und resignierende Hilflosigkeit der Betroffenen,
die mit einem Verlust an Selbsthilfemöglichkeiten einhergehen. Das körperliche
Aktivitätsniveau wird aufgrund des körperlichen Schonverhaltens gesenkt.

Störungsbilder
18
· Mit Stress und anderen psychischen Anforderungen umgehen: Die Stressintole-
ranz und mangelnde Copingfertigkeiten führen zu einem erhöhten physiologi-
schen Aktivierungsniveau, so dass entsprechende Anforderungen zu verstärkter
Anspannung und Überforderungen führen. Das Vertrauen in die psychische Funk-
tionstüchtigkeit der eigenen Person geht mit der abnehmenden Selbstsicherheit
verloren.
· Auf seine Gesundheit achten: Aufgrund von übersteigertem Gesundheitsverhal-
ten kommt es noch zu einer Symptomverschlimmerung. Im Rahmen von Selbst-
untersuchungen können Hautrötungen durch ständiges Betasten der betroffenen
Stelle verstärkt werden. Übertriebenes Schonverhalten verbunden mit einer man-
gelnden körperlichen Aktivität aus Angst vor einer Symptomverschlimmerung
führt zu einer weiteren Abnahme der Leistungsfähigkeit. Das dysfunktionale
Krankheitsverhalten verstärkt als aufrechterhaltender Faktor die Symptomatik und
trägt zur Chronifizierung bei. Dazu zählen das Aufsuchen vieler Ärzte (,,doctor-
hopping"), die vermehrte Inanspruchnahme medizinisch-diagnostischer Maßnah-
men und unnötig lange stationäre Aufenthalte. Es besteht die Gefahr iatrogener
Schäden durch wiederholte invasive Eingriffe sowie die Gefahr von Missbrauch
oder Abhängigkeit von Medikamenten.
· Erholung: Die passiven Entspannungsmöglichkeiten sind eingeschränkt, weil die
physische und psychische Regenerierung wegen der chronischen Anspannung
nicht mehr gelingt.
2.2.3.3 Beeinträchtigungen der Partizipation
Die Betroffenen verlieren einen Teil ihrer physischen und psychischen Unabhängig-
keit, da sie sich vom medizinischen Versorgungssystem abhängig machen. Unauffäl-
lige Befunde werden immer wieder angezweifelt und weitere Ärzte und ,,Spezialisten"
aufgesucht.
Aufgrund der eingenommenen Krankenrolle erfolgt eine pathologische Stabilisierung
sozialer Beziehungen, da der Patient mithilfe der somatoformen Störung die zwi-
schenmenschlichen Beziehungen gestaltet und kritische soziale Situationen wie
Auseinandersetzungen oder Durchsetzungsvorhaben vermeidet. Mögliche Folgen
sind verstärkte Zuwendung der Mitmenschen und die Abnahme von als unangenehm
empfundenen Verpflichtungen. Das ständige Klagen über die körperlichen Be-
schwerden belastet die Beziehungen auf Dauer jedoch erheblich. Durch die Ein-

Störungsbilder
19
schränkung auf die Krankenrolle kommt es zu einem allgemeinen sozialen Rückzug
und einer Gefährdung der sozialen Integration, zumal viele Freizeitaktivitäten auf-
grund des Schonverhaltens entfallen.
Die Beschwerden einer somatoformen Störung führen häufig zu einer Einschränkung
der Arbeitsproduktivität und einer Arbeitsunfähigkeit, so dass die Erwerbstätigkeit
erheblich gefährdet und die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Betroffenen bei einer
resultierenden Erwerbsunfähigkeit bedroht ist.
2.2.3.4 Sporttherapie
als
fördernder Kontextfaktor
Von den denkbaren Kontextfaktoren soll in Hinblick auf die untersuchte Studieninter-
vention in Form eines Ausdauertrainings lediglich der sporttherapeutische Ansatz mit
den entsprechenden Möglichkeiten erläutert werden. Der Hauptansatzpunkt liegt
auch hier, ähnlich wie bei den Angststörungen, im übertriebenen Schonverhalten.
Dabei bieten sich laut P
AHMEIER
und
B
REHM
(1998) Bewegung und sportliche Aktivität
zur Bewältigung multipler Beschwerden an, da sie eine aktive Handlung verbunden
mit einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Körper darstellen. Durch eine
entsprechende körperliche Aktivität sollen die Betroffenen einen anderen Zugang zu
ihrem Körper finden, indem sie psychophysiologische Zusammenhänge zwischen
Belastung und den entsprechenden Körpersignalen als gesunde Bereitstellungsreak-
tionen des Körpers erleben. Die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit ist
die Voraussetzung, um Vertrauen in den eigenen Körper zu entwickeln, sich wieder
belastbarer zu fühlen und die Bewertung des Körpers als ,,beschwerdebeladen" zu
relativieren.
Weitere Ziele liegen in der Spannungsregulation, in der Stabilisierung der Befindlich-
keit über Bewegung, im Aufnehmen sozialer Interaktionen, einer Vergrößerung des
sozialen Wirkungsfeldes und einer aktiven Alltags- und Freizeitgestaltung. In diesem
Rahmen stellen Lauf- oder Walking-Treffs, Sportgruppen oder andere Vereinsange-
bote wichtige Kontextfaktoren dar.

Autonome Regulation
20
3 Autonome Regulation
Die autonome Regulation bezeichnet die ,,Regelung der... inneren Lebensvorgänge
(Aufrechterhaltung der Homöostase) und deren Anpassung an die Erfordernisse der
Umwelt" (H
OFFMANN
-L
A
R
OCHE
AG,
U
RBAN
&
S
CHWARZENBERG
, 1984, S. 1645). Sie
vollzieht sich in einzelnen Regelkreisen wie beispielsweise dem der Respiration oder
des Blutdruckes, die in Verbindung mit zentralen Regelschleifen stehen. ,,Besonders
sensitive Parameter autonomer Funktion sind respirokardiale und kardiovaskuläre
Kopplungen" (Z
WIENER
,
H
OYER
,
W
ICHER
&
H
ARDRAHT
, 2002, S. 1041). Deshalb sollen
im folgenden Kapitel die physiologischen Grundlagen der kardiovaskulären Regulati-
on, ihre zwei zentralen Indices und die Bedeutung im Zusammenhang mit einer
Angst- oder somatoformen Störung dargestellt werden.
3.1 Physiologische
Grundlagen
Ein Zentrum bildet das Herz, das als elektromechanischer Oszillator ein spezifisches,
autonomes Erregungsbildungs- und Leitungssystem besitzt. Der Sinusknoten produ-
ziert durch Umpolung der Zellen rhythmisch-elektrische Aktivität, die über die Vorhö-
fe, den Atrioventrikularknoten (AV-Knoten), das Hissche Bündel und die Purkinje-
schen Fäden auf die Arbeitsmuskulatur (Myokard) des Herzens übertragen wird. Das
Myokard antwortet mit einer Kontraktion, so dass ein Aktionspotential im Sinusknoten
einen Herzschlag auslöst. Die Impulsfrequenz des Sinusknotens bestimmt somit die
Schlagfrequenz des Herzens (S
ILBERNAGL
&
D
ESPOPOULOS
, 2003, 192). Die intrinsi-
sche elektrische Sinusaktivität beträgt etwa 110 in der Minute. Sie unterliegt einer
Vielzahl von Einflussgrößen wie Temperatur, zirkulierende Hormone oder Alter. Für
die kurzfristigen Anpassungsvorgänge wird die Sinusaktivität und damit die Herzfre-
quenz vor allem durch die Herznerven Vagus und Sympathikus beeinflusst, die zum
vegetativen Nervensystem gehören (E
SPERER
, 1994). Das vegetative (oder auch au-
tonome) Nervensystem besteht aus zwei Anteilen, dem Sympathikus und dem Para-
sympathikus (auch Vagus genannt). Von hier führen aus den kreislaufregulierenden
Zentren des verlängerten Rückenmarks (Medulla oblongata) die sympathischen bzw.
parasympathischen Nervenfasern u.a. zum Herzen (s. Abbildung 3.1; S
CHMIDT
,
T
HEWS
&
L
ANG
, 2000, 340-342).

Autonome Regulation
21
Abbildung 3.1.
Aufbau des peripheren vegetativen Nervensystems mit den beiden Anteilen Sympa-
thikus und Parasympathikus.
Aus Physiologie des Menschen
(S.341) von R.F. S
CHMIDT
, G. T
HEWS
&
F. L
ANG
, 2000, Berlin: Springer.
Die Erregungsübertragung von den Endigungen der Herznerven auf die Herzmusku-
latur erfolgt durch chemische Überträgerstoffe, deren Metabolismus die Wirkungs-
weise bestimmt. Der Sympathikus ruft eine Sinustachykardie hervor, eine Erhöhung
der Frequenz der rhythmischen Spontanentladungen im Sinusknoten. Die daraus
folgende Zunahme der Herzfrequenz wird als positive Chronotropie bezeichnet. Der
sympathische Überträgerstoff ist das Noradrenalin. Dessen langsamer Metabolismus
bedingt eine erst später einsetzende Wirkung des sympathischen Einflusses nach
etwa 12 Sekunden. Der Parasympathikus führt zu einer Sinusbrachykardie, senkt
also die Impulsfrequenz des Sinusknotens und damit auch die Herzfrequenz (negati-
ve Chronotropie). Der entsprechende Überträgerstoff ist das Acetylcholin mit einem
raschen Metabolismus, der zu einer schnellen Latenzzeit führt. Kurzfristige Reaktio-
nen wie Schlag-zu-Schlag-Veränderungen des Herzens und eine sofortige maximale
Reaktion sind parasympathisch gesteuert.
In Ruhe überwiegt die parasympathische Stimulation, so dass die intrinsische Si-
nusaktivität von 110 Potentialen in der Minute auf etwa 60-80 gesenkt und eine ent-
sprechende Ruheherzfrequenz von 60-80 S/min erreicht wird. Eine Abnahme des
vagalen Ruhetonus kann ohne sympathischen Einfluss zu einer Erhöhung der Herz-
frequenz auf 100-120 S/min führen. Bei beginnender körperlicher Aktivität steigt die
Herzfrequenz erst über die Abnahme des vagalen Einflusses, dann unterstützt durch
die später einsetzende sympathische Aktivierung und ab 120 S/min über die Sympa-

Autonome Regulation
22
thikusaktivität (E
SPERER
, 1994). Dadurch erklärt sich auch ,,die zeitlich verzögerte Hf-
Zunahme [Herzfrequenz] bei beginnender körperlicher Aktivität und die relativ schnel-
le Absenkung der Hf unmittelbar nach hoher Belastungsintensität" (H
OTTENROTT
,
2002, S. 10). Die Stärke der sympathischen und parasympathischen Stimulationen
wird durch mehrere physiologische Systeme, deren Rezeptoren und Reflexe be-
stimmt, die in vielfältig miteinander verbundenen Regelkreisen ein komplexes Netz-
werk darstellen und deren gemeinsame Stellgröße die Herzfrequenz ist (E
SPERER
,
1994). Dieses Netzwerk der Herz-Kreislauf-Regulation, schematisch dargestellt in
Abbildung 3.2, steht in Wechselbeziehung zum autonomen Nervensystem.
Cortex
Hypothalamus
Medulläres
kardiorespiratorisches
Netzwerk
Muskel
Haut
TPR
V
K
HMV
VR
HR
SV
AD
BR
LPR
Schmerz
Psychomentaler Stress
Orthostase
Physische
Aktivität
Humorale Regelkreise
Respiration
Volumen-
regulation
Temperatur-
regulation
paO
2
/paCO
2
CR
Gasaustausch
Atem-
bewegungen
Renin-
Angiotensin-
System
V
a
g
u
s
Sympathikus
+
+
+
_
Zirkadiane
Zeitgeber
Herz
Abbildung 3.2.
Die Herzfequenz-Steuerung als komplex vermaschter Mehrfachregelkreis. Nach H.D.
E
SPERER
(1994).,,Physiologische Grundlagen und pathophysiologische Aspekte der Herzfrequenzvari-
abilität beim Menschen". Herzschrittmachertherapie & Elektrophysiologie, 5 (Suppl. 2), S. 3.
AD: Arterieller Blutdruck, BR: arterielle Barorezeptoren, CR: Chemorezeptoren, HMV: Herzminutenvo-
lumen, HR: Herzrate, LPR: Low pressure-Rezeptoren, pa: arterieller Gasdruck, SV: Schlagvolumen,
TPR: peripherer Gesamtwiderstand, VK: venöse Kapazität, VR: venöser Rückfluss.
Eine wichtige Rolle in diesem System der Herzaktivität nimmt der Regelkreis des ar-
teriellen Baroreflexes (auch Baroreflexschleife genannt) als negatives Feedback-
System ein. Das Eingangssignal bildet der Blutdruck. Die Messfühler, so genannte
Barorezeptoren, befinden sich hauptsächlich in der Gefäßwand des Karotissinus und
des Aortenbogens. Sie erfassen Blutdruckveränderungen über die Dehnung der Ge-

Autonome Regulation
23
fäßwände in Abhängigkeit vom transmuralen Druck und leiten die Informationen an
zentralnervöse Regelzentren weiter. Diese regeln über die Stimulation des autono-
men Nervensystems die Stellgrößen (E
SPERER
, 1994). Der vagale Anteil beeinflusst
ausschließlich die Aktivität des Sinusknotens, während der sympathische Anteil dar-
über hinaus auch die Herzmuskulatur und das periphere Gefäßsystem beeinflusst.
Ein Blutdruckabfall führt zu einer Abnahme der Barorezeptorenaktivität, damit zu ei-
ner vermehrten sympathischen und einer Hemmung der parasympathischen Aktivität.
Dadurch nehmen die Kontraktilität des Herzens und die Herzfrequenz zu (Tachykar-
die), der periphere Gefäßwiderstand wird erhöht und die Gefäße werden eng gestellt
(Vasokonstriktion). Die Folge ist ein Blutdruckanstieg bis zum Ausgangswert und
damit die Normalisierung des arteriellen Blutdruckes. Entsprechend folgt auf einen
Blutdruckanstieg durch die vermehrte Barorezeptorenaktivität eine vagal bedingte
Verringerung der Herzfrequenz (Bradykardie) und eine durch sympathische Hem-
mung bedingte Vasodilatation, die wiederum einen Blutdruckabfall bewirken. Die Ab-
läufe sind in Abbildung 3.3 dargestellt.
Abbildung 3.3.
Kreislaufreaktionen bei veränderter Erregung der Barorezeptoren im Karotissinus. Aus
Vegetative Physiologie
von G. T
HEWS
& P. V
AUPEL
(2001), Berlin: Springer, S. 198.

Autonome Regulation
24
Die Veränderung der Herzfrequenz aufgrund einer Veränderung des Blutdrucks kann
innerhalb eines Herzzyklus erfolgen. Die Reaktion der Barorezeptoren hängt von der
Geschwindigkeit der Blutdruckveränderung ab (H
ILZ
,
S
TEMPER
&
N
EUNDÖRFER
, 2000).
Die Atmung moduliert das System über verschiedene Wege und verursacht Schwan-
kungen der Herzfrequenz, die als respiratorische Sinusarrhythmie bezeichnet wer-
den. Denn zum einen besteht eine zentrale Kopplung zwischen dem Atemzentrum
und den Kreislaufzentren des Hirnstamms, die eine inspiratorische Hemmung und
exspiratorische Aktivierung des Herzvagus und damit eine inspiratorische Beschleu-
nigung und exspiratorische Verlangsamung der Herzfrequenz bewirkt (K
OEPCHEN
,
1982). Zum anderen führt der Gasaustausch zu Änderungen der Sauerstoff- und
Kohlendioxid-Partialdrucke und des ph-Wertes. Ein sinkender arterieller Sauerstoff-
Druck führt zu einer Aktivierung der Chemorezeptoren und bedingt neben einer Stei-
gerung der Atmung über das medulläre kardiorespiratorische Netz eine vagal indu-
zierte Bradykardie (s. H
ILZ
et al., 2000). Die Atmung nimmt auch über die Baro-
reflexschleife Einfluss auf die Herzfrequenz. Über respiratorisch bedingte Schwan-
kungen des intrathorakalen Drucks werden der venöse Rückstrom und der kardiale
Auswurf verändert. Über die Barorezeptoren führt ein hoher venöser Rückstrom zu
einem Anstieg der Herzfrequenz (S
ILBERNAGL
&
D
ESPOPOULOS
, 2003, 216).
Darüber hinaus beeinflussen weitere Systeme diesen Mehrfachregelkreis wie das
Thermo-Regulations-System und das Renin-Angiotensin-System, das für die Volu-
menregulation verantwortlich ist. Verringert es den peripheren Gefäßwiderstand, so
vermindert es auch den Einfluss des baroreflektorischen Systems (H
OTTENROTT
,
2002, 12). Ein Beispiel humoraler Einflüsse findet sich in frei zirkulierenden Katecho-
laminen, die direkt positiv chronotrop am Sinusknoten wirken.
Die Herzkreislaufregulation ist zentral integriert, so dass auch Anteile des zentralen
Nervensystems die Herzfrequenzsteuerung durch Reize wie Emotionen, Schmerz
oder psychomentaler Stress beeinflussen. Autonome Aktivitäten im Zusammenhang
mit psychosozialen Interaktionen werden über das limbische System vermittelt
(Z
WIENER
et al., 2002). E
SPERER
(1994) bezeichnet das neurovegetative System als
,,wichtiges Bindeglied zwischen physiologischen und psychologischen Zuständen und
die Herzfrequenz ein Spiegel dieses Zusammenspiels" (S. 7).

Autonome Regulation
25
3.2
Indices autonomer kardiovaskulärer Regulation
Die autonome kardiovaskuläre Regulation wird durch verschiedene Kennwerte aus-
gedrückt. Im Einzelnen sollen die Herzratenvariabilität, die Baroreflexsensitivität und
die Stress-Reaktivität beschrieben werden.
3.2.1 Herzratenvariabilität
Die Herzratenvariabilität (HRV) kennzeichnet nach H
OTTENROTT
(2002) ,,die Variation
(Schwankung) der Herzfrequenz über einen definierten Messzeitraum (bis zu 24 h)
bei einer Analyse aufeinander folgender Herzperioden. Die HRV ist eine Messgröße
der neurovegetativen Aktivität und autonomen Funktion des Herzens und beschreibt
die Fähigkeit des Herzens, den zeitlichen Abstand von Herzschlag zu Herzschlag
belastungsabhängig laufend zu verändern, um sich wechselnden Anforderungen
schnell anzupassen. Die HRV ist damit eine Kenngröße für die Anpassungsfähigkeit
des menschlichen Organismus an exogene und endogene Belastungsfaktoren" (S.
10). Diese Anpassungsfähigkeit hängt von einem optimalen Zusammenspiel des
sympathischen und parasympathischen Nervensystems ab und wird von den Fakto-
ren beeinflusst, die sich auch auf die Herzfrequenz auswirken wie beispielsweise Le-
bensalter, Geschlecht, Körperlage oder Muskelaktivität (s. zusammenfassend H
OT-
TENROTT
, 2002).
In Körperruhe überwiegt der parasympathische Einfluss, und die Herzratenvariabilität
ist wesentlich größer als unter körperlicher Belastung. Der zunehmende Impulsein-
strom aus der Muskulatur bei ansteigender Belastung führt direkt zu einer Abnahme
des vagalen Einflusses (T
ULPPO
et al., 1998). Bei zunehmender sympathischer Akti-
vität nehmen die Schwankungen von Herzschlag zu Herzschlag ab und sind bei ei-
ner hohen Herzfrequenz kaum noch zu messen.
Den Ausgangspunkt für die Messung der Herzratenvariabilität bildet die Aufzeich-
nung des Elektrokardiogramms (EKG), das die elektrischen Erregungszustände des
Herzens in ihrem zeitlichen Verlauf darstellt. Die R-Zacken werden bestimmt und Ar-
tefakte identifiziert (R-Zackendetektion), um dann die Zeitabstände zwischen zwei R-
Zacken (RR-Intervalle) als Tachogramm darzustellen. Dieses Herzfrequenz-
Tachogramm wird einer mathematischen Analyse unterzogen. Für eine solche Herz-

Autonome Regulation
26
ratenvariabilitäts-Analyse werden drei verschiedene Verfahren eingesetzt. Das der
nichtlinearen Dynamik spielt eher eine geringe Rolle und soll nicht näher beschrieben
werden.
Die Zeitbereichsanalyse soll im Folgenden zusammen mit ihren Parametern erläutert
werden, da sie neben der Frequenzanalyse häufig zur Erfassung der Herzratenvaria-
bilität in Untersuchungen herangezogen wird (s. Abschnitt 4.3.1).
Im Mittelpunkt der Zeitbereichsanalyse steht die variierende Zeitdauer (Einheit: ms)
aufeinander folgender Herzschläge. Die Folge der Herzschläge ist dabei unrelevant.
Tabelle 3.1.
Definitionen der Parameter in der Zeitbereichsanalyse der Herzratenvariabilität
(nach H
OTTENROTT
, 2002, S. 15).
Parameter
Weitere Bezeich-
nung
Ein-
heit
Definition/
Maß der Herzratenvariabilität
RR
NN
ms
Abstand zweier Herzschläge (R-Zacken im EKG)
AvgRR RR
MW
ms
Mittlerer Abstand aller RR-Intervalle im gewählten Zeitbereich
RRSD
SD, SDRR, SDNN ms
Standardabweichung aller RR-Intervalle / Gesamtvariabilität
RMSSD r-MSSD,
rMSSD ms
Quadratwurzel
des
quadrierten Mittelwertes der Summe aller
Differenzen sukzessiver RR-Intervalle / vagaler Einfluss,
Kurzzeitvariabilität
RRSD
SDSD
ms
Standardabweichung der Differenzen zwischen benachbarten
RR-Intervallen
pNN50
(NN50)
%
Prozentsatz (Anzahl) aufeinander folgender RR-Intervalle, die
mehr als 50 ms voneinander abweichen / größere Schwan-
kungen der Herzfrequenz, wenn hoch, dann hohe spontane
Änderungen, vagaler Einfluss
DL D
L
ms
Länge des Längsdurchmessers der 95%-Vertrauensellipse im
Poincaré Plot
DQ D
Q
, DW
ms
Länge des Querdurchmessers der 95%-Vertrauensellipse im
Poincaré Plot
SD1 stdb,
SO
Q
, SD-
quer
ms Standardabweichung der orthogonalen Abstände der
RR
i
/RR
i+1
-Punkte zum Querdurchmesser der Ellipse im Poin-
caré Plot / Kurzzeitvariabilität
SD2 stda,
SO
L
, SD-
längs
ms Standardabweichung der orthogonalen Abstände der
RR
i
/RR
i+1
-Punkte zum Längsdurchmesser der Ellipse im
Poincaré Plot / Langzeitvariabilität
A. H
ORN
(Vortrag am 8.11.2003) sieht in der Standardabweichung das wichtigste
Maß dieser Berechnungsmethode. Sie wird aus der Standardabweichung aller im

Autonome Regulation
27
Messzeitbereich liegenden RR-Intervalle berechnet und gilt als frequenzunabhängi-
ger Indikator der Gesamtvariabilität (H
OTTENROTT
, 2002). Die Folge der gemessenen
RR-Intervalle kann auch geometrisch analysiert werden, wie es im Poincaré Plot der
Fall ist. Die Herzschlagabstände werden durch Punkte in einem Koordinatensystem
als zweidimensionales Streudiagramm dargestellt und ergeben die Form einer Ellip-
se. Die Form und die Größe der Ellipse spiegeln sich in verschiedenen Maßen der
Herzratenvariabilität wider, wobei der Längsdurchmesser der Ellipse die Langzeitab-
weichung, ihr Querdurchmesser kurzzeitige Änderungen der Herzfrequenz be-
schreibt (s. dazu F
ERSCHA
,
P
OKAN
,
B
ACHL
&
S
MEKAL
, 1998; H
OTTENROTT
, 2002). Eine
Auflistung der Parameter der Zeitbereichsanalyse findet sich in Tabelle 3.1.
Die Frequenzanalyse oder auch Spektralanalyse wurde für die vorliegende Studie
ausgewählt, da sie bei der Auswertung von Kurzzeitaufzeichnungen genauere Infor-
mationen über die Modulation durch Sympathikus und Parasympathikus und damit
der Abschätzung der sympatho-vagalen Balance geben (s. F
ERSCHA
et al., 1998).
Das frequenzanalytische Verfahren wird im Rahmen der Untersuchungsmethodik
beschrieben (s. Abschnitt 6.5.2.1).
Tabelle 3.2.
Normwerte der Herzfrequenzvariabilität
(nach M
ALIK
, 1996, S. 1061; S
CHMIDT
,
H
OFFMANN
&
W
ERDAN
, 2002, S. S77).
Spektralanalyse
Zeitbereichsanalyse
Total Power
3466
± 1018 ms²
RRSD (SDNN)
141
±39 ms
LF
54
± 4 n.u. 1770 ± 416 ms²
High Frequency (HF)
29
± 3 n.u. 975 ± 203 ms²
RMSSD
pNN50
27
±12 ms
9
±7
LF/HF-Quotient
1,5 - 2,0
VLF
1782
± 965 ms²
HF: High frequency (0,15-0,40 Hz), LF: Low frequency (0,04-0,15 Hz), ms: Millisekunden, n.u.: norma-
lized unit berechnet als LF/(Total Power-VLF)x100 oder HF/(Total power-VLF)x100, pNN50: Prozent-
satz der Differenzen zwischen nachfolgenden RR-Intervallen, die größer als 50 ms sind, RMSSD:
Quadratwurzel des Mittelwertes der Summe der mittleren quadratischen Abweichung aufeinander
folgender RR-Intervalle, RRSD: Standardabweichung aller RR-Intervalle, VLF: very low frequency
(0,003-0,04 Hz).
Für die wichtigsten Parameter der Herzratenvariabilität werden Normwerte angege-
ben, die für die Spektralanalyse aus einer fünfminütigen Aufzeichnung im Liegen und
für die Zeitbereichsanalyse in einer 24-Stunden-Analyse gewonnen wurden (s. Tabel-

Autonome Regulation
28
le 3.2). Die Parameter der verschiedenen Methoden sind in einer Zeile aufgeführt,
wenn sie sich bezogen auf Langzeitaufzeichnungen über 24 Stunden in etwa ent-
sprechen (s. dazu T
ASK
F
ORCE OF THE
E
UROPEAN
S
OCIETY OF
C
ARDIOLOGY AND THE
N
ORTH
A
MERICAN
S
OCIETY OF
P
ACING AND
E
LECTROPHYSIOLOGY
, 1996).
Die Angabe in normalisierten Einheiten (n.u.) betont das balancierte Verhalten des
parasympathischen und sympathischen Anteils des autonomen Nervensystems und
minimiert den Effekt von Änderungen der Gesamtvarianz auf die Werte der LF- und
HF-Komponenten
(T
ASK
F
ORCE
, 1996).
3.2.2 Baroreflexsensitivität
Der Barorezeptorenreflex nimmt eine zentrale Rolle in der konstanten Herz-Kreislauf-
Regulation ein, insbesondere bei orthostatischer Belastung (H
ILZ
et al., 2000). Die
Konstanthaltung des arteriellen Blutdrucks erfolgt hauptsächlich durch die Funktion
der Barorezeptoren innerhalb der Baroreflexschleife (H
OHAGE
&
G
ERHARDT
, 2000).
Die Effektivität dieses Regelkreises wird mit der Baroreflexsensitivität ausgedrückt.
Nach M
USSGAY
und R
ÜDDEL
(1998) lässt sich als Baroreflexsensitivität ,,die Empfind-
lichkeit, mit der Blutdruckanstiege durch eine Senkung der Herzrate beantwortet
werden" quantifizieren (S. 33). Die Maßeinheit der Baroreflexsensitivität beträgt Milli-
sekunden pro mmHg, entsprechend der Zunahme des RR-Intervalls bezogen auf den
Anstieg des systolischen Blutdrucks (H
OHNLOSER
, 1999).
Zur Messung der Baroreflexsensitivität haben sich drei verschiedene Methoden mit
entsprechenden Vor- und Nachteilen etabliert (s. hierzu H
ILZ
et al., 2000). Die phar-
makologische Methode (auch ,,Oxford"-Methode genannt) geht auf S
MYTH
,
S
LEIGHT
und P
ICKERING
(1969) zurück. Durch die mehrmalige, intravenöse Gabe der
-
Agonisten Angiotensin II oder Phenylephrin wird eine Erhöhung des Blutdruckes von
25 bis 30 mmHg bewirkt. Die systolischen Blutdruckwerte und die entsprechende
Herzfrequenz in Form von RR-Intervallen werden in ein Koordinatensystem eingetra-
gen, und es wird eine Regressionsanalyse durchgeführt. Die Steigung der Regressi-
onsgeraden gibt die Baroreflexsensitivität an.
Die größten Nachteile dieser Methode liegen in unerwünschten Nebenwirkungen wie
v.a. die Beeinflussung des Baroreflexes oder die Veränderung der autonomen Ruhe-
aktivität.

Autonome Regulation
29
Die ,,neck chamber"-Methode basiert auf einer Unter- bzw. Überdruckstimulation der
Barorezeptoren im Bereich der Aorta carotis. Diese Luftdruckänderung erfolgt entwe-
der über eine von vorn über Hals und Karotisrezeptoren angelegte Halbschale oder
einer den Hals umschließenden Kammer. Unterdruck simuliert einen Blutdruckan-
stieg, Überdruck einen Blutdruckabfall. E
CKBERG
und F
RITSCH
(1993) entwickelten ein
Testschema, nach dem der Druck der ,,neck chamber" schrittweise um 15 mmHg ge-
senkt wird. Aus der Differenz des systolischen Blutdrucks und dem ,,neck chamber"-
Druck wird der Karotisdistensionsdruck berechnet. Aus der Verbindung der Werte-
paare der einzelnen Karotisdistensionsdruck-Werte und der jeweils entsprechenden
Änderung der RR-Intervalle ergibt sich die typische sigmaförmige Kurve der Barore-
zeptorsensitivität. Die wichtigsten Maße sind das Maximum und das Minimum, das
heißt der höchste und der niedrigste Wert der RR-Intervalländerungen. Außerdem
werden der ,,range" als Differenz zwischen diesen beiden Werten sowie der ,,operati-
onal point" als ,,Verhältnis zwischen dem RR-Intervall bei systolischem Ruheblutdruck
und dem ,,range" der RR-Intervalle...in Prozent angegeben" (H
ILZ
et al., 2000, S. 43).
Eine andere Testmethode mittels ,,neck chamber" sieht ebenfalls die Nutzung der
Unterdruckreize vor. Allerdings wird dabei jeweils über zwei Minuten ein gleich blei-
bender Maximaldruck von 30 mmHg genutzt, und die Stimulationsfrequenz variiert.
Die Veränderungen des RR-Intervalles nach zwölf Stimulationszyklen pro Minute
stellen den Index für die vagale, die Veränderungen nach sechs Zyklen pro Minute
stellen den Index für die sympathische Modulation nach Barorezeptoraktivierung dar
(B
ERNARDI
,
P
ASSINO
,
R
OBERGS
&
A
PPENZELLER
, 1997).
Viele Probanden empfinden diese Methode als lästig und unangenehm. Ein wichtiger
Nachteil liegt in der Art des Stimulus, da diese externen Druckveränderungen nicht
physiologisch erfolgen (s. H
ILZ
et al., 2000).
Die dritte Methode bestimmt die so genannte ,,spontane" Baroreflexsensitivität über
eine Spektralanalyse und wurde für die vorliegende Studie verwendet. Die Beschrei-
bung des Verfahrens findet sich im Kapitel Methodik (s. Abschnitt 6.5.2.2).
Als Normalwert der Baroreflexsensitivität gibt H
OHNLOSER
(1999) nach E
CKBERG
und
S
LEIGHT
(1992) den Bereich von 13 bis 18 ms/mmHg an, der mit der Phenylephrin-
Methode bei herzgesunden Probanden ermittelt wurde. La R
OVERE
,
B
IGGER
,
M
ARCUS
,
M
ORTARA
&
S
CHWARTZ
(1998) fanden bei Patienten nach Myokardinfarkt Werte von 7

Autonome Regulation
30
bis 9 ms/mmHg. Laut H
OHNLOSER
(1999) gelten Werte unter 3 ms/mmHg als signifi-
kant reduziert. Aufgrund der hohen Korrelation mit der pharmakologischen Bestim-
mung der Baroreflexsensitivität (M
ULDER
, 1988, 125; R
OBBE
et al., 1987) können die-
se Referenzwerte auch für die spektralanalytisch bestimmte Baroreflexsensitivität
angenommen werden.
Eine hohe Baroreflexsensitivität geht mit einer hohen Herzvariabilität und einer nied-
rigen Blutdruckvariabilität einher (H
OHAGE
&
G
ERHARDT
, 2000). Mit steigender körper-
licher Belastung nimmt der Einfluss des Barorezeptorenreflexes auf die Herzfrequenz
zunehmend ab, so dass es zu dem typischen Anstieg von Blutdruck und Herzfre-
quenz unter physischer Belastung kommt. Unter Stress ist die Baroreflexantwort e-
benfalls gehemmt (H
ILZ
et al., 2000). Darüber hinaus führt der Konsum von Nikotin
zu einer akuten und chronischen Abnahme der Baroreflexsensitivität (H
OHAGE
&
G
ERHARDT
, 2000).
3.2.3 Kardiovaskuläre Reaktivität
Kardiovaskuläre Reaktivität beinhaltet die Änderungen der Aktivität des Herz-
Kreislaufsystems als Antwort auf wechselnde Umgebungsbedingungen, die als
stressvoll erlebt werden. Diese Bedingungen sind oft diskrete und identifizierbare
Stressoren wie kurze Laboraufgaben, können aber auch einen längeren Zeitraum
betreffen wie beispielsweise eine Anzahl an Arbeitsstunden (T
URNER
, 1994, 3). Die
Reaktivität lässt sich aus der Differenz vom Aktivitätslevel unter der Belastung und
dem Ausgangslevel unter Ruhebedingungen errechnen. Die kardiovaskuläre Reakti-
vität weist eine hohe interindividuelle Variabilität auf (S
HERWOOD
&
T
URNER
, 1992),
wird aber von V
ÖGELE
(1999) als ein zeitlich stabiles und individualspezifisches Phä-
nomen beschrieben. Das bedeutet, dass Individuen dazu neigen, auf externe Stimuli,
besonders auf psychische Reize, mit bestimmten, ihnen eigenen kardiovaskulären
Veränderungen zu reagieren (S
HERWOOD
&
T
URNER
, 1992). Eine erhöhte kardio-
vaskuläre Reaktivität wird im Zusammenhang mit der Entwicklung einer Hypertonie
(F
REDRIKSON
&
M
ATTHEWS
, 1990) und einer koronaren Herzkrankheit gesehen
(K
RANTZ
&
M
ANUCK
, 1984).

Autonome Regulation
31
3.3 Autonome
Dysregulation
Eine autonome Dysregulation beinhaltet Störungen der autonomen Regulation, die
die beschriebenen Regelkreise betreffen kann. Bezogen auf die Indices autonomer
kardiovaskulärer Regulation können eine Verminderung der Herzratenvariabilität
und/oder der Baroreflexsensitivität bzw. eine Veränderung der parasympathisch-
sympathischen Balance mit einer vermehrten sympathischen und/oder einer gesenk-
ten vagalen Aktivität die autonome Dysregulation widerspiegeln.
Eine autonome Dysregulation wird im Zusammenhang mit verschiedenen Erkran-
kungen berichtet. H
ILZ
et al. (2000) beschreiben für Patienten mit einem länger be-
stehenden Bluthochdruck eine Abnahme der Baroreflexsensitivität. In Folge derer
bedarf es ,,nicht nur eines höheren Blutdruckausgangswertes, sondern zusätzlich
eines stärkeren Blutdruckanstieges als bei Gesunden, um eine vordefinierte Abnah-
me der Herzfrequenz zu induzieren" (S. 39). Ein Anstieg des Blutdruckes führt dann
zu einem geringeren Absenken der Herzfrequenz, die maximale Veränderbarkeit der
Herzfrequenz ist eingeschränkt und die Ruheherzfrequenz ist höher als bei Gesun-
den.
Eine Zusammenstellung von Studien, die den klinischen Wert der Herzratenvariabili-
tät bei verschiedenen kardiologischen Erkrankungen untersucht haben, findet sich
bei der T
ASK
F
ORCE
(1996). Eine reduzierte Herzratenvariabilität wurde im Zusam-
menhang mit Bluthochdruck, dekompensierter Herzinsuffizienz, Herztransplantatio-
nen, Mitralklappenprolapssyndrom, Myokardiopathie, plötzlichem Herztod sowie
Herzrhythmusstörungen festgestellt.
V
AN
R
AVENSWAAIJ
-A
RTS
,
K
OLLÉE
,
H
OPMAN
,
S
TOELINGA
und
VAN
G
EIJN
(1993) stellen in
ihrem Überblicksartikel fest, dass eine niedrigere Herzratenvariabilität bei Patienten
mit Diabetes mellitus oder nach einem Myokardinfarkt mit einem erhöhten Risiko für
den plötzlichen Herztod verbunden ist. Eine Vielzahl von Studien bestätigt diesen
Zusammenhang für die Herzratenvariabilität und ebenso für die Baroreflexsensitivität.
H
ENNERSDORF
und S
TRAUER
(2002) beschreiben eine autonome kardiale Neuropathie
bei Patienten mit einem Diabetes mellitus, die sich in einer Reduktion der Herzraten-
variabilität und der Baroreflexsensitivität zeigt. Sie vermuten, dass die diabetische
Stoffwechsellage über eine Reduktion der parasympathischen Aktivität zur erhöhten

Autonome Regulation
32
Rate plötzlicher Herztodesfälle bei Diabetikern beiträgt. G
ERRITSON
et al. (2001) er-
mittelten ein doppelt erhöhtes Mortalitätsrisiko für Diabetiker, wenn eine Einschrän-
kung der autonomen Regulation vorlag.
N
OLAN
et al. (1998) ermittelten in einer groß angelegten, prospektiven Studie bei Pa-
tienten mit chronischer Herzinsuffizienz ein neunfach erhöhtes Mortalitätsrisiko, wenn
die Herzratenvariabilität deutlich niedriger war (SDNN < 50 ms). Die Autoren halten
die Messung der Herzratenvariabilität für ein einfach einzusetzendes Instrument, um
Risikopatienten mit chronischer Herzinsuffizienz zu identifizieren.
D
EKKER
et al. (1997) zufolge war bei Männern mittleren und höheren Alters eine ver-
minderte Herzratenvariabilität (SDNN < 20 ms) nicht nur mit herzbedingten Todesur-
sachen, sondern mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko aller Ursachen, insbesondere
durch Krebserkrankungen verbunden. Die Autoren folgern aus ihren Ergebnissen,
dass eine verminderte Herzratenvariabilität einen Indikator für eine eingeschränkte
generelle Gesundheit darstellen könnte.
In einer Untersuchung bei Patienten mit dilatativer Kardiomyopathie fanden O
STER-
ZIEL
et al. (1995) in einer reduzierten Baroreflexsensitivität einen unabhängigen Risi-
koparameter für die Mortalität. M
ORTARA
et al. (1997) stellten eine reduzierte Baro-
reflexsensitivität als unabhängigen Prädiktor der kardialen Mortalität bei Patienten mit
chronischer Herzinsuffizienz fest. In der ATRAMI-Studie (Autonomic Tonus and Re-
flexes After Myocardial Infarction) wurden prospektiv anhand einer großen Stichpro-
be sowohl eine reduzierte Herzratenvariabilität als auch eine verminderte Baroreflex-
sensitivität als statistisch unabhängige Prädiktoren der kardialen Mortalität bis zu 21
Monate nach einem Myokardinfarkt identifiziert. Eine niedrigere Herzratenvariabilität
(SDNN < 70ms) barg ein 3,2faches, eine reduzierte Baroreflexsensitivität (< 3,0
ms/mmHg) barg das 2,8fache relative Risiko und beide Prädiktoren gleichzeitig bar-
gen sogar das 7,3fache relative Risiko zu sterben (L
A
R
OVERE
et al., 1998).
3.3.1 Autonome Dysregulation bei Angststörungen
Psychosoziale Interaktionen unterliegen Z
WIENER
et al. (2002) zufolge einer zerebra-
len autonomen Steuerung auf höheren zerebralen Ebenen und bilden damit die Vor-
aussetzung abnormer autonomer Muster bei psychosomatischen Erkrankungen: ,,Da

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2005
ISBN (eBook)
9783832493929
ISBN (Paperback)
9783838693927
DOI
10.3239/9783832493929
Dateigröße
1.8 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Deutsche Sporthochschule Köln – Medizin- und Naturwissenschaften, Rehabilitation und Behindertensport
Erscheinungsdatum
2006 (Februar)
Note
1,0
Schlagworte
aktivität psychosomatik herzratenvariabilität baroreflexsensitivität
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Titel: Autonome Dysregulation bei Patienten mit Angst- und somatoformen Störungen
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