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EU-Osterweiterung und Arbeitnehmerfreizügigkeit

Auswirkungen auf den deutschen Arbeitsmarkt und Reformimplikationen

©2005 Diplomarbeit 100 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Eine unlängst durchgeführte Umfrage bringt die hierzulande bestehenden Bedenken hinsichtlich der erweiterten Europäischen Union (EU) deutlich zum Ausdruck: 60 % der Deutschen befürchten einen Anstieg der hiesigen Arbeitslosigkeit als Folge von Zuwanderungen. Zudem sind 57 % der Befragten der Meinung, dass von der europäischen Integration negative Effekte auf das heimische Lohnniveau ausgehen.
Sorgen und Ängste der Bürger im Zuge einer Erweiterung der Gemeinschaft sind nicht neu. Bereits in den 1960er Jahren, als die Einführung der Freizügigkeit zur Diskussion stand, wurden Befürchtungen einer Überflutung Deutschlands oder Frankreichs mit italienischen Arbeitskräften laut. Auch die darauf folgenden Erweiterungsrunden wurden von einer Skepsis begleitet, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der so genannten Süderweiterung erreichte. Als griechischen, portugiesischen und spanischen Arbeitskräften nach einer Übergangsfrist die volle Freizügigkeit gewährt wurde, grassierte vielfach die Angst vor einer Zuwanderungswelle. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass die befürchteten Überschwemmungen mit billigen Arbeitskräften ausgeblieben sind.
Mit Blick auf die Vergangenheit wird des Öfteren argumentiert, dass Ängste im Zusammenhang mit der am 1. Mai 2004 vollzogenen EU-Osterweiterung auch diesmal unberechtigt seien. Derartige Analogieschlüsse sind jedoch problematisch, da die Osterweiterung Besonderheiten aufweist, die mit keiner der vorangegangenen Erweiterungsrunden vergleichbar sind.
Die vorliegende Arbeit analysiert, inwieweit die Befürchtungen vor negativen Entwicklungen auf den heimischen Arbeitsmärkten im Kontext der EU-Osterweiterung ihre Berechtigung haben. Im Zentrum der Ausführungen stehen dabei die Auswirkungen der Freizügigkeit von Arbeitnehmern, die ein konstitutives Element des europäischen Binnenmarktes darstellt. In einem ersten Schritt wird die Rolle der Arbeitnehmerfreizügigkeit im europäischen Integrationsprozess beleuchtet. Auf Basis theoretischer Grundüberlegungen und ausgewählter Studien soll im Anschluss gezeigt werden, inwieweit mit einer spürbaren Ost-West-Migration im Zuge der EU-Osterweiterung zu rechnen ist. Dabei wird nicht nur das Migrationsausmaß, sondern auch die Struktur der Migranten von besonderer Bedeutung sein. Die daraus ableitbaren Effekte für den deutschen Arbeitsmarkt werden in einem nächsten Schritt untersucht. Abschließend werden sozial- und arbeitsmarktpolitische Reformen diskutiert, die […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 9110
Orenstrat, Ruth: EU-Osterweiterung und Arbeitnehmerfreizügigkeit - Auswirkungen auf
den deutschen Arbeitsmarkt und Reformimplikationen
Hamburg: Diplomica GmbH, 2005
Zugl.: Universität Duisburg-Essen, Standort Duisburg, Diplomarbeit, 2005
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2005
Printed in Germany

Ruth Orenstrat
Diplom-Ökonomin
Düsselthaler Str.19
40211 Düsseldorf
Tel. 0179 / 7 49 26 16
E-mail: R.Orenstrat@gmx.de
Autorenprofil
Persönliche Angaben
Geburtsdatum:
25.11.1977
Familienstand: ledig,
keine
Kinder
Ausbildung
Universität
01/2002 ­ 08/2005
Hauptstudium der Wirtschaftswissenschaften an der
Universität
Duisburg
(Gesamtnote:
1,8)
09/2001 ­ 12/2001
Auslandsstudium in Irland
10/1999 ­ 09/2001
Grundstudium der Wirtschaftswissenschaften an der
Universität Duisburg
Beruf
09/1997 ­ 01/2000
Ausbildung zur Versicherungskauffrau (IHK)
Schule
08/1988 ­ 06/1997
Gymnasium in Düsseldorf
Abschluss:
Allgemeine
Hochschulreife
Sonstiges zu meiner Person
Mit meiner Personen werden von Dritten mitunter die folgenden Eigenschaften in Verbindung
gebracht:
- ein hohes Maß an Engagement
- Flexibilität
- Zielstrebigkeit
- Teamfähigkeit sowie die
- Befähigung zum selbständigen, problemorientierten Denken

I
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ... I
Abkürzungsverzeichnis...III
Abbildungsverzeichnis ...V
Tabellenverzeichnis ... VI
1
Einleitung ...1
2
Einordnung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in den europäischen
Integrationsprozess ...2
2.1
Die Vision einer uneingeschränkten Arbeitskräftemobilität ... 2
2.2
Die Ausgestaltung der Arbeitskräftefreizügigkeit in der Praxis... 4
3
Migration und Arbeitsmarkt...7
3.1
Migration aus Ostmitteleuropa ... 7
3.1.1
Ökonomische Theorien zur Erklärung von Migrationsprozessen ... 7
3.1.1.1 Neoklassische Migrationstheorie... 7
3.1.1.2 Neue Ökonomische Theorie ... 10
3.1.1.3 Theorie der Wanderung... 11
3.1.1.4 Netzwerktheorie ... 13
3.1.2
Rechtliche Regelung der Einwanderung nach Deutschland... 13
3.1.3
Bisherige Migration aus Ostmitteleuropa... 14
3.1.3.1 Rechtsstatus und Aufenthaltsdauer der Migranten... 16
3.1.3.2 Verteilung und Strukturmerkmale der Migranten ... 18
3.1.4
Umfang und Struktur zukünftiger Ost-West-Wanderung: Ergebnisse
ausgewählter Studien... 19
3.1.4.1 Schätzung auf der Grundlage von Plausibilitätsüberlegungen... 20
3.1.4.2 Ökonometrisch fundierte Schätzung ... 22

Inhaltsverzeichnis
II
3.1.4.3 Schätzung auf der Grundlage von Befragungen... 25
3.1.5
Fazit ... 27
3.2
Arbeitsmarkteffekte der Ost-West-Migration ... 28
3.2.1
Modelle der Arbeitsmarkttheorie ... 29
3.2.1.1 Neoklassisches Grundmodell ... 29
3.2.1.2 Humankapitaltheorie ... 33
3.2.1.3 Insider-Outsider-Theorie ... 35
3.2.1.4 Segmentationstheorien ... 38
3.2.2
Auswirkungen der Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt ... 41
3.2.2.1 Theoretische Überlegungen... 41
3.2.2.2 Empirische Befunde ... 44
3.2.2.3 Projektionen... 46
3.2.3
Fazit ... 48
3.3
Zusammenfassung und Diskussion ... 49
4
Sozial- und arbeitsmarktpolitische Reformen ...50
4.1
Ausgewählte Reformvorschläge für Deutschland ... 51
4.1.1
Prinzip der verzögerten Integration ... 52
4.1.2
Dauerhaftes Heimatlandprinzip... 53
4.1.3
Prinzip einer selektiv verzögerten Eingliederung in die Sozialsysteme
der Zielländer... 53
4.1.4
Übergangsfristen... 54
4.2
Reformen oder Migration ­ was steht am Anfang?... 56
4.3
Fazit ... 57
5
Schlussfolgerungen ...58
Anhang...VII
Literaturverzeichnis ...XXVII

Abkürzungsverzeichnis III
Abkürzungsverzeichnis
A Österreich
ASAV
Anwerbestoppausnahmeverordnung
B Belgien
Bev.
Bevölkerung
BIP
Bruttoinlandsprodukt
COM
Commission (Europäische Kommission)
D Deutschland
DIW
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
DK
Dänemark
E Spanien
EG
Europäische
Gemeinschaft
EGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
EL
Griechenland
EU
Europäische
Union
EU-15
Europäische Union bis zum 30. April 2004 mit 15 Mitgliedstaaten
EU-25
Europäische Union seit dem 1. Mai 2004 mit 25 Mitgliedstaaten
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
F Frankreich
FIN
Finnland
I Italien
IAB
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
idF
in der Fassung
ifo
Institut
für
Wirtschaftsforschung

Abkürzungsverzeichnis IV
IOM
International
Organization for Migration
IRL
Irland
ISF
Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung
IZA
Institut für die Zukunft der Arbeit
L Luxemburg
MOEL
Mittel- und osteuropäische Länder
MOEL-10
Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slo-
wenien, Tschechien, Ungarn
MOEL-8
MOEL-10 ohne Bulgarien und Rumänien
na nicht
angegeben
NL
Niederlande
o. S.
ohne Seitenangabe
OECD
Organization for Economic Co-Operation and Development
P Portugal
S Schweden
SOEP
Sozioökonomisches Panel
UK
United
Kingdom

Abbildungsverzeichnis
V
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2.1:
Ausländische Beschäftigte in der EU-15 nach Nationalität, 2000 ... 6
Abbildung 3.1:
Schema der Wanderungsdeterminanten ... 12
Abbildung 3.2:
Nettoeinwanderung in die EU, 1990-1997... 15
Abbildung 3.3:
Werkvertragsarbeitnehmer nach Herkunftsländern... 17
Abbildung 3.4:
Saisonarbeitnehmer nach Herkunftsländern, 2003... 17
Abbildung 3.5:
Klassifikation der Schätzungsmethoden zur Bestimmung
zukünftiger
Ost-West-Migrationen ... 20
Abbildung 3.6:
Erwartete Migrationsströme aus ausgewählten MOEL auf Basis
des Ansatzes von Layard et al. ... 22
Abbildung 3.7:
Arbeitsangebot und -nachfrage in Abhängigkeit vom Reallohnsatz..
... 31
Abbildung 3.8:
Humankapitalinvestitionen und Lohnsatz ... 34
Abbildung 3.9:
Migrationsinduzierte Arbeitsmarkteffekte im neoklassischen
Modell... 41
Abbildung 3.10: Zuwanderung von gering qualifizierten Arbeitnehmern ... 43

Tabellenverzeichnis
VI
Tabellenverzeichnis
Tabelle 3.1:
Bevölkerungsstand aus den MOEL in acht alten EU-Staaten ... 16
Tabelle 3.2:
Erteilte Arbeitserlaubnisse für Grenzgänger nach
Herkunftsländern, 1999-2003... 18
Tabelle 3.3:
Migrationspotenzial aus den fünf bevölkerungsreichsten MOEL... 24

Einleitung
1
1
Einleitung
Eine unlängst durchgeführte Umfrage bringt die hierzulande bestehenden Bedenken
hinsichtlich der erweiterten Europäischen Union (EU) deutlich zum Ausdruck: 60 % der
Deutschen befürchten einen Anstieg der hiesigen Arbeitslosigkeit als Folge von Zu-
wanderungen. Zudem sind 57 % der Befragten der Meinung, dass von der europäischen
Integration negative Effekte auf das heimische Lohnniveau ausgehen.
1
Sorgen und Ängste der Bürger im Zuge einer Erweiterung der Gemeinschaft sind nicht
neu. Bereits in den 1960er Jahren, als die Einführung der Freizügigkeit zur Diskussion
stand, wurden Befürchtungen einer Überflutung Deutschlands oder Frankreichs mit ita-
lienischen Arbeitskräften laut.
2
Auch die darauf folgenden Erweiterungsrunden wurden
von einer Skepsis begleitet, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der so genannten Süd-
erweiterung erreichte. Als griechischen, portugiesischen und spanischen Arbeitskräften
nach einer Übergangsfrist die volle Freizügigkeit gewährt wurde, grassierte vielfach die
Angst vor einer Zuwanderungswelle. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass die befürchteten
Überschwemmungen mit billigen Arbeitskräften ausgeblieben sind.
Mit Blick auf die Vergangenheit wird des Öfteren argumentiert, dass Ängste im Zu-
sammenhang mit der am 1. Mai 2004 vollzogenen EU-Osterweiterung auch diesmal
unberechtigt seien.
3
Derartige Analogieschlüsse sind jedoch problematisch, da die Ost-
erweiterung Besonderheiten aufweist, die mit keiner der vorangegangenen Erweite-
rungsrunden vergleichbar sind.
Die vorliegende Arbeit analysiert, inwieweit die Befürchtungen vor negativen Entwick-
lungen auf den heimischen Arbeitsmärkten im Kontext der EU-Osterweiterung ihre Be-
rechtigung haben. Im Zentrum der Ausführungen stehen dabei die Auswirkungen der
Freizügigkeit von Arbeitnehmern, die ein konstitutives Element des europäischen Bin-
nenmarktes darstellt.
4
In einem ersten Schritt wird die Rolle der Arbeitnehmerfreizügig-
keit im europäischen Integrationsprozess beleuchtet. Auf Basis theoretischer Grund-
1
Vgl.
, S. 2.
McKinsey & Company et al. (2004)
2
Vgl.
, S. 1 f.
Hönekopp, Elmar / Werner, Heinz (1999)
3
Vgl. Grupp, Claus / Löffler, Klaus (2004), S. 8.

Einordnung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in den europäischen Integrationsprozess
2
überlegungen und ausgewählter Studien soll im Anschluss gezeigt werden, inwieweit
mit einer spürbaren Ost-West-Migration im Zuge der EU-Osterweiterung zu rechnen ist.
Dabei wird nicht nur das Migrationsausmaß, sondern auch die Struktur der Migranten
von besonderer Bedeutung sein. Die daraus ableitbaren Effekte für den deutschen Ar-
beitsmarkt werden in einem nächsten Schritt untersucht. Abschließend werden sozial-
und arbeitsmarktpolitische Reformen diskutiert, die geeignet sein könnten, unerwünsch-
te Migrationseffekte zu vermeiden oder abzumildern.
2
Einordnung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in den
europäischen Integrationsprozess
2.1
Die Vision einer uneingeschränkten Arbeitskräftemobilität
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit beinhaltet das Recht, als Staatsbürger eines Mitglied-
staates in jedem anderen Mitgliedstaat eine abhängige Beschäftigung zu den gleichen
Bedingungen wie dessen Inländer ausüben zu dürfen.
5
Die in Art. 39 Abs. 1 EGV
6
ga-
rantierte Freizügigkeit wird in den Absätzen 2 und 3 konkretisiert. Demnach ist eine auf
der Staatsangehörigkeit beruhende Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer in den Berei-
chen Beschäftigung, Entlohnung und der sonstigen Arbeitsbedingungen unzulässig. Die
Arbeitnehmerfreizügigkeit erstreckt sich auf
7
die Bewerbung um tatsächlich angebotene Stellen,
die zu diesem Zweck freie Bewegung im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten,
den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat, um eine Beschäftigung nach dort gelten-
den Rechts- und Verwaltungsvorschriften auszuüben sowie
den Verbleib im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats nach Beendigung einer Be-
schäftigung, jedoch nur unter Bedingungen, welche die Kommission in Durch-
führungsverordnungen festlegt.
4
Es sei darauf hingewiesen, dass weitere Aspekte der Ausweitung des Arbeitskräfteangebots, wie beispielsweise
die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit, hier nur ansatzweise behandelt werden
können.
5
Vgl.
, S. 564.
Nienhaus, Volker (2003)
6
Vgl.
.
Vertrag von Nizza (idF v. 26.2.2001)
7
Vgl. ebd., Art. 39 Abs. 3.

Einordnung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in den europäischen Integrationsprozess
3
Die Regelung des Art. 39 Abs. 3 EGV ist unmittelbar anwendbar und bedarf keiner
Ausführungsbestimmung durch sekundäres Gemeinschaftsrecht.
8
Art. 40 EGV ermäch-
tigt den Rat jedoch zum Erlass von Richtlinien oder Verordnungen, sofern dies zur Her-
stellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit erforderlich scheint. Die bereits im Oktober
1968 erlassene und zwischenzeitlich mehrfach novellierte Verordnung 1612/68
9
zählt
zu den wichtigsten Regelungen im Sinne des Art. 40 EGV. Darin erklärtes Ziel der Ar-
beitnehmerfreizügigkeit ist die Sicherstellung der Mobilität der Arbeitskräfte innerhalb
der Gemeinschaft. Diese soll Arbeitnehmern die Möglichkeit einer Verbesserung der
Lebens- und Arbeitsbedingungen garantieren und damit auch ihren sozialen Aufstieg
erleichtern, wobei zugleich der Bedarf der Wirtschaft der Mitgliedstaaten befriedigt
wird.
10
Die Freizügigkeitsregelung wird unterstützt und ergänzt durch Art. 42 EGV. Dieser
sieht eine ,,Koordinierung" der Systeme der sozialen Sicherung vor. Er verpflichtet den
Rat im Bereich der sozialen Sicherheit, Rechtsakte zu erlassen, die für die Herstellung
der Arbeitnehmerfreizügigkeit notwendig sind.
11
Im Mittelpunkt stehen dabei Regelun-
gen, die darauf abzielen, etwaige Ansprüche auf Transferleistungen auch dann unver-
mindert aufrechtzuerhalten, wenn vom Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht wird.
12
Die rechtliche Ausgestaltung des Art. 42 EGV findet sich unter anderem in der mehr-
fach geänderten Verordnung 1408/71,
13
welcher in der einschlägigen Literatur eine
zentrale Rolle beigemessen wird.
14
Sie regelt die Anwendung der Systeme der sozialen
Sicherheit auf Arbeitnehmer und ihre Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und
abwandern, im Detail.
Das im Gemeinschaftsrecht verankerte Prinzip der Gleichstellung von EG-ausländi-
schen mit inländischen Arbeitnehmern ist im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügig-
keit von zentraler Bedeutung.
15
Dies zeigt sich nicht zuletzt an der am 8. Dezember
2000 in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte. Die mittlerweile in den Verfas-
8
Vgl.
, S. 20.
Dienelt, Klaus (2004)
9
Vgl.
.
Rat (1968): Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 vom 15.10.1968
10
Vgl. ebd.
11
In diesem Bereich kommt nach wie vor die Einstimmigkeitsregel zur Anwendung.
12
Vgl.
, S. 6.
Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (2001)
13
Vgl.
.
Rat (1971): Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vom 14.6.1971
14
Vgl.
, S. 2.
Falkner, Gerda / Treib, Oliver (2003)
15
Vgl.
, S. 9.
von Maydell, Bernd / Schulte, Bernd (2001)

Einordnung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in den europäischen Integrationsprozess
4
sungsvertrag
16
eingebundene Charta beinhaltet Grundrechtsdefinitionen zur Freizügig-
keit, auf die sich alle Bürger der Europäischen Union berufen können.
17
Obwohl die Bedeutung der Arbeitnehmerfreizügigkeit immer wieder betont wurde,
18
haben Übergangsbestimmungen und sonstige Barrieren, die einer Verwirklichung der
Freizügigkeit entgegenstehen, den europäischen Integrationsprozess von Beginn an be-
gleitet. Diesen Gedanken greift das nachfolgende Kapitel auf.
2.2
Die Ausgestaltung der Arbeitskräftefreizügigkeit in der
Praxis
Ein zentrales Ziel des EWG-Vertrages, der 1957 in Rom unterzeichnet wurde, war die
Schaffung eines Gemeinsamen Marktes: Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapi-
tal sollten ebenso mobil sein, wie in den nationalen Volkswirtschaften.
19
Trotz formeller
Herstellung dieser vier Grundfreiheiten im Jahr 1972, stießen die Gemeinschaftsbürger
noch auf materielle, technische und fiskalische Schranken, die sie mitunter an der Aus-
übung der Arbeitnehmerfreizügigkeit hinderte.
20
Die unzulängliche Umsetzung des frei-
en Personenverkehrs, aber auch die eingeschränkte Waren-, Dienstleistungs- und Kapi-
talverkehrsfreiheit, veranlasste die Europäische Kommission zu einer Initiative, die da-
rauf abzielte, bis Ende 1992 alle innergemeinschaftlichen Grenzen aufzuheben.
21
Das
im Juni 1985 vorgelegte ,,Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes"
22
trug maß-
geblich zur Entstehung der Einheitlichen Europäischen Akte bei, die im Jahr 1986 von
den damals zwölf Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde. Kernpunkt des Vertragswerks
bildet die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes bis zum 31. Dezember
1992.
23
Als die Kommission am 1. Januar 1993 verkündete, dass ,,[...] der Startschuss für den
Raum ohne Grenzen im Inneren gefallen sei"
24
, waren bereits zahlreiche Rechtsvor-
schriften gemäß dem Weißbuch von Parlament und Ministerrat erlassen worden. Mit
16
Vgl.
, Teil II. Die Ratifizierung des Vertragswerkes durch alle 25
Mitgliedstaaten steht zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings noch aus.
Eine Verfassung für Europa (idF v. 29.10.2004)
17
Vgl. z. B. Art. II-75: Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten, Art. II-81: Nichtdiskriminierung, Art. II-105: Freizü-
gigkeit und Aufenthaltsfreiheit.
18
Vgl.
, S. 545.
Oppermann, Thomas (1991)
19
Vgl.
, S. 120.
Thiel, Elke (1998)
Thiel, Elke (1998)
Thiel, Elke (1998)
20
Vgl.
, S. 224.
Dicke, Hugo (2004)
21
Vgl.
, S. 560.
Nienhaus, Volker (2003)
22
Die wesentlichen Inhalte des Weißbuchs umreißt
, S. 125 ff.
23
Vgl.
, S. 46.

Einordnung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in den europäischen Integrationsprozess
5
Blick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist dabei besonders die gegenseitige Anerken-
nung von Hochschuldiplomen und Berufsabschlüssen hervorzuheben.
25
Auch weitere
den Personenverkehr behindernde Regelungen, zum Beispiel Aufenthaltsbeschränkun-
gen, wurden zwischenzeitlich soweit abgeschafft, dass man dem Ideal eines freien Per-
sonenverkehrs entscheidend näher gerückt ist.
Dennoch kann auch heute noch nicht von einer uneingeschränkten Freizügigkeit der
Arbeitnehmer gesprochen werden. Behindert wird die Arbeitsaufnahme in anderen eu-
ropäischen Staaten insbesondere dann, wenn Übergangsfristen existieren. Obwohl die
Abschottung heimischer Arbeitsmärkte einen Verstoß gegen die Prinzipien des
gemeinsamen Binnenmarktes darstellt,
26
wurde die Freizügigkeit für Arbeitnehmer
bereits im Zuge vergangener Erweiterungsrunden eingeschränkt. Aktuelles Beispiel ist
die jüngst vollzogene EU-Erweiterung um zehn neue Volkswirtschaften. Primär auf
Initiative Deutschlands und Österreichs
27
wurden für die Arbeitnehmer der acht
beigetretenen MOEL Übergangsregelungen eingeführt, die für eine Dauer von bis zu
sieben Jahren aufrechterhalten werden können.
28
Eine vergleichbare Regelung wurde bereits im Zuge der Süderweiterung um Griechen-
land (Beitritt: 1981) sowie Portugal und Spanien (Beitritt: jeweils 1986) geschaffen: Im
Falle Griechenlands wurde eine Übergangsfrist von sechs Jahren, mit Portugal und Spa-
nien eine siebenjährige Frist
29
vereinbart. Die damals ausgehandelten Fristen wurden
jedoch nicht gänzlich ausgereizt. So führte eine Entscheidung des Rates zu einer vorzei-
tigen Aufhebung der Übergangsregelung für Portugal und Spanien nach sechs Jahren.
30
Dieser Entschluss beruhte auf der Überzeugung, dass die vorgezogene Herstellung der
uneingeschränkten Freizügigkeit keine nachteiligen Auswirkungen auf die nationalen
Arbeitsmärkte haben würde.
31
Kurzum: Die Mobilität der (Süd-) Europäer wurde offen-
bar überschätzt.
24
, S. 229.
Dicke, Hugo (2004)
25
Vgl.
, S. 129.
Thiel, Elke (1998)
26
Vgl.
, S. 58.
Brücker, Herbert (2000)
27
Vgl.
, S. 14.
Belke, Ansgar / Hebler, Martin (2002)
28
Malta und Zypern sind von den Übergangsfristen ausgenommen. Zur Ausgestaltung der Fristen vgl. Anhang 1.
29
Für Arbeitskräftewanderungen nach Luxemburg wurde eine zehnjährige Übergangsperiode geschaffen. Vgl.
, S. 15.
Europäische Kommission (2001)
30
Die Übergangsfrist für Wanderungen nach Luxemburg wurde auf acht Jahre verkürzt. Vgl. ebd., S. 16.
31
Als Entscheidungsgrundlage diente ein Kommissionsbericht vom 16.4.1991 (COM/91/124).

Einordnung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in den europäischen Integrationsprozess
6
Auch in den darauf folgenden Jahren setzten keine signifikanten innergemeinschaftli-
chen Arbeitskräftewanderungen ein. Empirischen Erhebungen zufolge stammten im
Jahr 2000 weniger als 2 % aller Arbeitskräfte in der damaligen EU-15 aus einem ande-
ren Mitgliedstaat (vgl. Abbildung 2.1).
32
Dieser Prozentsatz ist über einen Zeitraum von
15 Jahren nahezu unverändert geblieben.
33
Abbildung 2.1: Ausländische Beschäftigte in der EU-15 nach Nationalität, 2000
Quelle: Werner, Heinz (2002), S. 190.
Die schwach ausgeprägte Arbeitskräftemobilität ist unter anderem durch kulturelle Dis-
tanzen und Sprachbarrieren erklärbar.
34
Einzelheiten zu diesen und weiteren Determi-
nanten, die das Wanderungsverhalten maßgeblich beeinflussen, zeigt das folgende Ka-
pitel auf.
32
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es sich hierbei lediglich um eine Bestandsgröße handelt, die isoliert be-
trachtet keine Rückschlüsse über die Art und Dauer der Beschäftigung zulässt.
33
Vgl.
, S. 191
Werner, Heinz (2002)
34
Vgl.
, S. 565.
Nienhaus, Volker (2003)

Migration und Arbeitsmarkt
7
3
Migration und Arbeitsmarkt
3.1
Migration aus Ostmitteleuropa
3.1.1
Ökonomische Theorien zur Erklärung von Migrationsprozessen
Ökonomische Migrationstheorien
35
beziehen sich zur Erklärung des Wanderungsverhal-
tens von Wirtschaftssubjekten mehrheitlich auf wirtschaftliche Aspekte. Dabei soll
nicht nur eine Antwort auf die Frage gefunden werden, warum Migrationsprozesse er-
folgen, sondern auch aufgezeigt werden, weshalb es sich für ein Individuum durchaus
lohnen kann, trotz bestehender Anreize auf ein Migrationsvorhaben (vorläufig) zu ver-
zichten.
3.1.1.1
Neoklassische Migrationstheorie
Im Rahmen der neoklassischen Ansätze zur Erklärung von Migrationsprozessen kann
zwischen zwei Theorieebenen differenziert werden:
In den traditionellen makroökonomischen Ansätzen werden Migrationsströme primär
auf Unterschiede im regionalen Lohnniveau zurückgeführt.
36
Ursächlich für divergie-
rende Gleichgewichtslöhne sind Unterschiede in Angebot und Nachfrage nach dem Fak-
tor Arbeit. Während sich relativ arbeitsreiche Regionen durch einen niedrigen Gleich-
gewichtslohn auszeichnen, sind für Regionen mit einem relativ knappen Arbeitsangebot
hohe Löhne charakteristisch. Die infolge dieser Lohnunterschiede einsetzenden Ar-
beitskräftewanderungen von Niedriglohn- in Hochlohngebiete dauern so lange an, bis
ein Gleichgewichtszustand erreicht wird, in dem sich die Lohnniveaus weitestgehend
angeglichen haben.
37
Das hier skizzierte Modell basiert auf zahlreichen restriktiven Annahmen,
38
die zum
Teil im Rahmen erweiteter Ansätze aufgegeben wurden. Eine bedeutende Weiterent-
35
Die Migration ist von jeher eine Erscheinung, mit der sich zahlreiche Wissenschaftsdisziplinen auseinandergesetzt
haben. Vgl. hierzu
, S. 5. Angesichts dieser Vielzahl an Beiträgen, kann die vorliegende
Arbeit keinen erschöpfenden Überblick über sämtliche theoretische Ansätze geben, die das Migrationsphänomen
berühren. Vielmehr soll der Fokus auf diejenigen ökonomischen Ansätze gerichtet werden, die im Hinblick auf
das Thema dieser Arbeit von besonderer Relevanz sind.
Wittmann, Heinz (1975)
36
Vgl.
, S. 76.
Hicks, John R. (1963)
37
Entsprechend der Theorie fließen Kapitalströme in entgegengesetzte Richtung. Darin enthalten sind auch Bewe-
gungen des Humankapitals, das in relativ kapitalarmen Regionen vergleichsweise höhere Erträge erwirtschaftet.
Vgl.
, S. 83.
Krieger, Hubert (2004)
38
Z. B. Vollbeschäftigung, Abwesenheit von Transport- und Suchkosten, vollständige Information.

Migration und Arbeitsmarkt
8
wicklung des traditionellen Modells stellt der Harris-Todaro-Ansatz
39
dar, der von der
Annahme flexibler Arbeitsmärkte mit Vollbeschäftigung abrückt und die Höhe der Ar-
beitslosigkeit im Sende- und im potenziellen Zielland als Wanderungsdeterminante mit
einbezieht.
40
Annahmegemäß orientiert sich der potenzielle Migrant im Vergleich zum
traditionellen neoklassischen Ansatz an erwarteten Einkommensdifferenzialen.
41
Eine
Annäherung an diese zentrale Migrationsursache erfolgt typischerweise über das Pro-
Kopf-Einkommen zweier Regionen sowie die jeweilige Arbeitslosenquote. Hierbei wird
davon ausgegangen, dass die Höhe der Arbeitslosigkeit die Erwerbstätigenwahrschein-
lichkeit reflektiert. Ceteris paribus gilt: Je niedriger die Arbeitslosenquote bzw. je höher
die Beschäftigungsquote, desto eher kann der Migrant sein langfristiges Einkommen
maximieren.
42
Im Zentrum der Mikrotheorien stehen rationale Individuen, die auf Grundlage einer
intertemporalen Kosten-Nutzen-Analyse eine Migrationsentscheidung fällen.
43
Migrati-
on wird hierbei als Investition in Humankapital
44
verstanden, die einerseits eine Produk-
tivitätszunahme und damit einen Einkommenszuwachs verspricht. Andererseits ist Mi-
gration mit Kosten verbunden, die den Nutzengewinn insgesamt wieder schmälern.
45
In
Analogie zu einer Investition in Sachkapital erfolgt die Investition (Wanderung) dann,
wenn ihr Gegenwartswert positiv ist. Folglich wird ein Wirtschaftssubjekt genau dann
in eine andere Region wandern, wenn die abdiskontierten erwarteten Erträge abzüglich
der Migrationskosten die abdiskontierten erwarteten Erträge im Herkunftsgebiet über-
steigen.
46
Analytisch lässt sich dieser Zusammenhang wie folgt beschreiben:
47
39
Vgl.
, S. 126 ff.
Harris, John R. / Todaro, Michael P. (1970)
40
Vgl. auch
, S. 65.
Alecke, Björn et al. (2001)
41
Der klassische neoklassische Ansatz führt Migration primär auf effektive Einkommensdifferenziale zurück. Vgl.
, S. 75.
Straubhaar, Thomas (1988)
42
Vgl.
, S. 83.
Krieger, Hubert (2004)
Krieger, Hubert (2004)
43
Vgl.
, S. 434.
Massey, Douglas S. et al. (1993)
Massey, Douglas S. et al. (1993)
44
Als Humankapital wird der ,,Bestand an Wissen und Fertigkeiten eines Individuums" bezeichnet. Fr
, S. 74. Siehe hierzu auch Abschnitt 3.2.1.2.
anz, Wolfgang
(2003)
45
Vgl.
, S. 83;
, S. 83.
Sjastaad, Larry A. (1962)
46
Vgl.
, S. 88.
Mester, Frauke (2000)
47
Vgl.
, S. 435.

Migration und Arbeitsmarkt
9
ER(0) =
[P
n
0
1
(t) P
2
(t) Y
d
(t) ­ P
3
(t)Y
O
(t)]e
­ rt
dt ­ C(0)
(3.1)
mit:
ER(0)
= erwarteter Nettogewinn der Migration unmittelbar vor der Abwanderung zum
Zeitpunkt 0
t
= Zeit
P
1
(t)
= Wahrscheinlichkeit eine Ausweisung aus der Zielregion zu vermeiden
(1,0 für legale Migranten und < 1,0 für nicht erfasste Migranten)
P
2
(t)
= Wahrscheinlichkeit der Beschäftigung am Zielort
Y
d
(t)
= Höhe des Einkommens am Zielort
P
3
(t)
= Wahrscheinlichkeit der Beschäftigung am Herkunftsort
Y
O
(t)
= Höhe des Einkommens am Herkunftsort
r
= Diskontfaktor
C(0)
= Gesamtkosten der Migration (inklusive psychischer Kosten)
Wird der Nettogewinn positiv, ist die Migration für den rationalen Akteur vorteilhaft;
wird er negativ, entscheidet sich der Akteur gegen die Migration; nimmt der Nettoge-
winn den Wert Null an, so ist der Akteur indifferent zwischen Wanderung in die Zielre-
gion und Verbleib in der Herkunftsregion. Stellen sich gemäß dieser Kalkulation mehre-
re Regionen als vorteilhaft heraus, so wird das Wirtschaftssubjekt diejenige Region aus-
wählen, die ihm den größten Nettogewinn verspricht.
Die Abgrenzung der Bestimmungsgrößen des Nettogewinns erweist sich allerdings mit-
unter als problematisch: Während die Höhe des Einkommens durch das Pro-Kopf-
Einkommen einer Region und die Wahrscheinlichkeit, eine Beschäftigung zu finden,
durch die Höhe der Arbeitslosigkeit bestimmt werden können, lassen sich die Migrati-
onskosten kaum operationalisieren.
48
Dabei gestaltet sich die Ermittlung der monetären
Kosten (wie Transportkosten und unterschiedliche Lebenshaltungskosten) weit weniger
schwierig als die Operationalisierung der nicht-monetären Kosten. Letztere beinhalten
sowohl den im Zuge der Migration entgangenen Ertrag (Opportunitätskosten) als auch
48
Vgl.
, S. 125 f.
Belke, Ansgar / Hebler, Martin (2002)

Migration und Arbeitsmarkt
10
Kosten psychischer Natur, die infolge der Trennung vom gewohnten sozialen und kultu-
rellen Umfeld entstehen.
49
Um die Migrationskosten trotz bestehender Quantifizie-
rungsprobleme angemessen berücksichtigen zu können, kann vereinfachend angenom-
men werden, dass sich die Individuen einer Gesellschaft nach Kostenhöhe reihen las-
sen.
50
Am Anfang der Reihe stehen Akteure, für die eine Abwanderung die geringsten
Kosten verursachen würde. Dies trifft typischerweise auf Individuen zu, die nur wenige
soziale Bindungen im Heimatland haben und in Grenznähe wohnen. Die Reihe schließt
ab mit Wirtschaftssubjekten, deren Ausreise angesichts hoher Kosten äußerst unwahr-
scheinlich ist. Derart hohe Kosten entstehen beispielsweise Rentnern, die ihre Renten-
ansprüche im Zielland verlieren würden.
Insgesamt kommt die mikroökonomische neoklassische Theorie zu folgendem Ergeb-
nis:
51
Je höher die erwartete Lohndifferenz zwischen zwei Regionen ist und je geringer
die Wanderungskosten sind, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit zur Migration.
3.1.1.2
Neue Ökonomische Theorie
Im Gegensatz zu den neoklassischen Ansätzen betont die Neue Migrationsökonomie,
dass es auch bei Abwesenheit von Lohnunterschieden zu Migrationsvorgängen kommen
kann.
52
Die Analyseeinheit der Theorie umfasst Familien bzw. Haushalte, deren primä-
res Ziel darin besteht, ihren Gesamthaushaltsnutzen zu maximieren. Demzufolge wer-
den Migrationsentscheidungen nicht von einzelnen Individuen, sondern von einem Kol-
lektiv getroffen.
53
Unter Umständen kann dies dazu führen, dass die optimale Migrati-
onsentscheidung aus Sicht der Familieneinheit im Widerspruch zu individuellen Kalkü-
len steht. Eine ausgeprägte Bindung des Migranten an seine Familie ist somit eine inhä-
rente Annahme der Neuen Ökonomischen Theorie.
54
Dem Ansatz folgend, kann die
Auswanderung einzelner Familienmitglieder entscheidend dazu beitragen, dass sich der
Nutzen der Familie insgesamt erhöht. Dies geschieht nicht nur durch die Erhöhung des
erwarteten Einkommens, sondern insbesondere auch durch die Verringerung des Risi-
49
Vgl. Sjastaad, Larry A. (1962), S. 83 ff.; Steineck, Alexander (1994), S. 106.
50
Vgl. z. B. Sinn
, S. 302.
, Hans-Werner (2000)
51
Eine detaillierte Übersicht zu den Schlussfolgerungen der neoklassischen Mikrotheorie findet sich in
, S. 435 f.
Massey,
Douglas S. et al. (1993)
Massey, Douglas S. et al. (1993)
52
Vgl.
, S. 439.
53
Vgl.
, S. 285.
Borjas, George J. (1996)
54
Vgl.
, S. 127.
Belke, Ansgar / Hebler, Martin (2002)

Migration und Arbeitsmarkt
11
kos, Einkommenseinbußen hinnehmen zu müssen.
55
Die Entsendung von Familienan-
gehörigen stellt sicher, dass nicht das gesamte Familieneinkommen von etwaigen nega-
tiven Entwicklungen in der Herkunftsregion betroffen ist. Wird beispielsweise ein Fa-
milienmitglied infolge einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in der Heimat
arbeitslos, kann damit eine Gefährdung des Lebensunterhalts verbunden sein.
56
Für den
Fall, dass kein oder nur ein unzureichender Versicherungsschutz besteht, können Ein-
kommenstransfers von emigrierten Verwandten diesen möglichen Einkommensverlust
mindern.
Eine bedeutende Rolle nehmen darüber hinaus die relativen Einkommensunterschiede
57
im Herkunftsland ein. Geldüberweisungen an die Heimgebliebenen erfüllen den Zweck,
die relative Einkommensposition im Vergleich zu einem Referenzhaushalt zu verbes-
sern.
58
Ändert sich die Einkommensverteilung innerhalb der Herkunftsregion zu un-
gunsten der relativ ärmeren Haushalte, steigt zugleich ihre Migrationsneigung.
59
3.1.1.3
Theorie der Wanderung
Eine der prominentesten Push-Pull-Theorien stellt die Theorie der Wanderung von
Lee
60
dar. Der auf den Ravensteinschen ,,Wanderungsgesetzen"
61
basierende Ansatz
beinhaltet Hypothesen zum Migrationsvolumen, zur Entwicklung von Wanderungs-
strömen und -gegenströmen sowie zu Merkmalen der Wandernden.
62
Ausgangspunkt
der makroökonomischen Push-Pull-Modelle sind vier Faktorengruppen, die das Wande-
rungsverhalten maßgeblich determinieren:
1.
Faktoren in Verbindung mit der Herkunftsregion,
2.
Faktoren in Verbindung mit der Zielregion,
3.
intervenierende Barrieren sowie
4.
persönliche Faktoren.
55
Vgl.
, S. 436;
, S. 26.
Massey, Douglas S. et al. (1993)
Massey, Douglas S. et al. (1993)
Stark, Oded (1991)
Stark, Oded (1991)
56
Als weitere Beispiele können krankheitsbedingte Einkommenseinbußen sowie ­ im Falle einer landwirtschaftli-
chen Produktion ­ Mindereinnahmen infolge von Naturkatastrophen angeführt werden. Vgl. ebd., S. 436 f.
57
Vgl.
, S. 24.
58
Vgl.
, S. 127.
Belke, Ansgar / Hebler, Martin (2002)
59
Vgl.
, S. 439.
60
Vgl.
, S. 115 ff. Soweit nicht anders vermerkt, beziehen sich die nachfolgenden Ausführun-
gen auf diese Quelle.
Lee, Everett S. (1972)
61
Vgl.
, S. 167 ff.
Ravenstein, Ernest G. (1885)
62
Eine übersichtliche Darstellung der von Lee formulierten Hypothesen findet sich in Wittmann, Heinz (1975),
S. 20 ff.

Migration und Arbeitsmarkt
12
Unter Vernachlässigung der vierten Gruppe lassen sich die skizzierten Zusammenhänge
schematisch darstellen:
Abbildung 3.1: Schema der Wanderungsdeterminanten
-
Intervenierende Barrieren
Herkunftsregion
Zielregion
+ 0 - +
- 0 + 0
- + 0 -
+ 0 - +
- 0 + 0
- + 0 -
Quelle: Lee, Everett S. (1972), S. 118.
Die in der Abbildung dargestellten ,,+"-Zeichen symbolisieren so genannte Pull-
Faktoren, die bewirken, dass Menschen von einer Region angezogen werden. Die
,,­"-Zeichen versinnbildlichen hingegen Aspekte, die ein Gebiet unattraktiv erscheinen
lassen. Derartige abstoßende Faktoren werden üblicherweise als Push-Faktoren be-
zeichnet. Faktoren, die keinerlei Einfluss auf die Wanderungsentscheidung haben, wer-
den durch eine ,,0" dargestellt. Wie dem Schema zu entnehmen ist, befinden sich
Druck-, Zug- und neutrale Faktoren sowohl im Herkunftsgebiet als auch in der poten-
ziellen Einwanderungsregion. Allerdings wirken die Faktoren keineswegs in gleicher
Weise auf alle Individuen ein. Diesem Umstand trägt Lee durch die explizite Berück-
sichtigung der ,,persönlichen Faktoren" Rechnung. Dabei handelt es sich um Faktoren,
die häufig mit den Phasen des Lebenszyklus verbunden sind. Folglich spielen bei-
spielsweise das Alter und der Familienstand der potenziellen Migranten eine bedeutende
Rolle für deren Wanderungsentscheidung.
63
Weiterhin berücksichtigt Lee in seinen
Ausführungen die Existenz von Mobilitätsbarrieren, die eine dämpfende Wirkung auf
Wanderungsströme haben. Typische Beispiele für derartige Migrationsbarrieren stellen
Transportkosten oder auch Einwanderungsgesetze
64
dar. Schließlich hebt Lee hervor,
dass nicht die ,,tatsächlichen Faktoren"
65
der Herkunfts- bzw. Zielregion für Wande-
rungsströme ausschlaggebend seien, sondern die ,,Perzeption dieser Faktoren"
66
durch
die Individuen.
63
Vgl.
, S. 87.
Krieger, Hubert (2004)
64
Vgl. hierzu auch Abschnitt 3.1.2.
65
Exemplarisch können folgende Faktoren genannt werden: Arbeitslosenquote, Bevölkerungswachstum, Pro-Kopf-
Einkommen.
66
, S. 120.
Lee, Everett S. (1972)

Migration und Arbeitsmarkt
13
3.1.1.4
Netzwerktheorie
Bei den so genannten Migrationsnetzwerken handelt es sich um einen Pull-Faktor, des-
sen Stellenwert insbesondere von der jüngeren Migrationstheorie hervorgehoben wird.
67
Geknüpfte Netzwerke können eine spürbare Senkung der Wanderungskosten potenziel-
ler Migranten herbeiführen. Zurückzuführen ist dies beispielsweise auf geringere Such-
und Informationskosten, da durch bereits ausgewanderte Landsleute ein Kommunikati-
onskanal in die Heimat aufgebaut wird. Ein weiterer Abbau der Migrationskosten wird
über eine Verringerung der sozialen Kosten erreicht. Ausschlaggebend ist hierfür die
Reduzierung der empfundenen (kulturellen) Distanz zum Herkunftsland.
68
Die kosten-
dämpfende Wirkung von Migrantennetzwerken impliziert einem Anstieg der Nettoer-
träge und damit eine Zunahme der Migrationswahrscheinlichkeit. Dies begünstigt wei-
tere Wanderungen, die ihrerseits zu einer Expansion der Netzwerke beitragen. Sich
selbst verstärkende, internationale Migrationsprozesse können die Folge sein.
3.1.2
Rechtliche Regelung der Einwanderung nach Deutschland
Im vorherigen Abschnitt wurde gezeigt, dass Wanderungsprozesse durch das Vorhan-
densein von Migrantennetzwerken begünstigt werden können. Inwieweit der Aufbau
solcher Netzwerke möglich ist, hängt maßgeblich von den Aufnahmeregelungen einer
Zielregion ab. Je nach Ausrichtung der Zuwanderungspolitik wird die Generierung so-
zialer Netzwerke begünstigt oder erschwert. Die in Deutschland geltenden Steuerungs-
vorschriften werden nachfolgend kurz skizziert.
Zuwanderungen nach Deutschland sind bis heute nur im Rahmen restriktiver Aufnah-
mebedingungen möglich.
69
Für die formellen Zuwanderungsmöglichkeiten ist entschei-
dend, ob es sich bei den Immigranten um Aussiedler, Asylbewerber oder Arbeits-
migranten handelt. Während Aussiedler- und Asylmigrationen über nationale Gesetze
70
gesteuert werden, regeln bilaterale Abkommen den zumeist befristeten Aufenthalt von
67
Vgl.
, S. 126.
Belke, Ansgar / Hebler, Martin (2002)
68
Vgl.
, S. 147 f.
Straubhaar, Thomas (1998)
69
Mangels belastbarer Schätzungen bleibt das Ausmaß illegaler Beschäftigung im Folgenden unberücksichtigt. Es
sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese für einzelne Wirtschaftszweige, darunter insbesondere die Baubranche,
durchaus ins Gewicht fällt. Vgl.
, S. 14.
Trabold, Harald / Trübswetter, Parvati (2003)
70
Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang das Grundgesetz (Art. 16a und Art. 116 Abs. 1) sowie
das Bundesvertriebenengesetz, welches durch das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz no-
velliert wurde. Vgl. Zuwanderungsgesetz vom 30.7.2004; Sachv
, S. 29 ff.
erständigenrat für Zuwanderung und Integration
(2004)

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2005
ISBN (eBook)
9783832491109
ISBN (Paperback)
9783838691107
DOI
10.3239/9783832491109
Dateigröße
801 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Duisburg-Essen – Betriebswirtschaft, Institut für europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik
Erscheinungsdatum
2005 (November)
Note
1,3
Schlagworte
personenfreizügigkeit europäische union arbeitsmarkt migrationstheorien arbeitsmarktreform
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