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Theoretisches Modell der Orgelimprovisation

©2002 Examensarbeit 109 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Kaum eine musikalische Disziplin ist so abstrakt und verbal so schwer fassbar – und doch so faszinierend wie die Improvisation. Seit Jahrhunderten ist insbesondere die Orgelimprovisation im christlichen Gottesdienst, in jüngerer Zeit (wieder) verstärkt auch im konzertanten Leben als fester Bestandteil verankert. Ja, noch mehr als das – sie ist prägendes Glied des Gottesdienstes, lebendigst vollzogene Liturgie bzw. Konzert. Kaum vom Hörer wahrgenommen, schon ist sie vergangen und unwiederholbar. Improvisation ist der Ort der Spontanität, der Unmittelbarkeit, ja auch der Extase; ein Ort höchster musikalischer Spannung.
Orgel und Improvisation sind zueinander affin. Nicht nur, dass es zur routinierten Praxis des Organisten gehört, in Gottesdienst und Messe zu improvisieren; sondern es ist auch das Instrument Orgel, das mit seiner individuellen Bauart stets ein Unikum darstellt und durch die vielen Registrierungs- und damit Klanggestaltungsmöglichkeiten zur Improvisation nahezu forciert.
In den vergangenen Jahrzehnten sind eine Reihe von Publikationen über die Psychologie kreativer Denkprozesse erschienen; einige wenige auch über musikalische Improvisation, jedoch keine speziell über Orgelimprovisation, abgesehen von Lehrwerken.
Doch geht es an dieser Stelle nicht primär um den Unterrichtsstoff. Meine Ausführungen befassen sich konkret mit den Hintergründen der Orgelimprovisation - psychologische und didaktische Prämissen - wobei sich viele Inhalte auch auf andere Instrumente und Stile übertragen lassen.
Angeregt durch eine Publikation von Pressing, der ein allgemeines Modell der Improvisation entworfen hat, habe ich den Versuch unternommen, ein „Theoretisches Modell der Orgelimprovisation“ zu konstruieren. J. A. Alt definiert „Theorie“ als „Geflecht informativer Aussagen“ und als „verknüpfte Hypothesen“ mit dem Ziel, „Erfahrungen zu erklären“.
So ist es auch mein Ziel gewesen, Zusammenhänge zwischen den Faktoren zu untersuchen, welche die Improvisation prägen. Daraus ist ein hypothetisches Modell entstanden, das keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Mustergültigkeit erhebt, aber einige für das Lernen und Lehren in der Praxis relevanten Zusammenhänge explizit aufzeigt. Dies geschieht auf drei Ebenen, die jeweils in einem eigenen Kapitel aufgeführt werden: Vorgänge während des Improvisierens, äußere Einflüsse auf das Improvisieren und Lernen und Lehren von Orgelimprovisation.
In der Arbeit wird der Versuch […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Modelltheoretische Eingrenzung und Charakterisierung

I. Vorgänge während des Improvisierens Der Kreislauf: Voraushören - Spielen - Wahrnehmen - Auswerten
I.1 Klangvorstellung = inneres Voraushören
I.1.a Die Bedeutung der Klangvorstellung
I.1.b Vergleich zum Komponieren
I.2 Umsetzung der Klangvorstellung in eine Muskelbewegung
I.3 Selbstwahrnehmung
I.3.a Akustischer Kanal
I.3.b Sensorischer Kanal
I.3.c Visueller Kanal
I.3.d Emotionaler Kanal
I.4 Kontrolle und Auswertung
I.4.a Aktionsrückmeldung und Auswertung
I.4.b Abschlussrückmeldung
I.5 Der kreative Prozess
I.5.a Die eigentliche Improvisationshandlung
I.5.b Definitionen von „kreativem Prozess“
I.5.c Entscheidungsprozesse zwischen Vorstellung und Kontrolle
I.5.d Woraus besteht der kreative Prozess?
I.5.e Bewusste und nicht-bewusste Denkabläufe
I.5.f Automatisation
I.5.g Bedeutung kognitiver Fähigkeiten
I.5.h Hirnorganische Umsetzung der einzelnen Prozessschritte
I.5.i Steigerung der individuellen Leistungsgrenze
I.5.j Gleichzeitigkeit von Denkprozessen
I.6 Konzentrationsfokussierung
I.6.a Die Arten der Konzentrationsleistung: Verlagerung, Wendigkeit, Gedächtnis
I.6.b Konzentrationsverlagerung als Schlüssel zum Lernfortschritt

II. Einfluss äußerer Faktoren auf die Improvisation
II.1 Wissen und Umsetzung
II.1.a Harmonik als Grundlage der Improvisation
II.1.b Kontrapunkt
II.1.c Einflüsse der Form auf die Improvisation
II.1.d Stilistik
II.1.e Abschließende Betrachtung und Bewertung
II.2 Individuelle Faktoren
II.2.a Begabung des Schülers
II.2.b Motivation
II.2.c Persönlichkeitsstruktur des Schülers
II.3 Indirekte Einflüsse
II.3.a Ein Blick ins 18. Jahrhundert
II.3.b Situation in der Gegenwart
II.3.c Wirkungsweise der Vorbilder
II.3.d Zusammenfassung: Auditive, persönliche, kompositorische Vorbilder
II.4 Technik
II.4.a Allgemeine Instrumentaltechnik
II.4.b Improvisationspezifische Technik
II.4.c Übemethodik

III. Lehr- und Lernprozesse
III.1 Lernprozesse
III.2 Lehrprozesse und Unterrichtsgestaltung
III.3 Abschließende Systematisierung
III.3.a Die Pole der Orgelimprovisation
III.3.b Das Spielen ohne systematische Vorgaben
III.3.c An systematische Vorgaben fest gebundenes Spielen
III.3.d Position des Schülers zwischen den Polen
III.4 Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Kaum eine musikalische Disziplin ist so abstrakt und verbal so schwer fassbar - und doch so faszinierend wie die Improvisation. Seit Jahrhunderten ist insbesondere die Orgelimprovisation im christlichen Gottesdienst, in jüngerer Zeit (wieder) verstärkt auch im konzertanten Leben als fester Bestandteil verankert. Ja noch mehr als das – sie ist prägendes Glied des Gottesdienstes, lebendigst vollzogene Liturgie bzw. Konzert. Kaum vom Hörer wahrgenommen, schon ist sie vergangen und unwiederholbar. Improvisation ist der Ort der Spontanität, der Unmittelbarkeit, ja auch der Extase; ein Ort höchster musikalischer Spannung.

Orgel und Improvisation sind zueinander affin. Nicht nur, dass es zur routinierten Praxis des Organisten gehört, in Gottesdienst und Messe zu improvisieren; sondern es ist auch das Instrument Orgel, das mit seiner individuellen Bauart stets ein Unikum darstellt und durch die vielen Registrierungs- und damit Klanggestaltungsmöglichkeiten zur Improvisation nahezu forciert.

In den vergangenen Jahrzehnten sind eine Reihe von Publikationen über die Psychologie kreativer Denkprozesse erschienen; einige wenige auch über musikalische Improvisation, jedoch keine speziell über Orgelimprovisation, abgesehen von Lehrwerken. Doch geht es an dieser Stelle nicht primär um den Unterrichtsstoff. Meine Ausführungen befassen sich konkret mit den Hintergründen der Orgelimprovisation - psychologische und didaktische Prämissen - wobei sich viele Inhalte auch auf andere Instrumente und Stile übertragen lassen.

Angeregt durch eine Publikation von Pressing[1], der ein allgemeines Modell der Improvisation entworfen hat, habe ich den Versuch unternommen, ein „Theoretisches Modell der Orgelimprovisation“ zu konstruieren. J. A. Alt definiert „Theorie“ als „Geflecht informativer Aussagen“[2] und als „verknüpfte Hypothesen“[3] mit dem Ziel, „Erfahrungen zu erklären“[4]. So ist es auch mein Ziel gewesen, Zusammenhänge zwischen den Faktoren zu untersuchen, welche die Improvisation prägen. Daraus ist ein hypothetisches Modell entstanden, das keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Mustergültigkeit erhebt, aber einige für das Lernen und Lehren in der Praxis relevanten Zusammenhänge explizit aufzeigt. Dies geschieht auf drei Ebenen, die jeweils in einem eigenen Kapitel aufgeführt werden:

1. Vorgänge während des Improvisierens
2. Äußere Einflüsse auf das Improvisieren
3. Lernen und Lehren von Orgelimprovisation

Es soll auf Fragen eingegangen werden, wie z. B.:

Was geht im Spieler während des Improvisierens vor?

Was denkt er (bewusst / unbewusst)? Was hört er? Was fühlt er?

Welche äußeren Faktoren beeinflussen sein Spiel langfristig?

Wie und unter welchen Bedingungen kann das Improvisieren erlernt werden?

Welche Aufgaben kommen dem Lehrenden zu?

Dadurch soll erzielt werden, die vielfältigen, oft unbewusst ablaufenden Vorgänge näher zu beleuchten. In diesem Sinne soll kein Idealtypus von Improvisationsunterricht entwickelt, sondern vielmehr eine Sensibilisierung für die impliziten, oft im Hintergrund wirkenden Zusammenhänge erreicht werden.

Detmold, im März 2002

Modelltheoretische Eingrenzung und Charakterisierung

Unter einem Modell versteht man in der allgemeinen Wissenschaftstheorie “eine vereinfachende, vergröbernde, häufig zusammenfassende und in der Regel zumindest in Details unvollständige Darstellung bestimmter realer […] Gegebenheiten”[5] . Modelle begegnen einem überall, auch im täglichen Leben: Modellauto, Atommodell, auch ein Globus ist ein Modell. Alle diese Beispiele bilden reale, komplexe Gegebenheiten in einem vereinfachenden, dafür aber anschaulichen Bild ab. Primäres Ziel ist es, unter einer bestimmten Fragestellung die Gesamtheit der Einzelaspekte im Zusammenhang zu betrachten. Wenn sich die Gliederung dieser Arbeit zwar an den Einzelaspekten orientiert, so gibt es dennoch schon bei Erläuterung der Einzelaspekte Verweise auf den Gesamtzusammenhang. Und eben dieser Gesamtzusammenhang, nämlich die Orgelimprovisation, soll transparenter werden, indem betrachtet wird, aus welchen Einzelaspekten und welchen Abhängigkeiten dieser besteht. Es liegt also ein Erklärungsmodell vor (im Gegensatz zum Prognose- und Entscheidungsmodell). Kapitel 1 (Vorgänge während des Improvisierens) und Kapitel 2 (Äußere, langfristige Einflüsse) sind deskriptiver Natur; die Inhalte stammen zu einem großen Teil aus dem Literaturstudium (s. Literaturverzeichnis). Kapitel 3 (Lehr- und Lernprozesse) stellt ein weitgehend eigenständig entwickeltes Fazit dar: welche Konsequenzen ergeben sich aus den beobachteten Vorgängen und Einflüssen für den Unterricht?

Zum Sprachgebrauch sei erklärt, dass Bezeichnungen wie „Lehrer“, „Schüler“, „Spieler“ etc. aus Gründen der Lesbarkeit stets in der männlichen Form verwendet werden. An allen diesen Stellen sind damit auch die jeweiligen weiblichen Personen gemeint.

I. Vorgänge während des Improvisierens Der Kreislauf: Voraushören - Spielen - Wahrnehmen - Auswerten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Grundschema des Ablaufs der Improvisation

Diese erste Ebene soll untersuchen, was im Spieler während des Improvisierens vorgeht. Startpunkt der Betrachtung wird das innere Voraushören sein; denn noch bevor ein Ton erzeugt wird, muss i. d. R. eine Vorstellung über eben diesen zu spielenden Ton vorhanden sein (Abschnitt I.1).

Der nächste Schritt ist die Umsetzung des Gedachten in Muskelbewegung, die einen Klang produziert (Abschnitt I.2). Dieser Klang ist es, den der passive Zuhörer als Endprodukt wahrnimmt.

Doch nicht nur der Außenstehende, auch der Spieler selbst nimmt sich auf unterschiedliche Art und Weise selbst wahr; vornehmlich durch das akustische Signal. Das soll Gegenstand des Abschnitts I.3 sein.

Aus der Selbstwahrnehmung werden Informationen gewonnen; diese werden bewertet und kontrolliert (Abschnitt I.4) und beeinflussen somit das erneute Voraushören. Somit hat sich der Kreislauf siehe Abb.1 oben geschlossen. Er wiederholt sich so lange, wie die Improvisation andauert.

Zwei weitere Abschnitte sollen das oben vereinfacht dargestellte Grundschema weiter differenzieren: Abschnitt I.5, „der kreative Prozess“, untersucht, wie die musikalische Idee entsteht und wovon sie abhängt. Dies mag der eigentliche Kern des Improvisierens sein. Es wird versucht zu unterscheiden, welche Abläufe bewusst und unbewusst geschehen; ob und wie die Stationen des Kreislaufs auch parallel ablaufen können.

Im letzten Abschnitt I.6 geht es um die Konzentrationsfokussierung. Der Spieler ist in der Lage, seine bewusste Aufmerksamkeit auf die einzelnen Stationen des Kreislaufs gezielt zu richten. Welche Konsequenzen dies auf den Spielprozess hat, wird auch betrachtet.

Dieser gesamte Kreislauf stellt die erste Ebene des Modells dar und ist das Grundgerüst der eigentlichen Handlung der Improvisation.

Nach dieser Vorausschau über das erste Kapitel wird nun ausgehend vom Voraushören die erste Ebene des Modells ausführlich entwickelt.

I.1 Klangvorstellung = inneres Voraushören

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Ausgangspunkt des Modells

I.1.a Die Bedeutung der Klangvorstellung

Nur wenn der Improvisator eine Vorstellung von den zu spielenden Tönen hat, kann er diese in realen Klang umsetzen. Ohne Vorwegdenken wäre jeder Tastendruck zufällig. Daher ist die Klangvorstellung der Ausgangspunkt des Improvisationsprozesses und auch des „Theoretischen Modells der Orgelimprovisation“. Klangvorstellung heißt nicht, dass jeder einzelne Ton explizit evaluiert werden muss. Z. B. im homophonen Satz kann eine Klangvorstellung auch als Akkord und somit als Griff innerlich repräsentiert werden.

Der Sinneskanal für die Klangvorstellung ist das Ohr. Heilbut bringt dies bereits im Titel seiner Klavierimprovisationsschule zum Ausdruck: „Improvisieren im Klavierunterricht. Wege zum aktiven Hören[6]. Er sieht in der Hörschulung das wesentliche Ziel des Improvisationsunterrichts: „Schließlich aber soll unser Weg, bei allen anfangs erspielten Zufallsklängen, stets als Ziel vor Augen haben: das bewusste Voraushören, das ‚aktive Hören’.[7] Heilbut listet in einer Tabelle unterschiedliche Hörstadien mit steigenden Intensitätsgraden auf: „inaktives hören, hin- oder zuhören, lauschen, horchen, aktives hören, voraushören, schöpferisches hören“[8]. Erst im höchsten Stadium, dem schöpferischen Hören, ist der aktive Hörzustand erreicht, der bei der Improvisation benötigt wird.

Kohut beschreibt in seiner allgemeinen Instrumentaldidaktik bezüglich des Literaturspiels: „Viele Fehler bei der Wiedergabe sind einfach nur das Ergebnis eines nebulösen mentalen Bildes vom Leistungsziel oder einer schlecht konzipierten Zielsetzung“[9]. Dies gilt für die Improvisation erst recht: einem unsicheren Spiel liegt eine ungenaue Klangvorstellung zu Grunde.

I.1.b Vergleich zum Komponieren

„The keynote of the compositional progress seems to be the moulding and perfecting of musical ideas.[10] Versteht man „compositional progress“ nicht nur im engeren Sinn als schriftliche Notation von beständig bleibender Musik, so lässt sich dieses Zitat auf die Improvisation übertragen: auch der Improvisation liegt ein Kompositionsprozess zugrunde. Wörtlich genommen bedeutet Komposition nichts anderes als Zusammenstellung (von lat. cum-ponere). Für diese Zusammenstellung braucht auch der Komponist eine Klangvorstellung. Doch die wesentliche Eigenart der Improvisation ist der Zeitfaktor, dem die Tonzusammenstellung unterliegt. In rasanter Geschwindigkeit und in nicht unterbrechbarer Dauer müssen Hörvorstellungen generiert werden: „But in the case of improvisation the crucial factor is the speed at which the stream of invention can be sustained“[11]. Die ursprüngliche, originäre Idee zählt; ein nachträgliches Verändern ist nicht möglich. Hierin liegt der Wesensunterschied zwischen Improvisation und Komposition.

I.2 Umsetzung der Klangvorstellung in eine Muskelbewegung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Umsetzung des Vorausgedachten in Muskelbewegung

Das Spielen an sich ist eine neuromuskuläre Funktion. Die Skelettmuskeln werden vom Zentralnervensystem kontrolliert. Daher ist das innere Vorkonstruieren von besonderer Bedeutung. Welford bezeichnet den Spielprozess als „execution and timing of chosen actions[12]. In diesem Zitat wird noch einmal deutlich, dass die zeitliche Koordination (timing) und das vor-gehörte und damit ausgewählte Spielmaterial (chosen actions) zum Zeitpunkt der Ausführung bereits feststehen müssen.

Wie ein Redner seine Gedanken mit dem organischen Sprechapparat zum Klingen bringt, muss der Spieler seine „Klangrede“ in Muskelbewegungen umsetzen können. Dazu ist eine geordnete Koordination der Muskulatur erforderlich, was eine einwandfreie Datenübertragung vom Nervensystem voraussetzt. Diese Übertragung geschieht durch Impulse des Zentralnervensystems, daher rührt die Bezeichnung „Impuls“ am Pfeil vom Voraushören zur Muskelbewegung. Die Impulsübertragung an sich ist schon eine komplexe Fertigkeit, die im Lauf der Unterrichtsjahre weitgehend unbewusst ausgebildet wird. Mit zunehmender Erfahrung gelingt die Koordination immer sicherer, leichter und rascher, so dass immer virtuosere Stücke – technisch wie musikalisch – improvisiert werden können.

Die Impulsübertragung an sich geschieht unbewusst. Auch im Improvisationsmodell von Glencross wird dies formuliert: „the final motor output stage, once initiated, normally runs its full course without further sensory or central intervention.“[13] Daraus schließt Kohut in Anlehnung an Jacobs: „Wir können Muskeln nicht wirklich trainieren; trainieren wir also den Verstand, welcher die Muskeln kontrolliert.[14] Der Körper hat die Steuerung der Muskeln automatisiert. Wenn der Spieler versucht, bewusst in den Datenfluss vom Zentralnervensystem zu den Muskeln einzugreifen, so löst er eher eine Blockade als eine wirkliche Bewegungsverbesserung aus. Daher erklärt Kohut spieltechnische Defizite meistens durch „neuromuskuläre Probleme, die wir uns selbst durch Angst, schlechte Haltung und falsche Trainingsmethoden geschaffen haben[15].

I.3 Selbstwahrnehmung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Der Spieler nimmt sich selbst auf unterschiedlichen Sinneskanälen wahr

Die dritte Station im Kreislauf ist die Selbstwahrnehmung. Die Bewegung der Muskulatur und der dabei entstehende Klang des Instruments verursachen Reize, die auf unterschiedlichen Sinneskanälen wahrgenommen werden:

I.3.a Akustischer Kanal

Von zentraler Bedeutung in der musikalischen Sinneswahrnehmung ist das Gehör. Der im Ohr ankommende Schall ist zunächst nur ein Reiz. Er muss erst von den oberen Schichten des Gehirns zu einer neuronalen Klangvorstellung verarbeitet werden. Erst dann kann eine musikalische Information daraus abgeleitet werden. Diese Verarbeitung wird „Wahrnehmung“ genannt.

Im Lauf dieses unbewussten Verarbeitungsprozesses „filtert [das Gehirn] nutzlose, unwichtige Informationen aus und benutzt nur jene, die es braucht, um das Leistungsziel, welches im Augenblick gesetzt ist, zu erreichen[16]. D. h. durch die Filterung nimmt sich der Spieler nie völlig objektiv und in allen Details wahr. Es ist nur ein Umriss, ein Ausschnitt, den der Spieler wirklich hört, je nachdem wie viel Aufmerksamkeit das Gehirn dem jeweiligen Sinneskanal schenkt (s. Abschnitt I.6 „Konzentration“). Heilbut bezeichnet dies als „Rubato des inneren Ohrs[17], und beschreibt den Effekt wie folgt: „Hier ‚raubt’ es [das innere Ohr] sich ein Stück Zeit zum Verweilen, um anschließend eine ganze Zeitspanne einfach beschleunigend zu überspringen, zu ‚überhören’, um sich sofort wieder einen Fixpunkt zu suchen und so fort.“[18] Dies könnte auch ein Effekt der springenden Aufmerksamkeit sein, die blitzschnell zwischen unterschiedlichen Bereichen wechselt, und sich dadurch dem Ohr nur in begrenztem Maß zuwenden kann.

Jeder Musiker kennt den Überraschungsmoment, wenn er eine Aufnahme seines eigenen Spiels zum ersten Mal hört. Dies liegt daran, dass die Tiefe und die Konzentration auf das Zuhören eine viel größere ist als zu dem Zeitpunkt, wo das Gehirn noch die Bewegungsabläufe etc. steuern musste. Hinzu kommt der orgeltypische Nachteil des indirekten Hörens bedingt durch große Kirchenräume oder eine Spieltischaufstellung, die nie alle Pfeifenwerke gleichmäßig stark oder direkt hören lässt.

I.3.b Sensorischer Kanal

Zur Selbstwahrnehmung gehört auch die Sensorik am Instrument: Jeder Finger, jeder Fuß wirkt bei Tastenbetätigung als kinästhetischer Sensor und gibt dem Gehirn eine Rückmeldung über die ausgeführte Bewegung. Welford benennt diesen Prozess „perceptual coding of incoming sensory data3. Die sensorische Wahrnehmung kann dem Spieler wertvolle Informationen über sein Spiel geben; was bei dem Orgelliteraturspiel üblich ist, gilt auch bei der Improvisation, denn auch die improvisierte Musik will musikalisch interpretiert werden. Durch Kontrolle der Sensorik kann der Spieler feststellen, ob der von ihm intendierte Klang mit der tatsächlichen Spieltechnik übereinstimmt: wie schlage ich an? Welche Gelenke sind beteiligt? Spiele ich aus den Fingern, dem Arm? Wie viel Gewicht und Tastendruck setze ich ein?

Zur sensorischen Wahrnehmung gehören auch die Körperhaltung und die Atmung. Beide Bereiche werden auf der Orgel im Gegensatz zu anderen Instrumenten häufig vernachlässigt. Eine unökonomische Körperhaltung kann nicht nur den Spielfluss hemmen, sondern langfristig Gesundheitsschäden verursachen. Organisten sind besonders gefährdet, da ein mangelndes Ausbalancieren des Körpergewichts häufig auf Kosten einer gesunden Rückenhaltung geschieht.

Eine unnatürliche, angespannte Atmung kann Verkrampfungen des Bewegungsapparats hervorrufen: der Oberkörper versteift, die Schultern werden angespannt. Falls dies geschieht, kann die musikalische und emotionale Energie nicht mehr fließen. Dies wird sich in einem stockenden, nicht flüssigen Spiel auswirken.

Selbst wenn offensichtlich keine Probleme vorliegen, ist es für Schüler und Lehrer lohnend, diese äußeren Parameter gelegentlich zu kontrollieren, da sie die Grundlage für ein entspanntes Spiel sind.

I.3.c Visueller Kanal

Während des Improvisierens können auch die Augen notwendige Informationen liefern: beispielsweise, wenn ein Choral oder ein anderes notiertes Thema vorliegt. Die Augen hangeln sich an dem Notenmaterial entlang. Indem die Augen stets einige Noten vorausschauen, geben sie der Klangvorstellung die Richtung für die harmonische Entwicklung an. Dieses „vorausschauende Spielen“ ist von besonderer Bedeutung in vielen Formen des liturgischen Orgelspiels und sollte deshalb ganz bewusst geübt werden. Dies kann schon am einfachen Beispiel der Choralharmonisierung festgemacht werden: der Schüler muss im Voraus sehen, in welche Tonart ein Versabschnitt moduliert, um mit seiner vorhergehenden Harmonisierung die Zieltonart vorzubereiten – sonst gibt es einen Bruch. Gleiches gilt für polyphone Orgelchoräle, melismatische Cantus firmus-Kolorierungen, Bizinien etc. Analog zum vorausschauenden Autofahren muss beobachtet werden, welche Situation in naher Zukunft eintreten wird, um einen möglichst passenden Weg dorthin zu erlangen.

Daneben geben die Augen Informationen über die Spielanlage: sofern in größeren Formen von Hand registriert werden muss – insbesondere an fremden Orgeln – suchen und fixieren die Augen die gewünschten Registerzüge, Wippen oder sonstige Spielhilfen (Pistons, Schweller, Walze).

Des weiteren können die Augen die Spieltechnik (siehe „sensorischer Kanal“) auch optisch kontrollieren.

I.3.d Emotionaler Kanal

Dieser Kanal liegt nicht auf gleichen Ebene wie die vorangegangenen gewöhnlichen Sinneskanäle. Doch möchte ich wegen der besonderen Bedeutung in der Musik an dieser Stelle anfügen, dass der musikalische Ausdruck und die Empfindung desselben den Klang erst lebendig werden lassen. Im Gegensatz zur rationalen Verarbeitung der linken Hirnhälfte werden Emotionen von der rechten Hirnhälfte gesteuert. In der Literatur über allgemeine Lernprozesse wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Einbeziehung beider Gehirnhälften den größten Lernerfolg verspricht. Bei Musikern wurde eine besonders starke Vernetzung beider Gehirnhälften gemessen. Diesen Umstand sollte man sich auch bei der Improvisation von Nutzen machen: der Ideenfluss wird leichter gelingen, wenn man eine klare musikalisch-emotionale Vorstellung hat und nicht nur rational über einzelne Töne nachdenkt; etwa der Ausdruck und Gestus eines klagenden Lamentos, eines heiteren Concerto-Satzes, eines pathetisch-mächtigen Symphoniesatzes etc. Hier kann der Lehrer als Initiator fungieren und den Schüler die Grundstimmung vorgeben, worauf dieser die inhaltliche Ausführung übernimmt.

I.4 Kontrolle und Auswertung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6: Die aus der Selbstwahrnehmung gewonnen Informationen werden verarbeitet

I.4.a Aktionsrückmeldung und Auswertung

Die wahrgenommenen Daten werden nun Teil eines Kontrollvorgangs, bei Aranosian „self-monitoring[19] genannt. Diese Handlungskontrolle überprüft, ob der intendierte Klang wirklich erzeugt wurde. Das gleicht einem Evaluationsvorgang: „The primary feedback link is [...] the evaluation of musical stability by some sort of evaluation processor.”[20] Dies ist auch der Moment, wo z. B. Spielfehler bemerkt werden.

Doch Kontrolle bedeutet nicht nur Wachsamkeit über die korrekte mechanische Ausführung des Vorgedachten, sondern auch über die spannungsvolle musikalische Darbietung. Hier nähern wir uns dem Bereich der Auswertung, die schon mehr Gedankenleistung erfordert, da die ankommenden akustischen Signale einer Interpretation bedürfen. Diese ist natürlich weitgehend subjektiv, da jeder Interpret mit seinem Personalstil einen anderen Geschmack und andere musikalische Vorstellungen z. B. über Tempi und agogische Gestaltungen, Artikulationen etc. hat. An dieser Stelle ist nicht quantitative Größe, sondern die qualitative Beurteilung von Interesse: der Improvisator muss während des Spiels auswerten, ob das akustische Produkt den gewollten musikalischen Ausdruck wirklich erzielt hat. Hierin liegt auch eine der improvisatorischen und allgemein instrumentaldidaktischen Schlüsselqualifikationen: nur wer sich bewusst zuhören und das Ergebnis kritisch bewerten kann, ist in der Lage zu einer konstruktiven Leistungsverbesserung.

I.4.b Abschlussrückmeldung

Zusätzlich zur blitzschnellen Auswertung während des Spielens findet noch die Auswertung nach dem Spielen statt. Kohut nennt sie „Abschlussrückmeldung“ im Gegensatz zur oben beschriebenen „Aktionsrückmeldung[21]. Egal ob während des Spiels oder nach dem Spiel - wenn keine Auswertung stattfindet, so kann auch keine Verbesserung geschehen. Daher ist sie besonders beim Üben von Wichtigkeit. Wenn der Spieler zwar bei der Kontrolle wahrnimmt, dass er musikalisch unbefriedigend gespielt hat, ihm aber bei der Auswertung die Fehleranalyse nicht gelingt, so erkennt er nicht die eigentliche Ursache. Das kann schnell zu Frustration führen, da der Übende ein Gefühl der Hilflosigkeit verspüren mag.

Bruhn fasst wie folgt treffend zusammen: „Die [...] [Auswertung] des eigenen Musizierens (self-monitoring) ist schließlich nicht nur als kontrollierendes und regulierendes Prinzip zu verstehen, sondern sie liefert auch Inspiration und Material für die Improvisation.[22]

Damit ist die Überleitung zum nächsten Kapitel, das den kreativen Prozess behandelt, gegeben.

I.5 Der kreative Prozess

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 7: Der geschlossene Kreislauf

I.5.a Die eigentliche Improvisationshandlung

Jetzt schließt sich der Kreislauf des Modells, denn ausgehend von der Wertung des wahrgenommenen vergangenen Klangs muss der Spieler das künftige Spiel generieren. Pressing fasst den Kreislauf wie folgt zusammen und beschreibt damit die eigentliche Handlung der Improvisation:

„Ideas are generated and realized into sound via technique. This produces continuous evaluation, on the basis of which the current ideas are either repeated, developed or discarded. In this way a long-term improvisation can be built up.”[23]

I.5.b Definitionen von „kreativem Prozess“

Die Generierung von neuen Ideen ist wohl der interessanteste, aber auch der abstrakteste Bereich des Modells. Was im folgenden Text behandelt werden soll, ist der eigentliche „kreative Prozess“; jener Vorgang, der von der Auswertung des Vergangenen zur neuen Idee führt. Die musikpsychologische Literatur beschreibt diesen Vorgang mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten. Hier eine Auswahl:

„Auf der Entscheidungs-Ausführungsebene wird bearbeitete Information in neurale Entscheidungen oder Befehle übersetzt und dann zu Bündeln neuraler Anweisungen organisiert, um an die Muskeln weitergegeben zu werden.“[24]

„[...] das Vermögen, aus gerade Verklungenem und eben Erklingendem das zu Erwartende folgerichtig mit einzubeziehen und es bereits im Verlauf des Höraktes zur melodischen Phrase, zum harmonischen Gefälle, zum Formteil zusammenzufügen und als Einheit zu begreifen.“[25]

Hier wird besonders gut deutlich, in welchen Abhängigkeiten der kreative Prozess (bei Heilbut das „schöpferische Hören“) steht: das Werdende steht in Beziehung zum Gewesenen und zum Seienden.

Behne definiert den kreativen Prozess als:

„Fähigkeit, zu einem Problem in kurzer Zeit möglichst viele Gedanken, Ideen oder Assoziationen zu produzieren“[26].

Ganz ähnlich Pressing:

„[...] the ability to construct new, meaningful pathways in an abstract cognitive space.“[27]

I.5.c Entscheidungsprozesse zwischen Vorstellung und Kontrolle

Wenn das Gehirn nun eine neue Idee entwickelt, so muss diese vor der Ausführung auch erst überprüft werden: ist sie aufgrund der spieltechnischen Möglichkeiten durchführbar? Passt sie zu dem bereits Gespielten? Werde ich der gewählten Form gerecht? Ist sie interessant genug?

Es ergibt sich ein immer fortdauernder Entscheidungsprozess, in dem blitzartig Ideen generiert und beurteilt werden. Schließlich werden sie dann angenommen und umgesetzt oder auch verworfen. Ich ergänze daher den Pfeil nach rechts in Richtung Kontrolle:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 8: Die gegenseitige Beeinflussung von Voraushören und Kontrolle: der kreative Prozess

Als Bewertungskriterien für den Einfall entwickelten die Kreativitätspsychologen Jackson und Messick 1965[28] die Parameter:

- Ungewöhnlichkeit (in bezug auf eine Normgruppe), z. B. Trugschluss
- Angemessenheit (logisch auf die Erfordernisse einer Situation bezogen), z. B. Einhaltung der Stilistik, textangemessene Vertonung
- Transformation (radikale Veränderung von [musikalischen] Grundparametern, Überwindung von Zwängen), z. B. Taktwechsel, Tonalitätswechsel
- Verdichtung (Verschmelzung von Bedeutungen), z. B. Engführung, Themenkombination.

I.5.d Woraus besteht der kreative Prozess?

Der kreative Prozess vollzieht sich in einem permanenten Vergleich zwischen der Klangvorstellung und dem tatsächlichen Klangerlebnis, also zwischen einem Soll- und einem Ist-Wert[29]. Dies geschieht in einem Wertungsprozess, der ggf. Korrekturen auslösen kann. Je schärfer die Vorstellungsfähigkeit und die Wahrnehmungsfähigkeit des Schülers ausgebildet ist, desto besser und differenzierter werden die improvisatorischen Ergebnisse gelingen.

Dieses Hin- und Her zwischen Voraushören und Kontrolle bezeichnet Pressing mit „commitment to high levels of real-time decision making“[30] ; hier kommt zum Ausdruck, dass eine wesentliche Qualität des Improvisators die Geschwindigkeit ist, in der er seine Ideen beurteilen kann (denn die Beurteilung führt zur Entscheidung, welche Alternative tatsächlich ausgeführt wird). Welford bezeichnet diesen Vorgang als “evaluation of possible responses and choice of response”[31]. Der Zusammenhang zum divergenten Denken wird deutlich: Die Qualität der Improvisation hängt davon ab, zu welcher Vielfalt an Ideen der Spieler überhaupt fähig ist. Nur wenn er in der Lage ist, zu dem bereits Gespielten möglichst viele interessante Fortsetzungen zu erfinden, wird die tatsächlich gespielte besonders reizvoll sein.

In welchem Abhängigkeiten stehen diese neuen, zu generierenden Ideen? Da Musik innerhalb einer Form geschieht, steht jeder einzelne Takt – auch in der Improvisation – in einem Gesamtzusammenhang. Die momentan umgesetzte Klangvorstellung befindet sich in einem musikalisch-semantischen Kontext. Daher ist die Ideenfindung ein assoziativer Prozess: Der Spieler entwickelt im kreativen Prozess eine Idee, die als Fortspinnung des bereits Verklungenen in den übergeordneten Ablauf eingebettet sein muss. Dabei greift er häufig auf ein früher erlerntes Repertoire an Harmonien, Rhythmen, Wendungen etc. zurück (s. Kap. II.1 angewandtes Wissen). Somit besteht die Assoziationsleistung vorwiegend daraus, das kurzfristig Vergangene in Beziehung zu gespeicherten oder neu zu generierenden Fortsetzungs-Alternativen zu stellen und diese anschließend zu realisieren.

Als äußere Umstände, die den kreativen Prozess fördern sollen, hat die Musik-Kinesiologie folgende Phasen herausgestellt[32]:

1. Ruhe und Leere im Spieler (Entspannung)
2. Spüren des Freiheitsgefühls vor Spielbeginn
3. Beginn des inneren Dialogs zwischen Ideenfindung und Auswertung
4. Formgebung (erste Umsetzung, erste Determinationen)
5. konzentrierte Vollendung durch gleichzeitige Nähe und Distanz zum eigenen Spiel

Es steht mir nicht zu, eine allgemeine Bewertung der Kinesiologie vorzunehmen. Es gibt ebenso viele Kritiker, die ihr den Mangel an wissenschaftlichen Grundlagen vorwerfen, wie Anhänger, denen durch Praktizieren offensichtlich geholfen wurde. Jedoch halte ich an den Punkten 1 und 2 für bemerkenswert und praxisrelevant, dass eine gewisse mentale und emotionale Grundeinstellung, eine Art befreiende, gelassene Offenheit im Spieler vorherrschen muss, damit er in inneren Fluss geraten kann. Wenn im Alltag – im Unterricht, im Gottesdienst – improvisiert wird, so sollte hinterfragt werden, ob die emotionale Grundeinstellung bereits optimal war. Vielleicht ist es möglich, durch ein positiveres, vertrauensvolleres Klima im Miteinander und auch zu sich selbst günstigere Ausgangsbedingungen zu schaffen.

I.5.e Bewusste und nicht-bewusste Denkabläufe

„wichtiges Prozessmerkmal kreativen Denkens [ist] die (gezielt einsetzbare) Oszillation zwischen bewussten und nicht bewussten Ebenen der subjektiven kognitiven Struktur [...]. Dies wird auch beschrieben [...] als ‚Regression im Dienste des Ich’, als gezieltes ‚Abschalten’ der kritischen Selbstkontrolle und absichtliches Eintauchen ins Unbewusste.“[33] Schon sehr früh wurde die fehlende Bewusstheit von kreativen Teilprozessen erforscht (Selz 1922, Wertheimer 1945)[34]. Wenn Improvisatoren ganz in sich versinken, um ihre Einfälle strömen zu lassen, dabei in manchen Kulturen sogar in Extase geraten, so verdrängen sie jede bewusste Konrollinstanz, die den freien Fluss hemmen würde. Das muss nicht heißen, dass keine Bewertung mehr im obigen Sinne (Kap. I.5.c) stattfindet. Sie geschieht vielmehr unbewusst.

Jedoch ergibt sich hieraus für den Unterricht folgende Problematik: das Erlernen von Improvisation erfordert auch Wissen, Technik und Erfahrungen, die z. T. nur auf bewusste, analytische Weise zu vermitteln sind. Diesem Themenkomplex wird sich das zweite Kapitel dieser Arbeit widmen. In Arbeitsphasen, in denen neue Erkenntnisse internalisiert, d. h. ins Unbewusste verlagert werden sollen, steht also die verstandesmäßige Kontrolle im Vordergrund. Doch dies befindet sich in diametralem Gegensatz zum Spiel im freien Fluss, welches zum Zeitpunkt des analytischen Lernens und Umsetzens somit nicht möglich, evtl. auch nicht gewollt ist. Doch gerade das Spielen im freien Fluss ist meines Erachtens das eigentliche Wesen der Improvisation. Daher ist es notwendig, die analytischen Arbeitsphasen klar abzugrenzen, um den Schüler durch ebenso häufige Übung dazu anzuleiten, routiniert frei aus sich heraus zu spielen. Die Angst (und das Vorurteil) vieler Schüler, nicht frei improvisieren zu können, basiert meiner Ansicht nach darauf, dass der gleiche qualitative Maßstab an ihr freies Spiel wie an ihr vorbereitetes Spiel gestellt wird (oder der Schüler sich selbst diesem oft unerreichbarem Maßstab unterwirft – und dann scheitern muss). Diese hohe Messlatte mag für professionelle, konzertante Improvisation gültig sein. Doch für den alltäglichen Unterricht und den Gottesdienst ist es mindestens ebenso wichtig, dass der Schüler im freien, unvorbereiteten Spiel auf eine spontane Situation (einen Text, ein Lied, eine liturgische Handlung etc.) eingehen kann, was nicht zwangsläufig in einer schwierigen Großform geschehen muss.

[...]


[1] Pressing, Jeff : Cognitive processes in improvisation, in: Crozier, W. R. und Chapman, A. J. (Hrsg.): Cognitive processes in the perception of art, S. 345 - 362

1 Jürgen August Alt, S. 23

[3] ebd., S. 23

[4] ebd., S. 94

[5] Michael Bitz, S. 13

[6] Heilbut, Peter: Improvisieren im Klavierunterricht. Wege zum aktiven Hören. Wilhelmshaven 1976

[7] ebd., S. 38

[8] ebd., S. 135

[9] Daniel L. Kohut, S. 156

[10] John A. Sloboda, S. 138

[11] ebd., S. 149

[12] in: Jeff Pressing, S. 353

[13] in: Jeff Pressing, S. 355

[14] Daniel L. Kohut, S. 38

[15] ebd., S. 38

[16] Daniel L. Kohut, S. 40

[17] Peter Heilbut, S. 139

[18] ebd., S. 139

3 in: Jeff Pressing, S. 353

[19] in: Herbert Bruhn u. a. (Hrsg.), S. 510

[20] Jeff Pressing, S. 353

[21] Daniel L. Kohut, S. 45

[22] Herbert Bruhn u. a. (Hrsg.), S. 512

[23] Jeff Pressing, S. 353

[24] Daniel L. Kohut, S. 41

[25] Peter Heilbut, S. 138

[26] Ernst Klaus Behne, S. 315

[27] Jeff Pressing, S. 355

[28] nach Hermann Danuser und Günter Katzenberger (Hrsg.), S. 313

[29] vgl. Peter Heilbut, S. 143

[30] Jeff Pressing, S. 353

[31] in: ebd., S. 353

[32] Rosina Sonnenschmidt und Harald Knaus, S. 47ff.

[33] Herbert Bruhn u. a. (Hrsg.), S. 525

[34] vgl. ebd., S. 525

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832493363
ISBN (Paperback)
9783838693361
DOI
10.3239/9783832493363
Dateigröße
730 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule für Musik Detmold – Institut für Kirchenmusik
Erscheinungsdatum
2006 (Februar)
Note
1,0
Schlagworte
kirchenmusik orgel musikdidaktik instrument unterricht
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Titel: Theoretisches Modell der Orgelimprovisation
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