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Das Theater der Erinnerung

Giordano Brunos „Candelaio“ im Spiegel seiner Philosophie

©2003 Magisterarbeit 189 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Am 17. Februar 1600 wurde auf dem Campo de’ Fiori in Rom ein Mann hingerichtet, dessen exponierte Stellung im Kreis bedeutender Renaissancephilosophen es in weiten Teilen erst noch zu entschlüsseln gilt. Denn sein Feuertod unter den Augen der Inquisition hat in der Vergangenheit bei zahlreichen Forschern eher dazu geführt, in Giordano Bruno zunächst lediglich den Märtyrer zu sehen – gipfelnd in einer Lesehaltung, die in ihrer Tendenz auf dem hermetischen Charakter und damit auf einer prinzipiellen Unverständlichkeit der Bücher insistiert, die lediglich dem Verbotenen, weil Ketzerischen nachspürt und damit letztlich einen gewissen Hang zur Mutlosigkeit offenbart.
Gerade der Theaterwissenschaft kommt die Möglichkeit zu, seine Gedanken den Schatten geheimwissenschaftlicher Verklärung zu entreißen. Sie kann dies nicht zuletzt in Bezugnahme auf ein besonderes Werk des Philosophen, den 1582 veröffentlichten "Candelaio". Ihren besonderen Stellenwert verdient diese Arbeit schon aufgrund der Tatsache, dass das Stück im gleichen Jahr erschien wie zwei der bedeutenden memotechnischen Schriften Brunos: "Über die Schatten der Ideen" und die "Ars memoriae". Damit gehört es nicht nur zu den ältesten erhaltenen Werken des Nolaners: Man ist auch versucht, bei Bruno Gedächtnis- und Theaterkunst in Analogie zu setzen.
Von drei unterschiedlichen Punkten aus – die wesentliche Positionen von Brunos Denken markieren und also auch auf einem repräsentativen Querschnitt seiner philosophischen Schriften fußen – soll das Thema zunächst gleichsam eingekreist werden. In einem ersten Schritt wird es darum gehen, die Sonderstellung von Brunos Gedächtniskunst innerhalb der langen und reichen Tradition von Gedächtnistheatern herauszuarbeiten, indem die eigenwillige Struktur seiner Abhandlung "Über die Monas, die Zahl und die Figur" anhand dreier Interpretationsansätze „durchgespielt“ wird. Erinnerung, so wird dabei zu zeigen sein, ist für Bruno ein komplexes System der Vermittlung durch Bilder, auf deren Grundlage das Gedächtnis gleichsam inszeniert wird.
Eher noch als von einem Moment oder Punkt kann man bei Bruno von einem Augenblick der Erkenntnis sprechen, einem plötzlichen Umschlagen von Täuschung in Enttäuschung. Diesem Umstand wird insbesondere der Abschnitt über den „Krieg der Kräfte“ Rechnung tragen.
Der dritte Schwerpunkt fokussiert den Blick auf eine wiederkehrende Vorstellung Brunos: Der menschliche Körper wird als Kerker empfunden, den es […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 9216
Buchholz, Jan Hendrik: Das Theater der Erinnerung - Giordano Brunos ,,Candelaio" im
Spiegel seiner Philosophie
Hamburg: Diplomica GmbH, 2006
Zugl.: Freie Universität Berlin, Magisterarbeit, 2003
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2006
Printed in Germany


III
Inhalt.
Abkürzungsverzeichnis. ... .......... .......... .......... .......... .......... .......... V
1.
Einleitung. ... .......... .......... .......... .......... .......... ......... .......... .......... VI
1.1
Forschungsstand. ... .......... .......... .......... .......... .......... .......... .......... VI
1.2
Methodischer Ansatz.
... .......... .......... .......... .......... .......... .......... VII
1.3
Begriffsklärung.
... .......... .......... .......... .......... .......... .......... .......... X
1.3.1 Theater der Erinnerung. ... .......... .......... .......... .......... .......... .......... X
1.3.2 Spiegel.
... .......... .......... .......... .......... .......... .......... .......... .......... XI
1.4
Zur Wahl der Übersetzung.
... .......... .......... .......... .......... .......... XII
2.
Struktur des Bewusstseins.
... .......... .......... .......... .......... .......... 1
2.1
Tanz der Götter: Über die Monas, die Zahl und die Figur.
... .......... 1
2.1.1 Die Monas, gelesen als Versuch über die euklidische Geometrie.
2
2.1.2 Die Monas, gelesen als Entwurf eines Gedächtnisses.
... .......... 7
i. Ein universeller Abzählvers: der Inhalt.
... .......... .......... .......... 7
ii. memoria e ingegno, Erinnern und Weiterdenken: die Struktur. ... 12
iii. Abschweifen im Überschwang: der Stil.
... .......... .......... .......... 16
2.1.3 Die Monas, gelesen als Entwurf eines magischen Gedächtnisses.
18
2.2
Krieg der Kräfte: Über die heroischen Leidenschaften.
... .......... 24
2.3
Körper als Kerker: Die Kabbala des Pegasus.
... .......... .......... 37
2.4
Zwischenfazit.
... .......... .......... .......... .......... .......... .......... .......... 43
Exkurs: Poesie der Polygone. Bruno vs. Vico
... .......... .......... .......... 44
i. Formen ,,unvernünftiger" Wahrheit. ... .......... .......... .......... .......... 51
a) Der senso commune ... .......... .......... .......... .......... .......... 51
b) memoria, fantasia und ingegno
... .......... .......... .......... 55
c) Die universali fantastici... .......... .......... .......... .......... .......... 57
d) Die poetische Wahrheit
... .......... .......... .......... .......... 60
ii. Eine Ursprache, die es noch zu schreiben gilt:
das Dizionario Mentale Comune.
... .......... .......... .......... .......... 64

IV
iii. Apologie des Scheiterns: Vicos ,,sinnvolle" Fehler.
... .......... 67
iv. Poetische Heroen, heroische Poeten:
Geometrisierung des Wissens.
... .......... .......... .......... .......... 70
v. Nachsatz. ... .......... .......... .......... .......... .......... .......... .......... .......... 73
3.
Bilder des Gedächtnisses.
... .......... .......... .......... .......... .......... 74
3.1
Vorbetrachtung: Metapher und Kognition.
... .......... .......... .......... 74
3.2
Licht und Schatten: Vom Höhlengleichnis zur Kinematographie. ... 80
3.3
,,Ackern auf dem phantastischen Feld":
Vom Taubenschlag zum Labyrinth.
... .......... .......... .......... .......... 87
3.4
Der ewige Augenblick.
Die Hoffräulein als Erklärungsmodell für Brunos Spiegelmetapher.
96
3.5
Eindruck der Siegel: Von der Wachstafel zum Taschenrechner. ... 100
4.
Komödie des Wissens? Brunos Candelaio ... .......... .......... .......... 108
4.1
Losfahren von der Molo del silenzio: die Schiffsmetapher. ... .......... 108
4.2
Pedanterie und Possenreißerei: die Sprache.
... .......... .......... 120
4.3
Scharlatan und Liebeswahn: der magische Ort.
... .......... .......... 133
4.4
Zwischen Kesseln und Fesseln: Spuren von Philosophie. ... .......... 146
4.5
Schau, Spiel und Verkleidung: zur Struktur des Stückes.
... .......... 153
5.
Zusammenfassung und Ausblick.
... .......... .......... .......... .......... 160
Abbildungen.
... .......... .......... .......... .......... .......... .......... .......... 163
Verwendete Literatur.
... .......... .......... .......... .......... .......... .......... 167
Sonstige Hilfsmittel.
... .......... .......... .......... .......... .......... .......... 175

V
Abkürzungsverzeichnis.
Kabbala
Bruno, Giordano (1585, 2000): Die Kabbala des Pegasus.
Hamburg.
Leidenschaften
Bruno, Giordano (1585, 1989): Von den heroischen
Leidenschaften. Hamburg.
Monas
Bruno, Giordano (1591, 1991): Über die Monas, die Zahl und
die Figur als Elemente einer sehr geheimen Physik,
Mathematik und Metaphysik. Hamburg.
Schatten
Bruno, Giordano (1582, 1999): Über die Schatten der Ideen. In:
Samsonow, Elisabeth von (Hrsg.): Giordano Bruno. München.
S. 229-241.
SN
Vico, Giambattista (1744, 1924): Die Neue Wissenschaft über
die gemeinschaftliche Natur der Völker. München.
Ursache
Bruno, Giordano (1584, 1986): Über die Ursache, das Prinzip
und das Eine. Stuttgart.
Vertreibung
Bruno, Giordano (1584, 1999): Die Vertreibung der
triumphierenden Bestie. In: Samsonow, Elisabeth von (Hrsg.):
Giordano Bruno. München. S. 242-292.

VI
1.
Einleitung.
1.1
Forschungsstand.
Am 17. Februar 1600 wurde auf dem Campo de' Fiori in Rom ein Mann
hingerichtet, dessen exponierte Stellung i m
Kreis
bedeutender
Renaissancephilosophen es in weiten Teilen erst noch zu entschlüsseln gilt. Denn
sein Feuertod unter den Augen der Inquisition hat in der Vergangenheit bei
zahlreichen Forschern eher dazu geführt, in Giordano Bruno zunächst lediglich den
Märtyrer zu sehen, während sein Denken in den Dienst verschiedenster
gesellschaftlicher Haltungen gestellt wurde ­ motiviert durch den Wunsch, ,,neben
ihm verbrannt zu erscheinen, um von seinem Opfer-Nimbus zu profitieren"
1
. In der
Tat konstatieren so unterschiedliche Bruno-Forscher wie Elisabeth von
Samsonow
2
, Gerhard Wehr
3
oder Jochen Kirchhoff
4
die zahlreichen
Indienstnahmen und Ent/stellungen der Philosophie Brunos in der langen,
wechselvollen Geschichte ihrer Rezeption.
Solches Verhalten indes hat dem Verständnis des Nolaners
5
eher geschadet denn
genutzt: Der klare Blick in Bezug auf seine Schriften erscheint oft merkwürdig
vernebelt, vom Aschenrauch seines Scheiterhaufens gleichsam in einen
mystischen Schleier gehüllt. Dies äußert sich vor allem in einer Lesehaltung, die in
ihrer Tendenz auf dem hermetischen Charakter und damit auf einer prinzipiellen
Unverständlichkeit der Bücher insistiert, die lediglich dem Verbotenen, weil
Ketzerischen nachspürt und damit letztlich einen gewissen Hang zur Mutlosigkeit
offenbart. So schreibt Douwe Draaisma ­ er bezeichnet Bruno als ,,Hohepriester
des Hermetismus" und ,,sonderbaren Magister" ­ noch 1999: ,,Trotz der
Erläuterungen, die Bruno gegeben hat, gehört sein Gedächtnissystem zu den
unergründlichsten Entwürfen, die die ars memoriae hervorgebracht hat."
6
Zwar hat
es inzwischen erste Versuche gegeben, die dem Nolaner angedichtete Rolle als
einem ,,Verkünder einer spekulativen Weltsicht"
7
zu falsifizieren, so beispielsweise
1
Peter Solterdijk in: Samsonow (1995, 1999), S. 9
2
Samsonow (1995, 1999), S. 36ff.
3
Wehr (1999), S. 137ff.
4
Kirchhoff (1980, 2000), S. 11
5
Diesen Namen gab sich der aus Nola Stammende voll Stolz auf seine ,,vulkanische" Herkunft
selbst.
6
Draaisma (1995, 1999), S. 51
7
Kirchhoff (1980, 2000), S. 11

VII
durch Elisabeth von Samsonow. Doch auch sie verweist auf den ,,Vorwurf
magischer Geheimniskrämerei gegenüber den symbolischen Arbeiten Brunos"
8
.
1.2
Methodischer Ansatz.
Auch wenn dieser Vorwurf wohl kaum prinzipiell entkräftet werden kann (Bruno
selbst war es nie um allgemeine Verständlichkeit zu tun
9
): Gerade der
Theaterwissenschaft kommt die Möglichkeit zu, seine Gedanken den Schatten
geheimwissenschaftlicher Ver/klärung zu entreißen und wieder ins rechte Licht
10
zu rücken. Sie kann dies nicht zuletzt in Bezugnahme auf ein besonderes Werk des
Philosophen, den 1582 veröffentlichten Candelaio (Kerzenmacher). Ihren
besonderen Stellenwert verdient diese Arbeit schon aufgrund der Tatsache, dass
Philosophen selten auch Komödienschreiber sind. Hinzu kommt, dass das Stück
im gleichen Jahr erschien wie zwei der bedeutenden mnemotechnischen Schriften
Brunos: die Schatten und die Ars memoriae. Damit gehört es nicht nur zu den
ältesten erhaltenen Werken des Nolaners
11
: Man ist auch versucht, bei Bruno
Gedächtniskunst und Theaterkunst in Analogie zu setzen. Ob dieses Vorgehen
legitim ist, soll auf den nächsten Seiten geklärt werden.
Freilich kann eine solche Klärung nur durch behutsame Annäherung an den
Gegenstand erfolgen. Hieraus ergibt sich eine klare Struktur der Arbeit: Von drei
unterschiedlichen Punkten aus ­ die wesentliche Positionen von Brunos Denken
markieren und also auch auf einem repräsentativen Querschnitt seiner
philosophischen Schriften fußen ­ soll das Thema zunächst gleichsam
eingekreist
12
werden. In einem ersten Schritt wird es darum gehen, die
Sonderstellung von Brunos Gedächtniskunst innerhalb der langen und reichen
Tradition von Gedächtnistheatern, speziell im Zeitalter der Renaissance
herauszuarbeiten, indem die eigenwillige Struktur der Monas anhand dreier
Interpretationsansätze ,,durchgespielt" wird. Erinnerung, so wird dabei zu zeigen
sein, ist für Bruno ein komplexes System der Vermittlung durch Bilder, auf deren
Grundlage das Gedächtnis gleichsam inszeniert wird.
Der These, dass Bruno ,,nichts mehr interessiert zu haben" scheint ,,als der
Moment oder der Punkt, in oder an dem die Welt ins Bewußtsein oder das
8
Samsonow in: Bruno (1591, 1991), S. IL
9
Vgl. hierzu Bruno (1584, 1999 b), S. 435 und Wehr (1999), S. 49ff.
10
Zum besonderen Verhältnis von Licht und Schatten bei Bruno vgl. Abschnitt 3.2.
11
Seine Jugendschrift De segni die tempi muss als verloren gelten.

VIII
Bewußtsein in die Welt übergeht"
13
, wird insbesondere der Abschnitt über den
,,Krieg der Kräfte" Rechnung tragen. Eher noch als von einem Moment oder Punkt
kann man bei Bruno von einem Augen/blick der Erkenntnis sprechen, einem
plötzlichen Umschlagen von Täuschung in Ent/täuschung. Der Mensch wird durch
die Liebe ­ für Elisabeth von Samsonow kommt ihr in der Philosophie des
Nolaners die ,,bedeutendste Rolle unter den Affekten zu"
14
­ verwandelt.
Der dritte Schwerpunkt fokussiert den Blick auf eine wiederkehrende Vorstellung
Brunos: Der menschliche Körper wird als Kerker empfunden, in dem wir ,,durch
allerkleinste Löcher normalerweise ein paar Arten von Wesen betrachten können,
wie es andersherum möglich ist, den ganzen Horizont der natürlichen Formen klar
und offen zu sehen, wenn wir uns außerhalb des Gefängnisses befinden."
15
Die
Möglichkeit einer solchen Verschmelzung sieht Bruno in seiner auf dem
Pythagorismus fußenden Idee der Seelenwanderung, welche er in der
Vertreibung und der Kabbala entwickelt, verbunden mit der utopischen Vorstellung
einer umfassenden Neuordnung des Wissens, welche letztlich ,,die ethische
Dimension deutlich [macht], die Bruno der Naturerkenntnis zuschreibt, denn sie
dient letztendlich dazu, besseren Glauben hervorzubringen."
16
Sein Hang zur
Systematisierung des Wissens, der sich im Rahmen dieser Untersuchung
offenbart, wird in einem anschließenden Exkurs mit der SN abgeglichen werden.
(Sprach-)Bilder, dies wird sich zunehmend bestätigen, spielen eine maßgebliche
Rolle in der Philosophie des Nolaners. Der zweite Teil der Arbeit wird daher dem
wesenhaften Zusammenhang von Metaphern und Kognition nachgehen und einige
der wichtigsten von Bruno verwendeten Metaphern im Prozess ihrer historischen
Entwicklung abhandeln. Auf die Bedeutung von Metaphern in der
Wissenschaftssprache hat Gert Mattenklott hingewiesen
17
, und auch Sigrid Weigel
spricht vom ,,kreativen Einsatz von Metaphern in der Sprache der Wissenschaft"
18
.
Zeigen sich in den Bildern Brunos möglicherweise Interferenzen zwischen
Wissenschaft und Kunst, die ,,sich auch als Katalysator eines kreativen
Denkstils"
19
erweisen?
12
Zur Bedeutung der Kreisbewegung vgl. Abschnitt 2.1.
13
Samsonow (1995, 1999), S. 13
14
Ebd., S. 26
15
Bruno (1585, 2000), S. 52
16
Kai Neubauer in: Bruno (1585, 2000), S. 82
17
Mattenklott (2003)
18
Weigel (2003), S. 234
19
Schramm (2003), S. 15

IX
Erst nachdem diese Vorarbeit geleistet ist, darf sich der Blick auf den
Kerzenmacher richten. Dabei verdient zunächst die eigenwillige Struktur des
Stückes besondere Aufmerksamkeit. Bruno wendet sich in seinem Werk vor allem
gegen drei negative Tendenzen seiner Zeit: die triebgesteuerte Liebe, Geldgier und
Gewinnsucht sowie die Pedanterie der Scholasten. Ihnen und ihren Vertretern in
der Komödie ­ Bonifacio, Bartolomeo und Mamfurio ­ wird jeweils ein eigener
Abschnitt gewidmet. (Da sich um diese Figuren die maßgeblichen
Handlungsstränge spinnen, kann auf eine eingehende Inhaltsangabe verzichtet
werden.) In diesem Zusammenhang wird zu zeigen sein, dass Bruno keineswegs
die Liebe an sich ablehnt, sondern eben nur deren Entartung. Eine besondere
Bedeutung kommt außerdem dem Spiel mit Masken bzw. Verkleidungen zu. Hierin
scheint ein probates Mittel gegen die Unsicherheiten und Widrigkeiten des
Zeitalters zu liegen.
Dass Bruno sich zur Unterstützung der eigenen philosophischen Theorien gern bei
Naturwissenschaften und Künsten bediente, wird von der Forschung kaum
ernsthaft bestritten.
20
So schreibt Ferdinand Fellmann in seinem Kommentar zu
den Leidenschaften: ,,Die Gesetze des Kosmos interessieren ihn nur insoweit, wie
sie ihm gestatten, das Selbstbewußtsein des Menschen im Verhältnis zur Welt neu
zu definieren."
21
Doch seine Behandlung anderer Wissensgebiete geht über eine
bloße Aneignung brauchbarer Elemente weit hinaus. Vielmehr integriert er sie in
ein interdisziplinär operierendes Denkvermögen, mit dessen Hilfe sich das
Weltwissen entfalten lässt. Ganz gleich, wie dieses Vermögen sich im Einzelfall
letztlich ausgestaltet, seine Struktur ist ein zutiefst theatrales System der
Vermittlung. Ob sich im Kerzenmacher der Prototyp einer solchen Komödie des
Wissens findet, wird abschließend zu klären bleiben.
Gegenstände wie diese bringen es wahrscheinlich mit sich, dass man um so
stärker darauf gestoßen wird, auch den eigenen Erkenntnisprozess zu reflektieren.
Denn oft reifen durch das Lesen und Weiterdenken griffige, gebündelte Sentenzen
heran, die, einmal aufgeschrieben, zwar ,,gut klingen", beim näheren Hinsehen
jedoch merkwürdig inhaltsleer erscheinen, da ihnen der gesamte substantielle
Unterbau fehlt. Hieraus resultiert die womöglich spannendste Tätigkeit, zugleich
die größte Schwierigkeit wissenschaftlichen Arbeitens: Von den Ideen auf ihre
20
Vgl. u. a. Kirchhoff (1980, 2000), S. 60 sowie Martin Mulsow in: Bruno (1591, 1991), S. 197.
21
Fellmann in: Bruno (1585, 1989), S. VII

X
Quelle zu schließen, den Argumentationsgang vom Ende her aufzurollen, kurz, den
Erinnerungsspuren zu folgen, um sich damit der eigenen Gedanken, für sich
selbst und für andere, rückzuversichern. Daher finden sich an entsprechenden
Stellen der Arbeit, gleichsam an ,,neuralgischen Punkten", kurze Einschübe, die
diesem Prozess der Selbstreflexion Rechnung tragen, ihn begleiten sollen ­ um
letztlich vielleicht sogar eine Ahnung davon zu erhalten, ,,woher eigentlich unsere
entscheidenden ,Einfälle' kommen", und zwar ,,in dem Sinne, daß etwas Fremdes
ins ,Haus' unseres Denkens hereinbricht"
22
­ bzw. ,,in die Räume unseres
Denkens ,einfällt'"
23
.
1.3
Begriffsklärung.
1.3.1 Theater der Erinnerung.
24
Das oben beschriebene System der Vermittlung arbeitet auch der Antwort auf die
Frage zu, was der Begriff eines Theaters der Erinnerung in Bezug auf Brunos
Philosophie meint: Das Erinnerte wird gleichsam auf die Bühne des Wissens
gestellt und mit anderen Standpunkten konfrontiert. In diesem Prozess ständigen
Entgegenstellens und Abgleichens erhält sich das Gedächtnis lebhaft. Bewegung
und Ver/wandlung
25
­ oft ist man gar versucht, von einem Tanz zu sprechen
26
­
ebenso wie die Integration von Wissen unterschiedlichster Färbung und Herkunft
in einen gemeinsamen Kosmos sind wesentlichen Prinzipien der Philosophie
Brunos.
27
Letztere hat sicherlich etwas mit dem besonderen Punkt des Übergangs
zu tun, welchen Bruno markiert. Hans Blumenberg sieht ihn als eine Gestalt der
,,Epochenschwelle", der zwar einige Forschungsergebnisse der neuzeitlichen
Naturwissenschaft vorweggenommen, insofern also das Mittelalter partiell
überwunden habe, zu den eigentlichen ,,Grundformeln der Neuzeit" jedoch nicht
vorgestoßen sei.
28
Er stehe damit gleichsam zwischen beiden Epochen.
29
Nun
haftet solchen Momenten des Übergangs gleichzeitig immer auch die Tendenz
des Verschwindens an, was sie, eingedenk ihres transitorischen Charakters, in
die unmittelbare Nähe von Theater rückt.
22
Schramm (1996), S. IX
23
Schramm (2003), S. 9f
24
Vgl. Schramm (1996), S. IX. Matussek (2001a) liefert eine komprimierte Darstellung des Begriffs.
25
Vgl. hierzu v. a. Abschnitt 2.2 und 4.5.
26
Vgl. Abschnitt 2.1.
27
Das erkennt, bei aller ,,Geheimniskrämerei" um Brunos ars memoriae, auch Douwe Draaisma
[vgl. Draaisma (1995, 1999), S. 51].
28
Kirchhoff (1980, 2000), S. 10
29
Ebd.

XI
Brunos Scheiterhaufen, so ist man versucht zu sagen, ist die Fackel, welche dem
Zeitalter der Renaissance den Weg in die Frühe Neuzeit leuchtet. Tatsächlich
betrachtete der Nolaner sich selbst ,,als eine Art Lichtbringer am Ende einer langen
Epoche der geistigen Dunkelheit, gleichsam auf einem Wellenkamm der
Geschichte, wo der dialektische Umschlag vom Dunkel ins Helle erfolgt."
30
Im
Aschermittwochsmahl schreibt Bruno, er habe
,,den menschlichen Geist und die Erkenntnis befreit, die in dem engen Kerker
der irdischen Lufthülle eingeschlossen waren und aus dem sie nur wie
durch schmale Schlitze die entferntesten Sterne erblicken konnten. [...] Da
kam der Nolaner und hat die Lufthülle hinter sich gelassen, ist in den Himmel
eingedrungen, hat die Sterne durchmessen, die Grenzen der Welt
überschritten und die erdichteten Mauern der [...] Sphären zerstört [...]. Er
hat die bedeckte und verschleierte Natur entblößt, den Maulwürfen Augen
verliehen und die Blinden erleuchtet, die nicht imstande waren, mit ihren
Augen das Bild der Natur in den vielen Spiegeln zu schauen, die sich ihnen
von allen Seiten entgegenstellten."
31
Dieses Zitat birgt in sich schon viele Elemente, die im Rahmen dieser
Untersuchung noch von erheblicher Bedeutung sein werden. Da ist zunächst
einmal die opulente, bilderreiche Sprache, welche stellenweise den ,,vulkanisch
anmutenden Charakter"
32
des Nolaners durchscheinen lässt. Da findet sich
weiterhin sein prinzipieller Argwohn gegenüber den vielfältigen Praktiken der
Täuschung. Für Bruno nämlich muss ,,jede Erscheinung der kosmischen Umwelt
zunächst einmal in ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit in Frage gestellt und auf ihren
möglichen Täuschungscharakter hin untersucht werden."
33
Geradezu paradox
mutet es an, wenn sich dann im selben Atemzug sein eigenes, lustvolles Spiel der
doppelten Maskierung und der Selbstzitate offenbart: Immerhin spricht er, im
Rahmen eines fiktionalen Dialoges und durch den Mund eines ebenso fiktionalen
Gesprächsteilnehmers, von sich selbst in der dritten Person. Nicht zuletzt taucht im
obigen Zitat die für das Verständnis seiner Kosmologie so wichtige Spiegel-
Metapher auf.
1.3.2 Spiegel.
Tatsächlich ist das Bild des Spiegels bei Bruno derart vielschichtig und
mehrdeutig, dass ihm noch ein eigener Abschnitt zuteil werden wird.
34
Vorerst
mögen diese Erläuterungen genügen: In seiner Schrift Lampas triginta statuarum
30
Ebd., S. 80
31
Ebd., S. 90f
32
Wehr (1999), S. 7
33
Kirchhoff (1980, 2000), S. 14

XII
(Die Fackel der 30 Statuen) entwirft Bruno das Modell eines großen Spiegels, in
welchem man die Sonne betrachten könne und fährt fort: ,,Wenn es nun aber
geschieht, dass jener Spiegel zerschlagen wird und in unzählige Teile zersplittert,
so repräsentiert doch jeder Teil das Ganze, und wir sehen in jedem Splitter das
ganze, ungeteilte Bild der Sonne."
35
Da die vorliegende Untersuchung davon
ausgeht, dass sich auch im Kerzenmacher des Nolaners ein entsprechender
Widerschein seiner Philosophie findet, kommt in ihrem Titel ebenfalls die
Spiegelmetapher zur Anwendung.
1.4
Zur Wahl der Übersetzungen.
Der im Abschnitt 1.2 verheißene repräsentative Querschnitt der philosophischen
Schriften Brunos basiert fast zwangsläufig auf der Priorität einer möglichst
aktuellen, zeitbezogenen Übersetzung. Nicht nur Elisabeth von Samsonow beklagt
noch 1999 die ,,mangelnde Textlage" wenn sie schreibt, es sei ,,nur eine einzige
der lateinischen Schriften bisher ins Deutsche übersetzt" worden.
36
Und selbst die
italienische Nationalausgabe, ,,in mehreren Sequenzen und über längere Zeit
hinweg geplant und 1891 vollendet", sei, ,,[i]n dem Nachdruck von Fromann-Holz-
boog, Stuttgart 1962, [...] bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Textgrundlage der
Erforschung des lateinischen Bruno geblieben, da die neue historisch-kritische
Nationalausgabe, herausgegeben von Rita Sturlese und Giovanni Acquilecchia in
Florenz, erst einen Band" umfasse.
37
Die einzig deutsche Gesamtausgabe,
herausgegeben in den Jahren 1904 bis 1909 von Ludwig Kuhlenbeck in Leipzig,
sei mit Vorsicht zu genießen, weil ,,dessen Interesse an Bruno eine abwegige
Mischung aus elitärer rassistischer Überspanntheit und Unendlichkeitskitsch"
darstelle.
38
Die Entscheidung fiel daher vor allem auf drei im Felix Meiner Verlag verlegte
Übersetzungen ­ Von den heroischen Leidenschaften (1989), Über die Monas, die
Zahl und die Figur (1991) sowie Die Kabbala des Pegasus (2000) ­, außerdem
Philipp Rippels 1986 im Verlag Philipp Reclam Jun. herausgegebene Übertragung
Über die Ursache, das Prinzip und das Eine und das in der Reihe ,,Philosophie
jetzt!" erschienene Bruno-Lesebuch von Elisabeth von Samsonow.
34
Vgl. v. a. Abschnitt 3.4.
35
Kirchhoff (1980, 2000), S. 71
36
Samsonow (1995, 1999), S. 55
37
Ebd., S. 46
38
Ebd.

1
2.
Struktur des Bewusstseins.
2.1
Tanz der Götter: Über die Monas, die Zahl und die Figur.
Die Eins bist du, der du einer bist und nicht zwei, eins ist dein Dingsda, und
eins ist mein Dingsda, eine ist deine Nase und eins dein Herz, woran du
siehst, wie viele wichtige Dinge nur einmal da sind. Und zwei sind deine
Augen, die Ohren, die Nasenlöcher, meine Brüste und deine Eier, die
Beine, die Arme und die Pobacken. Die Drei ist magischer als alles andere,
weil unsere Körper sie nicht kennt, wir haben nichts, was dreimal vorkommt,
und deswegen muß die Drei eine höchst geheimnisvolle Zahl sein, die wir
Gott zuschreiben, egal wo wir leben. Aber wenn du's genau bedenkst, ich
hab nur ein Dingsda und du hast nur einen Dingens [...], und wenn wir
unsere beiden Dinger zusammentun, kommt ein neues Dingelchen raus,
und wir sind drei. Was meinst du, muß da erst ein Universitätsprofessor
kommen, um zu entdecken, daß alle Pole ternäre Strukturen haben,
Trinitäten oder solche Sachen?
1
[Umberto Eco, ,,Das Foucaultsche Pendel"]
In der Einleitung wurde behauptet, Bewegung und Verwandlung seien bedeutende
Aspekte der Philosophie Brunos. Oft sei man gar versucht, von einem Tanz zu
sprechen. Nun ist es an der Zeit, hierfür den Beweis zu führen. Tatsächlich schreibt
Elisabeth von Samsonow in ihrer Einleitung zur Monas, die hierin vorkommenden
lateinisch abgefassten Poeme seien ,,Konstruktionsgedichte", die zu
Beschreibungen eigenartiger Tänze von Nymphen, Grazien, Musen, von Apoll,
Bacchus und Diana"
2
würden. Um was für Tänze handelt es sich, und wie sind sie
choreographiert? Bevor wir zu einer eingehenden Diskussion der Schrift schreiten,
empfiehlt es sich, zunächst einen genauen Blick auf eines dieser
Konstruktionsgedichte zu werfen:
,,Eine dritte heilige Figur wird für Juno geformt, mit vier Hauptpunkten, in
denen zwei Durchmesser einen Kreis bezeichnen sollten, so daß auf der
einen Geraden Apoll den Bacchus, auf der anderen die jungfräuliche Diana
die reizenden Grazien berührt. Wenn der eine Grenzpunkt auf diesen beiden
Achsen den jeweils anderen umfließt, und zwar so, daß jeder jeden
umkreist, dann tauchen auf direktem Wege vier Punkte auf, die auf noch
unverbundene Weise gegeben sind [...]: die vier Punkte heißen Fortuna,
Erigone, blonder Ganymed und Hermes. Wenn Apoll die Grazien umkreist,
bleibt er in Bacchus stehen, und die heilige Diana und die Grazien berühren
Bacchus, Bacchus aber berührt die heilige Diana und läuft bis zum Ursprung
des Apoll hin. Dann soll Apoll durch das Herumfließen der Diana umfangen
werden."
3
1
Die merkwürdige Begleiterscheinung wissenschaftlichen Arbeitens, früher oder später überall
Verweise auf den eigenen Gegenstand zu finden (besser: die Umwelt auf den eigenen
Gegenstand zu reduzieren), schlägt sich in der vorliegenden Untersuchung in Zitaten wie dem
obigen nieder ­ aus Büchern, deren Lektüre ursprünglich als ,,Entspannung" gedacht war. Der
Zwang zur Bildung von Analogien, der einen vom Ort der Augen aus ­ gleichsam auf der Bühne
des Gedächtnistheaters Giulio Camillos stehend ­ operieren lässt, trägt unbestreitbar Züge von
Paranoia. Dafür liefert der Handlungsverlauf des oben zitierten Buches den besten Beweis.
Zufall?
2
Samsonow in: Bruno (1591, 1991), S. XXIX
3
Bruno (1591, 1991), S. 59

2
Bedeutung tragen diese merkwürdig anmutenden Bewegungsanweisungen auf
mehreren Ebenen, und es scheint ratsam, sie im Folgenden der Reihe nach
abzuhandeln. Zunächst geht es um die Konstruktion von Polygonen und
komplexeren geometrischen Figuren. Gleichwohl handelt es sich bei der Monas
nicht bloß um eine Variation oder gar Kopie der euklidischen Geometrie. Schon in
De triplici minimo hatte Bruno die Möglichkeiten erforscht, ,,that numbers and
Euclidean geometry can act as the mnemonics required to reveal the nature of
finite bodies composed of atomic minimums in a universe of infinite space."
4
In der
Monas nun versucht er sich an einer ganz spezifischen Beweisführung: Nur mit
Hilfe des Kreises, aus der Perfektion dieser Figur heraus, will er die Vielecke ­
angefangen beim Zwei- bis hin zum Zehneck ­ konstruieren. Der Kreis nämlich ist
die Monas, für Bruno die ,,Substanz der Figuren", welche die übrigen Figuren
hervorbringe und sie, sobald sie hervorgebracht seien, begründe.
5
Um dieses
Konzept praktisch umzusetzen, bedient sich Bruno eines ganz besonderen
Werkzeugs...
2.1.1 Die Monas, gelesen als Versuch über die euklidische Geometrie
Während seines zweiten Aufenthaltes in Paris in den Jahren 1585 bis '86 lernt
Bruno den Ingenieur und Erfinder Fabrizio Mordente kennen, vor allem aber
dessen Entwicklung, eine Vorstufe des Proportionalzirkels, jenes Instrumentes
also, ,,das um 1600 von mehreren Gelehrten gleichzeitig beschrieben wird, u. a.
von Galilei", und die ,,neue operative Qualität graphischer Flächen unmittelbar
einsichtig"
6
macht. Dieses Gerät ,,besitzt auf seinen Schenkeln Funktionsleitern,
über die sich nach dem Proportionalitätsprinzip bestimmte Streckeneinteilungen
vornehmen lassen. Auf diese Weise lassen sich auch geometrische Figuren und
Polygone zeichnen"
7
. Bruno wirbt für diese Erfindung in drei Schriften, beklagt sich
darin jedoch auch darüber, dass sich Mordente ihres wirklichen Wertes nicht
bewusst sei. Bereits 1924 weist Leonardo Olschki ,,auf die Wichtigkeit von
Mordentes geometria concreta für Brunos spätere Philosophie" hin, ,,hält auch den
Einfluß des Mordenteschen Zirkels auf die Konstruktionen von De monade für
4
Gatti (1999, 2002), S. 171
5
Bruno (1591, 1991), S. 16
6
Schäffner (2003), S. 99
7
Martin Mulsow in: Bruno (1591, 1991), S. 207f

3
erwiesen" und schreibt, in allen Fällen gehe klar hervor, dass die Polygone mit
dem Zirkel gezeichnet seien.
8
Ebenso aber erkennt Olschki ,,grobe Annäherungen" in manchen Konstruktionen
Brunos, welche schon aus der schematisch vereinfachten Zeichnung (z. B. des
Achtecks, zu sehen in Abb. 1) wahrnehmbar seien.
9
Es sind jene Ungenauigkeiten,
welche der Geometrie Brunos schnell den Ruf einbringen, nicht nur umständlicher
als die euklidische, sondern zudem falsch zu sein. Dabei entgeht den Kritikern ein
interessanter Umkehrschluss: Bruno war es gar nicht primär um eine
geometrische Abhandlung zu tun. Und ,,die Ungenauigkeit erfolgt nicht wegen der
Anwendung eines Reduktionszirkels" ­ wie es Olschki behauptete ­, ,,sondern
wegen der Anwendung des von Bruno erdachten und philosophisch
wohlmotivierten Konstruktionsverfahrens."
10
So paradox es klingen mag: Gerade
seine Fehler verweisen auf den wahren Gehalt der Schrift, gerade das ,,Scheitern"
offenbart ihre wahre Intention. Es fehlt den Bruno-Forschern oft lediglich ,,an
Bereitschaft, sich bei der Bemessung von ,Wissenschaftlichkeit' auf Brunos
philosophische Intentionen und Prämissen einzulassen."
11
Denn da sind immer noch die Namen, mit welchen Bruno seine geometrischen
Konstruktionen belegt ­ das Siegel des Ozeans, der Schild der Magie, das Haus
der Ehe und des Werkes, um nur einige zu nennen ­, und die mythologischen
Figuren, ihre anmutigen Tänze. Letztere versammelt Bruno zu Beginn der Monas in
einem ,,Tempel oder Bezirk, wo [sie] einen wunderbaren Reigen ohne Unterlaß auf
festliche Weise vollführen."
12
Und, so ist man versucht zu ergänzen, aus dem sie
heraustreten, um den Punkten der Figuren ihre Namen zu geben. Denn natürlich
lassen sich die Konstruktionsgedichte Brunos ungleich prosaischer lesen: So
stehen Fortuna, Erigone, blonder Ganymed und Hermes aus dem obigen Zitat für
die Punkte F, E, G und H, die Ecken eines Quadrates.
Hier zeigt sich die Analogie zur Erfindung Mordentes: Denn in gleichem Maße, wie
die Götter und mythologischen Figuren in- und umeinander fließen, gleichen auch
die Bewegungen eines Zirkels auf Papier einem Tanz. Womöglich ist damit der
Proportionalzirkel für Bruno tatsächlich geeignet zur wahrnehmbaren Umsetzung
8
Ebd., S. 204
9
Ebd.
10
Ebd.
11
Ebd., S. 182
12
Bruno (1591, 1991), S. 27

4
dessen, was er Ingenium nennt.
13
Denn der Kreis ist die Perfektion, der Zirkel das
Werkzeug, welches sie zustande bringt ­ und damit gleichsam
vergegenständlichtes freies Denken. Dies wird um so evidenter, wenn Bruno an
verschiedenen Stellen, so Michele Ciliberto, auf die Hand des Menschen ,,als das
eigentliche Instrument seiner besonderen Würde" verweist, das es dem Menschen
erlaube, sich vor den Tieren zu verteidigen, die Zivilisation zu errichten, eben
Mensch zu werden. Sie sei für sich allein betrachtet das ,,Instrument" unserer
Zivilisation.
14
Tatsächlich hat die Hirnforschung den Nachweis erbracht, dass ,,[i]n
der Fissura interhemisphaerica [...] die Hand mit den einzelnen Fingern
überproportional groß repräsentiert" ist und so ,,die biologische Bedeutung beim
Menschen"
15
demonstriert ­ ein Tatbestand, der ihn von allen anderen Tieren,
einschließlich der Primaten, unterscheidet. Abb. 2 zeigt ein ,,Schema des Gyrus
precentalis im Transversalschnitt mit der Somapotopie des primären motorischen
Cortex (motorischer Homunculus nach Penfield und Rasmussen). Man beachte
die übergroße Repräsentation von Hand und unterer Gesichtshälfte mit dem
Mund"
16
. So lässt sich nur allzu leicht die Antwort auf Brunos Frage erahnen,
,,was wäre, wenn man annähme, daß der Mensch über doppelt so viel
Verstand verfügte, wie er hat, und der intellectus agens noch viel heller in
ihm leuchtete, als er es tut, und daß mit all diesem seine Hände sich in Form
der zwei Füße umbildeten, wenn alles andere gleich bliebe, sag mir, wo die
Konversation der Menschen ungestraft vonstatten gehen könnte, sich
Familien und Zusammenschlüsse derselben bilden, und wie sie [...] dauern
könnten, ohne daß sie von unzählbaren Arten von Tieren gefressen
würden und so größerem und sichererem Untergang geweiht wären? Und
wo wären folglich die Institutionen der Lehre, die Erfindung von Disziplinen,
die Zusammenschlüsse von Bürgern, die Komplexe von Gebäuden und
vielerlei anderer Dinge, die die Größe und Exzellenz des Menschen
ausmachen und den Menschen wirklich zum unbesiegbaren Herrscher über
die anderen Arten machen? All dies geht, wenn du es aufmerksam
betrachtest, nicht so sehr auf den Intellekt zurück als auf die Hand, das
Organ der Organe."
17
In der Monas heißt es ungleich prägnanter, dem Menschen habe das beste
Schicksal für seine Aufgaben seine Hände zugestanden. Es sei also nicht einfach
die Methode der Natur, wenn er im Durchlaufen einer unendlichen Zahl prädefinite
Naturen und Figuren ergreife, durch die alles konstituiert und figuriert werde.
18
13
Vgl. ebd., S. 159.
14
Ciliberto in: Bruno (1585, 2000), S. XVI
15
Zilles; Rehkämper (1993, 1994), S. 304
16
Ebd., S. 305
17
Bruno (1585, 2000), S. 42f
18
Bruno (1591, 1991), S. 12

5
Martin Mulsow führt in seinem Kommentar aus, Bruno habe die Monas in einer Art
von ,,anthropologischer Beschränkung" geschrieben: Er beende die Zahlenfolge
mit der Zehn, der Anzahl der menschlichen Finger.
19
Es würde daher kaum
19
Mulsow in: Bruno (1591, 1991), S. 260
Diese Koinzidenz ist auch Elisabeth von Samsonow nicht verborgen geblieben: ,,Der Mensch wird
definiert als das eine Hand habende Tier, durch die sich erst seine spezifische Organisation
höherer Komplexität (Zehnfingrigkeit und zehn Kategorien, Kap. XI ,De monade numero et figura')
ergibt. Bruno ist nicht allein mit seinem Konzept der Erstrangigkeit der einen Stift führenden Hand;
es beginnt sich in der Spätrenaissance als Opposition gegen die Partei der das Augen
optionierenden Denker auf breiter Basis zu etablieren. Die Hand-Option favorisiert den Typus des
tätigen Ingenieurs, der die Welt liebt und sie für sich umbaut, und setzt sich damit vom
kontemplierenden optischen Typ ab, der als reiner Liebhaber eher einen Weltverächter darstellt."
[Samsonow (1995, 1999), S. 21] Diese Ansicht jedoch ist mit Vorsicht zu genießen. Immerhin wird
von Teilen der Bruno-Forschung der gegenteilige Standpunkt vertreten, so von Ferdinand
Fellmann: ,,Die Transformation der Sinnlichkeit ist bei Bruno mit der Aufwertung der Sinne
verbunden. Insbesondere gegenüber dem kosmologischen Rationalismus, der die
Kopernikanische Wende als Sieg der Vernunft über den Augenschein feiert, hält Bruno strikt am
Primat des Sehens fest. [...] Das Sehen gilt Bruno als der eigentlich menschliche Sinn, durch den
der endliche Geist an der Fülle des Seins teilnehmen kann. [...] Die Unendlichkeit des Kosmos ist
[...] eine Funktion des Sehens, das direkt in die fernsten Fernen reicht, für das es keine fremden
Welten gibt. Das Auge holt alles in den Empfindungsraum des Menschen." [Fellmann in: Bruno
(1585, 1989), S. XXIIf] Dann aber versucht sich der Autor doch an einer Kopplung beider Sinne:
,,Das Sehen bleibt eine Form des direkten Kontaktes, die der Konkretheit des Tastens
nahekommt." [Ebd., S. XXII]
Hierin liegt tatsächlich die Möglichkeit eines Kompromisses: Für das Gedächtnis, die Aneignung
des Weltwissens, ist das Be/greifen, der Tastsinn also, entscheidend. Zuständig für die
Wahr/nehmung, für den Moment, ,,in oder an dem die Welt ins Bewußtsein oder das Bewußtsein in
die Welt übergeht" [Samsonow (1995, 1999), S. 13], ist das Erkennen und somit der Sehsinn. Die
Tendenz, Seh- und Tastsinn in Verbindung miteinander zu bringen, hat indes eine lange
Tradition, welche Peter Matussek in seinem Artikel Der selbstbezügliche Blick ergründet hat
[Matussek (1999), S. 14] Der Übergang vom äußerlichen Blick in ein inneres Betrachten und
Fühlen ­ das große Thema der Spätaufklärung ­ spiegele sich präzise in den Bearbeitungen des
Pygmalion-Stoffs durch Rameau und Rousseau. Das Sehen mit dem Gefühl sei als er-innerndes
Sehen konzipiert ­ ein Betrachten, das so wenig im bloßen Blick aufgehe, wie das Spüren im
kruden Anfassen. Schon im ersten Entwurf zur Plastik hätte Herder diese reflexive
Rezeptionshaltung im Hinblick auf die pygmalionische Schöpfung formuliert. So sei es für Herder
nicht bloß Phantasie, nicht bloß Täuschung, wenn er von dem sich regenden, unter der Hand
belebten Marmor spreche, sondern es seien Erfahrungen [ebd.,
S.
15]. Bei aller Akzentverlagerung
zum Tastsinn werde Lebendigkeit auch hier von einer selbstreflexiven Qualität des Werks
abhängig gemacht, das erinnernde Sehen von der Selbstbezüglichkeit des Gesehenen. Dieser
Linie folge auch Goethe, den die physiologisch orientierte Rezeptionshaltung mit Herder verbinde,
die er aber gleichzeitig mit Lessings Theorie vom fruchtbaren Augenblick kombiniere. Es gehe ihm
nicht einfach um die Vermittlung der Erkenntnis, dass der Ausdruck der Verlebendigung durchs
blitzartige Innehalten zustande komme, sondern um deren selbstreflexive Erfahrung. Wer die
Skulptur betrachte, wie Goethe es vorschlage, spüre unweigerlich, wie die eigene Blickrichtung
sich umkehrt: Vom Blick auf die Skulptur zum Blick nach innen [ebd., S. 16] Der selbstbezügliche,
augenblickhafte, ergreifende Charakter von Erkenntnis wird uns in den Leidenschaften Brunos
wiederbegegnen (vgl. Abschnitt 2.2).
Bis dahin jedoch gilt es den Begriff des Sehens einstweilen sorgsam und in gleichem Maße zu
differenzieren, wie der Nolaner selbst es tut: ,,Jede Liebe geht vom Sehen aus: Die geistige Liebe
vom geistigen Sehen und die sinnliche Liebe vom sinnlichen Sehen. Nun hat ,Sehen' zwei
Bedeutungen, denn entweder meint es das Vermögen, zu sehen, also die Sehkraft, nämlich
Intellekt bzw. Gefühl, oder es meint die Betätigung dieses Vermögens, also die tatsächliche
Anwendung des Auges oder des Intellekts gegenüber einem materiellen oder geistigen Objekt."
[Bruno (1585, 1989), S. 72f] Möglicherweise rührt die Diskrepanz zwischen den einander
widerstreitenden Auffassungen allein aus dem Umstand, dass diesem wichtigen Detail nicht oder
doch zumindest nicht in erforderlichem Maße Rechnung getragen wurde. Denn die Zuschreibung,
welche Ferdiand Fellmann in obigem Zitat vornimmt, funktionieren in erster Linie für die Form des
geistigen Sehens, verbleibt doch das sinnliche Sehen stets auch in der sinnlichen Welt und ist
somit den Gefahren von Täuschung und Verblendung ausgesetzt, wie Bruno es am Beispiel der
neun Blinden recht deutlich vor Augen führt [vgl. ebd., S. 182ff.]. Wie bei Descartes ­ der im

6
verwundern, dass der ,,Epilog des Maßes", welchen Bruno seiner Schrift
hintanstellt, mit einer Reminiszenz an die Chiromantie beginne.
20
Dort schreibt
Bruno:
,,Sie trachtet danach, das Maß des Lebens so verschiedenartig wie möglich
zu erkennen zu geben, die in der Hand in Zeichen ausgebreitete göttliche
Linie. Die Teile dieser Linie, die von oben nach unten verläuft, nämlich vom
Jupiterberg aus, und um den Venusberg von oben mit Schwung herum,
nimmt man auch für die eine Seite des Marsdreiecks. Kaum von ungefähr
stellen diese Teile das mit einem sicheren Urteil und sicheren Gesetzen
verbundene Prinzip der Meßkunst dar."
21
In der in Abb. 3 zu sehenden Hand-Zeichnung aus dem 1583 erschienenen Opus
Mathematicum Johannes Taisniers sind deutlich Marsdreieck und Lebenslinie zu
erkennen. Fast hat es den Anschein, als seien wichtige geometrische Werkzeuge
­ das Lot durch die Lebenslinie, Bogenmaß und Winkel durch das Marsdreieck ­
der Hand gleichsam eingeschrieben. Die geometrisch betriebene Chiromantie
,,verkehrt" Bruno in der Monas zu einer chiromantisch betriebenen Geometrie.
Erkenntnis wird damit ein überaus sinnliches, taktiles Erlebnis, verlaufend in
einem Dreischritt: von der Hand durchs Auge ins Gehirn. Das Ergreifen des Zirkels
wird zu einem Akt des Begreifens.
22
Mehr als das: Die Arbeit an den geometrischen
Formen affiziert die sinnliche Imagination, bildet damit den Übergang von memoria
zu imaginatio, vom langsamen, kumulativen Prozess der Wissensaneignung hin
zur Fähigkeit, sich mithilfe von Intuition und Vorstellungskraft über das zu erheben,
was vorher gedacht wurde.
23
Wenn nicht im Tanz, wo sonst findet diese Fähigkeit
ihre bildhafte Entsprechung? Der Ingenium-Begriff des Nolaners schlägt damit die
Brücke zum eigentlichen Anliegen der Monas.
2.1.2 Die Monas, gelesen als Entwurf eines Gedächtnisses.
Übrigen auch nur bei Sophokles ,,abgeschrieben" hat ­ wird hier ,,der stocktastende Blinde zu
Metapher und Modell für eine intelligible Erklärung des Wahrnehmens" [Krämer (2003), S. 51].
Und wie bei Descartes bzw. Platon ist ,,das Auge, um das es [...] geht, [...] als ein geistiges Auge
konzipiert; es ist das körperlose Auge des Denkens. [...] Es gilt also, ein richtiges von einem
falschen Sehen, eine epistemisch nobilisierte Visualität von einer bloß sinnlichen und damit
degradierenden Visualität zu unterscheiden." [Ebd.]
20
Mulsow in: Bruno (1591, 1991), S. 263
21
Bruno (1591, 1991), S. 154
22
Leibniz ähnlich misst Bruno ,,dem Augensinn eine besondere Bedeutung in der Lehre und
Erfassung des Wissens" [Bredekamp (2003), S. 174] bei: ,,Da Sehen nur eine Sonderform des
Greifens ist, vermögen sich Bilder weitaus stärker und unmittelbarer als Buchstaben ins Gemüt zu
senken." [Ebd., S. 173]
23
Bruno unterscheidet vier Erkenntnisstufen: den Sinn, die Vorstellungskraft, den Verstand und
den Intellekt. Yates räumt der Vorstellungskraft einen Vorrang ein [Yates 1966, 1990), S. 235].

7
Die Entscheidung, Brunos Mnemotechnik ausgerechnet mittels dieser Schrift
erklären zu wollen, mag verwundern ­ gäbe es doch andere, die sich hierfür schon
dem Namen nach ganz augenscheinlich viel eher anböten. Diese Verwunderung
ist wohl dem Umstand geschuldet, dass, ,,[a]lthough all serious critics of Bruno's
philosophy have dedicated time and attention to his art of memory and to its place
in the development of his thought as a whole, they have not often related it to his
mathematics."
24
Hilary Gatti sieht darin einen Fehler, ,,because the art of memory
and mathematics appear to vie throughout Bruno's work as the most appropriate
logical tools with which to investigate the newly defined universe."
25
In der Monas
nun verschmelzen die beiden ,,rivalisierenden Gegner", Mathematik und
Mnemotechnik, zu einer harmonischen Einheit, und tatsächlich findet sich gerade
darum hier der klare, unverfälschte Entwurf von Brunos Kunst der Erinnerung ­ und
zwar sowohl nach Inhalt als auch nach Struktur und Stil.
i. Ein universeller Abzählvers: der Inhalt.
Die Monas lässt sich inhaltlich kaum auf geometrische Konstruktionsanleitungen
reduzieren. Im Gegenteil ist es ein kaum fassbares, vielschichtiges,
vielgesichtiges Universum des Wissens, das der Autor gewaltsam zwischen
Deckel und Rücken eines Buches presst. Dabei findet sich oftmals schier
Unvereinbares nebeneinander: Mythologie, religiöse Bezüge, Wissenschaft und
Magie, Philosophie und Hermetismus, alles wird gebündelt und ins Gewand einer
metaphernreichen Poesie gekleidet. Dies ist nun zwar dem Selbstverständnis der
Übergangsphase zwischen Renaissance und Früher Neuzeit
26
ebenso verpflichtet
wie dem Anspruch Brunos, das Wissen der Welt möglichst umfassend abzubilden.
Doch gerade ob dieser Vorgaben balancieren alle zeitgenössischen Versuche der
Systematisierung per se ständig nahe am Systemabsturz.
27
Bruno begegnet
24
Gatti (1999, 2002), S. 173
25
Ebd.
26
Dazu Gerhard Wehr: ,,Wissenschaftliche wie philosophische Bildung und die Pflege traditioneller
vorwissenschaftlicher Anschauungen wie Astrologie, Alchimie, Magie und ähnliches schienen in
diesen Zeiten des Übergangs und der Wandlung des allgemeinen Bewußtseins bis zu einem
gewissen Grad miteinander vereinbar zu sein". [Wehr (1999), S. 9]
27
Und dies um so mehr angesichts der kopernikanischen Wende. Im Jahre 1561 veröffentlichte
Alessandro Citolini in Venedig eine Arbeit mit dem Titel Tipocosmia, ,,which contains some lively
satire of attempts such as Camillo's to collect knowledge of everything in a space of one memory
,theatre.' Citolini underlines with considerable effect the fundamental problem of works of memory
of this kind, particularly now that the new universe had become so large." [Gatti (1999, 2002), S.
181] Man kann sich unschwer vorstellen, wie sehr diese Erkenntnis auch und gerade den
Kopernikaner Bruno, der Citolini kannte und ihn im Aschermittwochsmahl erwähnt, getroffen hat.
Zumindest muss sie ihn zur Erkenntnis gebracht haben, dass es angesichts eines sich derart

8
dieser Gefahr mit einer ebenso einfachen wie ­ angesichts des zu bewältigenden
Stoffes ­ absurd erscheinenden Maßnahme: Er reduziert die strukturellen
Vorgaben auf ein Mindestmaß, benutzt lediglich den Zahlenraum von eins bis zehn
und ordnet allen Zahlen jeweils noch drei Ordnungen zu ­ ,,he stresses the
necessitiy of compression"
28
, nennt Gatti in anderem Zusammenhang sein
Vorgehen. Das Ergebnis dieser Verdichtung ist nur noch sehr bedingt
29
jenen
,,schreckliche[n] Komplexitäten"
30
früherer Entwürfe vergleichbar, welche sich den ­
wie zu zeigen sein wird nicht uneingeschränkt gerechtfertigten ­ Vorwurf der
Überfrachtung einhandelten.
31
Je geringer die Zahl der Figuren, desto größer muss folgerichtig der Vorrat an
Erinnerung werden, welchen sie zu versiegeln gezwungen sind. So sensibel, ja
geradezu anfällig das Modell dadurch auch wirken mag, läuft es trotzdem zu
keinem Zeitpunkt Gefahr, ,,gesprengt" zu werden. Dafür sorgt ein Verfahren,
welches einleitend als komplexes System der Vermittlung bezeichnet wurde.
Bruno nämlich bearbeitet nicht das Wissen, sondern lässt vielmehr das Wissen für
sich arbeiten. Bevor geklärt wird, was genau damit gemeint ist, empfiehlt es sich
zunächst, den Blick genauer auf eine der zehn Zahlen bzw. Polygone zu richten.
Wenn an dieser Stelle die Entscheidung für das Viereck bzw. das Siegel des
Ozeans fällt, dann gleichwohl nicht beliebig, sondern mit gutem Grund, denn: ,,Sehr
viele sind die Geheimnisse der Vierheit"
32
.
Sammeln wir zunächst einige der Analogien zwischen Vierheit und Viereck:
Ersteres begründet die Körperlichkeit, letzteres ist ,,der Typus der Gerechtigkeit und
die eigentümliche Figur der Häuser."
33
Die Vier ist außerdem die Zahl der
Jahreszeiten und des ,,alles wiederherstellenden Kreislaufs"
34
in der Natur, auch
der Lebenskreislauf hängt ,,deutlich von vier Ordnungen ab"
35
. Bruno erwähnt die
Samier, ,,die die Vierheit dem Archetyp der Welt beilegen"
36
ebenso wie die
platonische Schule, die ebenfalls vier Welten gekannt habe, ,,als erstes die
entgrenzt habenden Weltbildes auch neuer Gedächtnissysteme bedürfe, die darauf adäquat
antworten könnten.
28
Gatti (1999, 2002), S. 184
29
Es sind zehn Zahlen mit jeweils drei Ordnungen. Das Produkt beider Zahlen ergibt dreißig. Den
mystischen, magisch-kabbalistischen Gehalt dieser Zahl wird Frances A. Yates mit Blick auf
Brunos Schriften nicht müde zu betonen [Yates (1966, 1990), S. 195ff., S. 225ff., S. 269ff.].
30
Ebd., S. 273
31
Vgl. Abschnitt 2.1.3.
32
Bruno (1591, 1991), S. 60
33
Ebd.
34
Ebd., S. 61
35
Ebd., S. 61

9
Göttliche. Die zweite nennt Platon die archetypische. Die dritte, die etwas formt,
wird die seelische genannt, die vierte die körperliche."
37
Im Kapitel über Die
kabbalistische Stadt heißt es, der Prophet habe die Welt unter dem Gesetz der
Vierheit beschrieben, für das ein Haus von vier Seiten stehe und ein Tempel, der
sich in vier Ecken erhebe.
38
Den Kabbalisten, den Magiern und Chaldäern, so führt Bruno zu Beginn der ersten
Ordnung der Stufen der Vierheit aus, sei die Vier als eine der Gottheit
angemessene Zahl erschienen, die der Natur der Dinge vorstehe.
39
Auch vergisst
er nicht den Hinweis, alle Haupt-, Ursprungs- und primitiven Sprachen würden Gott
mit einem Namen aus vier Buchstaben bezeichnen: So heißt er ,,THOT für die
Ägypter, ORSI für die Magier, SIRE für die Perser, TEOS für die Griechen, DEUS für
die Lateiner, [...] GOTT für die Germanen, DIEU für die Franzosen, DIOS für die
Spanier, IDIO für die Italiener."
40
Bruno schließt das fünfte Kapitel mit
Betrachtungen über Die Natur der vier Elemente in der intellektualen, der geistigen
und der leitenden Welt und bringt dort die Ansichten der arabischen Astrologen mit
denjenigen der Alchimisten, die Geographie und Magie mit der Mythologie und
Nekromantie zusammen.
41
Es wäre müßig, sich in weiteren Einzelheiten zu ergehen. Ohnehin sollte schon
jetzt deutlich geworden sein, welch Unmenge an Bezügen Bruno zusammenträgt
und welch weite Wege er dabei manchmal scheinbar mühelos ­ gleichsam im
Flug oder doch zumindest ,,im Gedankensprung" ­ zurücklegt. Doch es geht
mitnichten darum, naturphilosophische Spielereien zu betreiben oder gar mit einer
enzyklopädischen Bildung zu reüssieren, und ebensowenig soll lediglich die
besondere Bedeutung der Zahlen ­ zu allen Zeiten, in allen Ländern, in allen
Disziplinen ­ herausgestellt werden. Denn im gleichen Maße, wie hier das Wissen
auf den ­ religiösen, philosophischen, wissenschaftlichen, mythologischen ­
Stellenwert der Zahlen rekurriert, rekurriert rückwirkend auch die Zahl auf das
Wissen. Dergestalt wird Brunos Zahlenreihe zu einem universellen Abzählvers.
Damit ist nun jedoch keineswegs der Leser in die Pflicht genommen, die geballte
36
Ebd.
37
Ebd., S. 64
38
Ebd.
39
Ebd., S. 65
40
Ebd., S. 66
41
Ebd., S. 76ff.

10
Erkenntnis des Nolaners anhand seines Leitfadens mühsam und in steter
Wiederholung auswendig zu lernen. Entscheidend ist vielmehr ein anderer Punkt:
,,Durch die natürlichen Figuren unterscheidet die beste Mutter [...] ihre Kräfte
und Eigentümlichkeiten und malt, meißelt und webt die Namen selbst in ihrer
aller Oberfläche ein. Jene Mutter bezeichnet die Bewegungen aller Glieder
und Fasern in diesen Zahlen selbst. In diesen Bildern selbst offenbart die
Natur ihre Vorteil bringenden Gefälligkeiten, also die Privilegien der Natur,
oder deren Gegenteil. Dieselbe Natur senkt die Gesetze, die Modi und den
Wechsel von Tun und Leiden ein in die Charaktere. Jene beste Mutter und
Lehrerin zeigt schließlich in diesem Eindruck der Siegel die Vorherrschaft
und den bewährten Schutz einer über ihr thronenden Gottheit. Für die in
ihrem wahrhaft göttlichen Licht Wandelnden zeigt sich ein nicht von einem
gemeinen Geist angelegter Weg, und es öffnet sich eine Tür, die man
keineswegs aufgrund vieler Indizien [...] entdeckt, die mit ihrem Reichtum
nicht geizen."
42
Das Wissen sucht sich, eingelassen durch die Wahrnehmungsfilter der
,,natürlichen Figuren", selbständig seinen Weg in das Gedächtnis. Ob
Naturgesetze, ob Kreislauf des Daseins mit Stirb und Werde oder die Vielzahl der
Arten und Gattungen: Es lässt sich buchstabieren, benennen. Denn die Zahlen und
Figuren, die ,,Namen" und ,,Siegel" also, sind allgegenwärtig, eingeschrieben in die
Natur. Es bedarf allein eines wachen Geistes, um sie entsprechend lesen bzw.
wahrnehmen zu können, sich einzuprägen ­ und letztlich selbst auszusprechen
und nachzuzeichnen.
43
Doch nur ein bewegtes Gebilde, wie es das von Bruno entwickelte darstellt, kann
adäquat und wenn nötig spontan auf die Bewegtheit eines ununterbrochen sich im
42
Bruno (1591, 1991), S. 13
43
Tatsächlich ist diese Tätigkeit höchst selektiv, wird doch die Umwelt in bestimmte Muster ,,mit
Wiedererkennungswert" zergliedert. Die besondere Bedeutung aktivitätsabhängiger
Selektionsprozesse für die gezielte Stabilisierung zwischen Nervenzellen scheint sich durch die
moderne Hirnforschung zu bestätigen. Mit solchen selektiven Kopplungen, so Wolf Singer ­
Direktor des MPI für Hirnforschung in Frankfurt am Main ­ in seinem Aufsatz Hirnentwicklung oder
die Suche nach Kohärenz, könnten verschiedene Basisoperationen realisiert werden, die zum
Erkennen und Verarbeiten von Mustern unerlässlich seien [Singer (2002), S. 129]. Der Autor
beschreibt diesen Prozess anhand der erfahrungsabhängigen Entwicklung des Gesichtssinnes,
um anschließend darauf zu verweisen, dass dieses Prinzip sich, ,,nach allem, was wir wissen"
[ebd., S. 136], verallgemeinern und auf die gesamte Klasse von Problemen anwenden lasse,
deren Lösung auf dem Zusammenfassen von Kohärentem und der Trennung von Inkohärentem
beruhe: ,,Dies wiederum ist das Grundpirnzip fast aller Leistungen, so daß vermutet werden darf,
daß Synchronisationsprozesse im Gehirn konstituierend für einen Großteil seiner Funktionen sind."
[Ebd., S. 136ff.] Die Gesetzmäßigkeiten, nach denen die Phänomene der Welt segmentiert und
zu kognitiven Strukturen rekombiniert würden, seien durch die Architektur der entsprechenden
zentralnervösen Verarbeitungszentren vorgegeben. Diese Architekturen würden sich ihrerseits
wiederum während der Hirnentwicklung im Rahmen der genetisch fixierten Erwartungswerte an die
,,realen" Gegebenheiten der Welt anpassen: ,,Die im ausgereiften Gehirn realisierten Architekturen
resultieren somit aus einem zirkulären Prozeß von Wechselwirkungen zwischen genetisch
gespeichertem Vorwissen über Gesetzmäßigkeiten der Welt und ontogenetischen
Prägungsprozessen, die diese Erwartungen nach Bedarf modifizieren." [Ebd., S. 138]

11
Wachstum befindlichen Wissens reagieren: Weil die Wahrnehmung ständig aufs
Neue affiziert wird, entgrenzt sich auch fortwährend der Gedächtnisraum. Ein
starres System würde dem nicht standhalten und früher oder später zwangsläufig
kollabieren, besser: von innen her ,,gesprengt" werden. Die Figuren der Monas
bilden gleichsam die Membran, nach innen durchlässig, um dem Gedächtnis neue
Erkenntnis zuführen zu können, durchlässig nach außen, um einen fortwährenden
Austausch und Diskurs zu gewährleisten, weitestgehend stabil aber gegen
jegliche Form des Vergessen, da sich das Gedächtnis nur im steten Prozess des
Erinnerns wirklich lebhaft erhält.
Wie gesagt: weitestgehend stabil. Dass indes Vergessen auch dem Brunoschen
Gedächtnisentwurf nicht vollkommen fremd ist, dafür liefert Martin Mulsow in
seinem Kommentar zur Monas einen kleinen, aber entscheidenden Hinweis: Die
topischen Möglichkeiten, welche der Lullismus eröffne, kämen einer gewissen
Neigung Brunos zur Kompilation entgegen. Er nehme gern eine Vielzahl von Texten
und Motiven auf, um sie zu verschmelzen und umzuarbeiten. Vom Londoner
Aufenthalt Brunos werde überliefert, dass er eine Vorlesung habe abbrechen
müssen, weil ihm nachgewiesen worden sei, dass er ­ ohne den Autor zu nennen
­ aus Ficino kompiliere.
44
Wenn die Arbeitsweise von Autoren darin bestehe,
andere Autoren als Material zu benutzen, sei das für sich noch kein Manko. Es
komme darauf an, wie sie mit den Vorlagen umgehen würden.
45
Ein gutes
Beispiel, um seinen Umgang mit einer Vorlage zu studieren, sei die Verwendung
von Cecco von Ascolis Kommentar zur Sphaera des Sacrobosco im fünften und
elften Kapitel der Monas.
46
Besonders interessant sei der Vergleich zwischen Brunos Text und seiner Vorlage
im Fall der kryptischen Äußerung über den Schatten.
47
Zunächst zitiert Martin
Mulsow die entsprechende Passage bei Bruno: ,,Wie die Erde erdig ist, ist die Erde
auch feucht; wenn du den ganzen Schatten haben würdest, würde er dich nicht wie
ein Schatten täuschen."
48
Diesen Satz könne man überhaupt erst verstehen, wenn
man den ursprünglichen Text bei Cecco kenne, doch von all seinen zusätzlichen
Erklärungen stehe bei Bruno kein Wort: ,,Hat er den Satz bewußt dunkel lassen
44
Vgl. Ulbrich; Wolfram (1991), S. 154ff., Yates (1938/39, 1989), S. 8.
45
Es ist nicht ohne besonderen Witz, dass ich mich gerade, die Worte Martin Mulsows in indirekter
Rede wiedergebend, gleichfalls an einer Kompilation seiner Gedanken versuche. Ich hoffe sehr,
er würde meinen Umgang mit seiner Vorlage wohlwollend aufnehmen...
46
Mulsow in: Bruno (1591, 1991), S. 191f
47
Ebd., S. 192

12
wollen? Es fällt auf, dass Bruno den Orakelspruch Florons
49
nicht richtig
wiedergibt; im Kontext von Ceccos Darstellung macht Brunos Satz keinen Sinn,
denn Bruno unterschlägt den Gegensatz von Erde und Mond. Aber es ist auch
einfach möglich, daß Bruno die Anekdote um Floron aus der Erinnerung
niederschreibt und deshalb nicht genau wiedergibt."
50
Ist das vorstellbar? Ein Mann, der ob seiner Gedächtniskunst schon in jungen
Jahren eine Audienz bei Papst Pius V. erhielt, der, Martin Mulsow selbst hat es uns
eben beschrieben, Marsilio Ficino wortwörtlich in öffentlichen Vorlesungen rezitierte
­ derart vergesslich? Wahrscheinlicher ist die These, dass diese Passage der
Monas Ausdruck dessen sein sollte, was sie beschreibt: Aus den Schatten treten
Erinnerungen in unser Bewusstsein, deren Großteil dabei oftmals verborgen
bleibt
51
: Wenn man den ganzen Schatten, also vollständige Erinnerung haben
würde, dann wäre das Moment der Täuschung überwunden, dem uns unser
Gedächtnis, dieser hinterhältige Regisseur, fortwährend aussetzt. Es ist aber
allemal ein reizvoller Gedanke, dass Bruno ­ bewusst oder unabsichtlich ­ ins
Abbild seines Gedächtnisses das Vergessen mit einbaute.
ii. memoria e ingegno, Erinnern und Weiterdenken: die Struktur.
Wie gesagt strebt der Nolaner nach einem Verfahren, welches ihm erlaubt, alle
Polygone aus dem Kreis heraus zu ent/wickeln. Die Monas steht dabei ,,für alle
Konzepte, in denen, ob philosophischer oder historisch bzw. literarisch
überlieferter Weise, ein einfaches Prinzip begriffen wird, wie Raum, Materie,
Vernunft, Seele."
52
Bruno bietet der Kreis die ideale Entsprechung für diesen
Prozess, denn er sei, so der Nolaner, selbst gleichsam ein Ganzes, Teil und Punkt,
er umfasse und zeige als Grenze schlechthin Anfang, Mitte und Ende, und keine
Grenze schließe ihn selbst ein, weil Anfang und Ende überall verbunden seien.
Dasjenige aber, welches niemals dulde, dass ihm noch etwas hinzugefügt werde,
pflege man ,,ein Vollständiges, Ganzes und Vollkommenes zu nennen."
53
48
Bruno (1591, 1991), S. 152f
49
,,Da hat er [Floron] gesprochen: wie die Erde das Erdige ist, so ist die Idee alles Feuchten der
Mond. Wenn Du den ganzen Schatten hättest, würde er dich nicht täuschen wie ein Schatten."
[Mulsow in: Bruno (1591, 1991), S. 193]
50
Ebd., S. 193
51
Vgl. Abschnitt 3.2.
52
Samsonow in: Bruno (1591, 1991), S. XIX
53
Bruno (1591, 1991), S. 17

13
Genau wie der Kreis lassen sich auch alle nachfolgenden Figuren als Bilder für
Denkvorgänge interpretieren. So die Figur der Zweiheit: Das Erfassen eines
Konzeptes in seiner Ganzheit, nicht am Ende, sondern am Anfang des
Denkprozesses stehend, aktiviert ganz zwangsläufig die Tätigkeit des Intellekts
und damit den Hang zum Zweifel, zum Einwand, zum Hinterfragen. Nicht umsonst
sieht Bruno in der Monas auch die Mutter des Widerspruchs: Wie die Monas die
ganze Essenz der Dinge sei, die die Zahlen konstituiere, ,,wenn sie wieder und
wieder genommen wird", so konstituiere sie auch Gleiches und Ungleiches, Vieles
und Weniges, Größeres und Kleineres.
54
Gleichwohl ist die Zweiheit
Grundbedingung jeglichen Fortschritts, bietet sie doch prinzipiell die Möglichkeit zur
Vereinigung
55
und impliziert damit immer schon ein Drittes: den Konsens.
Folglich ist die Figur der Dreiheit ,,Einheit in Prozessualität und deshalb die allen
geistigen und kreativen Akten konforme Figur."
56
In einem nächsten Schritt erhält
das Denken gleichsam seine Richtung und Substanz, denn das Viereck, das
Siegel des Ozeans
57
, steht für die vier Himmelsrichtungen und Elemente
gleichermaßen. Dergestalt zu einer Vorstellung, zu einer Idee gereift, kann es nun
tatkräftig gestaltet werden: In der Fünfheit wird der Grad des Be/greifens ­ und
zwar im wortwörtlichen Sinne
58
­ erreicht. Durch diesen Akt formt sich ein konkreter
Gegenstand der Anschauung: Aus der ,,Figur der Hand", dem Quinar, wird
diejenige des Handwerks ­ Bruno nennt sie denn auch das Haus der Ehe und des
Werkes.
59
Die diskursive Tätigkeit des Intellekts hat zu einem Ende gefunden,
versinnbildlicht im Siebeneck, dem Haus der Ruhe
60
­ nur, um auf der nächsten
Stufe umgehend wieder affiziert zu werden, denn: ,,Die Achtzahl ist die Zahl der
Wiederholung, des Neubeginns, des Ortes, der Regeneration und der
Erneuerung."
61
Fortlaufend diesem Erkenntnisprozess unterworfen, hat er sich in der Fünfzahl
verkörpert
62
und auf der Stufe der Acht ­ dem ersten Produkt einer Dreierpotenz ­
seiner räumlichen Verortung vergewissert: Doch dem Wissen um das eigene Da-
54
Ebd., S. 30
55
Ebd., S. 37
56
Samsonow in: Bruno (1591, 1991), S. XIX
57
Bruno (1591, 1991), S. 56
58
Vgl. Abschnitt 2.1.1.
59
Bruno (1591, 1991), S. 103
60
Ebd., S. 116
,,Die vollkommene Zahl der sieben Tage vollendet den Zustand der Schöpfung", heißt es dazu in
der Monas [ebd., S. 128].
61
Ebd.

14
Sein und In-der-Welt-Sein folgt letztendlich die Neunheit als ,,Zahl der Erkenntnis
des Intelligiblen und der Weisheit"
63
­ das Selbstbewusstsein, welches den
Mensch, vermöge seines ,,geübten und erfahrenen Geistes"
64
, nun mit beiden
Händen Die Welt
65
greifen und (um)gestaltet lässt. Zahl und Zahlenreihe, so fasst
es Elisabeth von Samsonow zusammen, nähmen für Brunos Suche nach den
Grundstrukturen der Diskursivität den Rang des elementaren Erzeugungsmusters
einer Serie ein, innerhalb derer vielfältigste Bezüglichkeiten möglich seien. Zählen
sei die einfachste und dabei vollkommen adäquate Methode der
Selbstvergegenwärtigung des sich im diskursiven Aktvollzug Befindlichen. Im
Zählakt deute sich der Zählende die formale Struktur des Vergehens und lese die
Zahlenreihe als Leitfaden der memoria, der ihn mit dem Ursprung verbinde und zu
ihm wieder zurückführe.
66
Die schönste Zusammenfassung indes liefert der
Nolaner selbst, allerdings in einer anderen Schrift, der Kunst der Erinnerung, wenn
er schreibt,
,,Nun sind wir der Auffassung, daß sich die Kunst unter den Schatten der
Ideen befindet, da diese entweder die träge Natur, ihr vorausgehend,
anregt, oder die vom Weg abgekommene und entgleiste leitet und sicher
führt, oder die mangelhafte und schwächliche stärkt und aufrichtet, oder die
abirrende korrigiert, oder der vollkommenen nachfolgt und die betriebsame
nachahmt. [...] Die Kunst, auf diese Weise die Dinge zu verfolgen, ist von
ihrer Gattung her eine diskursive Architektur und gewissermaßen der
Habitus der denkenden Seele."
67
Es ist diese ,,diskursive Architektur", welche Brunos Versuch über die euklidische
Geometrie, sein universeller Abzählvers, inhaltlich thematisiert und strukturell
nachahmt. Ihrem Wesen und ihrem Namen nach ist sie ein wechselseitiges
Phänomen: In gleichem Maße, wie sie das Gedächtnis mit neuer Erkenntnis
anreichert, wird mit jedem Nachvollziehen der geometrischen Linien ­ und also: in
jedem Nachvollzug der Erinnerungsspuren ­ umgekehrt stets das bereits
Erinnerte affiziert und abgeglichen. Auf diese Weise wird Erinnerung von einem
bloß rückversichernden zu einem Prozess des Weiterdenkens
68
: ,,Denn die
62
Vgl. Samsonow in: Bruno (1591, 1991), S. XXII.
63
Bruno (1591, 1991), S. 136
64
Samsonow in: Bruno (1591, 1991), S. XXIV
65
Diesen Namen gibt Giordano Bruno dem Zehneck.
66
Samsonow in: Bruno (1591, 1991), S. XVIf
67
Bruno (1582, 1999 a), S. 239
68
Zu diesem ­ aus Erinnerung gewonnenen ­ Moment der Kreativität passt eine
Arbeitshypothese der gegenwärtigen Hirnforschung: Es gebe, so Wolf Singer in seinem Ausatz
Vom Gehirn zum Bewußtsein, Hinweise, dass die in der Evolution später hinzugetretenen

15
Phantasie ist nichts anderes als ein Wiederhervorspringen von Erinnerungen, und
die Erfindungskraft nichts als eine Tätigkeit an den Dingen, deren man sich
entsinnt"
69
, wird Vico mehr als hundertdreißig Jahre später in seiner SN schreiben.
Welchem Gebäude indes seinem Wesen nach Züge einer solchen Bauweise
aneignen, legt Bruno in einem Gedicht nahe, welches er den Schatten voranstellt:
,,Hoch oben wurden angebracht / Chio, Diana gegenüber. / Die eine / scheint
denen, / die in den Tempel eintreten, traurig. / Wenn sie hinausgehen, erscheint
ihnen / fröhlich (die andere)."
70
Zwangsläufig denkt man an das weitverbreitete
Dualitätssymbol von Harlekin und Pierrot ­ die zwei Theatermasken, eine lachend,
weinend die andere. Unvermittelt taucht hier eine kathartische Ahnung auf, tritt der
Besucher doch scheinbar ,,gereinigt" aus dem Tempel. In den Leidenschaften wird
dieser Moment der Reinigung konstitutiv für das Prinzip von Erkenntnis
überhaupt.
71
Der Geist: die Bühne des Wissens. Der Tempel der Erinnerung: ein
Theater. Der Torbogen, der Eingang zu diesem Tempel: ,,der Buchstabe des
Pythagoras"
72
, ­ die Wissenschaft.
Mithin wird keine der Varianten, welche Horst Bredekamp für den Begriff Theatrum
entwickelt, dem Besonderen am Gedächtnisentwurf des Nolaners vollends
gerecht: Weder lässt Brunos Theater primär ,,an Bauten für Aufführungen denken",
noch sollte es ,,auf die gesamte Welt als Bühne angewendet werden, auf der die
Menschen als Schauspieler agieren, während der Himmel zusieht"
73
. Es ist auch
nicht ausschließlich ,,auf die Natur als einem von Gott gestalteten Ereignis, das die
Menschen in Bewunderung betrachten, gemünzt"
74
. Am ehesten noch könnte man
Brunos Gedächtnistraktate selbst als Theatrum bezeichnen, wurde dieser Begriff
Hirnrindenareale ihre Eingangssignale nicht mehr direkt von den Sinnesorganen bezögen,
sondern von den bereits vorhandenen stammesgeschichtlich älteren Arealen, die ihrerseits mit
den Sinnesorganen verbunden seien. Die neuen Areale würden scheinbar die Signale, die sie
von den alten, von primären Arealen bekämen, auf die gleiche Weise verarbeiten wie letztere die
Signale der Sinnesorgane: ,,So ließen sich im Prinzip durch Iteration der immer gleichen
Repräsentationsprozesse Metarepräsentationen aufbauen ­
Repräsentationen von
Repräsentationen ­, die hirninterne Prozesse abbilden anstatt die Welt draußen." [Singer (2002),
S. 70] Solche Metarepräsentationen aufbauen zu können bringe Vorteile: ,,Gehirne, die dies
vermögen, können [...] mit den Inhalten der Metarepräsentationen spielen und prüfen, was die
Konsequenzen bestimmter Reaktionen wären. [...] Letztlich kann in dieser Fähigkeit zum
kombinatorischen Spiel mit gespeicherten Inhalten, zur Erzeugung neuer praediktiver Modelle, die
Grundlage für Kreativität gesehen werden [kursiv: J. B.]." [Ebd., S. 70f]
69
Vico (1725/1744, 1924), S. 291
70
Bruno (1582, 1999), S. 229
71
Vgl. Abschnitt 2.2.
72
Bruno (1582, 1999), S. 229
73
Bredekamp (2003), S. 169
74
Ebd.

16
doch auch ,,auf alle Arten von Büchern" bezogen, ,,die einen Gegenstandsbereich in
umfassendem Sinn darlegten und daher vor Augen stellten."
75
Nicht einmal Leibniz' Begriff von Theater ,,als Kategorie für alle Institutionen, die
einen haptischen und visuellen Begriff des Forschens als Einheit von Sammeln,
Erkenntnis, Vermittlung und Neugierde verkörperten"
76
, fängt ­ obwohl selbst ,,auf
das Prinzip der lebendigen Präsentation"
77
bezogen ­ Brunos ars memoriae in
allen Facetten ein. Dessen Gedächtnisentwurf nämlich lebt im Kern, weit stärker
noch als alle ihm vorausgegangenen Modelle, von seiner substantiellen
Verwandtschaft zum Theater, von einem (magischen) Verhältnis der
Repräsentation, das den Menschen in direkten Kontakt zur Natur bringt, seinen
Geist in einen fortwährenden Dialog mit dem Wissen seiner Zeit versetzt: ,,The
most essential thing, in Bruno's outlook, was to find the living ,voices', signs,
images, seals, to heal the rift in the means of communication with divine nature
introduced by pedantry, and when these living means of communication were
found [...] to unify through them the universe as reflected in the psyche and thereby
obtain the Magus' powers and to live [...] in magical communion with nature."
78
iii. Abschweifen im Überschwang: der Stil.
Wer ist nun aber der Zählende, im diskursiven Akt sich Befindliche, von dem
Elisabeth von Samsonow spricht? Wir begegnen ihm schon beim Lesen der
Schrift auf Schritt und Tritt: Es ist Bruno selbst. Dieser Verdacht wird genährt durch
ein Hilfsmittel, dessen er sich bedient: seine Sprache. Nicht nur ist sie
gekennzeichnet durch eine schon bacchantisch zu nennende Üppigkeit, die sein
umfassendes Wissen in einer ungeheuren Freigiebigkeit veräußert, sondern
zudem durchzogen von merkwürdigen Abschweifungen, Assoziationsketten zumal,
die oft schier ins Endlose zu laufen scheinen. Wiederholt muss sich der
Sprechende selbst wieder zur Ordnung rufen.
So verliert er sich in seinen Überlegungen zur ,,Natur der vier Elemene am
Himmel"
79
in einem Vergleich der hierüber bestehenden Ansichten, angefangen
bei den ,,Theologen und Kirchenvätern"
80
bis hin zu Aristoteles, nur um schließlich
75
Ebd.
76
Ebd., S. 169f
77
Ebd., S. 170
78
Yates (1964, 1991), S. 270
79
Bruno (1591, 1991), S. 74
80
Ebd.

17
recht unvermittelt zu verkünden: ,,Aber genug davon."
81
Seinen Exkurs über die
Formen der Medizin beendet er ähnlich brüsk: ,,Zum Thema zurück."
82
Es ist ganz
so, als habe er sich unwissentlich von seinen eigenen Überlegungen mitreißen
lassen, sein eigentliches Vorhaben darüber völlig aus den Augen verloren. Andere
Male unterbricht er sich mitten in einem Gedanken, wohl wissend, dass, um ihn
vollends zu entwickeln, der Intellekt, das geistige Sehen also, sich ganz ihm
zuwenden müsste: ,,Aber von diesen Dingen werden wir vielleicht anderswo etwas
bestimmtes aussagen, nachdem uns ihr Licht reichlicher geleuchtet hat."
83
Oder,
ungleich prägnanter: ,,Wir werden es sehen [kursiv: J. B.]."
84
Der Autor, so ist man versucht zu sagen, lässt uns sprechend, schreibend,
teilhaben an seinem Denkprozess. Sprechen und Zählen nämlich sind bei Bruno
eng aneinander geknüpft. Solcherart wird die Geometrie ,,zu einer ,universellen
Sprache', zu einer ,visuellen Syntax', die homogenisiert, was überhaupt im Bild zur
Erscheinung kommen kann. [...] Die perzeptive Phänomenalität wird zu einem
mathematisierbaren Produkt."
85
Im Unterschied zur linearperspektivischen
Konstruktion jedoch bleibt der Bezug auf ,,die Bedeutung des Dargestellten"
86
erhalten. Das erste Wort und die erste Zahl, so schreibt Elisabeth von Samsonow,
seien Möglichkeit und Fähigkeit zu sprechen. So wie der Sinn oder die Einheit der
Vernunft in jeder Rede überall ganz sei, so sei auch die erste Eins in allen Zahlen.
Zählen sei ein vernünftiges Benennen von Welt in Verschiedenheit, und Benennen
sei ein Erzählen. Sprechen und Zählen bestünden aus und in dem Diskurs, aus
dem Ausfaltungsprozess selbst. Ihrer Struktur nach seien sie gleich, nämlich aus
einem einfachen ersten Prinzip gleichförmig fortlaufend und durch dieses selbst
überall endlos und vielfältig bezüglich
87
: Die Gleichsetzung von Zahlelementen und
Wortelementen (Buchstaben) habe ihr Vor- und Urbild in der hebräischen Schrift,
deren Buchstaben zugleich Ziffern seien. Diese Identität von Buchstabe und
Zahlenwert sei die Basis der Verfahren kabbalistischer Textauslegekunst und
Zahlenspekulation
88
:
81
Bruno (1591, 1991), S. 75
82
Ebd., S. 97
83
Ebd., S. 82
84
Ebd., S. 96
85
Krämer (2003), S. 57
86
Ebd.
87
Samsonow in: Bruno (1591, 1991), S. XXVf
88
Ebd., S. XXVIf
Zehn ist die Zahl der Schöpfungsfaktoren des Sefirot-Baumes.

18
,,Die zehn Einheiten von ,Über die Monas' sollen eine Art Uralphabet bilden,
ein erstes System der Erzeugung, der Unterscheidung und Ordnung des
Wahrgenommenen und Gehörten, weshalb Bruno ,Über die Monas' im
Untertitel: ,Die Elemente einer sehr geheimen Mathematik und Metaphysik'
nennt. In den Koordinaten eines solchen Uralphabets wird die Welt, über die
schon gesprochen wurde, also die in Sprache erscheinende Welt, als
sinnvoll ausgesprochene rekonstruierbar. Bruno zitiert Textstellen, die mit
Zahlen in Verbindung stehen und ordnet sie der jeweiligen Zahleneinheit zu.
,Alles sinnlich Wahrnehmbare verhält sich nun gleichsam wie eine
vollkommene Rede', schreibt Cusanus."
89
Das Entscheidende ist nun aber, dass Sprache von Bruno nicht bloß inhaltlich,
sondern auch und vor allem in ihrem Vollzug thematisiert wird: Wir werden
Zuschauer des Ingeniums, der ,,Ungebundenheit eines seinen kreativen Impulsen
folgenden Denkens."
90
Die Monas ist also auch ihrem sprachlichen Stil nach das,
was sie beschreibt: die diskursive Tätigkeit des Intellekts.
2.1.3 Die Monas, gelesen als Entwurf eines magischen Gedächtnisses
Kommen wir noch einmal zurück zu den Göttern und mythologischen Figuren. Auf
das generelle Unverständnis, die Kritik an Brunos Geometrie ist bereits
hingewiesen worden. Sicher sei es nicht ganz einfach, so konstatiert Elisabeth von
Samsonow in ihrem Kommentar zur Monas, Brunos Darstellung geometrischer
Figuren in ihren Absichten zu verstehen, weshalb beispielsweise Toccos
entrüstete Bemerkung über das Fehlen einer strengen mathematischen Sprache
verständlich sei. Sie sei aber auch Zeichen der Unfähigkeit, ein Interpretament zu
finden, um die Sprache, die Bruno eben gewählt habe, als sinnvoll und seinem Ziel
entsprechend zu würdigen.
91
Die Verständnisschwierigkeiten nähre Bruno durch
sein Verfahren, die geometrischen Grenz- und Konstruktionspunkte mit den
Namen von Gottheiten, Eigenschaften und Kräften zu bezeichnen. Andererseits: ,,A
B C D ­ warum sollten sie nicht Apoll, Bacchus, Charis und Diana heißen, und so,
wie für mythisch sprechende Menschen, zu bedeutenden Koordinaten, zu
Besonderungen des Gebäudes der Imagination werden?"
92
Doch was ist das
Interpretament für Brunos Konstruktionen, von welchem die Rede ist? Elisabeth
von Samsonow gibt darauf eine deutliche Antwort:
,,Um den prinzipiellen oder elementaren Rang seiner zehn Figuren
herauszustellen, chiffriert Bruno ihre Konstruktionspunkte durch
89
Ebd., S. XXVII
90
Bruno (1591, 1991), S. 159
91
Samsonow in: Bruno (1591, 1991), S. XXIX
92
Ebd., S. XXX

19
archetypische Namen und bestimmt so die geometrische Figur zu einem Ort
der Ursprache, zu einem Ursprung der Poesie, in dem Zahl, Wort und Figur
auf der Ebene der ,magischen' oder wirkmächtigen Prinzipien der
Imagination unzertrennbar verbunden sind."
93
Hier ist die Rede von magischen Prinzipien. Zwar konstatiert Martin Mulsow, Bruno
habe bei allem Interesse für die magischen Wissenschaften sein Augenmerk nicht
in erster Linie auf sie gerichtet.
94
Doch für Francis A. Yates gab es ,,ganz eindeutig
Magie in Brunos Gedächtniskunst"
95
, und diesem Umstand hat sie ihre gesamte
Aufmerksamkeit gewidmet.
96
Für Bruno sei die Magie kein Zweck an sich
gewesen, sondern ein Mittel, um hinter den Erscheinungen zu dem Einen zu
gelangen.
97
Er habe, als Eingeweihter in die lullistische Gedächtniskunst, die
Verwirklichung einer universalen Gedächtnismaschine erhofft.
98
Mit großer Mühe
versucht sie, einen in diese Richtung zielenden Entwurf Brunos aus dessen
Schatten zu rekonstruieren.
99
Und über seine 1591 in Frankfurt ­ also am selben
93
Ebd.
94
Mulsow in: Bruno (1591, 1991), S. 194
95
Yates (1966, 1990), S. 186
96
Vgl. Abschnitt 4.3.
97
Yates (1966, 1990), S. 205
98
Ebd., S. 193
99
Hier sind den verschiedenen Bildern jeweils Buchstabenpaare zugeordnet, und unwillkürlich
fühlt man sich erinnert an die Versuche des siebzehnten Jahrhunderts ­ beispielsweise durch
Leibniz und Dalgarno ­, eine Universalsprache zu kreieren: ,,Man wird bemerken, daß neben den
Bildern der Buchstabe A zusammen mit einem weiteren Vokal steht (Aa, Ae, Ai, Ao, Au), dann
folgt B mit den fünf Vokalen. Auf ähnliche Weise ist die übrige Liste mit den 30 Buchstaben der
Scheibe mit jeweils fünf Vokalunterabschnitten versehen." [Yates (1966, 1990), S. 195] Diesen
Buchstabenpaaren werden, systematisch nach Themenbereichen gebündelt, menschliche
Tätigkeiten und Entwicklungen zugeordnet. Es nimmt kaum Wunder, dass Bruno dabei mit den
Errungenschaften der Agrikultur beginnt, denn schließlich geht es darum, gleichsam das Feld des
Wissens zu bestellen [vgl. Abschnitt 3.4]. Und auch die Künste erhalten ­ nach Magie und
Religion ­ ihre entsprechende Würdigung: Ra ist der Platzhalter für Mirchanes (Wachsfiguren), Re
für Giges (Gemälde), Ri für Marsias (Flöte), Ro für Tubal (Leier), Ru für Amphion (Notenschrift);
einen besonderen Platz erhält Theut (Hermes) als Erfinder der Buchstabenschrift.
Darin lässt sich nicht zuletzt eine Reminiszenz an die Tatsache sehen, dass Bruno die Tätigkeit
des Philosophen mit der des Künstlers vergleicht ­ ist doch, bei aller Unterschiedlichkeit des
verwendeten Materials, die Methode stets dessen Ordnung und Strukturierung zur Erzeugung von
Harmonie: ,,Brunos Mission bestand darin, im Inneren zu malen und zu gestalten, zu lehren, daß
der Künstler, der Dichter und der Philosoph eins sind, denn die Mutter der Musen ist Memoria, das
Gedächtnis." [Yates (1966, 1990), S. 279] Auch Jürgen Teller sieht ­ in den fünf Lehrgedichten,
welche der Ursache vorangestellt sind ­ die ,,gesteigerte Kundgebung eines Geistes, bei
welchem die Grenzen zwischen Philosophie und Poesie verfließen." [Teller (1984), S. 221]
Für den Philosophen und Gedächtniskünstler heißt das, Verfahren zu entwickeln, ,,wie man die
Vielheit der Phänomene im Gedächtnis koordinieren und vereinheitlichen kann, indem man das
Gedächtnis auf die höheren Formen der Ideen gründet" [Yates (1966, 1990), S. 207]. Die in den
Schatten zur Anwendung kommenden Bilder sind, in einem Wort, Metaphern für die
verschiedenen Methoden des Erinnerns: der Abdruck in Wachs [vgl. Abschnitt 3.5], das Bemalen
der ,,kognitiven Leinwand" [vgl. Abschnitt 3.4], die Reizung des auditiven Gedächtnisses. Diese
Methoden werden im Prozess der sich drehenden Scheiben gleichsam durchgespielt. Denn wenn
Memoria die Mutter der Musen gewesen sei, schreibt Frances A. Yates in Gedächtnis und
Erinnern, dann desgleichen auch die Mutter der Methode. Ramismus, Lullismus, Gedächtniskunst
­ all diese ,,wirren, aus allen Gedächtnismethoden zusammengesetzten Konstruktionen", die sich
im späten sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhundert häufen, seien Symptome einer
Suche nach Methode." [Yates (1966, 1990), S. 280] Im Rahmen dieser Suche zeichne den

20
Ort im selben Jahr wie die Monas ­ erschienene Schrift De imaginum, signorum et
idearum compositione heißt es an anderer Stelle, es handele sich ,,um ein
enzyklopädisches Gedächtnissystem [...], in dem alle Inhalte der Welt, alle dem
Menschen bekannten Künste und Wissenschaften auf den Scheiben enthalten
sein sollen".
100
Letztlich kommt sie auf diesem Wege also zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie den
zuvor beschriebenen: Denn Martin Mulsow sieht in der Verwendung der
Polygonfiguren ein ,,lullistisches Interesse", um das Wissensfeld auf Basis einer
Universalsprache zu organisieren
101
, und erkennt Brunos Bemühen um ein
,,Vokabular von Komplexionen [...], das in der Lage ist, die Vielheiten der Welt als
modale Verhältnisse der Einheit darzustellen
102
; Elisabeth von Samsonow hält die
M o n a s für ,,eine Art Uralphabet"
103
, für ,,die Genesis eines universalen
Zeichensystems, einer universalen Grammatik, die die Elemente und das Ganze
Nolaner eine ,,kompromißlose Entschlossenheit" aus, Yates versteigt sich gar zur Behauptung, im
Zwang zur Systembildung, der ein vorherrschendes Merkmal Brunos sei, läge ganz sicher ein
,,pathologisches Element". [Ebd., S. 279f]
Vergleicht man Brunos Schatten mit Leibniz' Atlas Universalis, so treten erstaunliche Parallelen
zutage [vgl. Bredekamp (2003), S. 174ff.]. Horst Bredekamp beschreibt den Universalatlas als ,,ein
Kaleidoskop der Ikonographie, wie es umsichtiger kaum hätte erdacht werden können." [Ebd.,
(2003), S. 175] Doch seine These, der Atlas Universalis könne als erstes ikonographisches
Bildarchiv erachtet werden, das systematisch alle Lebens- und Naturbereiche erfasse [ebd., S.
176], erweist sich in Hinblick auf Brunos Gedächtnistraktat zumindest als fragwürdig.
Um indes zu ergründen, inwieweit den Schatten wirklich ein magischer Kern innewohnt ­ auch
Gerhard Wehr ist der Ansicht, die Gedächtniskunst des Nolaners lasse sich kaum aus dem
hermetischen Zusammenhang herauslösen [Wehr (1999), S. 32] ­, ist es hilfreich, die besonderen
Umstände ihrer Drucklegung zu betrachten: Im Jahre 1581 erreicht Giordano Bruno auf seiner
Irrfahrt quer durch Europa Paris, wo er einige außerordentliche Vorlesungen hält. ,,Durch jene", so
schildert es der Weitgereiste in einem Selbstzeugnis, ,,erwarb ich mir einen solchen Namen, daß
König Heinrich III. mich eines Tages zu sich beschied und mich fragte, ob das Gedächtnis, das ich
besitze und an den Tag lege, natürlich sei oder auf magischer Kunst beruhe. Ich gab ihm
befriedigende Antwort; aus meinen Worten und Werken erkannte er bald, daß es sich nicht um
magische Kunst, sondern um Wissenschaft handelte." [Kuhlenbeck (1909, 1984), S. 143] Nicht
genug damit und wie zum Beweis seiner Rede gibt Bruno besagtes Buch in Druck und widmet es
dem Monarchen. Dies ist nun ebensowenig eine Bestätigung der These Yates' wie eine generelle
Absage des Nolaners an magische Praktiken. Brunos Gedächtniskunst ist dem Anspruch
verpflichtet, das Wissen der Welt möglichst umfassend reproduzieren zu können. So findet auch
die Magie ­ eben als ein Teil des Weltwissens ­ ihren Platz darin. Das allein macht sie aber noch
nicht zum bestimmenden Element. Bruno kann vielmehr seine Mnemotechnik von jedem
beliebigen Punkt aus angehen, er kann sie ,,anverwandeln". Manchmal, wie bei seinem ersten
Pariser Aufenthalt, aus rein ,,ökonomischen" Erwägungen: Heinrich III. stand nachweislich allem,
was nur irgendwie mit Magie zu tun hatte oder zu haben schien, äußerst offen gegenüber. Was
wäre naheliegender gewesen, als sich diese Liebhaberei zunutze zu machen ­ und also die
Schatten mit magischen, hermetischen Bezügen zu spicken? Bruno konnte dies tun, weil er
darauf vertrauen durfte, dass auch sie wieder in dem einen Ursprung zusammenlaufen würden:
der Gedächtniskunst. Mit ihrem Trugschluss indes steht Yates nicht allein. Vielmehr scheint es ein
beliebter Fehler der Interpreten zu sein, die ars memoriae des Nolaners nicht von innen her, aus
ihrem Kern heraus zu entfalten, die Spuren der Erinnerung also nicht von der Quelle, sondern von
ihrer Mündung aus zu verfolgen.
100
Yates (1966, 1990), S. 272
101
Mulsow in: Bruno (1591, 1991), S. 190
102
Ebd., S. 214
103
Samsonow in: Bruno (1591, 1991), S. XXVII

21
aller Dinge benennt, kennt, ordnet und erinnert."
104
Dass solch unterschiedliche
Ansätze zu gleichen Schlussfolgerungen führen, ist nicht weiter erstaunlich,
sondern spricht vielmehr für die These, dass Bruno mit seinem Bemühen Erfolg
hatte, treffen sie sich doch in einem Punkt, dem sie alle ihre Existenz verdanken,
von dem aus sie geordnet und entfaltet werden: der ars memoriae, einer ,,Proto-
Kunst, die vor aller anderen Kunst da sein muß."
105
Magisch ist diese Kunst nicht nur insoweit, als dass sie ein Gedächtnis
ermöglicht, ,,which is unified through being based on images or signs which bring
the psyche into direct contact with reality."
106
Sie bedient sich außerdem und ganz
offensichtlich eines Grundprinzips von Magie, geht es doch ­ in einem Wort ­ um
Beherrschung. Wolfgang Schäffner hat darauf hingewiesen, dass es sich bei der
praktischen Geometrie um graphische Verfahren handele,
,,die für die neuzeitlichen Raumtechnologien von fundamentaler Bedeutung
sind: Die Konstitution der europäischen Staaten und ihrer Machtsphären
geschieht vor allem über die Herausbildung von Navigation, Kartographie
und Kriegstechnologien. Diese Verfahren können als praktisch-
geometrische Reorganisationen von Regierungstechniken gelten, deren
operativer Kern auf der Beherrschung von so unscheinbaren Elementen
wie Punkten, Linien und Winkeln [...] beruht."
107
Die königliche Macht, so der Autor weiter, gründe sich auf einer Sichtbarkeit, deren
unterschiedliche technische Verfahren und Instrumente in der praktischen
Geometrie ihre zentrale Operationsform erhalten würden.
108
Doch während
Schäffner in der Anamorphose u. a. ,,ein magisches und wunderbares Verfahren"
sieht, ,,das eine Welt der Täuschung und der vanitas eröffnet"
109
, offenbart sich
Brunos Magie gerade im praktisch-geometrischen Konstruktionsverfahren und ist
ent/täuschender Natur. Die Beherrschung von Punkten, Linien und Winkeln macht
hier den Menschen letztlich selbst zum Souverän ­ seines Gedächtnisses. Bruns
Ziel ist mithin ,,not astral magic but mental magic: the formal process that
generates words and images in time, one from another, at the origins of that
remarkable process we call thought."
110
104
Ebd., S. XVI
105
Mulsow in: Bruno (1591, 1991), S. 196
106
Yates (1964, 1991), S. 308
107
Schäffner (2003), S. 94
108
Ebd., S. 95
109
Ebd., S. 94
110
Gatti (1999, 2002), S. 200

22
Man muss sich den Prozess der Erinnerung, den Akt der Gedächtnisleistung als
einen durchweg organisch sich entwickelnden vorstellen. Deshalb ist kaum
nachvollziehbar, dass Brunos Gedächtniskunst in der Vergangenheit oftmals der
Vorwurf der ,,Überfrachtung" gemacht worden ist. Peter Matussek sucht die
Ursache hierfür im Wissen der Zeit, welches zu Lebzeiten des Nolaners längst in
einer Weise angewachsen gewesen sei, dass die Ambition einer übersichtlichen
Anordnung zum Scheitern verurteilt gewesen seien, ja jede Zunahme an
Systematisierung die Erfahrung des Chaotischen habe verstärken müssen. Am
deutlichsten werde dieser paradoxe Zusammenhang in den Gedächtnissystemen
des Nolaners
111
: Sie hätten die Magisierung der antiken Memoria intensiviert und
deren Gedächtnisraum durch eine ins Absurde gesteigerte Komplexität
gesprengt.
112
Schon Hegel konstatierte, ,,in diesem Versuch zu ordnen" laufe ,,alles
aufs Unordentlichste durcheinander"
113
. Und Frances A. Yates spricht gar über
,,Brunos schreckliche Komplexitäten"
114
, über die ,,Schrecklichkeiten, mit denen er
diese Künste erläutert"
115
. Tatsächlich aber stemmt sich keines der zahlreichen
Gedächtnissysteme so beharrlich einer Überforderung des menschlichen Geistes
entgegen wie das Brunosche. Hierfür gibt es mehrere Anhaltspunkte:
1. Zwar finden sich in seinen Schriften Tempel und Häuser, auch er bedient sich
diverser loci. Zu keinem Zeitpunkt jedoch erhalten diese den Charakter
,,stehender Gebäude" oder Räume, wie sie die ars memoriae vorsah: Giulio
Camillo konstruierte seinen Gedächtnisraum auf der Grundlage des
vitruvianischen Theaters
116
, Fludd baut sogar (wenn wir Frances A. Yates in
diesem Punkt folgen wollen
117
) eine direkte Kopie des Globe Theaters. Es sind
111
Matussek (2003), S. 7
112
Matussek (2000a), S. 20
113
Matussek (2002), S. 7
114
Yates (1966, 1990), S. 273
115
Ebd., S. 279
116
Vgl. Yates (1966, 1990), S. 123-161; Matussek (2002); Matussek (2000a); Matussek (2001a),
Matussek (2001b); Matussek (2001c). Matussek beschreibt den Entwurf Camillos als Umkehrung
des neoklassischen Theaterbaus. Der Zuschauer blicke in den Zuschauerraum, der ob seines
abgestuften Halbrunds geeignet war, die Gedächtnisbilder übersichtlich unterzubringen. Mit
diesem Kunstgriff habe sich die Effizienz der antiken Memorialarchitekturen bedeutend erhöhen
lassen. [Matussek (2000a), S. 12] Mit der Topographie indes hat sich gleichzeitig auch das
Verhältnis von Zuschauer und ,,Akteur" umgekehrt. Die Rolle des sich im Halbrund Befindenden
gestaltet sich ungleich passiver, denn es sind die Blicke seiner Erinnerungen, denen er
ausgesetzt ist. Der sich Erinnernde schaut nicht nur, er wird angeschaut. Das ,,Publikum" auf den
Rängen ergreift gleichsam Besitz von seinem Gedächtnis ­ somit wird das Erinnern zu einem
Prozess, dem man sich kaum entziehen kann.
117
Ebd., S. 331f

23
wohl eher solche Monumente des Wissens, welche Gefahr laufen, per se die
Kapazitäten des Gedächtnisses zu sprengen. Denn:
2. Bruno müssen die Veränderungen und Diversifikationen durchaus bewusst
gewesen sein, denen das (Welt-)Wissen unterworfen ist, genauso wie die
Tatsache, dass ein statischer Gedächtnispalast nicht adäquat darauf reagieren
kann ­ der Versuch, es zu tun, führt früher oder später zwangsläufig zur
Überlastung. Dem hält Bruno sein System der bildhaften Vermittlung entgegen.
Um noch einmal die bereits zitierte Aussage Elisabeth von Samsonows zu
bemühen: ,,Ihn scheint nichts mehr interessiert zu haben als der Moment oder
der Punkt, in oder an dem die Welt ins Bewußtsein oder das Bewußtsein in die
Welt übergeht."
118
Brunos Bilder fungieren als Filter, besser noch: als
Schnittstellen zwischen innerer und äußerer Welt mit der Fähigkeit, sich dem
Prozess fortlaufender Veränderung anzupassen.
3. Diese kontinuierliche Verwandlung hat Bruno selbst in seinen
Gedächtnisschriften nachgezeichnet, ein Umstand, den Yates
119
und Mulsow
gleichermaßen hervorheben: Letzterer schreibt, im Cantus Circaeus von 1582
stelle Bruno im Rahmen seiner Prüfung der ,,semimathematischen"
Ordnungsschemata für zu memorierende Inhalte die Überlegung an, die
Progression von Vielecken oder regelmäßigen Körpern als solche Schemata zu
nutzen, entscheide sich aber hier noch für die Zahlenprogression als die
einfachere Grundlage. Die Siegel, welche er in dieser Zeit benutze, stünden
deutlich in der Tradition des Lullismus und der ars memoriae. Seit 1586 finde
dann jedoch eine Mathematisierung der Siegel statt. Dies zeige sich deutlich im
Vergleich der Figuren der Triginta sigilla, 1583 entstanden, mit jenen
geometrisch aus Kreisen konstruierten Figuren, die im Anhang der Articuli
adversus Mathematicos abgebildet seien. Nur noch wenige dieser Figuren
seien von emblematischer, nichtgeometrischer Natur.
120
Die Entwicklung läuft also von emblematischen Siegeln, welche noch am ehesten
der ­ bereits in Ad Herrenium angelegten ­ Forderung nach pictura movens
entsprechen, über semi-mathematische Zeichen hin zu geometrischen Figuren.
118
Samsonow (1995, 1999), S. 13
119
Yates (1966, 1990), S. 228

24
Ein gegenläufiger Prozess scheint sich da abzuzeichnen: Je komplexer die zu
erinnernden Inhalte werden, desto einfacher gestaltet Bruno seine Schnittstellen.
Doch auch eine andere Erklärung liegt nahe: Frances A. Yates beschreibt Brunos
Lebensweg als ein mehraktiges Drama der Suche nach dem Siegel der Siegel,
die ihn ,,rastlos jede vorstellbare, ihm bekannte Gedächtnismethode in
Kombination"
121
, ,,fieberhaft ein Gedächtnisschema nach dem anderen"
122
habe
ausprobieren lassen. So lapidar es klingen mag: Vielleicht fehlte ihm jahrelang
das passende Werkzeug, welches er schließlich im Proportionalzirkel vorfand.
Vielleicht wurde damit der Kreis zum Siegel der Siegel und die Erfindung
Mordentes folgerichtig zum ,,Großen Schlüssel". Und vielleicht markiert deswegen
die Monas das Ende seiner Suche.
Hilary Gatti ist der Auffassung, Bruno sei nicht erfolgreich gewesen bei seinen
Bemühungen, ein System mnemotechnischer Bilder oder Zeichen zu kreieren,
dass neue Antworten über das unendliche, atomisch konstruierte Universum hätte
geben können. Dies habe ihn gezwungen, in eine mythologische Version der
euklidischen Geometrie zurückzufallen.
123
Fast klingt das nach Resignation. Im
Gegenteil aber muss, nach dem bisher Gesagten, die euklidische Geometrie ein
Glücksfall gewesen sein für den nach einem neuen Gedächtnissystem
Fahndenden.
2.2
Krieg der Kräfte: Von den Heroischen Leidenschaften.
Es ist bekannt, daß es eine unendliche Anzahl Welten gibt, einfach weil es
unendlich viel Raum gibt, in dem sie enthalten sein können. Doch nicht jede
von ihnen ist bewohnt. Es muß daher eine endliche Anzahl bewohnter
Welten geben. Jede endliche Zahl, die man durch Unendlich teilt, ergibt fast
nichts, was noch ins Gewicht fiele. Also kann man sagen, daß die
Durchschnittsbevölkerung aller Planeten des Universums Null ist. Daraus
folgt, daß auch die Bevölkerung des ganzen Universums Null ist, und daß
alle Leute, denen man von Zeit zu Zeit begegnet, lediglich Produkte einer
gestörten Phantasie sind.
[Douglas Adams, ,,Das Restaurant am Ende des Universums"]
Die Physiologie verlegte sich seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts
zunehmend darauf, die Regulierungsmechanismen des Organismus in seiner
Vorstellung mit den Steuerprozessen komplexer Maschinen in Analogie zu bringen.
Die Erforschung dieser Interaktionen nennt sich seit Norbert Wiener Kybernetik.
120
Mulsow in: Bruno (1591, 1991), S. 202
121
Yates (1966, 1990), S. 349
122
Ebd., S. 347
123
Gatti (1999, 2002), S. 203

25
Diese Disziplin verweist schon dem Namen nach auf das Interesse an
Steuerungsprozessen: Immerhin bedeutet das griechische kybernetike soviel wie
Steuermannskunst.
Der Metapher des S t e u e r m a n n s in Bezug auf Steuerungsprozesse im
menschlichen Körper bediente sich schon Giordano Bruno in den Leidenschaften
und ebenfalls in der Ursache. Dort führt Teofil aus, die Seele im Körper sei wie im
Schiff der Steuermann: ,,Insofern der Steuermann zusammen mit dem Schiff
bewegt wird, ist er dessen Teil; insofern er aber als derjenige betrachtet wird, der
das Schiff steuert und bewegt, versteht man ihn nicht als dessen Teil, sondern als
davon unterschiedenes Bewirkendes."
124
Und in den Leidenschaften spricht Bruno
vom menschlichen Willen als dem Kapitän, der
,,auf dem Hinterdeck der Seele sitzt und mit dem kleinen Steuer der Vernunft
gewisse triebhafte Neigungen unter Kontrolle hält, gegen die Wellen der
Naturgewalten an. Er ruft mit dem Schall der Trompete, d.h. aufgrund einer
getroffenen Entscheidung, alle Krieger. D.h. er macht die Kräfte mobil (diese
werden Krieger genannt, weil sie im ständigen Kampf und Widerspruch
zueinander liegen) oder auch die Folgen dieser Kräfte, was die
untereinander gegensätzlichen Gedanken sind, von denen einige zur einen,
andere zur anderen Seite neigen. Und er versucht, sie alle unter eine Fahne,
unter ein bestimmtes Ziel zu stellen. Wenn manche von ihnen vergeblich
gerufen werden, um sich sofort ehrerbietig blicken zu lassen (meistens ist
dies auf Naturtriebe zurückzuführen, die gar nicht oder selten der Vernunft
gehorchen), geht er gegen die einen mit dem Schwert des Zorns, gegen die
anderen mit dem Geißel der Verachtung vor: Um ihr Treiben zu verhindern
und die zu verurteilen, die nicht gehindert werden können, tut er zumindest
so, als wenn er diese töten und jene verbannen wolle."
125
Nicht nur der Metapher des Steuermanns wegen ­ an anderer Stelle ist es gar die
Liebe selbst, welche ,,das Ruder führt, die Segel bläht und dieses
zusammengesetzte Gebilde (das wir sind) lenkt"
126
­ verlangt der Sprachgebrauch
Brunos besondere Aufmerksamkeit: Der Kapitän ruft ,,mit lautem Trompetenschall
[...] all' seine Krieger unter ein Kommando."
127
Jeder Abtrünnige indes wird ,,als
Feind"
128
umgebracht oder als Irrer ,,in die Verbannung" geschickt."
129
Desgleichen
möchte auch die Seele ,,die Gedanken, die sich nicht sammeln unter dem einen
Banner, entweder tot oder beseitigt wissen."
130
Es sind Bilder wie diese, welche
124
Bruno (1584, 1986), S. 60
125
Bruno (1585, 1989), S. 30f
126
Ebd., S. 106
127
Ebd., S. 30
128
Ebd.
129
Ebd.
130
Ebd. [kursiv jeweils: J.B.]

26
sich wie ein rotes Band durch die Leidenschaften ziehen. Der Vollständigkeit
halber seien die augenfälligsten hier kurz zusammengetragen:
1.
Der vierte Teil des ersten Dialoges, so schreibt Bruno bereits im Vorwort,
befasse sich mit dem ,,Bürgerkrieg"
131
, der auf den Entschluss der Seele, sich
zum göttlichen Licht zu erheben, folge ­ und der sich ,,offenbar gegen den
Geist"
132
richte. Dort seien ,,gleichsam nur als die vier Fahnenträger das Gefühl,
das Schicksal, die Erscheinung des Guten und die Gewissensqual aufgeführt.
Ihnen folgen viele militärische Einheiten aus vielen gegensätzlichen und
unterschiedlichen Kräften mit all den Helfern, Mitteln und Werkzeugen, die es in
diesem Körper gibt."
133
2. Tatsächlich erzählt Tansillo seiner Gesprächspartnerin Cicada im
entsprechenden Abschnitt über die Seele, sie schicke
,,die bewaffneten Gedanken, die durch die Klagen der niederen Natur
beunruhigt und angetrieben werden, mit dem Auftrag aus, das Herz
zurückzurufen. Die Seele belehrt sie, wie sie sich benehmen sollten, damit
sie nicht ebenfalls vom Objekt entzückt und hingerissen ohne
Schwierigkeiten dazu verführt werden, als Gefangene und Begleiter beim
Herzen zu bleiben. Sie sagt also, daß sie sich mit Liebe bewaffnen sollen,
aber mit jener Liebe, die im heimischen Herd brennt und die Freundin der
Fortpflanzung ist, der sie schließlich als Boten, Diener und Soldaten
verpflichtet seien."
134
Später werden die Gedanken zurückgerufen, ,,damit sie sich um den Körper
kümmern. Jene kommen zwar, wenngleich spät, zurück, aber nicht mehr in der
Form, in der sie losgingen, und nur, um der Seele offen den Aufstand zu
erklären".
135
3. Die ,,niederen Kräfte der Seele" indes, so führt Tansillo gegenüber Cicada im
fünften Dialog des ersten Teils weiter aus, erhöben sich manchmal
,,wie ein starkes und feindliches Heer, das im eigenen Land geübt, erfahren
und kundig ist, gegen den fremden Gegner, der vom Hügel der Intelligenz
hinabsteigt, um die Völker der Täler und sumpfigen Ebenen zu bremsen. Dort
131
Ebd., S. 11
132
Ebd.
133
Ebd.
134
Ebd., S. 72
135
Ebd., S. 78

27
würden seine Krieger sich angesichts der harten Feinde in den gefährlich
steilen Gräben verlieren und schließlich untergehen, wenn nicht
gewissermaßen eine Umkehr zum Glanz der intelligiblen Erscheinung
stattfände [...]. Wenn deshalb dem Vernunfttrieb im Kampf mit der sinnlichen
Begierde durch den Akt der Umkehr das Licht der Intelligenz in die Augen
fällt, erlangt er seine verlorene Stärke zurück, kräftigt die Nerven und
schlägt seine erschrockenen Feinde vernichtend."
136
4. In diese lange Reihe von Konflikten lässt sich schließlich auch derjenige
zwischen Herz und Augen einreihen: ,,Ihr habt mich zum Gefangenen gemacht
von einer Hand, die mich hält und mich nicht will"
137
, klagt das Herz. Die Augen
reagieren entsprechend: ,,Wie quillt aus dir nur soviel Wasser, oh Herz, daß
selbst die Nereiden aus solcher Fülle nie ihr Haupt erhoben [...]. Es gab die
Natur zwei Lichter für diese kleine Welt zur Lenkung; Du, Verderber jener ewigen
Ordnung, hast sie in immerwährende Flüsse verwandelt."
138
In diesem Stil
erfolgt noch manch Rede und Gegenrede, ohne dass eine Lösung gefunden
würde, ,,[d]enn wo zwei Kräfte sind, von denen die eine nicht größer als die
andere ist, muß die Tätigkeit von beiden aufhören, da der Widerstand der einen
und der Ansturm der anderen Kraft sich entsprechen. Jene schlägt den Angriff
mit derselben Stärke zurück wie diese ihn ausführt"
139
.
Was all diesen Passagen gemeinsam ist, liegt auf der Hand: Es sind Bilder des
Krieges, militärische Metaphern, Schlachtszenarien, welche Giordano Bruno
entwickelt. Er selbst verweist auf den szenischen Charakter der Leidenschaften
bereits im Vorwort dieser Schrift, gerichtet an den ,,hochwohlgeborenen Sir Philip
Sidney"
140
, einen engen Freund und Vertrauten Brunos während seines
Aufenthalts in England:
,,Könnte uns eine Tragikomödie, eine Szene, sage ich, die mehr Mitleid und
Gelächter verdiente, in diesem Welttheater, auf dieser Bühne unseres
Bewußtseins vorgeführt werden, als das Schauspiel so vieler Gestalten,
die nachdenklich, tiefsinnig, beständig, standhaft und treu werden, zu
Liebhabern, Beschützern, Bewunderern und Sklaven gegenüber einem
Gegenstand ohne Verlaß, ohne jede Beständigkeit, bar allen Verstandes,
frei von jedem Verdienst, der niemals Anerkennung oder Dankbarkeit zollt,
an dem man nicht mehr Gefühl, Verstand und Güte feststellt, als sich in
136
Ebd., S. 94
137
Ebd., S. 170
138
Ebd., S. 171
139
Ebd., S. 176
140
Ebd., S. 3

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2003
ISBN (eBook)
9783832492168
ISBN (Paperback)
9783838692166
DOI
10.3239/9783832492168
Dateigröße
3.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Freie Universität Berlin – Philosophie und Geisteswissenschaften
Erscheinungsdatum
2006 (Januar)
Note
1,0
Schlagworte
renaissance memoria gedächtnis komödie theaterwissenschaft
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