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Vom kollektiven Volkskörper zur Individualität - Patrick Süskinds Roman 'Das Parfum' vor dem Hintergrund der grotesken Tradition und des Diskurses der Moderne

©2002 Magisterarbeit 110 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Die Amoralität eines Ästheten ist ein Thema, das vielfach literarisch umgesetzt worden ist. Was es aber im Falle von Patrick Süskinds Parfum ungewöhnlich macht, ist das Gebiet, auf dem das ästhetische Prinzip zur Entfaltung kommt. So ephemer wie die Spuren, die der geniale Frauenmörder Grenouille laut Erzähler in der Geschichte hinterlässt, ist auch das Feld seiner schöpferischen Tätigkeit, „das flüchtige Reich der Gerüche“.
Mit dem Schöpferischen und dem Amoralismus sind hier bereits zwei Anknüpfungspunkte der vorliegenden Untersuchung benannt, die gleichzeitig in Richtung des Genie-Gedankens und desjenigen Denkers weisen, der sie aufs nachhaltigste zu einander in Beziehung setzte: Friedrich Nietzsche, für den allein der „Gaumen“ über den ästhetischen Wert entschied und der das Geschmacksurteil vom Ballast der Historie sowie der kanonischen Tradition befreit wissen wollte. In Süskinds Roman wird der Gaumen durch die Nase substituiert, der Effekt bleibt jedoch derselbe, ein Genie, das die Welt instinktiv und zugleich ästhetisierend wahrnimmt, ohne auf die durch einen Wertehorizont gegebenen Koordinaten zu rekurrieren.
Damit ist der Raum für eine Auseinandersetzung mit der Künstler-Thematik, die zweifelsohne das ‚Herzstück’ des Romans bildet, geöffnet und Das Parfum zeigt sich als eine intertextuelle Reise durch die Literatur- und Philosophiegeschichte der Moderne am Leitfaden der Genie-Ideologie. Süskinds parodistische Kritik am Genie-Begriff ergibt sich dabei aus der Darstellung von dessen fortschreitendem Verfall.
Der Roman zeichnet die Entwicklung des Genie-Gedankens von seinen Anfängen als schöpferische Potenz, die jedoch bereits das Stigma der Abnormität in sich trägt, über Monomanie bis hin zur artifiziellen Scharlatanerie nach. Unter einem historischen Blickwinkel betrachtet ist das achtzehnte Jahrhundert, die Zeit, in die Grenouille hineingeboren wird, ein Jahrhundert des Wandels, eines Wandels, der den Nährboden für das Aufkommen des Genie-Gedankens bildet. Während die Säkularisierung einerseits die Entzauberung der Welt mit sich bringt, führt sie andererseits zur Aufwertung des Menschen, der fortan die dem Göttlichen vorbehaltenen Prädikate auf sich selbst überträgt. War er traditionellerweise nur Geschöpf, die Schöpferwürde hingegen allein Gott vorbehalten, bezeugt das (Selbst-)Verständnis des Genies als Schöpfer die neue Autonomie des Individuums.
Auch der Empirismus sowie der Sensualismus stehen in […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Die Amoralität eines Ästheten ist ein Thema, das vielfach literarisch umgesetzt worden ist. Was es aber im Falle von Patrick Süskinds Parfum ungewöhnlich macht, ist das Gebiet, auf dem das ästhetische Prinzip zur Entfaltung kommt. So ephemer wie die Spuren, die der geniale Frauenmörder Grenouille laut Erzähler in der Geschichte hinterlassen hat, obgleich er, wie jener versichert, den „berühmteren Finstermännern“ im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts wie de Sade, Saint-Just, Bonaparte u. a. „an Selbstüberhebung, Menschenverachtung, Immoralität, kurz an Gottlosigkeit“ in nichts nachgestanden hatte, ist auch das Feld seiner schöpferischen Tätigkeit, „das flüchtige Reich der Gerüche“. (S. 5)[1] Mit dem Schöpferischen und dem Amoralismus sind hier bereits zwei Anknüpfungspunkte der vorliegenden Untersuchung benannt, die gleichzeitig in Richtung des Genie-Gedankens und desjenigen Denkers weisen, der sie aufs nachhaltigste zu einander in Beziehung setzte: Friedrich Nietzsche, für den allein der „Gaumen“ über den ästhetischen Wert entschied und der das Geschmacksurteil vom Ballast der Historie sowie der kanonischen Tradition befreit wissen wollte.[2] In Süskinds Roman wird der Gaumen durch die Nase substituiert, der Effekt bleibt jedoch derselbe: ein Genie, das die Welt instinktiv und zugleich ästhetisierend wahrnimmt, ohne auf die durch einen Wertehorizont gegebenen Koordinaten zu rekurrieren. Die Nase, ein im Zuge des Zivilisationsprozesses immer mehr in den Hintergrund rückendes, da zu sehr ins Tierische und Instinkthafte verweisendes Organ, ist darüber hinaus aufs engste mit der grotesken Tradition verknüpft. Neben Mund, Bauch und Phallus, zu dem sie in einer Beziehung korrespondierender Bedeutungszuordnung steht, ist sie das den grotesken Leib konstituierende Körperteil.[3] Damit kann sie innerhalb der Romanhandlung als das Verbindungsglied zwischen der Tradition des Grotesken und den Ideen der Moderne angesehen werden. Sie bildet sozusagen den Mittelpunkt, an welchem sich die verschiedenen, von Süskind zusammengefügten Traditionslinien überschneiden, über die unterschiedliche Diskurse der Moderne abgerufen werden. Die Nase bildet dabei zwar den zentralen, doch keineswegs einzigen Anknüpfungspunkt der grotesken Tradition. Vielmehr ist es so, dass der gesamte Text von Elementen durchzogen wird, die in innerhalb dieser einzuordnen sind. Dabei präsentiert sich das Groteske von Anfang an in einer Verzahnung mit dem Gedankengut der Moderne und wirft somit die Frage nach der Funktion einer solchen Verknüpfung auf. Ziel der vorliegenden Arbeit ist folglich die Untersuchung der in der grotesken Tradition stehenden Elemente in ihrer Verbindung zu den Ideen der Moderne. Dabei gehe ich von der folgenden These aus: An der Figur des Anti-Helden Grenouille wird der Übergang von der vormodernen Zeit in die Moderne unter Auslassung des moralischen Horizonts simuliert. Diese Ausgangsthese soll zunächst näher erläutert werden.

Nicht nur bei der Hauptfigur, sondern weitestgehend auch bei den Nebenfiguren des Romans handelt es sich um Kunstfiguren.[4] Für letztere gilt: mehr oder weniger realistisch konzipiert rufen sie beim Leser stereotype Vorstellungen ab, wobei eine parodistische Überzeichnung ins Negative unübersehbar ist. Sie stellen Projektionsflächen für die Ausgestaltung historischer Aspekte sowie menschlicher Lasterhaftigkeit dar. Darüber hinaus sind sie die Repräsentanten ihrer jeweiligen Gesellschaftsschicht – des Adels, des Klerus, des Bürgertums – , sowie, in einer Art Parodie des Bildungsromans, die Begleiter der Hauptfigur in den einzelnen Phasen ihrer Entwicklung. Der Autor setzt sie ein, um ein Bild des vorrevolutionären Frankreichs im Umbruch zur Moderne zu entwerfen, wobei er es sich nicht nehmen lässt, sie mit den für moderne Menschen symptomatischen Lastern auszustatten. Mit Paris als dem Ort der Handlung wählt er das rationale Zentrum, von dem aus die Umstrukturierung der Gesellschaft im Sinne der Aufklärung ihren Anfang nahm, in deren Zuge die Vier-Stände-Ordnung, die in Frankreich deutlicher als anderswo in Europa das mittelalterliche Weltbild spiegelte, zerschlagen wurde. Was die Hauptfigur anbetrifft, so wird an dieser der Weg zu moderner Individualität simuliert. Simuliert, denn der Autor nutzt die gesamte Bandbreite des modernen Diskurses, um die verschiedenen Traditionslinien und Ideologien, zum Teil anachronistisch, ineinander zu verschachteln und in der Figur des Jean-Baptiste Grenouille zusammenlaufen zu lassen. Was dabei entsteht, ist das Zerrbild des modernen Menschen vor dem Spiegel der bis in all ihre negativen Konsequenzen gedachten ideologischen Strömungen einer Epoche, die gegenwärtig – blendet man die Unterscheidung zwischen Moderne und Postmoderne, zwischen welchen sich ohnehin keine scharfe Trennungslinie ziehen lässt, aus – noch nicht zu einem Abschluss gekommen ist. So finden sich in der Ausgestaltung der Hauptfigur und ihrer Biographie Elemente, die auf Aufklärung, Sturm und Drang, Romantik, oder die Philosophie Nietzsches verweisen. Sie fungieren als Hintergrundfolie für die Vita des Anti-Helden, in welcher die Jahrzehnte und Jahrhunderte abendländischer Geschichte ineinander geschoben werden, was in dem, seitens einiger Kritiker abwertend als epigonal bezeichneten, nachahmenden Stil Süskinds durchaus eine formale Entsprechung findet. Doch stets erscheinen sie in einer Verschränkung mit dem Grotesken. Die Ideale der Epoche präsentieren sich, durch die Biographie der Hauptfigur gefiltert, folglich als ebenso grotesk entstellt, wie diese selbst. In erster Linie ist die mit grotesken Elementen versetzte Darstellungsweise an das vormoderne völkische Kollektiv, d. h. vor allem an die unteren Schichten der Pariser Gesellschaft, und somit den Entstehungsort Grenouilles, gebunden. Obgleich es letzterem gelingt, sich dem Schoß, welcher ihn hervorbrachte, zu entringen und den langen Weg zur Individuation anzutreten, bleibt er sein Leben lang durch diesen stigmatisiert und trägt dieses Stigma in all die Sphären modernen Gedankenguts hinein, welche der Autor ihm eröffnet, wodurch letztere eine Verformung und Verzerrung erfahren. Diese Verzerrung basiert auf einem der Figur anhaftenden Manko: „Recht, Gewissen, Gott, Freude, Verantwortung, Demut, Dankbarkeit usw. – was damit ausgedrückt sein sollte, war und blieb ihm schleierhaft.“ (S. 33) Der Bereich der Ethik und Moral bleibt damit außen vor; und Grenouille hinterlässt in allen modernen Diskursen, die der Verfasser ihn durchlaufen lässt, eine nihilistische Spur.[5] Ausgestattet mit für den modernen Menschen symptomatischen Denk- und Verhaltensweisen, ohne jedoch ein Mensch im eigentlichen Sinne zu sein, stellt er eine Kunstfigur[6] dar, an welcher der Wechsel der Gezeiten in der abendländischen Kultur, der Übergang von der vormodernen in die moderne Lebenswelt unter Ausblendung des moralischen Wertehorizonts simuliert wird.

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Grotesken, seiner Darstellungsart und Funktion, 1. im Allgemeinen sowie 2. im Speziellen in Süskinds Roman. Als Leitfaden bediene ich mich dabei hauptsächlich Michail Bachtins Rabelais und seine Welt. Volkskultur und Gegenkultur . Der Untersuchungsgegenstand des zweiten Teils hingegen ist die Moderne als Simulationsraum und ihre Verzahnung mit Elementen der grotesken Tradition in dem Roman. Den theoretischen Rahmen hierzu liefern im wesentlichen: Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Charles Taylor: Das Unbehagen an der Moderne und Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, sowie, für die Auseinandersetzung mit der Künstler- und Genie-Thematik, Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. In beiden Teilen wird die Fokussierung auf die Hauptfigur, der formalen[7] sowie inhaltlichen Komposition des Romans folgend, vorherrschend sein.

I. Das Groteske

1. Seine Darstellungsart und Funktion

In dem Buch Rabelais und seine Welt. Volkskultur und Gegenkultur hat Michail Bachtin die einzelnen Figuren des Grotesken anhand von Rabelais` Gargantua und Pantagruel herausgearbeitet und auf ihre Bedeutung hin untersucht. Die spezifische ästhetische Konzeption der Renaissance-Literatur, für die Rabelais beispielgebend ist, welche sich aber außerdem, wenn auch weniger stark ausgeprägt, etwa bei Shakespeare oder Cervantes findet, bezeichnet er als „grotesken Realismus“.[8] In diesem, der volkstümlichen Lachkultur verpflichteten Motivsystem herrscht das Materiell-Leibliche vor, wobei der Körper im Mittelpunkt steht. Die zwischen ihm und der Welt verlaufenden Grenzen sind nicht starr, sondern offen:

Im Gegensatz zu den neuzeitlichen Kanons ist der groteske Körper von der umgebenden Welt nicht abgegrenzt, in sich geschlossen und vollendet, sondern er wächst über sich hinaus und überschreitet seine Grenzen. Er betont diejenigen Körperteile, die entweder für die äußere Welt geöffnet sind, d. h. durch die die Welt in den Körper eindringen oder aus ihm heraustreten kann, oder mit denen er selbst in die Welt vordringt, also die Öffnungen, die Wölbungen, die Verzweigungen und Auswüchse: der aufgesperrte Mund, die Scheide, die Brüste, der Phallus, der dicke Bauch, die Nase. Das Wesen des Körpers als das Prinzip des Wachstums und Über-sich-hinaus-Wachsenden enthüllt sich nur in Momenten wie dem Koitus, der Schwangerschaft, der Geburt, dem Todeskampf, dem Essen, Trinken und Sich-Entleeren. Er ist das ewig Unfertige, ewig Entstehende und Erschaffende, ein Glied in der genetischen Entwicklung, genauer gesagt zwei Glieder an dem Punkt, an dem sie sich vereinen, ineinander übergehen.[9]

Damit steht die groteske Körperkonzeption in scharfem Kontrast zur klassizistischen, die mit ihrem Erhabenheitsanspruch den Körper auf dem Gipfelpunkt seiner physischen Entwicklung, als einen abgeschlossenen, individuellen, als glatte Oberfläche ohne Ausbuchtungen und Öffnungen, m. a. W. als vollkommen dargestellt wissen möchte. Die Ausrichtung auf dieses ästhetische Ideal führt folglich dazu, dass der klassizistisch veredelte Körper vor allem Fassade ist. Sämtliche Öffnungen werden verschlossen, Unebenheiten geglättet; die Aufmerksamkeit richtet sich „auf den Kopf, das Gesicht, die Augen, die Lippen, das Muskelsystem und auf die Haltung des Körpers gegenüber der Außenwelt“[10], somit auf Individualität konstituierende Elemente. Ebenso wenig, wie der groteske Leib auf Perfektion und Vollendung abzielt, ist er demgegenüber als ein individueller aufzufassen:

[...] der Körper ist noch nicht individualisiert und von der restlichen Welt noch nicht getrennt. Träger des materiell-leiblichen Prinzips ist weder eine selbständige biologische Person noch das bürgerliche egoistische Individuum, sondern das Volk, ein sich stets entwickelndes und erneuerndes Volk. Daher ist hier alles Körperliche so grandios, hyperbolisiert und maßlos. Die Übertreibung hat positiven, bestätigenden Charakter. Leitthema in all diesen Motiven des materiell-leiblichen Lebens ist Fruchtbarkeit, Wachstum, grenzenloser Überfluß. Alle Erscheinungen des körperlichen Lebens und alle Dinge sind, anders gesagt, nicht auf die einzelne biologische Person bezogen [...], sondern auf einen kollektiven Volks- oder Gattungskörper [...][11]

Über das Motiv der Fruchtbarkeit konstituiert sich darüber hinaus die „Einheit von Körper und Erde“[12], wobei letzterer das Moment des Verschlingens als auch das der Erneuerung zukommt. Entstehen und Vergehen sind untrennbar miteinander verbunden und finden ihren Kulminationspunkt in der Figur des schwangeren Todes[13], die in ihrer Ambivalenz auf einer überindividuellen, kosmischen Ebene das ausschließlich Negative, existentiell Bedrohliche des Todes durch Hinzufügen eines Positiven aufhebt. Der Kollektivkörper als ein sich ständig selbst erneuerndes, hervorbringendes, über sich hinaus wachsendes Gebilde ist vom Tod nicht betroffen. Alle von dem einzelnen Menschen als angsteinflößend und bedrohlich erfahrenen Ereignisse werden durch die groteske Darstellungsart dem Lachen preisgegeben und somit aufgrund der damit einhergehenden Ambivalenz überwunden. Renate Lachmann weist im Vorwort zu Rabelais und seine Welt in diesem Zusammenhang auf die Opposition zwischen der Kultur der Ambivalenz und der Kultur der Dualismen, wie sie das abendländische Denken mit der Postulierung von Grundgegensätzen wie Geist – Materie, Leib – Seele, Endlichkeit – Unendlichkeit u. ä. ausgebildet hat, hin, und spricht der Ambivalenz in Bachtins Konzeption die Funktion zu, „die Ur-Opposition zwischen Leben und Tod, auf die alle anderen dualen Formen rückführbar sind, zu verarbeiten.“[14] Somit überwindet der groteske Leib, der nie ein fertiger, abgeschlossener, sondern stets ein werdender, sich transformierender – und daher vom Standpunkt des klassizistischen Kanons aus betrachtet auch ein deformierter – ist, die kosmische Angst. Da er im Prinzip die ganze materielle Welt verkörpert, ist er von dieser nicht durch Grenzen getrennt, sondern von „Welt, Tieren und Dingen durchsetzt.“[15]

Im Zusammenhang der Körperkonzeption bei Rabelais weist Bachtin auf einen sich in der Renaissance vollziehenden ideengeschichtlichen Wandel im Hinblick auf das Körperverständnis hin. Es handelt sich dabei um die Ablösung des für das mittelalterliche Denken konstitutiven, dem aristotelischen Modell verpflichteten, vertikal-hierarchischen Weltbildes durch das horizontale:

Die Überführung der Welt in eine Fläche, die Ablösung der Vertikalen durch die Horizontale bei gleichzeitiger Aufwertung der Zeitkomponente nahm ihren Ausgang vom menschlichen Körper, der zum relativen Zentrum des Kosmos wurde. Dieser Kosmos aber bewegt sich schon nicht mehr von unten nach oben, sondern vorwärts entlang der Horizontalen der Zeit, aus der Vergangenheit in die Zukunft. Im menschlichen Körper wird die kosmische Hierarchie zerstört, der Mensch behauptet sich außerhalb dieser Hierarchie.[16]

Diese Auffassung korrespondiert der ambivalenten Sichtweise vom Tod, der nicht nur als das Ende einer individuellen Existenz bzw. eines Teils des Kollektivkörpers, sondern gleichzeitig auch als Anfang von etwas Neuem gedeutet wird, sowie dem dynamischen Prozess der dem Kollektivkörper inhärenten Selbsthervorbringung. In den Theorien der Renaissance-Philosophen bildet der menschliche Körper das neue Zentrum, von dem ausgehend die Dinge des Weltalls geordnet werden, wobei alle das Bestreben vereinigt, in eben diesem Körper die Elemente und Kräfte des Kosmos wiederzufinden.[17] „Die Philosophie formuliert in der Sprache der Theorie die neue Vorstellung vom Kosmos als einem für den Menschen nicht bedrohlichen eigenen Haus. In der Motivsprache des Lachens ist die gleiche Erfahrung in Rabelais` Roman formuliert.“[18] Über das versöhnende Moment in der Körperkonzeption der Renaissance lässt sich somit ein Bogen schlagen zwischen philosophischer Theorie und literarischer Umsetzung des Grotesken bei Rabelais. Für diesen ist der menschliche Körper „die Vollendung und daher der Schlüssel zur Materie überhaupt.“ In ihm „wird Materie schöpferisch, originell, hier ist sie aufgerufen, den ganzen Kosmos zu besiegen, die Materie des ganzen Kosmos zu organisieren. Im Menschen gewinnt die Materie historischen Charakter.“[19] Und die Menschheit als Gattungskörper begriffen gewinnt „relative Unsterblichkeit“[20], d. h. Unsterblichkeit im Hinblick auf ihre Bewegung durch die Zeit hindurch als eine historische, entwicklungsfähige und sich entwickelnde, produktive, zeugende und sich selbst erzeugende Masse. Die Einsicht in den Prozess der Vorwärtsbewegung des menschlichen Gattungskörpers auf der horizontalen Ebene der Zeit resultiert laut Bachtin in einer fortan veränderten Auffassung vom Menschen und seiner Existenz: der „Apotheose des Menschen“[21], der den Raum besiegt hat.

Einen weiteren zentralen Anknüpfungspunkt des Grotesken bildet, neben der Körperkonzeption, die Karnevalsmotivik. Auf die römischen Saturnalien zurückgehend[22] versinnbildlicht der Karneval die Wiedergeburt und Erneuerung der ganzen Welt. Er folgt der „Logik der Umkehrung“, des „Auf-den-Kopf-Stellens“, „der ständigen Vertauschung von Oben und Unten [...], von Gesicht und Hintern“.[23] In der festtagsbedingten Aufhebung aller hierarchischen Beziehungen, die in der mittelalterlichen feudalen Gesellschaft das Leben des Einzelnen bestimmten, erfährt dieser die Entgrenzung in der Volksmasse und somit sich selbst als Teil des Kollektivkörpers. Die Umkehrung der Rollenverhältnisse setzt die herrschende Ordnung außer Kraft und schafft so eine „Doppelweltlichkeit“[24], indem die Karnevalszeit eine zweite, jenseits des Offiziellen angesiedelte Lebenssphäre erzeugt. Das festliche Lachen besitzt in diesem Zusammenhang eine utopische Komponente und richtet sich auf alles hierarchisch Höhere[25], insbesondere den kirchlichen Kult, welcher somit blasphemischer Umstülpung geöffnet wird. „Das den Karnevalsriten zugrundeliegende Lachprinzip löst sie völlig von jedem religiös-kirchlichen Dogmatismus, von Mystik und Andacht [...] Mehr noch, einige karnevaleske Formen sind geradezu Parodien auf den kirchlichen Kult. Alle karnevalesken Formen sind konsequent außerkirchlich und areligiös.“[26] Aufgrund ihres „konkret-sinnlichen Charakter[s]“[27] stehen sie in einer engen Beziehung zu Festmahl-Motiven und zum Materiell-Leiblichen insgesamt. Die Festmahl-Motive ihrerseits sind mit denen der grotesken Körperkonzeption verknüpft:

Essen und Trinken gehören zu den wichtigsten Lebensäußerungen des grotesken Körpers. Das Besondere dieses Körpers ist seine Geöffnetheit, Unvollendetheit und seine Beziehung zur Welt. Im Akt des Essens zeigt es sich mit großer Anschaulichkeit und Konkretheit: der Körper geht hier über seine Grenzen hinaus, er schluckt, verschlingt, zerteilt die Welt, nimmt sie in sich auf, bereichert sich und wächst auf ihre Kosten.[28]

Hier zeigt sich erneut das Motiv des Wachsens und Werdens, der Unabgeschlossenheit, der Prozesshaftigkeit, das für die gesamte Konzeption des Grotesken, wie es von Bachtin herausgearbeitet wird, entscheidend ist: „Das groteske Motiv zeigt ein Phänomen in der Transformation, in der Metamorphose, im Stadium der Sterbens oder der Geburt, des Wachsens und Werdens. Die Beziehung zur Zeit, zum Werden, ist ein konstitutives Merkmal grotesker Motive.“[29] Damit sind vorerst alle wesentlichen Elemente der Bachtinschen Rekonstruktion von Rabelais` Werk im Hinblick auf das darin zum Ausdruck kommende Groteske umrissen. Eine detaillierte Beschäftigung mit den einzelnen Motiven sowie die damit einhergehende Anreicherung und Konkretisierung ihrer Wirkungsweise wird im Zusammenhang der Textanalyse von Das Parfum erfolgen. Abschließend sei noch ein Blick auf die Entwicklung der grotesken Tradition und ihrer literarischen Umsetzung, wie Bachtin sie nachzeichnet, bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein gewährt.

Als „tiefgreifendste Umgestaltung“[30] hebt er dabei die Reduktion des Lachprinzips hervor. Nach einer Periode der Nichtbeachtung unter den ästhetischen Maximen des Klassizismus erfährt die Groteske in der Vor- und Frühromantik eine Aktualisierung und gleichzeitig einen „radikalen Bedeutungswandel“. Sie wird zu einer „Ausdrucksform für subjektives, individuelles Weltempfinden“.[31] Im Zuge der Reaktion auf klassizistische Forderungen nach Perfektion und Eindeutigkeit sowie aufklärerische Rationalisierungstendenzen wird von der Literatur die Renaissance wiederentdeckt, vor allem Shakespeare und Cervantes, und damit auch die groteske Tradition. Doch verliert diese vor dem Hintergrund eines veränderten Weltbildes ihre heitere, erneuernde Komponente: „Die karnevaleske Welterfahrung wird in die Sprache der subjektiv-idealistischen Philosophie übertragen und ist nun nicht mehr jenes konkrete, geradezu körperlich erfahrbare Gefühl der Einheit und Unerschöpflichkeit des Lebens [...]“[32] Mit der Fokussierung auf das nunmehr aus dem Kollektivkörper herausgelöste Subjekt sowie der Reduktion des völkischen utopischen Lachens auf Ironie und Sarkasmus wandelt sich in der grotesken Darstellung das Verhältnis von Mensch und Welt. Es wird fortan vom Furchterregenden, Schrecklichen dominiert, welches in der mittelalterlichen Lachkultur dagegen als Überwundenes, ins Komische überführtes erscheint. Dementsprechend vollzieht sich der Austausch zwischen der Welt und dem Menschen nicht mehr primär über dessen Körper als Realisationsbasis, sondern „über abstrakte Kategorien und den Verstand.“[33] Folglich ist das Unheimliche und die Angst davor Hauptanknüpfungspunkt grotesker Darstellung, die in Motiven wie dem des Wahnsinns, der Maske, die, im Gegensatz zu ihrer Symbolik in der volkstümlichen Groteske, wo sie Vielgestaltigkeit des Lebens repräsentiert, grauenhafte Leere, das Nichts verbirgt, oder der von einer fremden Macht gesteuerten Marionette zum Ausdruck kommt. Als bedeutendsten Vertreter der romantischen Groteske, der auf die weitere Entfaltung dieser literarischen Form innerhalb der Weltliteratur großen Einfluss nahm, führt Bachtin E. T. A. Hoffmann, als Theoretiker Friedrich Schlegel und Jean Paul an.[34] In der französischen Romantik ist es Victor Hugo, der im neunzehnten Jahrhundert der Groteske zu einer Renaissance verhilft, wobei er an ihr vor allem als an der Ästhetik des Hässlichen interessiert ist, um die das Erhabene ergänzt werden müsse, damit wirkliche Schönheit entstehen kann.[35] Damit zeigt sich, dass die von der Romantik geleistete Entdeckung „des Subjekts in seiner Tiefe, Komplexität und Unerschöpflichkeit“, die laut Bachtin durch die „von allem Dogmatischen, Vollendeten und Begrenzten befreiende[...] Kraft“[36] der grotesken Methode erst möglich wurde, nur um den Preis des Verlustes ihres erneuernden Prinzips zu haben war. Für das zwanzigste Jahrhundert diagnostiziert Bachtin zwei Entwicklungslinien des Grotesken: auf der einen Seite die sich unter dem Einfluss des Existentialismus entwickelnde, der Tradition der romantischen Groteske verpflichtete „modernistische Linie“ des Surrealismus und des Expressionismus, auf der anderen Seite die dem grotesken Realismus und der Volkskultur entstammende „realistische Linie“, zu deren Vertretern er u. a. Thomas Mann, Bertold Brecht und Pablo Neruda rechnet.[37]

2. Das Groteske in Süskinds Roman

Natürlich lässt sich die Konzeption des Grotesken bei Rabelais, allein schon aufgrund der zwischen diesem und Süskind liegenden Zeitspanne von rund vier Jahrhunderten sowie der damit einhergehenden fortschreitenden literarischen Entwicklung, nicht eins zu eins auf Das Parfum übertragen, jedoch sind einige ihrer wesentlichen Elemente darin unverkennbar und auch die Abweichungen, die ihrer Form nach auf die Traditionslinie des Grotesken verweisen, erlauben es, den Roman innerhalb dieser anzusiedeln. Selbstverständlich sind die Ziele, die ein Autor des zwanzigsten Jahrhunderts mit solch einer Darstellungsweise verfolgt, naturgemäß von denen Rabelais` verschieden; und eben diese herauszuarbeiten ist die Aufgabe der vorliegenden Arbeit, wobei der erste Teil sich hauptsächlich auf die groteske Darstellungsweise allein konzentrieren wird, während im zweiten die Bedeutung dieser in Verbindung mit Gedanken des modernen Diskurses für den Sinngehalt des gesamten Romans ermittelt werden soll.

Süskind bedient sich des Grotesken zur Darstellung der vormodernen Welt, oder besser gesagt zur Darstellung der sich im Umbruch zur Moderne befindenden Welt. Bachtin hat die besondere Rolle des historischen und gesellschaftlichen Umbruchs für die Groteske hervorgehoben.[38] Mit der Auflösung der Ständegesellschaft durch die Französische Revolution sowie die Ideen der Aufklärung hat sich ein äußerst folgenreicher Umbruch in der Geschichte des Abendlandes vollzogen, der, nachdem sich der Enthusiasmus großer Schlagworte verflüchtigt und der Skepsis Raum gemacht hatte, den Menschen vor eine Reihe neuer Probleme und Herausforderungen stellte. Dass viele der Ideale, gerade in Anbetracht des gewaltreichen zwanzigsten Jahrhunderts, unter einem relativierenden Blickwinkel zu sehen sind, führt Das Parfum dem Leser mit skeptischer Aufklärungsbetrachtung, doch stets aus ironischer Distanz vor Augen. Fluchtpunkt des Ganzen bildet dabei der Übergang von dem vormodernen völkischen Kollektivkörper, welcher zwar unter Betonung derber Körperlichkeit, jedoch mit Verweigerung der heiteren, erneuernden und integrierenden Komponente des Grotesken dargestellt wird, zu rationaler moderner Individualität. Diese ihrerseits, noch nicht abgeschlossen, noch von Schlacken des völkischen Aberglaubens durchsetzt (die Ambivalenz kommt an der Figur des Pater Terrier besonders deutlich zum Ausdruck, der einerseits als ein „die Kraft seines kritischen Geistes“ (S. 18) schätzender Vertreter des Klerus gegen die „abergläubischen Vorstellungen des einfachen Volkes“ (S. 19) kämpft, andererseits aber nach der Konfrontation mit Grenouilles Nase selbst in die kritisierten Verhaltensmuster zurückfällt (vgl. S. 23f.)), erscheint lediglich in der Gestalt instrumenteller Vernunft: nutzenorientiert, berechnend, manipulativ. Somit werden die beiden antithetischen Momente, das Vormoderne und das Moderne in einem Prozess der Verschlingung und gleichzeitig der wechselseitigen Zersetzung gezeigt: das eine in den letzten Atemzügen seiner Existenz, das andere gerade im Entstehen begriffen – mit anderen Worten der prototypische groteske Leib. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um ein heiter-skurriles Doppelwesen, das sich immer wieder selbst hervorbringt, sondern um eines, das sich selbst aufzehrt. Dieser Prozess des sich Aufzehrens, der Zersetzung besteht bei Süskind in der Austilgung bzw. Relativierung positiver Aspekte im jeweils Anderen. Das völkische Kollektiv vermag keine integrative Leistung mehr zu erbringen, es erscheint als eine indifferente, mitunter ins kreatürliche und monströse verzerrte Masse, in welcher der Sozialdarwinismus in reinster Form herrscht; die Modernisierungstendenzen hingegen beschränken sich auf die Ausbeutung anderer zu eigenen Zwecken. So lässt Süskind den Parfumeur Baldini seine Zeit als „ein Jahrhundert der Auflösung [...], der Zersetzung, des geistigen und politischen und religiösen Sumpfes, den sich die Menschheit selber schuf, in dem sie dereinst selbst versinken wird [...]“ (S. 76) bezeichnen.[39] Das Motiv der Gewalt spielt eine entscheidende Rolle in dem Roman. Anders als in der grotesken Darstellung Rabelais`, wo der Körper seine hyperbolische Form aus der Geöffnetheit zur Welt hin und seiner Verbindung mit dieser bezieht, ist es im Parfum die Gewalteinwirkung, die ihn deformiert. Herausragendes Beispiel dafür ist, die Hauptfigur einmal außen vor gelassen, die nicht minder seelenlose Figur der Madame Gaillard, die, von ihrem Vater mit einem Feuerhaken im Gesicht entstellt, fortan keine Geruchswahrnehmung mehr besitzt, wobei mit dem Verlust des Geruchssinns auch der Verlust von Empfindungsfähigkeit an sich einhergeht, welche von der „seelenarmen Frau“ (S. 27) durch einen „gnadenlosen Ordnungs- und Gerechtigkeitssinn“ (S. 26) kompensiert wird. In gewissem Sinne bildet diese „Mumie eines Mädchens“ (S. 25) das Pendant zu Grenouille: sie hat keinen Geruchssinn, er keinen Eigengeruch, beide sind die Produkte ihrer Zeit, beide die Überlebenden von Gewalteinwirkung, deren Spuren ihre Körper stigmatisieren und durch welche sie Resistenz und Abgestumpftheit erlangen, gleichzeitig aber Emotionsfähigkeit einbüßen. Diese Rahmenüberlegungen, d.h. die Bedeutung, die der von Süskind für die Handlung seines Romans gewählte Zeitpunkt in der Geschichte in Verbindung mit grotesker Darstellungsart besitzt, scheinen mir der Schlüssel zum Verständnis des Textes zu sein und der Hintergrund, vor dem die Interpretation der einzelnen Motive erfolgen sollte.[40] Brennpunkt all dieser aber ist die Figur des Jean-Baptiste Grenouille. In ihr laufen sie zusammen und werden, teils verstärkt, teils verzerrt, zurückgeworfen. Er ist die Figur, welche die monolithischen Eigenschaften der übrigen Figuren in sich bündelt, sowohl die Kreatürlichkeit, die in der Öffnung seines Körpers zum Tierischen hin zum Ausdruck kommt, als auch das Analytische, Systematische, Zweckgerichtete der aufgeklärten Vernunft, welches er allerdings monomanisch in den Dienst eines einzigen Zwecks stellt, der Erschaffung eines Universalkunstwerks, des apotheotischen Parfums. Er ist m. a. W. die Figur, an welcher sich der Übergang von der Vormoderne in die Moderne vollzieht und augenscheinlich wird. Das heißt, er verkörpert die ambivalente Gestalt, das Doppelwesen, das mit einem Bein in der amorphen Masse des völkischen Kollektivs, das ja sein Ursprung ist, steht, mit dem anderen aber schon einen Schritt von diesem weg und hin zu rationaler Individualität gemacht hat. Und dieser Schritt ist bereits mit seiner Geburt vollzogen:

Der Schrei nach seiner Geburt, der Schrei unter dem Schlachttisch hervor, mit dem er sich in Erinnerung und seine Mutter aufs Schafott gebracht hatte, war kein instinktiver Schrei nach Mitleid und Liebe gewesen. Es war ein wohlerwogener, fast möchte man sagen ein reiflich erwogener Schrei gewesen, mit dem sich das Neugeborene gegen die Liebe und dennoch für das Leben entschieden hatte. (S. 28)

Der Leser wohnt hier offensichtlich nicht nur, wie Werner Frizen und Marilies Spancken sich ausdrücken, der „Geburtsstunde einer Kunstfigur“[41] bei, sondern auch der moderner Rationalität. Geboren im Jahr 1738 (vgl. S. 7), rund fünfzig Jahre vor dem Ausbruch der Französischen Revolution versinnbildlicht Grenouille, zugegebenermaßen in äußerst einseitig düsteren Tönen, den Wechsel der Gezeiten im abendländischen Denken. Da die Figur mit ihrer ambivalenten Gestaltung zwischen Tierhaftigkeit und Rationalität, in der sich die Ambivalenz der Epoche ausdrückt, das unumstrittene Zentrum der Gesamtkomposition bildet, kommt das Erbe der grotesken Tradition in ihr auch am deutlichsten zum Tragen. Im Folgenden werden die einzelnen grotesken Motive im Text nachgewiesen und auf ihre jeweilige Bedeutung hin untersucht.

2.1 Die groteske Körperkonzeption

2.1.1 Geburt und Tod als Kreislauf

Das Parfum als Gesamtkomposition weist eine zirkuläre Form auf, Geburt und Tod markieren Anfangs- und Endpunkt der die Lebensspanne des Protagonisten umfassenden Romanhandlung. Am Ende der Erzählung laufen sie „am allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs“ (S. 7), dem Cimetière des Innocents ineinander, dann nämlich, wenn die Kunstfigur Grenouille ihr Leben inmitten von Subjekten unterster Gesellschaftsschichten, die bereits ihr Entstehen begleitet haben, beendet und somit auf den ewigen Kreislauf von Geburt und Tod als analoger Momente im Leben des grotesken Körpers verweist. All die „Hauptereignisse im Leben des grotesken Körpers, alle Akte des Körperdramas – Essen, Trinken, die Verdauung [...], Beischlaf, Schwangerschaft, Entbindung, Wachstum, Alter, Krankheiten, Tod, Verwesung, Zerstückelung und Verschlungenwerden durch einen anderen Körper“ geschehen „an der Grenze zwischen Körper und Welt und dem alten und dem jungen Körper. In allen Ereignissen des Körperdramas sind Anfang und Ende des Lebens miteinander verflochten.“[42] Während der Tod des Jean-Baptiste Grenouille den Charakter einer Epiphanie besitzt, fällt seine Geburt in die Kategorie des Dinghaften:

Sie [Grenouilles Mutter] wollte die eklige Geburt so rasch als möglich hinter sich bringen. Es war ihre fünfte. Alle vorhergehenden hatte sie hier an der Fischbude absolviert, und alle waren Totgeburten oder Halbtotgeburten gewesen, denn das blutige Fleisch, das da herauskam, unterschied sich nicht viel von dem Fischgekröse, das da schon lag, und lebte auch nicht viel mehr, und abends wurde alles mitsammen weggeschaufelt und hinübergekarrt zum Friedhof oder hinunter zum Fluß. [...]

Und als die Preßwehen einsetzten, hockte sie sich unter ihren Schlachttisch und gebar dort, wie schon vier Mal zuvor, und nabelte mit dem Fischmesser das neugeborene Ding ab. (S. 8)

Der Körper wird zum Dinghaften hin geöffnet, jedoch nicht mit der Absicht, seine Verbundenheit mit der fruchtbaren, erneuernden Kraft der Erde hervorzuheben – die positive Komponente ist hier vollends ausgetilgt – , sondern ganz im Gegenteil seine Nähe zum Leblosen, die sich im fehlenden Eigengeruch manifestiert. Süskind dreht die Intention hinter der grotesken Konzeption sozusagen parodistisch um, indem er das Geburtsereignis auf einen vom „Verwesungsbrodem“ (S. 7) eingehüllten Friedhof, wohin „achthundert Jahre lang Tag für Tag die Kadaver zu Dutzenden herbeigekarrt und in lange Gräben geschüttet“ (S. 6f.) werden, verlegt. Im Hinblick auf die spätere Apotheose Grenouilles wird klar, dass es sich in Anbetracht eines solchen Einstiegs ins Leben nur um die Pseudo-Apotheose der sich hinter einer „Duftmaske“ (S. 306) verbergenden personifizierten Leblosigkeit handeln kann. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Darstellung seiner namenlos bleibenden Mutter:

[...] Grenouilles Mutter, die noch eine junge Frau war, gerade Mitte zwanzig, die noch ganz hübsch aussah und noch fast alle Zähne im Munde hatte und auf dem Kopf noch etwas Haar und außer der Gicht und der Syphilis und einer leichten Schwindsucht keine ernsthafte Krankheit; die noch hoffte, lange zu leben, vielleicht fünf oder zehn Jahre lang, und vielleicht sogar einmal zu heiraten und wirkliche Kinder zu bekommen als ehrenwerte Frau eines verwitweten Handwerkers oder so... (S. 8)

Was hier unter Einsatz von Ironie entsteht, ist die groteske Figur des schwangeren Todes. Die Ambivalenz seiner Zweileibigkeit ist jedoch zugunsten der rein negierenden Aussagekraft aufgehoben. Statt auf die Reproduktivität und Selbsthervorbringung des Lebens zu verweisen, gebiert der Fische ausnehmende schwangere Tod inmitten eines von infernalischem Gestank durchdrungenen Friedhofs den Tod. Das Fische-Motiv mit seiner ambivalenten Bedeutung als Symbol der Fruchtbarkeit und gleichzeitig des Todes[43] korrespondiert hierbei nicht nur der Ambivalenz grotesker Motive, sondern verweist darüber hinaus auf das innerhalb des Parfums zentrale Motiv der Umkehrung von Leben und Tod. Überdies enthält es als Symbol für die Eucharistie einen Bezug zu deren kannibalischen Inszenierung im letzten Akt des Romans. Der bereits im Mutterleib zum Tode verurteilte Ableger, dessen sturer Schrei aus dem Fischgekröse heraus seiner Mutter die Hinrichtung einbringt, wobei er selbst sich durch die Umkehrung des Ablaufs die Existenzberechtigung ertrotzt, zeichnet sich im Fortgehen der Handlung durch das Fehlen des Eigengeruchs aus, in dem sich seine Seelenlosigkeit manifestiert. Dieses Stigma, durch welches er mit dem ihm zugedachten Los, nicht zur Existenz zu kommen, verbunden bleibt, wird zum Motiv und Hauptantrieb für die Realisierung seines Lebenswerks, das kein geringeres ist, als die Selbsterschaffung. So kann er nach seiner Apotheose im Dunst der „Duftmaske“ (S. 306 ) verkünden:

Er hatte die prometheische Tat vollbracht. Den göttlichen Funken, den andre Menschen mir nichts, dir nichts in die Wiege gelegt bekommen und der ihm als einzigem vorenthalten worden war, hatte er sich durch unendliches Raffinement ertrotzt. Mehr noch! Er hatte ihn sich recht eigentlich selbst in seinem Innern geschlagen. Er war noch größer als Prometheus. Er hatte sich eine Aura erschaffen, strahlender und wirkungsvoller, als sie je ein Mensch vor ihm besaß. Und er verdankte sie niemandem – keinem Vater, keiner Mutter und am allerwenigsten einem gnädigen Gott – als einzig sich selbst. Er war in der Tat sein eigener Gott, und ein herrlicherer Gott als jener weihrauchstinkende Gott, der in den Kirchen hauste. (S. 304)

Indem er also das seitens seiner Mutter an ihm vollstreckte Todesurteil umkehrt, und statt sich zusammen mit dem Fischabfall wegschaufeln zu lassen, sie wegen Kindermordes aufs Schafott bringt, legt er bereits das Fundament seines späteren Aufstiegs, wobei das Moment der Inversion für sein gesamtes Wesen sowie für die den Text durchziehenden Motive bestimmend bleibt. Das Sterben des alten und die Hervorbringung des neuen Leibes, der den Fortbestand des Gattungskörpers sichert, entsprechen so weit der Vorgabe bei Rabelais, doch bei Süskind ist ein wesentlicher Unterschied unverkennbar. Die Ablösung des Alten durch das Neue erfolgt gewaltsam. Der neugeborene Körper muss sich das Recht auf Leben, das ihm von dem alten streitig gemacht wird (die Requisiten der Geburt, der „Schlachttisch“ und das „Fischmesser“ (S. 8), unterstreichen diesen Zusammenhang), im wahrsten Sinne des Wortes ertrotzen, erkämpfen, er muss die Vernichtung des Leibes, aus dem er hervorgegangen ist, herbeiführen.[44] Und diese Vernichtung geht unter Gewalteinwirkung vonstatten, die den Körper in diesem Fall durch Zerstückelung, durch das Abtrennen des Kopfes auslöscht, in anderen Fällen deformiert zurücklässt. Dem Leser wird ein unerbittlicher Kampf ums Dasein vorgeführt, der in seiner Brutalität zwar durch die ironische Brechung in der Darbietungsform abgeschwächt, jedoch durch das Motiv der Gewalt, das den Text durchzieht, immer wieder aufs neue vergegenwärtigt wird. Die Motive Mutterschoß und Grab in ihrer grotesken Abbildung aufeinander sind in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung. In der grotesken Tradition konstituiert sich ihre Verbindung über das Motiv der Erde als „das Verschlingende (Grab, Leib) und zugleich das Gebärende, Erneuernde (Mutterschoß).“[45] Süskind spielt mit der Inversion von Leben und Tod, Mutterleib und Grab in der Höhlensequenz, die das siebenjährige Leben des Protagonisten im Innern eines Vulkans wiedergibt.

Nahe der Wasserstelle entdeckte er einen natürlichen Stollen, der in vielen engen Windungen in das Innere des Berges führte, bis er nach etwa dreißig Metern an einer Verschüttung endete. Dort, am Ende des Stollens, war es so eng, dass Grenouilles Schultern das Gestein berührten, und so niedrig, dass er nur gebückt stehen konnte. Aber er konnte sitzen, und wenn er sich krümmte, konnte er sogar liegen. [...]

Er lag im einsamsten Berg Frankreichs fünfzig Meter tief unter der Erde wie in seinem eigenen Grab. Noch nie im Leben hatte er sich so sicher gefühlt – schon gar nicht im Bauch seiner Mutter. (S. 156)

Der Aufenthalt im Innern des Berges, der ganz im Sinne der Romantik mit dem Rückzug ins eigene Innere zusammenfällt, ist auch ein Rückzug aus dem Wirkungsbereich der Menschen und des Sozialdarwinismus. Dass dieser bereits im Mutterleib beginnt, macht der Nachtrag „schon gar nicht im Bauch seiner Mutter“ deutlich. Erneut zeigt sich an dieser Motivverknüpfung, dass Süskind in den Grundzügen Rabelais folgt, den Sinngehalt jedoch dahingehend modifiziert, dass die positive, erneuernde Komponente darin verloren geht. Die einzige Lage, in der das Liegen in der Höhle möglich zu sein scheint, entspricht der Embryonalstellung („wenn er sich krümmte, konnte er sogar liegen“), diese korrespondiert zusammen mit den inneren Ausschweifungen dem Selbsterschaffungstopos. Erst an dem Ort, den „noch kein lebendes Wesen [...] je betreten hatte“ (S. 156), fernab menschlicher Bedrohung, in einem simulierten Geburtskanal, an dessen Ende kein Fischmesser auf das „blutige Fleisch“ (S. 8) wartet, kann sich die lebende Totgeburt Grenouille, der „wie seine eigene Leiche“ (S. 158) „fünfzig Meter tief unter der Erde wie in seinem eigenen Grab“ (S. 156) liegt, in einer Inversion von innen und außen, von Realität und Imagination selbst hervorbringen. Mit dem Motiv der erneuernden Kraft der Erde hat dieses Szenario allerdings nicht mehr viel zu tun. Die Sterilität des Ortes steht in scharfem Kontrast zur überfließenden Fruchtbarkeit der Natur und des über sich hinaus wachsenden Kollektivkörpers. Vielmehr ist Grenouille im Innern des Vulkans von diesem abgeschnitten. Seit dem Augenblick seines selbsterhaltenden Schreis unter dem Schlachttisch hat er begonnen, sich aus ihm herauszulösen und von ihm weg zu bewegen bis er schließlich den „Magnetpol der größtmöglichen Einsamkeit“ (S. 152) erreicht hat, wo er, wie der Erzähler versichert, bis ans Lebensende geblieben wäre, wenn ihn nicht eine „Katastrophe [...] aus dem Berg vertrieben und in die Welt zurückgespieen hätte.“ (S. 170) Ein weiteres, in Verbindung mit dem Komplex Mutterleib – Grab stehendes Motiv ist der die Hölle symbolisierende „absolute Unterleib“[46], bei Bachtin heißt es: „das erotische Motiv des ‚trou’, des ‚Loches’, des Eingangs zur Hölle, ist zugleich der aufgesperrte Satansrachen.“[47] Diese Bedeutungsnuance greift der Roman auf, indem er Grenouille teuflische Attribute zuschreibt, die sich nicht in der äußeren Erscheinung, wie dem Klumpfuß (vgl. S. 27), erschöpfen, sondern vielmehr aus der geruchlosen Aura und der übermenschlichen Resistenz des Protagonisten ableiten, welche den Argwohn sowohl der Amme, als auch der Kinder im Waisenhaus weckt:

„Ob die Sache etwas mit dem Teufel zu tun hat oder nicht, das müsst Ihr selbst entscheiden, Pater Terrier, dafür bin ich nicht zuständig. Ich weiß nur eins: dass mich vor diesem Säugling graust, weil er nicht riecht, wie Kinder riechen sollen.“ (S. 16)

Die andern Kinder dagegen spürten sofort, was es mit Grenouille auf sich hatte. Vom ersten Tag an war ihnen der Neue unheimlich. Sie mieden die Kiste, in der er lag, und rückten auf ihren Schlafgestellen enger zusammen, als wäre es kälter geworden im Zimmer. Die jüngeren schrien manchmal des Nachts; ihnen war, als zöge ein Windzug durch die Kammer. Andere träumten, es nehme ihnen etwas den Atem. Einmal taten sich die älteren zusammen, um ihn zu ersticken. Sie häuften Lumpen und Decken und Stroh auf sein Gesicht und beschwerten das ganze mit Ziegeln. Als Madame Gaillard ihn am nächsten Morgen ausgrub, war er zerknautscht und zerdrückt und blau, aber nicht tot. Sie versuchten es noch ein paar Mal, vergebens. (S. 30)

Werner Frizen und Marilies Spancken weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es stets „ein spezifisch Menschliches“, „die humanitas“,[48] ist, dessen Fehlen den Teufel bzw. seine Verbündeten kennzeichnet: „[...] so [fehlt] Faust die Seele, Schlemihl der Schatten oder Leverkühn die Liebe [...]“ Grenouille fehlen, anders als die Parallelisierung bei Frizen und Spancken nahe legt, alle drei, nicht etwa nur der Geruch. So verzichtet er mit seiner Entscheidung „gegen die Liebe und dennoch für das Leben“ (S. 28) für immer auf erstere. Und auch das Motiv des fehlenden Schattens findet sich im Text: „Es war kein Raum um ihn gewesen, kein Wellenschlag, den er, wie andre Leute, in der Atmosphäre schlug, kein Schatten, sozusagen, den er über das Gesicht der andern Menschen hätte werfen können.“ (S. 194f.) Die Figur Grenouille stellt somit eine literarische Legierung dar, eine Vermengung der Merkmale verschiedener Figuren. Bei Frizen und Spancken heißt es weiter: „Geruch, Schatten, Liebe; diese drei sind nur ein anderes Wort für die Seele: Die Destillation, das Verfahren, den Dingen ihren Duft, ihr ‚Prinzip’ zu entreißen, heißt, ihnen die ‚Seele’ nehmen.“[49] Dementsprechend müssen auch alle, die mit dem Teufel paktiert bzw. arglos gehofft haben, ihn für die eigenen Zwecke ausbeuten zu können, dafür mit dem Leben bezahlen: „In dem Handlungsstrang [...] sterben nach der Mutter all jene weg, die in irgendeiner Form – äußerlich – die Rolle des Wirtstiers/Mentors für den Zeck übernommen hatten [...]“[50], nämlich der Gerber Grimal, der Parfumeur Baldini, der scharlatanhafte Wissenschaftler mit prophetischen Ambitionen, der Marquis de la Taillade-Espinasse, sowie der Geselle Druot. Ihnen allen wird das „monströse Kind“ (S. 30), welches die Höllenpforten ironischerweise auf dem Cimetière des Innocents ausgespieen haben, zum Verhängnis. Nebenbei bemerkt liefert bereits die Namensgebung Hinweise auf Diabolisches. Der Frosch, französisch „grenouille“, galt den Kirchenvätern als Symbol des Teufels.[51] Dass es sich bei Grenouille um einen teuflischen Ableger handelt, dem selbst die Kirche nicht gewachsen ist, demonstriert indes die Szene, in welcher sich der Geistliche Terrier mit ihm konfrontiert sieht; und auch hier ist es die außergewöhnliche Gabe Grenouilles gepaart mit seiner Geruchlosigkeit, die den Ausschlag gibt:

Es war Terrier, als sehe ihn das Kind mit seinen Nüstern, als sehe es ihn scharf und prüfend an, durchdringender, als man es mit Augen könnte, als verschlänge es etwas mit seiner Nase, das von ihm, Terrier, ausging und das er nicht zurückhalten und nicht verbergen konnte... [...]

Terrier schauderte. Er ekelte sich. Er verzog nun seinerseits die Nase wie vor etwas Übelriechendem, mit dem er nichts zu tun haben wollte. Vorbei der anheimelnde Gedanke, es handle sich ums eigne Fleisch und Blut. [...] Ein fremdes, kaltes Wesen lag auf seinen Knien, ein feindseliges Animal [...] Er wollte das Ding loshaben, möglichst schnell, möglichst gleich, möglichst sofort. [...]

Weg damit! Dachte Terrier, augenblicklich weg mit diesem... >Teufel< wollte er sagen und riß sich zusammen und verkniff es sich, ... weg mit diesem Unhold, mit diesem unerträglichen Kind! [...]

[...] dort gab er das immer noch schreiende Kind ab, zahlte für ein Jahr im voraus und floh zurück in die Stadt, warf, im Kloster angekommen, seine Kleider wie etwas Beflecktes ab, wusch sich von Kopf bis Fuß und kroch in seiner Kammer ins Bett, wo er viele Kreuze schlug, lange betete und endlich erleichtert entschlief. (S. 23ff.)

Die Kirche kapituliert vor soviel geballter Nichtmenschlichkeit, und auch die aufgeklärte Gesinnung des Priesters vermag ihn nicht vor dem Einbruch des Aberglaubens in seine rationale Welt zu bewahren, worauf er nur mit einem „veritablen Exorzismus“[52] antworten kann. Damit ist bereits auf die irrationale, dionysische, das Vernunftideal der Aufklärung unterlaufende, da auf die unter diesem brodelnden Schichten abzielende, Komponente in Grenouilles Wesen verwiesen. Ebenso wenig, wie die übrigen grotesken Motive, deckt sich das des Teuflischen hier mit seiner Darstellung bei Rabelais, wo das Furchteinflößende immer als schon Überwundenes, dem Lachen Preisgegebenes erscheint und die Teufel „umgängliche Gesellen und gute Saufkumpane“[53] sind. Eher ist es der romantischen Groteske zuzuordnen, die ihren Schwerpunkt in der Darstellung des Unheimlichen, des Einbruchs des Irrationalen in die Welt hat. Dementsprechend hält Süskind es in der Schwebe, was Grenouille seinem Wesen nach eigentlich ist, indem er ihn mit verschiedenen – nicht nur geruchlichen, sondern auch literarischen – Masken ausstattet, von denen jede eine Sinnverschiebung bewirkt, und somit die Festlegung der Figur auf eine abschließende Definition verhindert. Vielmehr entsteht ein sich aus Dinghaftem, Tierischem, Diabolischem sowie der Verkörperung des Todes, mitunter in der Bedeutung des absoluten Nichts, zusammensetzendes Gesamtbild, das die Nichtmenschlichkeit der Figur konstituiert, und zu dessen Entschlüsselung die groteske Tradition m. E. wichtige Hinweise liefert. Die einzige klare Beschreibung, die der Autor vornimmt, ist der Status des Menschseins, den er seiner Schöpfung explizit abspricht:

Im Schutz dieser verschiedenen Gerüche, die er je nach den äußeren Erfordernissen wie die Kleider wechselte und die ihm alle dazu dienten, in der Welt der Menschen unbehelligt zu sein und in seinem Wesen unerkannt zu bleiben, widmete sich Grenouille nun seiner wirklichen Leidenschaft [...] (S.233)

Was dieses Wesen, das unerkannt bleiben will, ist, bleibt ein Rätsel, dessen Lösung nur anhand der intertextuellen Bezüge gelingen kann. Das Manko, über das die „Kuckucksbrut“ (S. 196) unter den Menschen ihr Umfeld auf der Handlungsebene mit Duftmasken hinwegtäuscht, nutzt der Verfasser zum Spiel mit gestalterischen Masken, die er ebenfalls je nach Bedarf wechselt. In dieser Hinsicht weist der Roman eine selbstreferentielle Komponente auf.

Ebenso wie die Umstände von Grenouilles Geburt, stehen auch die Umstände seines Todes in einer engen Verbindung zur grotesken Körperkonzeption, die sowohl die Zerstückelung als auch das Verschlungenwerden zu ihren verbreiteten Motiven zählt. Der „Zeck“, der sich sein Leben lang die Welt einverleibt hat, ohne etwas anderes „als seinen Kot“ an sie abzugeben, „kein Lächeln, keinen Schrei, keinen Glanz des Auges, nicht einmal einen eigenen Duft“ (S. 29), geht durch einen dionysischen Akt der Selbstopferung, eine kannibalische Eucharistiefeier wieder in den ins Monströse verschobenen Kollektivkörper ein, aus dem er entstanden ist:

Sie hatten einen Kreis um ihn gebildet, zwanzig, dreißig Personen und zogen diesen Kreis nun enger und enger. Bald fasste der Kreis sie nicht mehr alle, sie begannen zu drücken, zu schieben und zu drängeln, jeder wollte dem Zentrum am nächsten sein.

Und dann brach mit einem Schlag die letzte Hemmung in ihnen, der Kreis in sich zusammen. Sie stürzten sich auf den Engel, fielen über ihn her, rissen ihn zu Boden. Jeder wollte ihn berühren, jeder wollte einen Teil von ihm haben, ein Federchen, ein Flügelchen, einen Funken seines wunderbaren Feuers. Sie rissen ihm die Kleider, die Haare, die Haut vom Leibe, sie zerrupften ihn, sie schlugen ihre Krallen und Zähne in sein Fleisch, wie die Hyänen fielen sie über ihn her.

Aber so ein Menschenkörper ist ja zäh und lässt sich nicht so einfach auseinanderreißen, selbst Pferde haben da die größte Mühe. Und so blitzten bald die Dolche auf und stießen zu und schlitzten auf, und Äxte und Schlagmesser sausten auf die Gelenke herab, zerhieben krachend die Knochen. In kürzester Zeit war der Engel in dreißig Teile zerlegt, und ein jedes Mitglied der Rotte grapschte sich ein Stück, zog sich, von wollüstiger Gier getrieben, zurück und fraß es auf. Eine halbe Stunde später war Jean-Baptiste Grenouille in jeder Faser vom Erdboden verschwunden. (S. 319f.)

Nachdem er über die verschiedenen Phasen seiner Existenzweise, die vom Autor mit wechselnden Bezeichnungen begleitet werden („das neugeborene Ding“, „das blutige Fleisch“ (S. 8), „resistentes Bakterium“, „Zeck“ (S. 27), „Spinne“ (S. 24), „Kröte“ (S. 96), „das Häuflein Mensch“ (S.), „das Männlein“ (S.289), schließlich „Lichtgestalt“ (S.), „Geist“, „Engel“ (S.318)), vom Dinghaften und Tierischen über das Menschliche hin zum Göttlichen aufgestiegen ist, endet Grenouille letzten Endes als Teil des aus „allem möglichen Gesindel, Dieben, Mördern, Messerstechern, Huren, Deserteuren, jugendlichen Desperados“ (S. 318) bestehenden Kollektivkörpers an dem Ort, wo er unter dem Schlachttisch das Licht der Welt erblickt hatte. Der Tag, an dem er diese verlässt, gleicht dabei im Setting dem Tag seiner Geburt, wodurch die den Kreislauf von Leben und Tod unterstreichende kreisförmige Struktur des Romans deutlich hervortritt:

Es wurde ein heißer Tag, der heißeste bisher in diesem Jahr. Die tausendfältigen Gerüche und Gestänke quollen wie aus tausend aufgeplatzten Eiterbeulen. Kein Wind regte sich. Das Gemüse an den Marktständen erschlaffte, eh’ es Mittag war. Fleisch und Fische verwesten. In den Gassen stand die verpestete Luft. Selbst der Fluß schien nicht mehr zu fließen, sondern nur noch zu stehen und zu stinken. Es war wie am Tag von Grenouilles Geburt. (S. 317)

Gleichzeitig wird klar, dass sich Süskind der Muster des Entwicklungsromans einzig zu parodistischen Zwecken bedient. Die Entwicklung Grenouilles zu einem „Engelsmenschen“ (S. 319) ist nur eine Pseudo-Entwicklung und im Kern von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Tatsächlich bleibt er zeit seines Lebens ein „fremdes, kaltes Wesen“, ein „feindseliges Animal“ (S. 24) lediglich „maskiert mit dem besten Parfum der Welt“ (S. 306). Fluchtpunkt seiner gesamten Entwicklung und seines Todes ist der Dionysos-Topos, dessen Bezüge in den gesamten Text eingestreut sind. Dabei bestehen zwischen dem Dionysos-Motiv und der grotesken Konzeption gewisse Verbindungen, die in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben sollen, wie beispielsweise das im nächsten Kapitel dieses Teils zu untersuchende Motiv der Maske. An dieser Stelle jedoch möchte ich es zunächst zugunsten anderer grotesker Motive ausblenden. Eines davon ist die Inversion. Die Darstellung des bacchantischen Zerstückelungsaktes trägt unverkennbare Züge des letzten Abendmahls: ein Kreis wird um den „Engelsmenschen“, von dem ein „rabiater Sog“, „eine reißende Ebbe“ (S.319) ausgeht, gebildet, die Beteiligten empfinden „Ehrfurcht“, „Erstaunen“ und „Begeisterung“ (S. 319), nach dem kannibalischen Akt haben sie das Gefühl, „zum ersten Mal etwas aus Liebe getan“ (S.320) zu haben. Die sakralen Konnotationen werden jedoch durch das sich in purer Bestialität manifestierende Moment hereinbrechender Gewalt untergraben und in ihrem Sinngehalt verkehrt. Sowenig wie der „Zeck“ Grenouille der „neue Messias“ (S. 316) ist, sowenig ist das „Gesindel“ (S. 318) auf dem Cimetière des Innocents als Aposteln zu betrachten, und ein Akt der, wenn auch übermenschlichen, Liebe, der im Kannibalismus seinen Ausdruck findet, ist die hyperbolisch übersteigerte und sarkastisch aufgearbeitete Wiederaufnahme der den gesamten Text variationsreich durchziehenden Gewaltthematik. Gleichzeitig ist das der Szene zugrundeliegende Muster die in der grotesken Tradition fest verankerte blasphemische Umkehrung des Sakralen. Wolfgang Kayser weist darauf hin, dass es sich bei Kriechtieren sowie allen Arten von Ungeziefer um die von der Groteske bevorzugten Lebewesen handelt, und folgert, dass dieser Status u. a. mit ihrer Unreinheit und damit Untauglichkeit als Opfertiere zusammenhängt.[54] Im Falle des mit dem Beinamen „der Zeck“ versehenen Grenouille, dessen Tod als Selbstopferung (entsprechend der Selbsthervorbringung) betrachtet werden kann, würde das die Umkehrung der geltenden Ordnung bedeuten und auf die karnevaleske Inversion verweisen. Das Motiv des Verschlungenwerdens entspricht hingegen dem der Einverleibung der Welt durch Grenouille. Diese erfolgt auf zweierlei Art: zum einen im wörtlichen Sinne der Nahrungsaufnahme („Er sei zu gierig, hieß es, sauge für zwei [...]“ (S. 9)) begleitet von Verkapselung in sich selbst („So ein Zeck war das Kind Grenouille. Es lebte in sich verkapselt und wartete auf bessere Zeiten. An die Welt gab es nichts ab als seinen Kot“ (S. 29)), zum anderen in Form eines Geruchsarchivs. Im Hinblick auf die zweite Art der Einverleibung stellt Joachim Pfeiffer in seinem Aufsatz „Vom Größenwahn zum Totalitarismus. Die Konstruktion des Genies in Patrick Süskinds Roman Das Parfum “ fest:

[...]


[1] Süskind, Patrick: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Zürich 1994. (=DTB; 22800). Alle folgenden Zitate aus dem Primärtext beziehen sich auf diese Ausgabe und werden den zitierten Passagen in Klammern nachgestellt.

[2] Vgl. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1998 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 749) S. 119

[3] Vgl. Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur und Gegenkultur. Hrsg. von Renate Lachmann. Frankfurt a. M. 1995. (=STW; 1187), S. 357f.

[4] Ich schließe mich damit Werner Frizen und Marilies Spancken an, die in Bezug auf die Figuren bemerken: „Monolithisch strukturiert, bewahren sie den einen Wesenszug, um dessentwillen sie erschaffen wurden. Die Bizarrerie ihrer Gestaltung erhebt nicht den Anspruch, die reale Welt mimetisch abzubilden.“ Und mit Bezug auf die Darstellung der Geburt Grenouilles behaupten sie, der „wissende[...] Leser“ ahne bereits, „dass er der Geburtsstunde einer Kunstfigur beiwohnt“. (Frizen, Werner und Marilies Spancken: Patrick Süskind. Das Parfum. München 1996. (Oldenbourg Interpretationen; 78), S. 134, 144)

[5] Inwiefern die einzelnen Diskurse und Ideologien bereits in sich selbst einen nihilistischen Kern enthalten und inwieweit sich dabei die Kritik des Autors gegen sie richtet, soll an dieser Stelle offen bleiben.

[6] Werner Frizen bezeichnet Grenouille als einen „Mann ohne menschliche Eigenschaften, eine Kunstfigur und folglich mit der Leser-Psychologie nicht kompatibel.“ Weiter unten fährt er fort: „Grenouille ist kein underdog, dessen Aufstieg von ganz unten plausibel gemacht werden und zu Tränen rühren soll, er ist vielmehr als Künstler-Figur eine kristallklare Kunstfigur, die ein Gedankenspiel exerziert und mit der nahezu alles geschieht, was mit literarischen Geniefiguren bisher geschehen ist.“ (Frizen, Werner: Das gute Buch für jedermann oder Verus Prometheus. Patrick Süskinds Das Parfum. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 68, Nr. 4, 1994, S. 763, 767)

[7] Vgl. Frizen /Spancken, S. 131

[8] Bachtin, S. 69

[9] Ebd. S. 76

[10] Ebd. S. 363

[11] Ebd. S. 69

[12] Ebd. S. 70

[13] Ebd. S. 39

[14] Ebd. S. 19

[15] Ebd. S.77

[16] Ebd. S. 408

[17] Vgl. ebd. S. 410

[18] Ebd.

[19] Ebd. S. 411

[20] Ebd. S. 412

[21] Ebd. S. 411f.

[22] Vgl. ebd. S. 55

[23] Ebd. S. 59f.

[24] Ebd. S. 53

[25] Vgl. ebd. S. 61

[26] Ebd. S. 54

[27] Ebd. S. 54

[28] Ebd. S. 322f.

[29] Ebd. S. 74f.

[30] Ebd. S.88

[31] Ebd. S. 87

[32] Ebd. S. 88

[33] Ebd. S. 90

[34] Vgl. ebd. S. 87

[35] Vgl. ebd. S. 93f.

[36] Ebd. S. 95

[37] Vgl. ebd. S. 97

[38] Vgl. ebd. S. 57

[39] Diese Aussagen des traditionell denkenden, zunfttreuen Baldini richten sich selbstverständlich gegen das Ideengut der Aufklärung, wie sein auf Profit ausgerichtetes Verhalten im weiteren Verlauf des Romans jedoch zeigt, ist er selbst bereits mit dem Keim der Moderne imprägniert.

[40] Zwar wird in der Forschungsliteratur wiederholt auf die Aufklärungskritik Süskinds, die historischen sowie gesellschaftskritischen Bezüge hingewiesen, seltsamerweise aber wurde die Bedeutung der grotesken Konzeption für das Gesamtverständnis des Romans, zumindest in den mir bekannten Beiträgen, nicht hinreichend berücksichtigt. Der einzige, der seine Interpretation auf einigen der in der grotesken Tradition verankerten Motive aufbaut, ohne jedoch auf deren Zugehörigkeit zu dieser explizit hinzuweisen, ist Mark Ledbetter. (Vgl. Ledbetter, Mark: Victims and the Postmodern Narrative or Doing Violence to the Body. London 1996. S. 56-71)

[41] Frizen/Spancken, S. 134

[42] Bachtin, S. 359

[43] Vgl. Herder Lexikon der Symbole. 3. Aufl. Freiburg 1978, S. 52f.

[44] Bachtin verweist ebenfalls auf einen Zusammenhang zwischen Geburt und gewaltsamer Auslöschung: „Die Verbindung von Mord und Entbindung ist uns schon vom römischen Karneval her bekannt. Der Mord wird hier von dem Neugeborenen durch den Geburtsakt selbst begangen.“ S. 371

[45] Ebd. S. 71

[46] Bachtin, S. 78

[47] Ebd. S. 371

[48] Frizen/Spancken, S. 106

[49] Ebd.

[50] Ebd. 107

[51] Vgl. Herder Lexikon der Symbole. 3. Aufl. Freiburg 1978, S. 55f.

[52] Frizen/Spancken, S.106

[53] Bachtin, S. 91

[54] Vgl. Kayser, Wolfgang: Das Groteske. Seine Darstellung in Malerei und Dichtung. 2., unveränderte Aufl. Oldenburg und Hamburg 1961. S. 196

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832493387
ISBN (Paperback)
9783838693385
DOI
10.3239/9783832493387
Dateigröße
663 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Münster – Philosophische Fakultät
Erscheinungsdatum
2006 (Februar)
Note
2,0
Schlagworte
genie nihilismus ästhetik postmoderne künstler
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Titel: Vom kollektiven Volkskörper zur Individualität - Patrick Süskinds Roman 'Das Parfum' vor dem Hintergrund der grotesken Tradition und des Diskurses der Moderne
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