Lade Inhalt...

Selbsthilfe per Internet

Funktionen von Selbsthilfe-Internetplattformen für deren Nutzer am Beispiel eines Angebotes für Menschen mit Essstörungen

©2004 Diplomarbeit 190 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Seit Ende der 1990er Jahre existieren im Internet Plattformen mit umfassenden Informations- und Kommunikationsangeboten für Menschen mit seelischen oder körperlichen Erkrankungen. Sie liefern umfangreiche Informationen über ihren Themenbereich, bieten einen geschützten Raum zum Austausch zwischen Betroffenen und verstehen sich als seriöses Sprachrohr ihrer Interessengruppe gegenüber der Öffentlichkeit. Dabei leben sie neben dem Austausch der Betroffenen untereinander vom Engagement ehrenamtlicher Mitarbeiter und verzeichnen einen ansteigenden Zulauf. Obwohl oder gerade weil die wachsende Bedeutung dieser virtuellen Angebote unumstritten ist, wird ihre Funktion immer wieder ambivalent diskutiert.
Die vorliegende Studie analysiert und vergleicht die Erwartungen und den erlebten Nutzen der User solcher Selbsthilfeplattformen am Beispiel einer Plattform zum Thema Essstörungen und identifiziert mögliche Einflussfaktoren. Im Rahmen einer Online-Befragung wurden Daten von 230 Usern der Internetplattform wwwmagersuchtde erhoben. Als Grundlage dienten modifizierte Skalen allgemeiner Internetnutzungsmotive. Grundlegender theoretischer Bezugsrahmen war der Uses-and-Gratifications-Ansatz in Form des Transaktionalen Nutzen- und Belohnungsmodells von McLeod & Becker (1981), das für die eigenen Forschungsfragen entsprechend modifiziert wurde. Das resultierende Modell berücksichtigt Einflüsse durch den persönlichen sozialen Hintergrund der Nutzer, die Intensität der Zuwendung zum Medium sowie die Verfügbarkeit und Nutzung von alternativen (nicht-medialen) Hilfsangeboten.
Als zentraler Faktor konnte für die Erwartungen und den erlebten Nutzen jeweils die soziale Nützlichkeit i.S.v. gegenseitiger sozialer Unterstützung extrahiert werden. Daneben spielte der Genesungswille eine entscheidende Rolle als Motivfaktor und die bequeme Informationsgewinnung als Faktor für den erlebten Nutzen. Als bedeutende Einflussfaktoren auf die Nutzungserwartungen kristallisierten sich der Leidensdruck der User sowie das Alter und die Dauer der Erkrankung heraus. Die Nutzungseffekte wurden insbesondere durch die Intensität der Zuwendung zu den Angeboten und die Nutzung nicht-medialer Alternativen (u.a. Psychotherapie) beeinflusst.
Die Ergebnisse untermauern Hinweise auf Gründe für die Nutzung internetbasierter Selbsthilfe aus früheren Untersuchungen und konkretisieren sie durch die Herausarbeitung expliziter Erwartungs- und Nutzenfaktoren. Indem ein erster […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 9237
Hertzsch, Helen: Selbsthilfe per Internet - Funktionen von Selbsthilfe-Internetplattformen
für deren Nutzer am Beispiel eines Angebotes für Menschen mit Essstörungen
Hamburg: Diplomica GmbH, 2006
Zugl.: Universität Koblenz-Landau, Abt. Landau, Diplomarbeit, 2004
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,
insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von
Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der
Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen,
bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung
dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen
der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik
Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich
vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des
Urheberrechtes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in
diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,
dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei
zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können
Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden, und die Diplomarbeiten Agentur, die
Autoren oder Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine
Haftung für evtl. verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2006
Printed in Germany

I
ABBILDUNGSVERZEICHNIS ...IV
TABELLENVERZEICHNIS ... V
VORWORT ... 1
1 EINLEITUNG ... 2
2 EINFÜHRUNG IN DIE THEMATIK ... 5
2.1 Essstörungen ­ ein Überblick ... 5
2.1.1 Definitionen ... 6
2.1.2 Epidemiologie... 11
2.1.3 Ursachen ... 12
2.1.4 Krankheitsverlauf ... 13
2.2 Traditionelle Formen psychologischer Unterstützung... 14
2.2.1 Psychotherapie und Beratung ... 14
2.2.2 Selbsthilfegruppen ... 15
2.3 Psychologische Unterstützung Online... 20
2.3.1 Psychotherapie im Internet ... 23
2.3.2 Psychologische Beratung im Internet ... 26
2.3.3 Selbsthilfe im Internet ... 30
3 DER NUTZEN- UND BELOHNUNGSANSATZ (USES AND GRATIFICATIONS
APPROACH)... 38
3.1 Grundlagen... 38
3.2 Ausdifferenzierungen ... 41
3.3 Kritik... 46
3.4 Das Internet und der Uses-and-Gratifications-Ansatz... 48
3.5 Motive der Internetnutzung... 49
4 FORSCHUNGSARBEITEN UND EMPIRISCHE ERKENNTNISSE ... 52
4.1 Überblick zum aktuellen Forschungsstand ... 52
4.2 Einige ausgewählte empirische Forschungsergebnisse ... 53
5 EIGENE FRAGESTELLUNG UND HYPOTHESEN... 56
5.1 Auswahl des Forschungsproblems ... 56

II
5.2 Spezifizierung der Untersuchungsfragen vor dem Hintergrund der
theoretischen Ausgangslage ... 58
6 METHODIK UND UNTERSUCHUNGSDESIGN... 63
6.1 Erhebungsverfahren... 63
6.2 Fragebogenentwicklung und Variablen-Operationalisierung... 65
6.2.1 Beschreibung und Operationalisierung der Variablen... 65
6.2.2 Fragebogenentwicklung... 82
6.3 Untersuchungsdurchführung ... 85
7 DARSTELLUNG DER ERGEBNISSE ... 89
7.1 Stichprobenbeschreibung... 89
7.2 Persönlicher Hintergrund der Untersuchungsteilnehmer ... 92
7.2.1 Bezug zum Thema ES ... 92
7.2.2 Art der Essstörung ... 93
7.2.3 Stadium und Leidensdruck ... 94
7.2.4 Der erste Kontakt mit magersucht.de ... 97
7.3 Gesuchte Gratifikationen ... 98
7.3.1 Häufigkeiten der GS ... 99
7.3.2 Faktoren der GS... 105
7.4 Zuwendung zu magersucht.de... 110
7.4.1 Nutzungsdauer und ­frequenz ... 110
7.4.2 Nutzung der einzelnen Angebote (auch Situationen) ... 113
7.5 Die Nutzung im Kontext von Alternativangeboten ... 115
7.5.1 Verfügbarkeit und Nutzung von nicht-medialen Alternativen ... 116
7.5.2 Beurteilung der Mittel zur Bedürfnisbefriedigung ... 117
7.6 Effekte der Nutzung... 119
7.6.1 Erhaltene Gratifikationen (GO) ... 119
7.6.2 Objektive Effekte... 127
7.6.3 Unintendierte Folgen ... 128
7.6.4 Gesamtbeurteilung... 130
7.7 Hypothesenprüfung ... 131
7.7.1 Gratifikationssuche und persönlicher Hintergrund... 131
7.7.2 Gratifikationserhalt in Abhängigkeit vom Nutzungsverhalten... 135
7.7.3 Der Einfluss verfügbarer Alternativen ... 138
8 ZUSAMMENFASSUNG UND DISKUSSION DER ERGEBNISSE... 140
8.1 Gesamtkontext der Arbeit und wesentliche Ergebnisse... 140

III
8.2 Fazit und Ausblick ... 159
LITERATURVERZEICHNIS ... V
ANHANG 1: BEFRAGUNGSINSTRUMENT...XIII
ANHANG 2: TABELLEN UND ABBILDUNGEN... XXII

Abbildungsverzeichnis
IV
Abbildungsverzeichnis
Abb. 2-1: Startseite von magersucht.de... 34
Abb. 3-1: Erwartungs-/Bewertungsmodell gesuchter und erhaltener Gratifikationen, nach
Palmgreen (1984, zit. nach Schenk, 2002, S. 640) ... 44
Abb. 3-2: Transaktionales Nutzen- und Belohnungsmodell, nach McLeod & Becker (1981,
S. 73)... 45
Abb. 5-1: Modell auf der Basis von McLeod & Becker (1981) und Palmgreen (1984)... 60
Abb. 6-1: Response im Untersuchungsverlauf (absolute Zahlen)... 87
Abb. 6-2: Zeitverlauf der abgesendeten Fragebögen (absolute Zahlen) ... 87
Abb. 7-1: Altersverteilung (n = 228; 2 missing values)... 90

Tabellenverzeichnis
V
Tabellenverzeichnis
Tab. 2-1: Diagnosekriterien für Anorexia Nervosa gemäß DSM-IV und ICD-10 (Gerlinghoff
& Backmund, 2001)... 7
Tab. 2-2: Diagnosekriterien für Bulimia Nervosa gemäß DSM-IV und ICD-10 (Gerlinghoff
& Backmund, 2001)... 8
Tab. 2-3: Forschungskriterien für die Binge-Eating-Störung gemäß DSM-IV (nach Tuschen-
Caffier & Florin, 1998)... 10
Tab. 6-1: Übersicht über die gebildeten Motivkategorien und ihre Operationalisierungen... 72
Tab. 6-2: Operationalisierungen der objektiven Effekte... 80
Tab. 6-3: Operationalisierungen der unintendierten Folgen ... 81
Tab. 7-1: Ergebnisse des Feedbackformulars für den Zeitraum 01/2002 bis 08/2003 ... 90
Tab. 7-2: Berufliche Stellung ... 91
Tab. 7-3: Bildungsstand ... 91
Tab. 7-4: Bezug zum Thema Essstörung ... 92
Tab. 7-5: Art der Essstörung (Basis: Betroffene und Angehörige, n = 197)... 94
Tab. 7-6: Dauer der Essstörung zum Untersuchungszeitpunkt (Basis: Betroffene und
Angehörige, n = 197)... 95
Tab. 7-7: Ausprägungsgrad der Essstörung (Basis: Betroffene und Angehörige, n = 197)... 96
Tab. 7-8: Seelische Belastung und Besorgnis (Basis: Betroffene und Angehörige, n = 197) 96
Tab. 7-9: Der erste Kontakt mit magersucht.de (Basis: alle Befragten, n = 230) ... 98
Tab. 7-10: Zutreffende Häufigkeit der Motivitems (Basis: alle Befragten)... 102
Tab. 7-11: Ergebnisse des U-Test nach Mann und Whitney für die Unterschiede in den GS
bei Betroffenen und ,,Sonstigen" ... 104
Tab. 7-12: Kennwerte der 5-Faktoren-Lösung für GS: Faktorladungen, Eigenwerte (EW),
Varianzaufklärung (VA) und Kommunalitäten (Varimax-Rotation) (Basis: n =
222) ... 106
Tab. 7-13: Gesuchte Gratifikations-Faktoren bei der Nutzung eines Selbsthilfe-
Internetforums... 108
Tab. 7-14: Nutzungsdauer von magersucht.de... 110
Tab. 7-15: Nutzungsfrequenz ... 111
Tab. 7-16: Nutzungsdauer der Diskussionsforen (Minuten pro Woche) ... 112
Tab. 7-17: allgemeine Internetnutzung pro Woche... 113
Tab. 7-18: Nutzung der Angebote von magersucht.de: Anzahl der User (absteigende
Sortierung) und Häufigkeit der Nutzung (Diskussionsforen: in Minuten, alle
anderen: absolute Häufigkeit)... 114
Tab. 7-19: Nutzungssituationen: Two-Top-Box (in %) ... 115
Tab. 7-20: Verfügbarkeit nicht-medialer Alternativen (Angaben in %) (Basis: alle Befragten)
... 116
Tab. 7-21: Welche Alternativangebote werden genutzt?: absteigend sortiert nach aktueller
Nutzung (in %) (Basis: Betroffene und Angehörige, die Frage F8 mit ,,ja"
beantwortet haben, n = 114) ... 117
Tab. 7-22: Beurteilung der Mittel zur Bedürfnisbefriedigung (in %, absteigende Sortierung
nach Präferenz für magersucht.de) (Basis: n = 114)... 118
Tab. 7-23: Zufriedenheit mit magersucht.de in den einzelnen Motivitems ... 121
Tab. 7-24: von der Faktorenanalyse der GO ausgeschlossene Items ... 124
Tab. 7-25: Kennwerte der 2-Faktoren-Lösung für die GO: Faktorladungen, Eigenwerte
(EW), Varianzaufklärung (VA) und Kommunalitäten (Varimax-Rotation) (Basis: n
= 222)... 125

Tabellenverzeichnis
VI
Tab. 7-26: Erhaltene Gratifikations-Faktoren (GO) aus der Nutzung von magersucht.de .. 126
Tab. 7-27: Objektive Effekte der Nutzung (Basis: Betroffene und Angehörige) ... 127
Tab. 7-28: Unintendierte Effekte der Nutzung eines Selbsthilfe-Internetforums (Basis:
Betroffene und Angehörige) ... 129
Tab. 7-29: Gesamtbeurteilung von magersucht.de (in %) (Basis: alle Befragten, n = 230) 130
Tab. 7-30: Ergebnisse der schrittweisen multiplen linearen Regressionsanalysen für
Hypothese 1 (jeweils sortiert nach Reihenfolge der aufgenommenen UV) (Basis:
alle Befragten) ... 132
Tab. 7-31: Ergebnisse der einfachen linearen Regressionsanalyse für Hypothese 2, sortiert
nach Varianzaufklärung (Basis: alle Befragten)... 136
Tab. 7-32: Ergebnisse der einfachen linearen Regressionsanalyse für Hypothese 3, sortiert
nach Varianzaufklärung (Basis: alle Befragten)... 138
Tab. 7-33: Ergebnisse des U-Test nach Mann und Whitney für Hypothese 4 (Basis:
Betroffene und Angehörige) ... 139

Vorwort
1
Vorwort
Das Vorwort möchte ich nutzen, um denjenigen Personen zu danken, die durch ihre Unter-
stützung diese Arbeit ermöglicht haben.
An erster Stelle möchte ich dem Verein ,,magersucht.de - Selbsthilfe bei Magersucht e.V."
meinen außerordentlichen Dank aussprechen. Von drei angeschriebenen Plattformen für in-
ternetbasierte Selbsthilfe bei Essstörungen hat sich magersucht.de als einzige bereit erklärt,
die vorliegende Untersuchung zu unterstützen und eine Online-Befragung auf ihren Seiten
zu ermöglichen. Speziell Kathrin Harrach, Team- und Gründungsmitglied des Vereins, stand
mir jederzeit mit Rat und kreativen Ideen unterstützend zur Seite. Für die Programmierung
des Fragebogens danke ich Martin Kastner, der durch hohen persönlichen Einsatz die Reali-
sierung einer Online-Befragung erst möglich machte.
Mein Dank gilt gleichermaßen dem Betreuer meiner Arbeit, Dr. Uli Gleich, der jederzeit
bereit war, mich mit sinnvollen Anregungen und Hilfestellungen zu unterstützen.
Der Autorin Maja Langsdorff danke ich für ihre Bereitschaft, die Befragung zu unterstützen,
indem sie einige Exemplare ihres Buches für eine Verlosung unter den Untersuchungsteil-
nehmern stiftete.

Einleitung
2
1 Einleitung
"Der Arzt ist nur der Helfer, der
Patient selbst aber der Arzt."
(Hippokrates)
In Selbsthilfe-Gruppen finden sich Menschen zusammen, die unter dem selben Problem lei-
den und gemeinsam nach Bewältigungsstrategien suchen. Sie dienen meist als Begleitpro-
gramm zu anderen therapeutischen Interventionen sowie in hohem Maße zur Prävention und
Nachsorge. Indem sie ihren Mitgliedern soziale Integration in eine Gemeinschaft bieten,
erfüllen sie eine wichtige Aufgabe im Bereich der psychosozialen Versorgung (Döring,
2000).
Auch im Internet existieren nachweislich seit 1986 Gemeinschaften (elektronische Selbsthil-
fegruppen) für Menschen mit seelischen oder körperlichen Erkrankungen, die ähnlich wie
traditionelle Selbsthilfegruppen funktionieren und über Internetdienste kommunizieren. Sie
nutzen die Vorteile der computervermittelten Kommunikation gegenüber Face-to-Face-
Kontakten, bieten neue, netzspezifische Qualitäten und erschließen so auch neue Zielgrup-
pen. Seit Ende der 1990er Jahre bilden sich darüber hinaus ­ und mit steigender Tendenz ­
komplexe Plattformen zu fest umgrenzten Problembereichen. Sie dienen zugleich als Aus-
tausch- wie als Informationsmedium und vereinen verschiedene, parallel nutzbare Internet-
dienste in ihrer Web-Präsenz. Sie liefern umfangreiche Informationen über ihren
Themenbereich, bieten einen geschützten Raum zum Austausch zwischen Betroffenen, leiten
ggf. auf notwendige Therapiemaßnahmen hin und verstehen sich als seriöses Sprachrohr
ihrer Interessengruppe gegenüber der Öffentlichkeit.
Während elektronische Selbsthilfegruppen in der Regel von Betroffenen gegründet und nur
durch die Teilnehmer am Laufen gehalten werden, benötigen komplexe Selbsthilfe-
Internetplattformen, in Abhängigkeit von Mitgliederzahl und Umfang der Angebote, ein fes-

Einleitung
3
tes Team. Dieses setzt sich aus Menschen mit unterschiedlichem Erfahrungshintergrund
(sowohl Laien als auch Experten) zusammen und ist häufig in Form eines Vereins mit einer
klaren Philosophie angelegt. Nicht selten zählen solche Gemeinschaften einige Tausend
mehr oder weniger aktive Mitglieder.
Für die Psychologie ist dieser Trend in erster Linie in klinischer und medienpsychologischer
Hinsicht relevant. Die klinisch-psychologische Forschung hat erkannt, dass internetbasierte
Interventionsmaßnahmen durchaus eine Chance für das Gesundheitssystem darstellen, in
jedem Fall aber in ihrer Entwicklung nicht aufgehalten werden können. Sie setzt sich daher
in jüngster Zeit verstärkt mit Fragen der Qualitätssicherung und Nutzenoptimierung ausein-
ander. In den Aufgabenbereich der Medienpsychologie fällt es hingegen, im Rahmen der
Massenkommunikationsforschung die Nutzung von internetbasierter Selbsthilfe auf zugrun-
deliegende Bedürfnisse, Motive und Gratifikationen zu untersuchen und möglichst auf eine
theoretische Basis zu stellen.
Da internetbasierte Selbsthilfe erst seit relativ kurzer Zeit zunehmende Bedeutung erfährt,
sind systematische empirische Untersuchungen bislang rar.
Es ist Anliegen der vorliegenden Arbeit, sich aus medienpsychologischer Sicht mit den Gra-
tifikationen der Nutzung von internetbasierter Selbsthilfe auseinander zu setzen und Fakto-
ren heraus zu kristallisieren, welche die Nutzung aus Rezipientensicht erklären. Zu diesem
Zweck soll exemplarisch eine Selbsthilfe-Plattform untersucht werden, die sich einer The-
matik mit aktueller gesellschaftlicher Relevanz widmet und daher einen hohen Zulauf ver-
zeichnet. Die Wahl fiel auf ein Portal für Menschen mit Essstörungen. Ziel ist es, mit der
Untersuchung zur Klärung folgender offener Fragen beizutragen:
- Welche Gratifikationen (i.S.v. Gratifikationsfaktoren) sind für die User mit
der Nutzung von Selbsthilfe-Internetplattformen verbunden?
- Welche Faktoren beeinflussen die Gratifikationen?

Einleitung
4
- Wie gestaltet sich die Nutzung?
Mit dem Ziel, das Angebot der Selbsthilfe-Plattform zu evaluieren, sollen darüber hinaus
folgende Fragen bearbeitet werden:
- Wie bewerten die Nutzer das bestehende Angebot?
- Welche Verbesserungsvorschläge lassen sich ableiten?
Innerhalb der Massenkommunikationsforschung der Medienpsychologie ist die Arbeit der
Rezipientenforschung zuzuordnen. Sie befasst sich in diesem Rahmen speziell mit Bedin-
gungen und Faktoren der Mediennutzung sowie mit Medienwirkungen.
Da im Zentrum der empirischen Untersuchung ein Selbsthilfe-Internetportal für Menschen
mit Essstörungen steht, gibt Kapitel 2 zunächst eine grobe Einführung in das Thema Essstö-
rung. Darüber hinaus liefert es einen Überblick über traditionelle Formen psychologischer
Unterstützung und ihre internetbasierten Pendants. Kapitel 3 befasst sich mit dem Nutzen-
und Belohnungsansatz, der als theoretisches Gerüst für die Untersuchung herangezogen
wurde. Der aktuelle Forschungsstand zum Thema wird in Kapitel 4 anhand einiger wesentli-
cher Forschungsergebnisse skizziert. Die sich daraus ergebende eigene Fragestellung ist mit-
samt der zu untersuchenden Variablen Bestandteil von Kapitel 5. Kapitel 6 befasst sich mit
dem Untersuchungsdesign und der Operationalisierung der Variablen. Der Darstellung und
Diskussion der Ergebnisse widmen sich schließlich die Kapitel 7 und 8.

Einführung in die Thematik: Essstörungen ­ ein Überblick
5
2 Einführung in die Thematik
2.1 Essstörungen ­ ein Überblick
1
Im Bewusstsein der Öffentlichkeit und in den Medien nimmt das Thema Essstörungen und
die Diskussion um deren Hintergründe seit Jahren einen zunehmend größeren Raum ein.
Man interpretiert Essstörungen vorzugsweise als ,,Produkte" einer modernen Leistungsge-
sellschaft, die insbesondere Frauen ­ welche (noch) in der Mehrheit betroffen sind ­ mit
einem gewandelten Rollenbild konfrontiert. Dieses neue Rollenverständnis stellt zunehmend
höhere berufliche und private Anforderungen an sie und setzt sie darüber hinaus mit einem
dogmatischen Schlankheitsideal unter Druck (Cuntz & Hillert, 1998).
Diametral zu dieser kritischen Haltung agieren die Medien, insbesondere in Frauenzeitschrif-
ten, als Informanten für Schlankheitstipps und Werbeträger für Diätprodukte und mahnen
damit in einer Zeit des Nahrungsüberangebotes zur Zurückhaltung (Cuntz & Hillert, 1998).
Es gibt einige Studien, die für eine Zunahme von Essstörungen in den vergangenen 50 Jah-
ren sprechen (Gerlinghoff & Backmund, 2001), in Fachkreisen ist diese Annahme jedoch
umstritten. Die Angaben über Inzidenz- und Prävalenzraten bei Essstörungen variieren stark,
unterschiedliche Stichproben, Kohorten, Erfassungszeiträume und zugrundegelegte Kriterien
einschlägiger Studien erschweren einen Vergleich von Untersuchungsergebnissen. Darüber
hinaus gilt es zu beachten, dass ein vermehrtes Interesse von Medien und Öffentlichkeit
durchaus dazu führen kann, dass mehr Betroffene als früher Hilfe in Anspruch nehmen (Ger-
linghoff & Backmund, 2001). Auch verbesserte Diagnoseinstrumente können steigende In-
zidenzraten zur Folge haben.
1
Die in diesem Kapitel erwähnten Befunde basieren nahezu ausschließlich auf Forschungsstudien, die an Frau-
en durchgeführt wurden. Deshalb ist nicht einschätzbar, inwieweit sie auch auf Männer übertragbar sind (Tu-
schen-Caffier & Florin, 1998).

Einführung in die Thematik: Essstörungen ­ ein Überblick
6
Eine Grenze zwischen ,,nur problematischem" Essverhalten und medizinisch manifesten
Essstörungen ist schwer zu ziehen. Viele Verhaltensweisen, die als Leitsymptome für Ess-
störungen identifiziert wurden, sind auch unter Gesunden weit verbreitet. Warum nur ein
relativ geringer Prozentsatz derjenigen, die sich um eine Annäherung an das gängige
Schlankheitsideal bemühen, letztlich eine manifeste Essstörung entwickelt und welche As-
pekte der Persönlichkeit, der Biographie, der Vererbung etc. dabei eine Rolle spielen, ist
immer noch weitgehend ungeklärt. Klar ist nur eines: Auf die oft gestellte Frage nach der
allumfassenden Ursache einer Essstörung gibt es keine eindeutige Antwort (Cuntz & Hillert,
1998).
2.1.1 Definitionen
Essstörungen zählen definitionsgemäß zu den psychischen Erkrankungen. Sie manifestieren
sich sichtbar in Form eines auffälligen Essverhaltens sowie in seelischen Störungen, die aus
den Äußerungen und dem Verhalten der Betroffenen erschlossen werden müssen (Cuntz &
Hillert, 1998). Die beiden international gebräuchlichen Klassifikationssysteme zur Diagnose
psychischer Störungen sind das ,,Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störun-
gen", das seit 1994 in der 4. Fassung im Gebrauch ist (DSM-IV; American Psychiatric As-
sociation, deutsche Übersetzung von 1996) sowie das ,,Internationale Klassifikationsschema
psychischer Störungen", welches seit 1993 in der 10. Fassung als verbindlich gilt (ICD-10,
WHO) (Gerlinghoff & Backmund, 2001; Tuschen-Caffier & Florin, 1998).
Beide Schemata unterteilen Essstörungen in drei Kategorien: Anorexia Nervosa, Bulimia
Nervosa und eine Restkategorie der nicht näher bezeichneten Essstörungen, zu denen unter
anderem die Binge-Eating-Störung (,,binge-eating": exzessives Essen) als relativ neue Form
gezählt wird. Die Fettsucht (Adipositas) wird bislang diagnostisch nicht den Essstörungen
zugeordnet (Gerlinghoff & Backmund, 2001).

Einführung in die Thematik: Essstörungen ­ ein Überblick
7
Im Folgenden werden Anorexia Nervosa, Bulimia Nervosa und die nicht näher bezeichneten
Essstörungen einzeln vorgestellt.
Anorexia Nervosa
Gemäß ICD-10 und DSM-IV müssen für eine Diagnose der Anorexia Nervosa folgende Kri-
terien erfüllt sein (Tab. 2-1):
Tab. 2-1: Diagnosekriterien für Anorexia Nervosa gemäß DSM-IV und ICD-10 (Gerlinghoff & Back
mund, 2001)
A) Niedriges Körpergewicht (weniger als 85% des zu erwartenden Gewichts; Body-
Mass-Index
2
17, 5
B) Große Angst vor Gewichtszunahme
C) Körperschemastörung
- übertriebener Einfluss des Gewichts auf die Selbstbewertung
- Krankheitsverleugnung
D) Amenorrhoe (bei Frauen)
Subtypen:
- restriktiver Typ
- Binge-eating-/Purging-Typ
Das DSM-IV unterscheidet zwei Untergruppen der Anorexia Nervosa: den restriktiven und
den bulimischen (Binge-Eating/Purging-) Typ.
Die restriktive Form der Magersucht zeichnet sich durch eine deutlich reduzierte Nahrungs-
aufnahme und die Vermeidung hochkalorischer Lebensmittel aus (Cuntz & Hillert, 1998).
Sie kann vor allem bei Kindern und Jugendlichen sehr schnell zu gravierenden medizini-
schen Komplikationen führen (z.B. hormonelle Veränderungen, Herzrhythmusstörungen)
(Gerlinghoff & Backmund, 2001).
50 bis 60 Prozent aller Magersüchtigen vom restriktiven Typus halten irgendwann das strikte
Hungern nicht mehr durch und unterliegen immer häufiger Heißhungerattacken. Als Ge-
2
Body-Mass-Index (BMI): Gewicht in kg / Körpergröße in m
2
. Wird in der Regel als Richtwert für die Be-
stimmung des Normalgewichts herangezogen, da er im Gegensatz zum Broca-Index die Größe stärker berück-
sichtigt.

Einführung in die Thematik: Essstörungen ­ ein Überblick
8
genmaßnahme werden dann von den Betroffenen zusätzliche gewichtreduzierende Maßnah-
men, wie selbstinduziertes Erbrechen, Einnahme von Abführmitteln, entwässernden Medi-
kamenten oder Appetitzüglern, eingesetzt. Diese Form der Anorexia Nervosa entspricht
dem Binge-Eating/Purging-Typus, der auch als bulimische Anorexie bezeichnet wird (Cuntz
& Hillert, 1998; Gerlinghoff & Backmund, 2001).
Beide Fälle zeichnen sich häufig auch durch eine gesteigerte körperliche Aktivität aus, die
ebenfalls zur Gewichtsreduktion eingesetzt wird (ebd.).
Differentialdiagnostisch ist ein Gewichtsverlust im Zusammenhang mit körperlichen Ursa-
chen bzw. anderen psychischen Störungen (z.B. depressive Störung) von der Anorexia Ner-
vosa abzugrenzen.
Bulimia Nervosa
Tab. 2-2 gibt die Diagnosekriterien für Bulimia Nervosa wider:
Tab. 2-2: Diagnosekriterien für Bulimia Nervosa gemäß DSM-IV und ICD-10 (Gerlinghoff & Back-
mund, 2001)
A) Heißhungerattacken
B) Kompensatorische Maßnahmen zur Vermeidung einer Gewichtszunahme
C) Frequenz der Heißhungerattacken und der kompensatorischen Maßnahmen
mindestens zweimal pro Woche über drei Monate
D) Ausgeprägte Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von Körpergewicht und Figur
E) Störung tritt nicht ausschließlich bei einer Episode der Anorexia Nervosa auf
Subtypen:
- Purging-Typ
- Nicht-Purging-Typ
Im Unterschied zur Anorexia Nervosa liegt hier der BMI über 17,5 (Gerlinghoff & Back-
mund, 2001).
Das DSM-IV unterscheidet auch bei der Bulimia Nervosa zwei Subformen: den Purging-Typ
und den Nicht-Purging-Typ. Der Purging-Typ induziert während einer aktuellen bulimischen
Episode regelmäßig Erbrechen oder missbraucht Abführmittel, entwässernde Medikamente

Einführung in die Thematik: Essstörungen ­ ein Überblick
9
oder Klistiere, um einer Gewichtszunahme entgegenzuwirken. Der Nicht-Purging-Typ hin-
gegen kompensiert diese durch Fasten oder übermäßige körperliche Bewegung. Daher wird
diese Subform auch als anorektische Bulimie bezeichnet (Gerlinghoff & Backmund, 2001;
Tuschen-Caffier & Florin, 1998).
Differentialdiagnostisch ist die Bulimia Nervosa gegenüber anderen psychischen Störungen
(z.B. der Major Depression), bestimmten neurologischen Erkrankungen (z.B. Tumore des
ZNS) und gelegentlichem Erbrechen im Rahmen von ,,Diätsünden" abzugrenzen (Gerling-
hoff & Backmund, 2001). In diesen Fällen fehlen die dysfunktionalen Einstellungen gegen-
über Figur und Gewicht (Tuschen-Caffier & Florin, 1998).
Infolge des häufigen Erbrechens kann es zu gravierenden medizinischen Problemen bis hin
zu Herzstillstand und chronischem Nierenversagen kommen (Tuschen-Caffier & Florin,
1998).
Nicht näher bezeichnete Essstörung (NNB)
In die Kategorie der nicht näher bezeichneten Essstörungen fallen Betroffene, die zwar zwei-
fellos unter einer Essstörung leiden, aber nicht alle Diagnosekriterien einer Anorexie oder
Bulimie erfüllen. Die Kriterien hierfür lauten (Gerlinghoff & Backmund, 2001; Tuschen-
Caffier & Florin, 1998):
A) Alle Kriterien für Anorexia Nervosa erfüllt, außer Amenorrhoe.
B) Alle Kriterien für Anorexia Nervosa erfüllt, aber Körpergewicht im Normbereich.
C) Alle Kriterien für Bulimia Nervosa erfüllt, aber Heißhungerattacken und Kompensa-
tionsmaßnahmen seltener.
D) Regelmäßige Anwendung von Maßnahmen, die einer Gewichtszunahme entgegen
steuern, bei einer normalgewichtigen Person nach dem Verzehr kleiner Nahrungs-
mengen.

Einführung in die Thematik: Essstörungen ­ ein Überblick
10
E) Wiederholtes Kauen und Ausspucken großer Nahrungsmengen.
F) Binge-Eating-Störung: wiederholte Episoden von Essattacken ohne Maßnahmen, die
einer Gewichtszunahme entgegen steuern.
Da die unter F) genannte Binge-Eating-Störung zunehmend an Bedeutung gewinnt, aber
noch zu wenige empirische Forschungsergebnisse dazu vorliegen, wird sie den NNB zuge-
ordnet. Im DSM-IV werden aber bereits gesonderte Forschungskriterien zur Diagnose vor-
geschlagen (Tab. 2-3):
Tab. 2-3: Forschungskriterien für die Binge-Eating-Störung gemäß DSM-IV (nach Tuschen-Caffier &
Florin, 1998)
A) Wiederholt auftretende Essanfälle mit dem Erleben von Kontrollverlust.
B) Die Essanfälle erfüllen mindestens drei der folgenden Kriterien:
-
wesentlich schnelleres Essen als normalerweise
-
es wird bis zu einem unangenehmen Sättigungsgefühl gegessen
-
Essen großer Nahrungsmengen ohne Hungergefühl
-
allein essen aufgrund von Verlegenheits- bzw. Schamgefühlen
-
wegen der Essanfälle erleben die Betroffenen Ekelgefühle, Depressionen oder ein
schlechtes Gewissen
C) Ausgeprägter Leidensdruck wegen der Essanfälle
D) Die Essanfälle treten im Durchschnitt seit sechs Monaten an mindestens zwei Tagen
pro Woche auf.
E) Auf die Essanfälle folgen nicht regelmäßig kompensatorische Maßnahmen zur Ge-
wichtskontrolle (z.B. Erbrechen), und die Essanfälle treten nicht ausschließlich während
einer Episode einer Anorexia oder Bulimia Nervosa auf.
Charakteristisch ist für diese Form der Essstörung, dass keine gewichtregulierenden Maß-
nahmen ergriffen werden. In der Folge kommt es zu einer stetigen Gewichtszunahme (Ger-
linghoff & Backmund, 2001) und nicht selten zu erheblichem Übergewicht. Schwere
Folgeerkrankungen wie z.B. Herzkrankheiten oder Stoffwechselstörungen werden dadurch
begünstigt (deZwaan, 2001).
Es gibt Hinweise darauf, dass Betroffene häufig auch an anderen psychischen Störungen wie
Depressionen, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen leiden (Tuschen-Caffier & Flo-
rin,1998).

Einführung in die Thematik: Essstörungen ­ ein Überblick
11
2.1.2 Epidemiologie
Essstörungen treten in der Regel erstmalig im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter auf
(zwischen 12 und 30 Jahren), selten schon vor der Pubertät. Anorexia Nervosa beginnt
durchschnittlich im Alter von 17 Jahren, Bulimie-Patientinnen sind bei Krankheitsbeginn im
Durchschnitt 22 Jahre alt und auch die Binge-Eating-Störung beginnt vermutlich in diesem
Zeitraum. Überdurchschnittlich häufig sind Mädchen bzw. Frauen von Anorexie und Buli-
mie betroffen, wesentlich seltener, und zwar ungefähr im Verhältnis 1:10, finden sich Män-
ner unter den Betroffenen (Gerlinghoff & Backmund, 2001). Anders bei der Binge-Eating-
Störung: Hier liegt der Männeranteil mit ca. 35 Prozent wesentlich höher (A Med-World
AG, 2002). Essstörungen treten bevorzugt in industrialisierten Gesellschaften und dort häu-
figer in höheren sozioökonomischen Schichten auf (Gerlinghoff & Backmund, 2001).
Die Prävalenzschätzungen für Anorexia Nervosa werden in der Literatur unterschiedlich
angegeben und schwanken zwischen 0,4 und 1 Prozent für Frauen. Für Bulimia Nervosa
bewegen sich die Lebenszeit-Prävalenzraten bei Frauen zwischen 0,9 und 4,2 Prozent (Florin
& Tuschen-Caffier, 1998; Gerlinghoff & Backmund, 2001) und liegen damit deutlich höher
als bei Anorexie. Für Kinder und Jugendliche liegen keine Daten vor (APA, 2000). Zur Bin-
ge-Eating-Störung liegen bisher nur wenige epidemiologische Untersuchungen vor. So fand
man z.B. in Norwegen eine Lebenszeit-Prävalenz von 3,2 Prozent in der weiblichen Bevöl-
kerung (Götestam & Agras, 1995). Eine andere Quelle (A Med-World AG, 2002) gibt eine
Prävalenzrate von ca. 2 Prozent an. Es wird angenommen, dass die Binge-Eating-Störung die
häufigste Form unter den Essstörungen darstellt.

Einführung in die Thematik: Essstörungen ­ ein Überblick
12
2.1.3 Ursachen
Welche Lebensumstände zur Manifestation von Essstörungen führen, wird bis heute kontro-
vers diskutiert. Einigkeit herrscht lediglich darüber, dass es sich wie bei der Mehrzahl der
psychischen Störungen um komplexe Phänomene handelt, die nicht monokausal zu erklären
sind (Cuntz & Hillert, 1998). Aktuell wird von einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge
ausgegangen, das biologische, individuelle, familiäre und soziokulturelle Faktoren in unter-
schiedlichen Anteilen berücksichtigt (Gerlinghoff & Backmund, 2001). Jacobi, Thiel & Paul
(1996) fassen die genannten Faktoren unter dem Oberbegriff prädisponierende Faktoren
zusammen und integrieren sie in einem ätiologischen Modell. Für eine tiefergehende Be-
schäftigung mit den Ursachen von Essstörungen sei auf diese Autoren verwiesen.
In der aktuellen Diskussion um die Verbreitung von Essstörungen dominieren die soziokul-
turellen Faktoren. Das in den 1950er Jahren aufgekommene Schlankheitsideal der westlichen
Gesellschaft ist eng mit Begriffen wie Erfolg, Glück, Attraktivität und Zufriedenheit assozi-
iert. Über die Medien und die Bindung an prominente Idealfiguren (z.B. Fotomodelle) beein-
flusst es unsere Wahrnehmung des eigenen Körpers (Gerlinghoff & Backmund, 2001).
Bereits Schulkinder im Alter von 10 bis 12 Jahren unterliegen häufig diesem Druck und ge-
ben in Untersuchungen an, mit ihrer Figur nicht zufrieden zu sein (vgl. z.B. Rolland, Farnill
& Griffiths, 1997). Für die Entstehung von Essstörungen spielt die Unzufriedenheit mit dem
eigenen Aussehen und der eigenen Figur nachgewiesenermaßen eine entscheidende Rolle
(vgl. z.B. Killen et al., 1996).
Der hohe Anteil von Mädchen und Frauen unter den Betroffenen lässt sich leicht dadurch
erklären, dass Mädchen schon in früher Jugend deutlich stärker erfahren, dass positive Be-
wertungen und Zuwendung stark von ihrem Aussehen abhängen. In der Pubertät verstärkt
sich das Problem durch die ­ genetisch bedingt ­ um ein Vielfaches stärkere Zunahme des
Körperfettanteils bei Mädchen im Vergleich zu Jungen (Florin & Tuschen-Caffier, 1998).

Einführung in die Thematik: Essstörungen ­ ein Überblick
13
2.1.4 Krankheitsverlauf
Die langfristige Prognose bei Essstörungen ist ­ insbesondere für Anorexia Nervosa ­ eher
ungünstig. Ein Grund hierfür ist, dass Langzeitstudien zufolge bis zu 25 Prozent der Betrof-
fenen mit der Zeit andere psychische Störungen wie Depressionen, Angststörungen,
Zwangskrankheiten oder Drogenabhängigkeit entwickeln (Gerlinghoff & Backmund, 2001).
Die American Psychiatric Association (2000) berichtet in einem Übersichtsartikel folgende
Zahlen: 25 Prozent der Magersüchtigen gelten nach einem Beobachtungszeitraum von 10 bis
15 Jahren als symptomfrei, bei weiteren 50 Prozent gibt es deutliche Verbesserungen, bei
den restlichen 25 Prozent nimmt die Anorexie einen chronischen Verlauf oder die Patientin-
nen versterben in der Folge ihrer Krankheit oder durch Selbstmord. Mit längerem Krank-
heitsverlauf steigt auch die Mortalitätsrate. Die Prognose für Bulimie-Patientinnen ist
günstiger: 60 Prozent wurden 6 Jahre nach erfolgreicher Behandlung als gut beurteilt, 29
Prozent als mäßig, 10 Prozent als schlecht und 1 Prozent war verstorben.
Der ungünstige Langzeitverlauf verdeutlicht die Notwendigkeit präventiver Maßnahmen und
möglichst frühzeitiger Behandlung von Personen mit Essstörungen. Welche psychologischen
Interventionsmöglichkeiten zu diesem Zweck zur Verfügung stehen, wird im Folgenden er-
läutert.

Einführung in die Thematik: Traditionelle Formen psychologischer Unterstützung
14
2.2 Traditionelle Formen psychologischer Unterstützung
Im Allgemeinen wird zwischen drei Formen traditioneller psychologischer Unterstützung
unterschieden: Psychotherapie, psychologische Beratung und Selbsthilfegruppen.
2.2.1 Psychotherapie und Beratung
Psychotherapie kann definiert werden als ,,...die gezielte, professionelle Behandlung psychi-
scher und/oder psychisch bedingter körperlicher Störungen mit psychologischen Mitteln."
(Dorsch, 1998, S. 703). Diese Behandlung erfolgt nach genau festgelegten, wissenschaftlich
begründeten Richtlinien und kann nur von dafür ausgebildeten Personen (i.d.R. Psycholo-
gen, Ärzte) durchgeführt werden. Durch ihren Bezug zu relativ schwerwiegenden Störungen
grenzt sie sich zu anderen ,,kommunikationsorientierten Interventionsverfahren" wie bspw.
der Beratung ab (Fröhlich, 1994).
,,Beratung" ist ein weit gefasster Begriff, der entsprechend vielgestaltig definiert wird. Eine
recht offene Definition liefert Dorsch (1998, S. 113), der Beratung als einen ,,vom Berater
nach methodischen Gesichtspunkten gestalteten Problemlöseprozess, durch den die Eigen-
bemühungen des Ratsuchenden unterstützt/optimiert bzw. seine Kompetenzen zur Bewälti-
gung der anstehenden Aufgabe/des Problems verbessert werden" beschreibt. In dieser
Definition offenbart sich gleichzeitig die Schwierigkeit der Abgrenzung gegenüber Psycho-
therapie. Entsprechend merkt Vicini (1993, zitiert nach Döring, 2000, S. 530) an, dass die
psychologische Beratungspraxis ,,durch eine zunehmende Therapeutisierung geprägt" sei.
Sie habe das Ziel, dem Hilfesuchenden weniger fertige Lösungsvorschläge an die Hand zu
geben als ihn vielmehr in seinem Selbstfindungsprozess zu begleiten.
Wesentlich ist der Definitionsunterschied zwischen Therapie und Beratung vor allem hin-
sichtlich der Frage, inwieweit beide Formen psychologischer Unterstützung auch online rea-
lisierbar sind. Kapitel 2.3 wird sich mit dieser Frage auseinandersetzen.

Einführung in die Thematik: Traditionelle Formen psychologischer Unterstützung
15
Klar abgrenzbar von Psychotherapie und Beratung ist hingegen die Selbsthilfegruppen-
Bewegung, der im Folgenden besondere Aufmerksamkeit zukommen soll, da sie als traditio-
nelles Pendant zur internetbasierten Selbsthilfe im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine
wichtige Stellung einnimmt.
2.2.2 Selbsthilfegruppen
Selbsthilfegruppen grenzen sich von Beratungs- und Therapieangeboten ganz generell da-
durch ab, dass ihre Existenz nicht zwingend von einer professionellen Unterstützung ab-
hängt. Auch wenn insbesondere in der aktuelleren Entwicklung der Selbsthilfe-Gruppen-
Bewegung externe Beratung nicht grundsätzlich abgelehnt wird, sollte doch ursprünglich ein
Gegenpol zur ,,Expertengruppentherapie" geschaffen werden (Burmeister, 2001). So formu-
lierte Moeller (1977) ­ ein wesentlicher Förderer und Erforscher der Selbsthilfegruppen-
Entwicklung in Deutschland ­ das Ziel, der professionellen Gruppentherapie ein Konzept
der Gruppenselbstbehandlung in Form von Gesprächsgruppen an die Seite zu stellen, ,,in
denen Menschen ohne therapeutische Experten ihre psychosozialen Probleme und persönli-
chen Konflikte zu lösen versuchen" (zitiert nach Burmeister, 2001, S. 65). Gleichzeitig kom-
plettieren sie das psychosoziale Versorgungssystem, indem sie therapeutische Interventionen
nicht nur ersetzen oder begleiten können, sondern sich auch hervorragend für Prävention und
Nachsorge eignen.
Wie groß inzwischen die Zahl der Selbsthilfegruppen in Deutschland ist, kann aufgrund vie-
ler kleiner Gruppen, die keine Öffentlichkeitsarbeit betreiben, nur geschätzt werden. Bur-
meister (2001) nimmt an, dass in Deutschland 70.000 bis 100.000 Selbsthilfegruppen mit
insgesamt ca. 2,5 bis 3 Millionen Menschen bestehen.

Einführung in die Thematik: Traditionelle Formen psychologischer Unterstützung
16
Innerhalb dieser großen Anzahl von Gruppen, die unter dem Begriff ,,Selbsthilfegruppen"
zusammengefasst werden, unterscheidet Moeller (1996) etwa sieben verschiedene Arten von
Gruppierungen:
1. Psychologisch-therapeutische Selbsthilfegruppen
2. Medizinische Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisationen
3. Bewusstseinsverändernde Selbsthilfegruppen
4. Lebensgestaltende Selbsthilfegruppen
5. Arbeitsorientierte Selbsthilfegruppen
6. Lern- bzw. ausbildungsorientierte Selbsthilfegruppen
7. Bürgerinitiativen
Für die vorliegende Arbeit sind die psychologisch-therapeutischen Selbsthilfegruppen von
Interesse, zu denen auch die Selbsthilfegruppen für Essgestörte zählen.
Der Ursprung der psychologisch-therapeutischen Selbsthilfegruppen wie wir sie heute ken-
nen liegt in den Vereinigten Staaten. Als ihre ersten Organisationen entstanden dort 1935 die
Anonymen Alkoholiker (AA), die noch heute die größte und wohl bekannteste Gruppierung
stellen. Von dieser Gruppierung leiteten sich mit der Zeit zahlreiche weitere ,,anonyme"
Selbsthilfeorganisationen ab, darunter auch solche für Menschen mit Essstörungen (bspw.
,,Overeaters Anonymous"). Mitte der 50er Jahre entstanden auch in Deutschland die ersten
Selbsthilfegruppen, und auch hier fungierten die AA als Vorreiter.
Die Geschichte der deutschen Selbsthilfegruppen-Bewegung ist bis zum heutigen Zeitpunkt
durch fünf Entwicklungsphasen gekennzeichnet: zu Beginn von Experten weder wahr- noch
ernstgenommen, führte die Entwicklung über eine Zeit der aggressiven Abwertung schritt-
weise hin zu immer stärkerer Akzeptanz des ,,Expertentums des Betroffenseins" (Moeller,
1996, S. 79) in der Gesellschaft und schließlich zur Integration der Gruppenselbsthilfe in das
Gesundheitswesen. Heute wird die Selbsthilfegruppen-Bewegung, die inzwischen über eine

Einführung in die Thematik: Traditionelle Formen psychologischer Unterstützung
17
bundesweit organisierte Infrastruktur verfügt
3
, als vollwertig anerkannter Partner von Kran-
kenkassen, Ärzteverbänden und wohltätigen Organisationen gefördert (Moeller, 1996). Mög-
lich war dies u.a. nur durch den Nachweis von Qualität und Effektivität der
Selbsthilfegruppen-Arbeit. Belege für eine vergleichbare therapeutische Wirksamkeit wie
die von Expertentherapiegruppen liefern Moeller (1975, 1977a), Daum & Moeller (1977)
sowie Stübinger (1977) (zitiert nach Moeller, 1977).
Einige Studien haben auch speziell den Nutzen von Selbsthilfegruppen für Essstörungen
untersucht. So berichten Boskind-White & White (1983, zitiert nach North, 1998), dass die
Frauen einer von ihnen untersuchten Selbsthilfegruppe für Essgestörte erfolgreiche Strate-
gien für den Umgang mit ihrer Essstörung entwickeln konnten. Garfinkel & Garner (1982,
zitiert nach ebd.) berichten eine Reduzierung von Einsamkeits- und Isolationsgefühlen sowie
eine Zunahme von Hoffnung bei den essgestörten Teilnehmern der untersuchten Selbsthilfe-
gruppe.
Wie funktionieren nun psychologisch-therapeutische Selbsthilfegruppen?
In der Regel besteht eine Gruppe aus etwa 6 bis 12 Personen, die sich einmal wöchentlich zu
einer Sitzung von ca. zwei Stunden zusammen finden. Die Teilnahme ist völlig freiwillig,
erwartet wird jedoch eine relativ regelmäßige Teilnahme über einen längeren Zeitraum.
Kommt es zur Bindung an eine Gruppe, so bleiben die meisten erfahrungsgemäß zwei bis
drei Jahre dabei (Moeller, 1996). Die Vorgehensweise selbst ist bei allen Gruppen ungefähr
gleich. Die Gruppe verfügt über ein klar definiertes Ziel und Thema: Die Teilnehmer wollen
gemeinsam versuchen, ihre persönlichen Probleme zu lösen bzw. besser mit ihnen umzuge-
hen. Die Methode leitet sich daraus ab; sie besteht in der Hauptsache aus dem Gespräch. Ein
Spezifikum stellen die Anonymous-Gruppen dar, die nahezu alle das Programm der Anony-
3
In der Hauptsache handelt es sich dabei um die ,,Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen", die Nati-
onale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS)
sowie ca. 230 regionale Selbsthilfekontaktstellen (Stand 1996).

Einführung in die Thematik: Traditionelle Formen psychologischer Unterstützung
18
men Alkoholiker übernommen haben und sich mehr oder weniger strikt an die darin vorge-
gebenen Regeln halten.
Als einen zentralen therapeutischen Faktor der Selbsthilfegruppe in Abgrenzung zur profes-
sionellen Therapie nennt Moeller (1977) das Gruppenselbsthilfeprinzip. Es besagt, dass pri-
mär nicht wechselseitige Fremdhilfe stattfindet, sondern wechselseitige Selbsthilfe.
Indem jeder Teilnehmer also sich selbst entwickelt und seine Erfahrungen in diesem Prozess
der Gruppe (verbal und nonverbal) mitteilt, dient er gleichzeitig den anderen Teilnehmern
als ,,Modell" und bietet ihnen so die Möglichkeit, aus der Beobachtung zu lernen. Studien
zeigen, dass das Modell-Lernen sich gerade auch in Selbsthilfegruppen für Essstörungen als
besonders wirksam herausgestellt hat (Burmeister, 2001). Dieses Prinzip bedingt einen ele-
mentaren Unterschied zwischen Selbsthilfegruppen und professionellen Therapien: Der Er-
folg der Gruppenselbstbehandlung hängt für den Einzelnen weitestgehend von seiner
Eigenmotivation und ­initiative ab, er bestimmt über den gesamten Zeitraum Ziele und Vor-
gehensweise selbst. Auch Psychotherapie kommt ohne die aktive Teilnahme des Klienten
nicht aus, sie birgt jedoch durch das Hierarchie- und Kompetenzgefälle zwischen Therapeut
und Klient wesentlich stärker die Gefahr einer passiven Konsumentenhaltung seitens des
Klienten.
Ein weiteres therapeutisches Moment in der Gruppenselbstbehandlung ist nach Moeller
(1996) der Leidensdruck des Einzelnen. Leidensdruck entsteht, wenn sich eine Person offen
mit ihrem persönlichen Problem konfrontiert und es überhaupt als Problem wahrnimmt. Dar-
aus entsteht der Wunsch, den Leidensdruck zu verringern, was im Falle der Gruppenselbst-
behandlung die Motivation zur kontinuierlichen Teilnahme an der Gruppe steigert. Bormuth
(1975, zitiert nach Moeller, 1977) konnte feststellen, dass diejenigen Teilnehmer einer
Selbsthilfegruppe, die einen niedrigen Leidensdruck erleben, eher dazu tendieren, die Grup-
pe zu verlassen, während solche mit einem höheren Leidensdruck bleiben.

Einführung in die Thematik: Traditionelle Formen psychologischer Unterstützung
19
Als entscheidender Vorteil außerhalb der therapeutischen Wirkungen kommt die Möglich-
keit hinzu, mit Hilfe von Selbsthilfegruppen das Gesundheitswesen deutlich zu entlasten.
Durch ein größeres Mitsprache- und Interventionsrecht des Patienten bei der Behandlung
wird gleichzeitig die übliche medizinische Behandlung ,,humanisiert".
Moeller (1996) weist aber auch auf potentielle Gefährdungen durch Selbsthilfegruppen hin,
die nicht unerwähnt bleiben sollen. Zum einen besteht die Gefahr der Selbstisolation der
Gruppe, wenn sich die Aktivitäten der Gruppe zu stark nach innen orientieren und die Grup-
pe im Extremfall sogar zum Lebensersatz wird. Gartner & Riessman (1977, zitiert nach
Moeller, 1996) verweisen hingegen auf die Gefahr, dass Selbsthilfegruppen soziale Verände-
rungen verhindern, indem sie eine zu starke Privatheit pflegen und das gesellschaftliche Sys-
tem aus der Verantwortung nehmen. Zudem können sie die Integration von Professionalität
und Nicht-Professionalität behindern. Für die Teilnehmer besteht die Gefahr, sich zu stark
auf die Kleingruppe der Gleichgesinnten zu verlassen und dadurch in der Rolle der stigmati-
sierten Außenseiter zu verharren.
Mit der Frage, inwieweit eine internetbasierte Umsetzung dieser Formen klassischer psycho-
logischer Unterstützung realisiert werden kann oder auch bereits realisiert ist, beschäftigt
sich das folgende Kapitel. Voraussetzungen, Besonderheiten und spezifische Ausformungen
von Online-Hilfe werden besprochen und ­ soweit möglich ­ mit Beispielen und empiri-
schen Erkenntnissen untermauert.

Einführung in die Thematik: Psychologische Unterstützung Online
20
2.3 Psychologische Unterstützung Online
Bedeutende technische Innovationen erfassen über kurz oder lang immer weite Teile einer
Gesellschaft und werden von ihren Mitgliedern in die täglichen Lebensabläufe integriert.
Das galt und gilt auch für die elektronisch vermittelte Kommunikation und ihren Einzug in
den Bereich der psychologischen Unterstützung. Beispielhaft für ein solches Arrangement,
das sich zudem als äußerst erfolgreich erwiesen hat, ist die telefonische Beratung (u.a. Kri-
sentelefon, Kindernotruf). Als beispielhaft kann diese Neuerung gerade auch deshalb gelten,
weil sie gezeigt hat, dass neue Kommunikationsmöglichkeiten im Rahmen der psychosozia-
len Versorgung nicht notwendigerweise zur vielfach befürchteten Substitution von face-to-
face-basierter Unterstützung führen. Sie schaffen im Gegenteil eine neue zusätzliche Qualität
(vgl. Döring, 2000). Im vorliegenden Fall sollen nun das Internet und die computervermittel-
te Kommunikation als relativ neue technische Errungenschaft und ihre Bedeutung für die
Umsetzung von psychologischer Unterstützung fokussiert werden.
Einigkeit herrscht in der Forschungslandschaft bislang darüber, dass das Internet als Infor-
mations- und Kommunikationsmedium für Betroffene im klinisch-psychologischen Interven-
tionsprozess nützlich sein kann (Ott & Eichenberg, 2003). Gleichzeitig sind aber auch immer
wieder potentielle Gefahren, die sich aus der noch fehlenden Qualitätssicherung speziell für
Menschen mit psychischen Problemen ergeben können, Bestandteil des wissenschaftlichen
Diskurses (vgl. Eichenberg, 2003). Wie der Nutzen bezüglich konkreter psychologischer
Hilfsangebote aussehen kann und welche Parallelen zu den oben besprochenen traditionellen
Formen psychologischer Unterstützung bestehen, soll im Folgenden erläutert werden.

Einführung in die Thematik: Psychologische Unterstützung Online
21
Exkurs: ausgewählte Internetdienste
Um das Verständnis der im Folgenden berichteten Möglichkeiten von Online-Unterstützung
zu erleichtern, sollen an dieser Stelle einige internetbasierte Dienste, die Bestandteil der fol-
genden Ausführungen sind, kurz skizziert werden.
Newsgroups
Eine Newsgroup ist ein schriftliches Austauschforum zu einem definierten Thema, bei dem
die Beiträge auf Newsservern öffentlich zugänglich bereitstehen (Döring, 1999). Die Ge-
samtheit aller Newsgroups wird als Usenet bezeichnet. Sie sind jeder Person, die über einen
Zugang zum Internet verfügt, anonym zugänglich. Dieser anonyme Zugang stellt einerseits
einen enormen Vorteil für den Austausch von Selbsthilfegruppen dar, da Newsgroups so zu
einem extrem niederschwelligen Angebot werden. Andererseits setzt die ungeschützte Öf-
fentlichkeit einen enorm sensiblen Umgang der Teilnehmer mit den häufig sehr persönlichen
Beiträgen von Betroffenen voraus. Eine Möglichkeit, die Teilnehmer zu schützen, bietet hier
das Moderationsverfahren (Döring, 1999).
Bulletin Board / Newsboard
Ein Bulletin Board (engl.: Schwarzes Brett) oder auch Newsboard ist eine spezielle Art eines
webbasierten Forums, das meist in einen Internetauftritt eingebunden ist. Es vereinigt unter
sich eine Anzahl von thematisch getrennten Diskussionsforen. Innerhalb dieser Diskussions-
foren können registrierte Mitglieder Themenbeiträge (Threads) eröffnen oder auf bereits
bestehende Threads antworten. Anders als im Usenet werden alle Beiträge (Postings) eines
Themas auf einer Seite angezeigt. Die Foren arbeiten im Echtzeit-Modus, so dass abge-
schickte Beiträge sofort sichtbar werden und somit ein Moderator erst im Nachhinein even-
tuell regelwidrige Postings editieren oder löschen kann.

Einführung in die Thematik: Psychologische Unterstützung Online
22
Mailinglisten
Mailinglisten sind Diskussionsgruppen, deren Kommunikation über E-Mail realisiert wird.
Um an einer Mailingliste teilzunehmen, muss der Anwender diese abonnieren (Schade,
2000). Im Gegensatz zu Newsgroups bilden Mailinglisten eine mehr oder weniger ,,ge-
schlossene Gesellschaft", da ihre Nachrichten nur angemeldeten Teilnehmern zur Verfügung
stehen. Zudem wird (zumindest im psychologisch-therapeutischen Kontext) häufig eine per-
sönliche Vorstellung der Teilnehmer erwartet, was möglicherweise eine erhöhte Einstiegs-
schwelle zur Folge hat. Das stumme Mitlesen (,,Lurking") ist jedoch prinzipiell möglich und
zumindest als Einstieg durchaus akzeptiert.
Newsletter
Auch hier werden E-Mails an einen bestimmten Adressatenkreis verschickt. Anders als bei
einer Mailingliste ist die Richtung jedoch ausschließlich unidirektional. Es besteht daher
nicht die Möglichkeit einer Diskussion zwischen den Abonnenten.
Chat
Chat (von engl. to chat plaudern) ist die Bezeichnung für die Kommunikation zwischen
mindestens zwei Personen in Echtzeit. Ähnlich wie in Newsgruppen werden elektronische
Nachrichten ausgetauscht, deren Worte allerdings ,,live" entweder zeichenweise oder als
komplette Mitteilungen durch das Betätigen der Enter-Taste übertragen werden. Mittlerwei-
le stehen verschiedene Dienste für diese Art des Austauschs zur Verfügung, u.a. der Internet
Relay Chat (IRC), ICQ und der Webpage-Chat.

Einführung in die Thematik: Psychologische Unterstützung Online
23
2.3.1 Psychotherapie im Internet
Dass der Berufsstand der Psychologen und Psychotherapeuten das Internet als neues Medi-
um für seine Arbeit wahrnimmt und kritisch prüft, ist sowohl aus ethischer als auch aus ge-
sundheitspolitischer Sicht wichtig. Die moralische Frage, die sich aus einer völligen
Ablehnung der seriösen Nutzung des Internet für das psychotherapeutische Arbeitsfeld erge-
ben würde, formulierte bereits 1997 Gary Stofle in seinem Artikel über ethische und prakti-
sche Überlegungen zur Online-Psychotherapie:
,,If we proceed too cautiously in this journey because of the ethical issues, or de-
cide not to provide online therapy services because of the unknown, who will be
available to treat the clients who won't, for whatever reasons, seek face to face
therapy? [...] If the ethical therapist is not online, who is?"
Generell spalten sich jedoch bis heute unter den Fachleuten zum Thema internetbasierte Psy-
chotherapie die Geister. Während sich Autoren konzeptioneller Beiträge zu Therapie und
Beratung im Internet bemühen, Begriffe wie ,,e-therapy", ,,cyber therapy", ,,online-therapy"
oder ,,internet therapy" zu kreieren und mit Leben zu füllen (z.B. Grohol, 1999, s.u.), weisen
andere darauf hin, dass die traditionelle Abgrenzung zwischen Therapie, Beratung und wei-
teren klinisch-psychologischen Interventionsmethoden den Gegebenheiten des Internet nicht
gerecht wird.
Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass keine 1:1 Übertragung von klassischen psychologi-
schen auf internetbasierte psychologische Interventionsmethoden möglich ist. So grenzt
bspw. Grohol (1999) ,,E-Therapie" klar von klassischer Psychotherapie und psychologischer
Beratung ab, indem er argumentiert, dass in einer computervermittelten Therapie weder Di-
agnosen gestellt noch konkret mentale oder medizinische Krankheiten behandelt werden.
Auch die Kompetenz des Helfenden wird nicht überprüft ­ ein gravierender Einwand.

Einführung in die Thematik: Psychologische Unterstützung Online
24
E-Therapie wird von Grohol als neuer Weg beschrieben, Menschen bei der Lösung ihrer
Lebens- und Beziehungsprobleme zu helfen und dabei die Vorteile des Internet zu nutzen.
Der Fokus des Austauschs kann von Klient zu Klient sehr unterschiedlich sein und von der
gelegentlichen Besprechung weitläufiger philosophischer Themen bis hin zum konkreten
Erlernen neuer Coping-Strategien reichen. Vergleichbar scheint E-Therapie für Grohol am
ehesten mit Beschäftigungstherapie oder Bibliotherapie ­ Therapieformen, die einer Person
die Möglichkeit geben, unter der Anleitung eines professionellen Helfers für sie zentrale
Themen anzusprechen.
Ott (2003) verzichtet hingegen mit dem Hinweis auf die aktuellen Gegebenheiten der Onli-
ne-Hilfe bewusst auf eine Definition von internetbasierter Psychotherapie. Er spricht statt-
dessen von der ,,internetbasierten Intervention" (IBI), ein Begriff, der Psychotherapie,
Prävention, Beratung, Krisenintervention, Rehabilitation und die Etablierung sozialer Unter-
stützungssysteme integriert (vgl. Ott, 2003, S. 129). Da in der Praxis der Online-Hilfe diese
Integration bislang tatsächlich Usus zu sein scheint (zu Studien siehe Ott, 2003), folgen die
weiteren Ausführungen Otts Definition.
Systematische Evaluationsstudien internetbasierter Interventionsverfahren fehlen bis dato
völlig, es existieren jedoch inzwischen immerhin vereinzelte empirische Studien, die trotz
ihrer noch vorhandenen methodischen Mängel erste Tendenzen aufzeigen können.
Ott (2003) liefert einen Überblick zu 30 analysierten Wirksamkeitsstudien, die Interventi-
onsverfahren zu verschiedenen psychologischen Störungsbildern untersuchten.
Darunter sind auch fünf Studien, die internetbasierte Interventionsverfahren zum Thema
Essstörung empirisch untersuchten (vgl. z.B. Zabinski, Pung, Wifley, Eppstein, Winzelberg,
Celio & Taylor, 2001). Die Ergebnisse waren vielversprechend. In allen fünf Studien konnte
die Effektivität der Interventionen nachgewiesen werden, die aufgrund der Stichprobe als
präventive Maßnahmen verstanden werden müssen. Als Interventionsverfahren dienten aus-

Einführung in die Thematik: Psychologische Unterstützung Online
25
schließlich kognitiv-behaviorale Instrumente, die bereits empirisch validiert waren. Als
Kommunikationswege wurden das WWW und E-Mail eingesetzt.
Insgesamt deuten die vorhandenen Studien darauf hin, dass das Internet speziell für die kog-
nitive Verhaltenstherapie eine hohe Relevanz besitzt, was bereits von Forschern vermutet
wurde (Ott, 2003). In den analysierten Studien überwiegen deutlich kognitiv-behaviorale
Therapieansätze, während bspw. für klientenzentrierte und tiefenpsychologische Ansätze bis
dato größtenteils konzeptionelle Überlegungen zum generellen Einsatz neuer Informations-
technologien vorliegen (Ott, 2003).
Einigkeit herrscht in den konzeptionellen Beiträgen von Experten bis heute weitgehend dar-
in, dass die Grundvoraussetzung für eine effektive Psychotherapie die persönliche Begeg-
nung von Angesicht zu Angesicht darstellt. Klient und Therapeut müssen sich sehen und
miteinander sprechen, um eine vertrauensvolle, fruchtbare Beziehung zueinander aufbauen
zu können (Janssen, 1998, S. 23; Döring, 2000, S. 509). Dieser Annahme entgegen steht die
Erkenntnis, dass User über textbasierte Netzkommunikation durchaus enge persönliche Be-
ziehungen aufbauen und sie als sinnlich und lebendig wahrnehmen können (siehe Döring
2000, Kap. 14.2). Eindeutige Trends zu Auswirkungen der internetbasierten Intervention auf
die Qualität der Patient-Therapeut-Beziehung und die Compliance der Betroffenen konnten
bislang noch nicht gefunden werden. Das ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die-
se Variablen in den bisherigen Untersuchungen nicht berücksichtigt wurden (Ott, 2003).
Möglicherweise ist der hohe Anteil der verwendeten Elemente aus der kognitiven Verhal-
tenstherapie in dieser Hinsicht damit zu erklären, dass die Instrumente dieses Therapieansat-
zes (z.B. Selbst-Management-Trainings, Problemlösetrainings) z.T. recht leicht auf das
Medium Internet übertragbar sind. Klientenzentrierte und tiefenpsychologische Ansätze sind
hingegen in erster Linie auf den Face-to-Face-Kontakt mit seinen verbalen und nonverbalen
Signalen angewiesen und somit stärker davon betroffen, die ,,reduzierte" Internetkommuni-

Einführung in die Thematik: Psychologische Unterstützung Online
26
kation (zu theoretischen Ansätzen der computervermittelten Kommunikation siehe Döring
2000, Kap. 13) durch aufwändige technische Verfahren wie bspw. Videokonferenzen zu
kompensieren, um erfolgreich zu sein. Die Internettechnologie ist jedoch inzwischen so weit
fortgeschritten, dass zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Text, Ton und visuelle
Elemente in der Online-Kommunikation zu kombinieren (Suler 2002) und (theoretisch) für
eine den Bedürfnissen des Klienten angepasste Therapie einzusetzen.
Für die nahe Zukunft wird erwartet, dass Anzahl und Qualität der Wirksamkeitsstudien deut-
lich zunehmen werden, so dass bald differenziertere Aussagen getroffen werden können
(Ott, 2003).
2.3.2 Psychologische Beratung im Internet
Aufgrund der oben ausgeführten Verflechtung internetbasierter Interventionsverfahren fällt
es schwer, die psychologische Online-Beratung in der Praxis eindeutig von psychotherapeu-
tischen Maßnahmen abzugrenzen.
Um nach einer formalen Definition von psychologischer Beratung im Internet sprechen zu
können, muss eine Situation vorliegen, in der sich eine Beziehung zwischen Ratsuchendem
und professionellem Berater konstituiert und die Möglichkeit besteht, gemeinsam Problemsi-
tuation und Lösungsvarianten zu explorieren (vgl. Döring, 2000, S. 530). Grunwald (2003,
S. 190) ergänzt, dass es dem Ratsuchenden möglich sein muss, über einen Internetdienst wie
bspw. E-Mail oder Chat mit einem Berater Kontakt aufzunehmen und konkrete Probleme
und Fragen zu formulieren. Eine klare Abgrenzung zu psychotherapeutischen Maßnahmen
findet sich in diesen Definitionen nicht.
Solchermaßen definierte Beratungsangebote werden inzwischen von den verschiedensten
Organisationen des Gesundheitswesens angeboten. Neben Vereinen und Selbsthilfegruppen
realisieren zunehmend auch öffentliche Einrichtungen des Bundes und der Länder sowie

Einführung in die Thematik: Psychologische Unterstützung Online
27
einige Krankenkassen unterschiedliche Formen der internetbasierten Beratung (Grunwald,
2003).
Die vielfältigen Angebote, denen sich Ratsuchende gegenüber sehen, können nach Döring
(2000) grob in drei Kategorien unterschieden werden, die im Folgenden skizziert werden.
1. Kostenpflichtige Netz-Beratung durch Psychotherapeuten und ­therapeutinnen:
Diese Dienste werden häufig von freien, nicht-organisierten Therapeuten angeboten und
basieren auf E-Mail-Kontakten. Der Therapeut beantwortet dabei Anfragen des Klienten und
verlangt dafür ein Honorar. Dass bei einem einmaligen E-Mail-Wechsel keine psychologi-
sche Beratung im Sinne der Definition stattfinden kann, liegt auf der Hand. Ein gravierendes
Problem dieser Beratungsform besteht darin, dass die Seriosität der Berater nur schwer
glaubhaft nachzuweisen ist (Döring, 2000).
Ein kostenpflichtiges Online-Beratungsangebot, das neben der E-Mail-Beratung Videotech-
nik nutzt, um eine direkte Interaktion per Live-Video-Chat zu ermöglichen, wird seit dem
Frühjahr 2003 von der Internetplattform ,,expertenzentrale.de" realisiert (vgl. Ott & Morsch-
heuser, 2003).
Während jedoch Online-Beratungsangebote, die für die Ratsuchenden kostenfrei sind, auf
eine hohe Akzeptanz stoßen, kann gegenwärtig noch nicht abgeschätzt werden, inwieweit
dies auch für kostenpflichtige Angebote gilt (Ott & Morschheuser, 2003).
2. Kostenlose Netz-Beratung durch Kriseneinrichtungen:
Hierunter fallen Institutionen, die traditionell mit dem Kommunikationsmedium Telefon
arbeiten (z.B. die katholische Telefonseelsorge Köln) und inzwischen zusätzlich Beratung
per E-Mail und Chat anbieten (Döring, 2000). Sie arbeiten mit Fachleuten und geschulten
Laienhelfern. Die Vorteile der internetbasierten Krisenberatung gestalten sich ähnlich wie in
der telefonischen Beratung: Anonymität, Distanz zum Berater und die Möglichkeit, den
Kontakt nach Bedarf abzubrechen und wieder aufzunehmen, machen diese Form der Online-

Einführung in die Thematik: Psychologische Unterstützung Online
28
Beratung zu einem sehr niederschwelligen Angebot. Mittelfristig ist zu erwarten, dass sich
das Angebot um zusätzliche Kommunikationsformen, die bspw. Multimedia nutzen, erwei-
tert (vgl. Christl, 2000). Ob dies dann noch völlig kostenfrei möglich sein wird, ist allerdings
fraglich.
3. Kostenlose Netz-Beratung durch Gesundheitseinrichtungen:
Gesundheitseinrichtungen wenden sich in der Regel an einen mehr oder weniger eng gefass-
ten Personenkreis mit einer bestimmten Erkrankungsform. In ihrem Angebot vermischen
sich häufig Informations- und Beratungsdienste, indem bspw. Antworten auf E-Mailanfragen
durch Hinweise auf einschlägige Literatur sowie Beratungs- und Therapieangebote außer-
halb des Internet ergänzt oder Fragen und Antworten im Nachhinein anonym im WWW ver-
öffentlicht werden (vgl. Döring, 2000). Das Beraterteam besteht auch hier aus Fachleuten,
die aufgrund des enormen Zuspruchs durch Betroffene meist stark gefordert sind. Als Bei-
spiel für ein effizientes und stark frequentiertes Beratungsnetzwerk für Betroffene von Ess-
störungen sei an dieser Stelle der 1998 zusammen mit der ,,Deutschen Forschungsinitiative
Eßstörungen e.V." (DFE) gegründete ,,ab-server"
4
erwähnt (vgl. Grunwald, 2003). Das An-
gebot einer Online-Beratung wird hier durch eine bewusste Verknüpfung von verschiedenen
psychologischen Interventionsverfahren ergänzt: die Einrichtung fungiert als Vermittler bei
der Suche nach Therapeuten und Therapieplätzen (ambulant und stationär) und kooperiert zu
diesem Zweck mit Ärzten, Psychologen und Kliniken.
Erfahrungswerte zeigen (vgl. u.a. Grohol, 1997; Grunwald, 2003), dass insbesondere kosten-
freie Online-Beratungsangebote eine hohe Akzeptanz genießen und außerordentlich intensiv
genutzt werden. Wesentliche Faktoren für diesen Effekt sind nach Grunwald (2003):
-
die Anonymität der Internetkommunikation
4
Der ab-server ist erreichbar über die Internetadresse http://www.uni-leipzig.de/essstoerungen/

Einführung in die Thematik: Psychologische Unterstützung Online
29
-
die Schnelligkeit des Informationsaustauschs
-
Zeit- und Ortsunabhängigkeit der Kommunikationsteilnehmer
-
geringer finanzieller Aufwand für die Aufrechterhaltung der Kommunikation
Gleichzeitig sei jedoch auch an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass der Nut-
zen internetbasierter Kommunikationsszenarien für Menschen mit psychischen Störungen
solange weiter ambivalent diskutiert werden muss, wie Qualitätsstandards fehlen. Trotzdem
sprechen auch bei der Online-Beratung erste Evaluationsergebnisse für eine positive Ein-
schätzung (siehe van Well, 2000).
Abschließend sei vermerkt, dass internetbasierte Interventionsprogramme bis zum aktuellen
Zeitpunkt weniger dem Ersatz herkömmlicher Beratungen und Psychotherapien als vielmehr
ihrer Ergänzung und Erweiterung zu dienen scheinen. Sie stellen ein niederschwelliges An-
gebot dar, das häufig für eine erste Kontaktaufnahme genutzt wird (Janssen, 1998), immer
öfter aber auch parallel zu Therapien außerhalb des Netzes (siehe Döring 2000, S. 540).
Darüber hinaus offenbaren sich neue Nutzergruppen, die von traditionellen Therapieformen
(Telefonseelsorge eingeschlossen) bislang nicht erreicht werden konnten. Fünf Umstände,
die nach Döring (2000, in Anlehnung an Sommers, 1996) zur Nutzung von Online-
Therapieangeboten führen, sind:
- das Fehlen finanzieller Mittel für eine herkömmliche Beratung oder Psychotherapie
- ein erhöhtes Bedürfnis nach räumlicher bzw. körperlicher Distanz
- das Fehlen entsprechender Hilfsangebote in deren erreichbarer Umgebung
- körperliche Behinderungen
- das Bedürfnis, sich zunächst über lokale Beratungs- oder Therapieangebote zu in-
formieren
Über den Bedarf und die Akzeptanz der bestehenden Hilfeleistungen besteht also kein Zwei-
fel. Daher bleibt zu wünschen, dass sich die Aktivitäten in Zukunft auf eine weitere Vernet-

Einführung in die Thematik: Psychologische Unterstützung Online
30
zung und Optimierung vorhandener Strukturen konzentrieren (vgl. auch Grunwald, 2003).
Es ist anzunehmen, dass sich der Trend zur Integration von verschiedenen face-to-face- und
internetbasierten psychologischen Interventionsverfahren fortsetzen wird. Die Frage einer
definitorischen Abgrenzung dürfte sich in Zukunft daher immer weniger stellen.
2.3.3 Selbsthilfe im Internet
Für den Bereich der Selbsthilfe eröffnet das Medium Internet nahezu unbegrenzte Möglich-
keiten der Information und Interaktion. Entsprechend vielfältig gestalten sich die bereits vor-
handenen Angebote für alle denkbaren Erkrankungen und Störungen. Sie reichen von reinen
Informationsangeboten in Form von Materialien und Materialsammlungen zu einem be-
stimmten Störungsbild, über Selbst-Diagnostika (d.h. elektronische Fragebögen und Tests)
bis hin zur Möglichkeit der Partizipation an internetbasierten Selbsthilfegruppen. Wie bereits
im Rahmen der Online-Beratung angesprochen, gibt es darüber hinaus aktuell einen Trend
zur Kombination verschiedener Angebote, die sich mit einer Thematik befassen. So entste-
hen komplexe Portale oder Plattformen, die umfassende Informationen und Kommunikati-
onsmöglichkeiten für alle Gruppen von Interessenten anbieten. Im Zuge der oben
angesprochenen Vernetzung werden die reinen Selbsthilfe-Angebote zunehmend auch durch
professionelle Hilfsangebote wie bspw. Online-Beratung ergänzt, was die Mitarbeit profes-
sioneller Berater zur Folge hat. Abgesehen davon zeichnen sich die Anbieter von Selbsthilfe
im Internet definitionsgemäß in der Regel dadurch aus, dass sie von betroffenen Laien eh-
renamtlich geführt werden. Die ebenfalls vorhandenen kommerziellen Selbsthilfe-Angebote,
die primär dazu dienen, den Einstieg in Therapie oder Beratung vorzubereiten (vgl. Döring,
2000), sollen an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden.
Anbieter von nicht-kommerziellen Selbsthilfe-Materialien sind in großer Zahl Menschen, die
selbst von einer psychischen Störung oder Erkrankung betroffen sind und ihren Leidens- und

Einführung in die Thematik: Psychologische Unterstützung Online
31
Genesungsweg oft in eindrucksvoller Art und Weise auf persönlichen Homepages schildern.
Größere Webauftritte und Internetportale werden hingegen von Vereinen (z.B. Hungrig-
Online e.V., magersucht.de ­ Selbsthilfe bei Magersucht e.V.) oder öffentliche Einrichtun-
gen (z.B. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) betrieben.
Virtuelle Selbsthilfegruppen, deren Hauptanliegen die Kommunikation über ein bestimmtes
Leiden ist, organisieren sich meistens durch Newsgroups, Newsboards und Mailinglisten,
seltener auch über Chat oder Multi User Dungeons
5
(MUDs).
Auch wenn systematische Vergleiche zwischen traditionellen und internetbasierten Selbsthil-
fegruppen bislang fehlen, sprechen sowohl anekdotische Erfahrungsberichte als auch erste
systematische Evaluationsstudien (zusammenfassend siehe King & Moreggi, 1998) dafür,
dass virtuelle Selbsthilfegruppen ähnliche Funktionen erfüllen wie reale Selbsthilfegruppen
(Eichenberg, 2003). Diese zeichnen sich nach Halvers, Itzwerth und Wetendorf (1984) so-
wohl durch innengerichtete Aktivitäten wie sich aussprechen, einander zuhören, Trost spen-
den etc. als auch durch außengerichtete Aktivitäten wie z.B. die Veröffentlichung von
Informationsmaterialien aus. Darüber hinaus kommen weitere netzspezifische Funktionen
hinzu, die als Vorteile gegenüber ,,real life"-Selbsthilfegruppen angesehen werden können.
So können die Teilnehmer einer virtuellen Selbsthilfegruppe pseudonym bleiben, was
Hemmschwellen, die außerhalb des Internet möglicherweise den Besuch einer Selbsthilfe-
gruppe verhindern, abbauen hilft. Zudem ist die Nutzung von Online-Selbsthilfegruppe zeit-
lich und räumlich unabhängig möglich sowie für die Teilnehmer finanziell kaum belastend
(vgl. Döring, 2000). Für Betroffene bestimmter psychischer Störungen (bspw. Depression,
Angststörung), die in akuten Phasen nicht in der Lage sind aus dem Haus zu gehen, bieten
5
MUDs sind interaktive (Abenteuer-) Spiel-Umgebungen, die meist textbasiert ablaufen. Es handelt sich dabei
um eine synchrone Form der netzbasierten Kommunikation, bei der sich die Teilnehmer in virtuellen Räumen
treffen und dort in Phantasie-Rollen agieren (vgl. z.B. Döring, 2000, S. 529).

Einführung in die Thematik: Psychologische Unterstützung Online
32
Online-Selbsthilfegruppen die Möglichkeit, ihre soziale Isolation mittels netzbasierter
Kommunikation zu überwinden (Döring, 2000).
Generell ist zu beobachten, dass sich die Teilnehmer virtueller Selbsthilfegruppen in der
Regel nicht auf eine Form des Austauschs beschränken, sondern über das Hauptmedium
hinaus weitere Kommunikationsmedien wie bspw. auch das Telefon nutzen, um in Kontakt
zu bleiben. Anders als in einer traditionellen Selbsthilfegruppe, die immer als Ganzes zu-
sammentrifft, bilden sich hier innerhalb der virtuellen Gemeinschaft über privaten E-Mail-
Kontakt, Telefonate und persönliche Treffen kleinere soziale Netzwerke und Beziehungen
zwischen einzelnen Teilnehmern (vgl. Döring, 2000).
Ähnlich wie psychotherapeutische und beratende Hilfsangebote im Internet wird auch der
Nutzen von Online-Selbsthilfegruppen für Betroffene von psychischen Störungen noch kon-
trovers diskutiert. Besonderheiten der netzspezifischen Kommunikation, die als Vorteile von
virtuellen Selbsthilfegruppen genannt werden, werden dabei auch als potentielle Gefahren
ins Feld geführt. Ebenso wie Anonymität und das Fehlen von sozialen Hintergrundinforma-
tionen den Zugang zu Newsgroups, Mailinglisten oder Chat erleichtern, ermöglichen sie
auch einen schnellen unbemerkten Rückzug, ohne dass die Beweggründe sichtbar werden.
Missverständnisse und Kränkungen bleiben so möglicherweise unentdeckt und können ins-
besondere bei psychisch labilen Teilnehmern zu negativen Konsequenzen führen, die in ei-
ner realen Selbsthilfegruppe von den anderen Teilnehmern entdeckt und aufgefangen
würden. Zu ähnlich negativen Auswirkungen kann auch die Größe der virtuellen Gruppen
führen, die aufgrund der Zugangsbedingungen im Vergleich zu traditionellen Selbsthilfe-
gruppen bedeutend größer werden kann. Ebenfalls häufig angeführt wird die reduzierte In-
ternetkommunikation (vgl. Döring, 2000), die jedoch ­ wie Erfahrungsberichte zeigen (vgl.
z.B. Winni, 1998) ­ von den Teilnehmern eher nicht als Nachteil wahrgenommen wird.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783832492373
ISBN (Paperback)
9783838692371
DOI
10.3239/9783832492373
Dateigröße
1.8 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Koblenz-Landau – Psychologie
Erscheinungsdatum
2006 (Januar)
Note
1,0
Schlagworte
gesundheitskommunikation internet-nutzungsmotive internet-kommunikation selbsthilfe-gruppen uses-and-gratifications approach
Zurück

Titel: Selbsthilfe per Internet
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
190 Seiten
Cookie-Einstellungen