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Lobbyismus als Instrument kommunaler Europapolitik

©2005 Masterarbeit 70 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Der europäische Integrationsprozess setzt die kommunalen Gebietskörperschaften in Deutschland nicht nur einem europaweiten Standortwettbewerb aus, sondern bewirkt auch einen Entzug an lokaler Handlungsautonomie. Die in der Bundesrepublik verfassungsrechtlich verankerte Selbstverwaltungsgarantie der Kommunen wird durch die Regelungsdichte und -tiefe der Rechtsvorschriften der Europäischen Union (EU) massiv beschränkt. Kommunaler Sachverstand und spezifische kommunale Interessen sollen deshalb mittels „Lobbying“ in den europäischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess eingebracht werden. Vor diese Hintergrund lautet die zentrale Problemstellung der Arbeit, ob es den deutschen Kommunen hinsichtlich der vielfältigen Einwirkungen der EU und der daraus folgenden Notwendigkeit von wirksamen Strategien der Interessenwahrnehmung gelingt, sich von betroffenen Akteuren zu aktiven Gestaltern europäischer Politik zu entwickeln.
Ausgehend von den herkömmlichen Forschungsansätzen zur Analyse des politischen Systems der EU wird der Untersuchungsgegenstand zunächst in einen wissenschaftlichen Rahmen eingebettet und die Verflechtung der Kommunen im europäischen Mehrebenensystem dargelegt. Ferner erfolgt eine themenadäquate Bestimmung des in Deutschland negativ belegten Begriffs des Lobbyismus.
Anhand ausgewählter Politikfelder wird der Einfluss der EU auf die Gemeinden und Gemeindeverbände herausgestellt und gezeigt, welche europäischen Zielsetzungen dem zu Grunde liegen, welche kommunalrelevanten Normen davon tangiert werden und wie sich die Kommunikation zwischen der EU und den Kommunen zur Verwirklichung der politischen Inhalte darstellt. Dabei fällt die Auswahl etwa mit dem Binnenmarkt und der kommunalen Daseinsvorsorge, dem öffentlichen Auftragswesen, europäischen Umweltbestimmungen und der europäischen Förderpolitik auf Politikfelder, die einen Großteil der deutschen Kommunen betreffen und in besonderem Ausmaß von Europa dominiert sind.
Den Schwerpunkt der Arbeit bildet die Untersuchung der Möglichkeiten kommunaler Interessenwahrnehmung in europäischen Angelegenheiten, wobei die politischen Prozesse und die zugrundeliegenden Strukturen sowohl auf der Ebene der Länder und des Bundes als auch auf europäischer Ebene beleuchtet werden. Auf europäischer Ebene ist zwischen institutionalisierten und informellen Mitwirkungsmöglichkeiten zu unterscheiden. Die Arbeit geht dementsprechend zunächst auf den Ausschuss der Regionen ein, der […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 9065
Wagner, Bernd: Lobbyismus als Instrument kommunaler Europapolitik
Hamburg: Diplomica GmbH, 2005
Zugl.: Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin, MA-Thesis / Master,
2005
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2005
Printed in Germany

ii
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis ... iv
Gliederung
A. Die Rolle der deutschen Kommunen in Europa... 1
I.
Vom ,,wehrlosen Verwalter" zum aktiven Gestalter? ... 1
II.
Modelle des europäischen Mehrebenensystems... 2
III. Gang der Untersuchung... 4
IV.
Begriffserklärungen... 5
a. Lobbyismus... 5
b. Kommunale Selbstverwaltung... 6
B. Der Einfluss der Europäischen Union auf die deutschen Kommunen ... 8
I.
Überblick über die ,,Europa-Betroffenheit" der Kommunen ... 8
II.
Binnenmarkt und kommunale Daseinsvorsorge... 9
III.
Öffentliches
Auftragswesen ... 11
IV.
Europäische
Umweltbestimmungen... 12
V.
Europäische
Sozialpolitik... 14
VI.
Europäische
Förderpolitik ... 15
VII.
Zwischenergebnis... 17
C. Die kommunale Interessenwahrnehmung in europäischen Angelegenheiten ... 18
I.
Überblick über die Möglichkeiten ,,kommunaler Europapolitik"... 18
II.
Kommunale
Interessenvertretung in Deutschland ... 19
a. Situation auf Landesebene ... 19
b. Situation auf Bundesebene ... 20
c. Zwischenergebnis ... 22
III. Institutionalisierte Mitwirkung der Kommunen auf europäischer Ebene ... 22
a. Der Ausschuss der Regionen (AdR) ... 22
1. Regionale und lokale Gebietskörperschaften in Europa ... 22
2. Geschichte und Gründung des AdR ... 23
3. Kompetenzen, Arbeitsweise und Mitglieder des AdR ... 24
b. Die Kommunen und der Europarat... 27

iii
c. Zwischenergebnis ... 28
IV. Informelle Aktivitäten der Kommunen auf europäischer Ebene... 28
a. Das Lobbysystem der Europäischen Union... 28
1. Entwicklung des Euro-Lobbying ... 28
2. Adressaten und Akteure des Euro-Lobbying ... 30
3. Zwischenergebnis... 32
b. Kommunale Verbandsarbeit ... 33
1. Die kommunalen Vertretungen in Brüssel ... 33
aa. Die Europabüros der deutschen kommunalen Spitzenverbände ... 33
bb. Die Europabüros der bayerischen, baden-württembergischen
und sächsischen Kommunen ... 34
cc. Funktionen des kommunalen Lobbying ... 34
dd. Methoden des kommunalen Lobbying... 35
2. Der Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE) ... 36
3. Der Europäische Zentralverband der Unternehmen mit öffentlicher
Beteiligung (CEEP)... 38
4. Zwischenergebnis... 39
c. Bildung kommunaler Netzwerke ... 40
1. Eurocities als europäisches Städtenetzwerk... 40
2. European Local Authorities Network (ELAN) ... 42
3.
Zwischenergebnis... 43
d. Lobbyarbeit in der Praxis... 43
1. Beispiele für kommunales Lobbying ... 43
2. Leitregeln des kommunalen Lobbying... 45
3. Zwischenergebnis... 46
e. Kommunale Lobbyisten - die ,,fünfte Gewalt" in Europa? ... 46
D. Bilanz und Perspektiven des Lobbyismus als Instrument kommunaler Europapolitik... 49
Quellenverzeichnis ... 53
Erklärung... 63

iv
Abkürzungsverzeichnis
Abb. Abbildung
ABl.
Amtsblatt der Europäischen Union
Abs. Absatz
AdR
Ausschuss der Regionen
Anm. Anmerkung
Art. Artikel
AStV
Ausschuss der Ständigen Vertreter
BayGT Bayerischer
Gemeindetag
BayStMWIVT Bayerisches
Staatsministerium für Wirtschaft, Infrastruktur,
Verkehr und Technologie
BayVBl. Bayerische
Verwaltungsblätter
BGB Bürgerliches
Gesetzbuch
BGBl. Bundesgesetzblatt
BT-Drs. Bundestagsdrucksache
BVKS
Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände
CDU
Christlich-Demokratische Union Deutschlands
CEEP
Centre européen des Entreprises à Participation Publique et des
Entreprises d'Intérêt Economique Général
CSU
Christlich-Soziale Union in Bayern
DLT Deutscher
Landkreistag
DST Deutscher
Städtetag
DStGB
Deutscher Städte- und Gemeindebund
EAG Europäische
Atomgemeinschaft
EAGFL Europäischer
Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Land-
wirtschaft
EBBK
Europabüro der bayerischen Kommunen
EEA Einheitliche
Europäische
Akte
EFRE
Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung
EG Europäische
Gemeinschaft
EGB Europäischer
Gewerkschaftsbund
EGKS
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
ELAN
European Local Authorities Network
EMK
Europaministerkonferenz der Länder
endg. endgültig
ESF Europäischer
Sozialfonds
EPAN
European Public Administration Network
EU Europäische
Union
EuGH Europäischer
Gerichtshof

v
Eurostat
Statistisches Amt der Europäischen Gemeinschaften
EUV
Vertrag über die Europäische Union
EUZBLG
Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in An-
gelegenheiten der Europäischen Union
EWG Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft
FIAF
Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei
GG
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
GGO Gemeinsame
Geschäftsordnung der Bundesministerien
GOBT
Geschäftsordnung des Bundestages
HWWA Hamburgisches
Welt-Wirtschafts-Archiv
i.V.m. in
Verbindung
mit
KGRE
Kongress der Gemeinden und Regionen Europas
KPV Kommunalpolitische
Vereinigung der CDU und CSU Deutsch-
lands
NUTS
Nomenclature des Unités Territoriales Statistiques
ÖAG Öffentlicher
Auftraggeber
ÖPNV Öffentlicher
Personennahverkehr
RGRE
Rat der Gemeinden und Regionen Europas
RL Richtlinie
Rs. Rechtssache
SGK
Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik
Slg. Sammlung
SPD Sozialdemokratische
Partei Deutschlands
UNICE
Union des Confédérations de l'Industrie et des Employeurs
d'Europe
VO Verordnung
VRE
Versammlung der Regionen Europas
WSA
Wirtschafts- und Sozialausschuss

1
A. Die Rolle der deutschen Kommunen in Europa
I.
Vom ,,wehrlosen Verwalter" zum aktiven Gestalter?
Der Blick der deutschen Kommunen ,,nach oben", d.h. zu den höheren staatlichen Ebenen, ist
traditionell durch einen sorgenvollen, ängstlichen Gesichtsausdruck gekennzeichnet. Die
Furcht vor einer Schmälerung der eigenen Handlungsspielräume und vor der Übertragung von
kostenintensiven zusätzlichen Aufgaben ohne angemessenen finanziellen Ausgleich haben
hier inzwischen manche Falte hinterlassen. Ein hoffnungsfrohes Leuchten ist lediglich dann
zu vermelden, wenn die Kommunen mit Hilfe ihrer Selbstverwaltungsgarantie und einer dar-
auf gestützten verfassungsgerichtlichen Entscheidung staatlichen Eingriffen oder Kostenab-
wälzungen Einhalt geboten haben.
Zu dieser nationalen Besorgnis ist mit dem europäischen Einigungsprozess ein zweites Be-
drohungsszenario hinzugetreten, dessen Gefahren die Gemeinden und Gemeindeverbände in
der Bundesrepublik Deutschland hilflos ausgesetzt zu sein scheinen. So wird in der Literatur
etwa eine ,,internationale Kraftlosigkeit"
1
der Kommunen im Integrationsprozess konstatiert.
An anderer Stelle heißt es pointiert, die Europäische Union (EU) würde die Kommunen wie
,,wehrlose Verwalter"
2
behandeln. Bisweilen wird in diesem Zusammenhang gar die martiali-
sche Ausdrucksweise bemüht, die kommunale Daseinsvorsorge befinde sich in einem ,,Mehr-
frontenkrieg"
3
.
Um der wachsenden Einflussnahme der europäischen Rechtsetzung auf die kommunalen
Aufgaben Rechnung zu tragen, sollen kommunaler Sachverstand und die spezifischen kom-
munalen Interessen deshalb mittels ,,Lobbying" in den europäischen Entscheidungsprozess
eingebracht werden.
4
Der durchschnittlich informierte Bürger verbindet mit Lobbyarbeit re-
gelmäßig negative Vorstellungen: Lobbyisten seien öffentlichkeitsscheue Gestalten, die mit
illegitimen Machenschaften Politiker und Parteifunktionäre zum gefügigen Werkzeug ihrer
Interessengruppen machen würden.
5
Diese Beschreibung hat mit dem Arbeitsalltag organisierter Interessenvertretung nur wenig zu
tun. Der Verfasser dieser Arbeit hatte während eines Praktikums im Europabüro der bayeri-
schen Kommunen (EBBK) in Brüssel die Gelegenheit, einen umfassenden Einblick in die
Aufgaben und die Arbeitsweise kommunaler Lobbyisten auf europäischer Ebene zu gewin-
nen. Diese Erfahrung war auch ausschlaggebend dafür, die Europaaktivitäten deutscher
Kommunen unter besonderer Berücksichtigung des Lobbyismus zum Thema der vorliegenden
Arbeit zu machen.
1
G. Landsberg (1998), S. 14.
2
F.-L. Knemeyer (2000), S. 449.
3
W. Kluth (2002), S. 68.
4
Vgl. dazu beispielsweise R. von Ameln (1998) und F.-R. Habbel (2003).
5
So die gesammelten Eindrücke von M. Sebaldt (1998). Vgl. dazu auch U. v. Alemann (2000), der einen anrü-
chigen Beigeschmack von Ämterpatronage und Korruption diagnostiziert.

2
Die zentrale Problemstellung der Arbeit lautet dementsprechend, ob es den deutschen Kom-
munen hinsichtlich der vielfältigen Einwirkungen der EU und der daraus folgenden Notwen-
digkeit von wirksamen Strategien der Interessenwahrnehmung gelingt, sich von betroffenen
Akteuren zu aktiven Gestaltern europäischer Politik zu entwickeln. Um den Untersuchungs-
gegenstand einzugrenzen, sollen im Kern die folgenden forschungsleitenden Fragen behandelt
werden:
1.
Welchen Einfluss hat die EU auf die kommunale Ebene in Deutschland?
2.
Welche institutionalisierten und informellen Mitwirkungsmöglichkeiten in europäischen
Angelegenheiten können die Kommunen nutzen, um ihre Positionen in politische Pro-
zesse einzubringen?
3.
Wie sieht kommunale Lobbyarbeit konkret aus und wie ist sie zu bewerten?
Im Folgenden soll der Untersuchungsgegenstand zunächst in einen wissenschaftlichen Rah-
men eingebettet, das Konzept der Problembearbeitung dargelegt sowie die thementragende
Fachterminologie erläutert werden.
II. Modelle des europäischen Mehrebenensystems
Die Rolle der Kommunen in der EU ist immer wieder Thema in der Literatur.
6
Die Analyse
einer solchen politikwissenschaftlichen Fragestellung mit internationalem Bezug erfordert die
Auseinandersetzung mit dem komplexen ,,Schichtenbau" politischer Wirklichkeit.
7
Die be-
kanntesten wissenschaftlichen Forschungsansätze zur Analyse des europäischen politischen
Systems, der Intergouvernementalismus und der Neofunktionalismus, befassten sich bisher
überwiegend mit den Ursachen und Zielen des europäischen Integrationsprozesses.
8
Diese
beiden herkömmlichen Forschungsperspektiven sind nur bedingt geeignet, die Folgen des
Integrationsprozesses für die Kommunen und deren Strategien der Interessenwahrnehmung zu
untersuchen, da sie die Mehrebenenstruktur und das hohe Maß an institutioneller Verflech-
tung im Entscheidungssystem der EU nicht ausreichend erfassen. Zur Charakterisierung des
europäischen Politikprozesses hat sich deshalb der Begriff des ,,europäischen Mehrebenensys-
tems" und der ,,Multi-Level-Governance" herausgebildet.
9
Allerdings fehlt es bisher an einer
klaren und einheitlichen Definition des Mehrebenensystems. Die Bestimmung konstitutiver
Merkmale kann über eine institutionelle oder funktionale Herangehensweise erfolgen.
10
Das institutionelle Verständnis des europäischen Mehrebenensystems identifiziert mehrere
Handlungsebenen, die entweder in Verfassungen niedergelegt oder durch ihre Institutionen
auf Dauer gestellt und abgrenzbar sind.
11
Diese Betrachtungsweise führt indes zu keinem ein-
deutigen Ergebnis. So lassen sich sowohl ein Aufbau aus den drei Ebenen EU, Nationalstaat
6
Vgl. u.a. H. Heberlein (1995); C. J. Schultze (1997); S. Rechlin (2004).
7
Vgl. W. J. Patzelt (2003), S. 46-50.
8
Zu den Forschungsansätzen vgl. beispielsweise E. Grande (2000), S. 11; weitere vertiefende Ausführungen: R.
Meyers (2000).
9
Vgl. dazu beispielsweise M. Jachtenfuchs / B. Kohler-Koch (1996) und F. W. Scharpf (1999).
10
Vgl. E. Grande (2000), S. 14.
11
Ebd.

3
und subnationaler/regionaler Ebene begründen
12
als auch die Einbeziehung der Kommunen
als eigenständige vierte Ebene
13
oder - bei differenzierter Betrachtung des deutschen Verwal-
tungsaufbaus - gar sieben oder acht Ebenen.
14
Zudem entgeht dieser Herangehensweise die
Besonderheit des europäischen Mehrebenensystems, dass die Handlungs- und Entscheidungs-
ebenen nicht hierarchisch angeordnet sind. Vielmehr spricht man von einer ,,Mehrebenenver-
flechtung" aus mehrfach vermittelten, verschachtelten Interaktionsmustern und Entschei-
dungssituationen von individuellen und/oder kollektiven Akteuren bzw. Institutionen, deren
Handlungsweisen darüber hinaus durch verschiedene Politikstile und Entscheidungsmodi be-
stimmt sein können.
15
Besser erkennbar wird die Grundstruktur des europäischen Mehrebenensystems mit einer
funktionalen Herangehensweise, wenn man bei den mit der Europapolitik befassten Akteuren
im Hinblick auf ihren Akteursstatus und im Hinblick auf die Politikarena, in der diese agieren,
zwischen nationalen und supranationalen Akteuren unterscheidet:
16
·
Auf der intra-gemeinschaftlichen Verhandlungsebene handeln supranationale Akteure,
z.B. die EU-Organe, in supranationalen Politikarenen.
·
Auf der inter-nationalen Verhandlungsebene handeln nationale Akteure, wie etwa Mi-
nister und nationale Experten, auf der supranationalen Ebene, z.B. in Räten und Aus-
schüssen.
·
Mit der intra-nationalen Verhandlungsebene sind die Aktivitäten nationaler Akteure in
der nationalen Politikarena gemeint, um den jeweiligen nationalen Standpunkt zu euro-
päischen Politiken zu ermitteln.
·
Außerdem können supranationale Akteure in der nationalen Politikarena tätig werden,
wie etwa die Vertretungen der Europäischen Kommission in den Mitgliedstaaten.
Dieser funktionale Ansatz zur Analyse des europäischen Mehrebenensystems wird bisweilen
auf regionale und kommunale Akteure und Politikarenen ausgedehnt.
17
Wenn man aus deut-
scher Sicht die Bundesländer mit der regionalen Ebene gleichsetzt und die kommunalen Ge-
bietskörperschaften als eigenständige Ebene mit einbezieht, lassen sich im erweiterten Modell
folgende zusätzlichen Verhandlungsebenen identifizieren:
18
·
Auf der inter-regionalen oder inter-subnationalen Ebene handeln regionale Akteure in
der supranationalen Politikarena. Hier sind der Ausschuss der Regionen (AdR) und die
Vertretungen der Länder in Brüssel zu nennen.
12
Vgl. F. W. Scharpf (1994); übereinstimmend M. Sebaldt (2002).
13
Vgl. E. Grande (2000), S. 14; diesem Ansatz folgen auch Schultze und Rechlin in ihren Arbeiten (s. Anm. 6).
14
Vgl. H. Hoffschulte (1994), S. 144 ff.
15
D. Nohlen (1994 ff.), Bd. 7, S. 375.
16
Vgl. E. Grande (1998).
17
Vgl. S. Rechlin (2004), S. 6-10. Hierbei ist freilich anzumerken, dass eine derartige Ausweitung aufgrund der
Heterogenität in der Struktur und den Aufgaben der regionalen und lokalen Ebenen in den Mitgliedstaaten der
EU problematisch erscheint. Es müsste letztlich jedes Mitglied der EU aus seiner eigenen Perspektive den Auf-
bau des Mehrebenensystems untersuchen.
18
Ebd.

4
·
Die kommunale Lobbyarbeit in Form von Europabüros, europäischen Dachverbänden
und Netzwerken in der supranationalen Politikarena findet auf der inter-kommunalen
Verhandlungsebene statt.
·
In der nationalen Politikarena wirken die Bundesländer als regionale Akteure über den
Bundesrat an der deutschen Europapolitik mit. Als kommunale Akteure treten hier die
deutschen kommunalen Spitzenverbände in Erscheinung.
·
Auf der intra-regionalen Verhandlungsebene ist die Europaministerkonferenz der Län-
der zu nennen.
·
Kommunale Akteure in der regionalen Politikarena sind die jeweiligen Landesverbände.
·
Auf der intra-kommunalen Ebene sind in einigen Städten und Landkreisen Europabeauf-
tragte benannt worden, die Rechtsetzung und Förderaktivitäten der EU beobachten.
Die beschriebenen theoretischen Forschungsansätze bieten zwar keine einheitliche Definition
des europäischen Mehrebenensystems und erlauben auch noch keine abschließende Beurtei-
lung der Stellung kommunaler Akteure in diesem System. Festzustellen ist lediglich, dass sich
zwischen der kommunalen, untersten Ebene und der europäischen, obersten Ebene bis heute
keine engeren Verflechtungen entwickelt haben. Im Hinblick auf den Schichtenbau politischer
Wirklichkeit wird aber deutlich, dass sich die Untersuchung der Problemstellung auf alle vier
Ebenen Kommune, Land, Bund und EU erstrecken sollte, wenn man zur Rolle der deutschen
Kommunen tragfähige Ergebnisse gewinnen möchte.
19
Auf jeder dieser Ebenen können dann -
je nach den zu analysierenden Teilfragen - politische Inhalte, Prozesse oder Strukturen syste-
matisch beleuchtet werden.
III. Gang der Untersuchung
Nach der erfolgten Darstellung theoretischer Ansätze für die Analyse des europäischen Mehr-
ebenensystems ist im Basisabschnitt A der Arbeit noch der Begriff ,,Lobbyismus" themen-
adäquat zu bestimmen. Im Weiteren soll hier auch auf das deutsche Verständnis von Kommu-
nen eingegangen werden, die angesichts des kommunalen Selbstverwaltungsrechts eine im
Vergleich zu Kommunen anderer EU-Mitgliedstaaten hervorgehobene Position im politischen
System der Bundesrepublik innehaben.
Abschnitt B hat Politikfelder der kommunalen Ebene in Deutschland herauszustellen, die von
der EU beeinflusst werden. Es soll gezeigt werden, wie die EU Macht über die Gemeinden
und Gemeindeverbände ausübt, welche europäischen Zielsetzungen dem zu Grunde liegen,
welche kommunalrelevanten Normen davon tangiert werden und wie die Kommunikation
zwischen EU und Kommunen zur Verwirklichung der politischen Inhalte abläuft. Die Aus-
wahl fällt dabei auf Politikfelder, die einen Großteil der deutschen Kommunen betreffen und
in besonderem Ausmaß von Europa dominiert sind. Somit soll die Notwendigkeit einer an-
gemessenen kommunalen Interessenvertretung in europäischen Angelegenheiten begründet
werden.
19
Vgl. W. J. Patzelt (2003), S. 436 f.

5
Im Abschnitt C, der zugleich den Schwerpunkt der Arbeit bildet, werden die Möglichkeiten
kommunaler Interessenwahrnehmung untersucht. Die politischen Prozesse und die zugrunde-
liegenden Strukturen sind dabei sowohl auf der Ebene der Länder und des Bundes als auch
auf europäischer Ebene zu beleuchten. Die Analyse der Einflussmöglichkeiten auf europäi-
scher Ebene soll zum einen die formellen Prozesse aufzeigen, d.h. festgelegte Verfahrens-
normen darstellen und bewerten. Darauf aufbauend werden sodann die informellen Aktivitä-
ten betrachtet. Nach einer Einordnung der Kommunen in das System des Euro-Lobbying wird
die Lobbyarbeit von kommunalen Verbänden und Netzwerken näher untersucht. Anhand von
Beispielen sollen kommunale Lobbyarbeit hinsichtlich des Einflusses auf europäische Ent-
scheidungsprozesse beurteilt sowie Strategien und Kommunikationskanäle der beteiligten
Akteure aufgezeigt werden.
Die Zusammenfassung der Ergebnisse und mögliche Perspektiven für die kommunale Lobby-
arbeit im Abschnitt D runden die Arbeit ab.
IV. Begriffserklärungen
a. Lobbyismus
Die Vertretung von Interessen und die Rolle und Funktion von Interessengruppen werden in
der Politikwissenschaft regelmäßig im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen Staat und
Verbänden im politischen Prozess untersucht.
20
Interessenvertretung beschreibt den Vorgang,
durch den organisierte Teilgruppen der Gesellschaft ihre wirtschaftlichen bzw. politischen
Belange im politischen System zur Geltung bringen. Auf Europa bezogen geht es konkret um
die Organisation, Aggregation, Artikulation und Vermittlung von Interessen gesellschaftlicher
Akteure, die gezielt auf die Politik der EU Einfluss zu nehmen versuchen, wobei sich ihnen
das von der europäischen bis zur lokalen Ebene reichende Mehrebenensystem als Orientie-
rungs- und Aktionsraum eröffnet.
21
Für Interessengruppen oder -verbände sind zwei konstitu-
tive Aspekte ausschlaggebend: Das Vorliegen einer auf Dauer angelegten Organisation und
das Ziel der Einflussnahme auf politische Entscheidungen.
22
Über das Phänomen des ,,Lobbying" besteht in der Fachliteratur keine Einigkeit. Interessen-
wahrnehmung wird oftmals mit ,,Lobbyismus" gleichgesetzt.
23
An anderer Stelle steht Lobby-
ing für eine besonders professionelle, konfrontative Ausrichtung der Interessenvertretung.
24
Eine besonders eng gefasste Definition versteht darunter ,,... the use of unorthodox means by
interest groups, in order to get a desired outcome from government."
25
Mit dieser Begriffsbe-
stimmung werden nur die informellen Vorgehensweisen erfasst. Gründe für die unterschiedli-
20
Ebd., S. 331-336.
21
D. Nohlen (1994 ff.), Bd. 7, S. 282; vgl. auch R. Eising / B. Kohler-Koch (2005), S. 11; W. J. Patzelt (2003),
S. 332.
22
D. Nohlen (1994 ff.), Bd. 7, S. 281; ähnlich: C. Lahusen / C. Jauß (2001), S. 51, 52; anders: W. J. Patzelt
(2003), S. 331: Interessengruppen müssen danach nicht unbedingt dauerhaft organisiert sein, wie z.B. das pro-
jektbezogen-kurzfristige Engagement von Bürgerinitiativen zeige.
23
Vgl. beispielsweise F.-R. Habbel (2003) und H.-W. Platzer (2004).
24
So C. Lahusen / C. Jauß (2001), S. 23, mit weiteren Zitaten.
25
R. van Schendelen (2003), S. 301.

6
chen Erklärungsversuche mögen die Schwierigkeiten sein, die konkreten Formen und Metho-
den des Lobbying zu erforschen, sowie die mangelnde Bereitschaft der Verbände, sich der
Forschung zu öffnen und Einblick in ihre Techniken der Einflussnahme zu geben.
26
Der Terminus Lobbying besitzt eine angelsächsische Tradition und bezieht sich auf die vor
dem Plenarsaal des Parlaments gelegene Wandelhalle, in dem die Interessengruppen ur-
sprünglich versuchten, durch persönliche Ansprache der Abgeordneten das Abstimmungsver-
halten im Gesetzgebungsprozess in ihrem Sinne zu beeinflussen.
27
Um der Bandbreite der
kommunalen Lobbyaktivitäten im europäischen Kontext gerecht zu werden, bezeichnet Lob-
byismus in der vorliegenden Arbeit alle interessengeleiteten Bemühungen der Kommunen,
auf die Entscheidungsträger und Entscheidungsprozesse der Legislativen und Exekutiven
durch präzise Informationen und Beziehungsnetzwerke einzuwirken.
28
b. Kommunale
Selbstverwaltung
Die mit dem kommunalen Gemeinwesen verbundene Vorstellung einer vorbildlich verfassten
politisch-sozialen Ordnung geht auf das antike Modell des Bürger- und Stadtstaates zurück.
Nach heutigem deutschem Verständnis beschreibt die Gemeinde als Rechtsform ein politisch-
administratives Gebilde, dessen Geltungsbereich durch eine unterstaatliche Gebietskörper-
schaft territorial begrenzt wird.
29
Innerhalb des föderalistisch aufgebauten politischen Systems
der Bundesrepublik Deutschland gehören die Gemeinden nach Art. 70 des Grundgesetzes
(GG)
30
zur Ebene der Länder.
31
Daher setzen auch die Länder die Rahmenbedingungen für die
Gemeinden fest, wie die Größe und die verwaltungsmäßige Abgrenzung, die Einordnung in
übergreifende Gebietseinheiten, z.B. Kreise und Bezirke, sowie ihre Aufgaben und die Kom-
munalverfassung.
32
Bemerkenswerterweise können die politischen Systeme aller 25 Mitgliedstaaten der EU und
der drei Kandidatenländer Bulgarien, Rumänien und der Türkei eine kommunale Ebene auf-
weisen.
33
Nachdem sich Verwaltungsstruktur und Aufgaben dabei kaum vergleichen lassen,
kann von einem einheitlichen Typ ,,der Kommune" in Europa indes nicht ausgegangen wer-
den. Wenn in dieser Arbeit von Kommunen die Rede ist, so sind damit die deutschen kom-
munalen Gebietskörperschaften gemeint, also Gemeinden und Gemeindeverbände.
Den deutschen Kommunen wird durch das Grundgesetz das Recht eingeräumt, ,,... alle Ange-
legenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu
regeln..." (Art. 28 Abs. 2 GG). Diese institutionelle Garantie der kommunalen Selbstverwal-
tung nimmt in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion über die Rolle der Kommu-
26
Vertiefend zum Defizit der sozialwissenschaftlichen Forschung betreffend den Lobbyismus: T. Leif / R. Speth
(2003), S. 10 ff.
27
Duden (2004), S. 277, 278; D. Nohlen (1994 ff.), Bd. 7, S. 356.
28
Vgl. dazu die Argumentation von K. H. Fischer (1997), bes. S. 80.
29
Vgl. E. Holtmann (1995).
30
GG (2002).
31
Vgl. H.-G. Wehling / A. Kost (2003), S. 7.
32
Ebd.
33
Vgl. AdR (2004).

7
nen im europäischen Integrationsprozess breiten Raum ein. An dieser Stelle sollen wesentli-
che Entwicklungslinien und grundlegende Inhalte des kommunalen Selbstverwaltungsrechts
dargestellt werden, denn nur so sind die Bemühungen deutscher Kommunen um eine ange-
messene Berücksichtigung ihrer Interessen verständlich.
Wie die Kommunen selbst lassen sich auch die Ursprünge des kommunalen Selbstverwal-
tungsrechts bis in das antike Griechenland und das Römische Reich zurückverfolgen.
34
Dem
deutschen Gemeinverständnis ist die Verbindung von politischer und sozialer Gemeinde seit
der preußischen Städteordnung geläufig, die am 19.11.1808 in Kraft trat und bis heute die
geistige Grundlage für die kommunale Selbstverwaltung bildet.
35
Die Idee, die Kommunen in
die europäische Politik einzubeziehen, entstand schließlich während des Zweiten Weltkriegs,
wonach eine von staatlicher Bevormundung befreite kommunale Selbstverwaltung die Vor-
aussetzung für ein demokratisches und dezentrales Europa darstellen sollte.
36
Das Recht auf kommunale Selbstverwaltung im Grundgesetz sichert die Institution der Ge-
meinde bzw. Gemeindeverbände als solche im Staatsaufbau der Bundesrepublik sowie deren
Eigenverantwortlichkeit hinsichtlich verschiedener Hoheitsrechte. Traditionell sind dies Fi-
nanz-, Organisations-, Personal-, Planungs- und Rechtsetzungshoheit, letztere in Form von
Satzungen. Bei Verletzung des Rechts auf kommunale Selbstverwaltung haben die Gemein-
den und Gemeindeverbände die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr.
4 b GG einzureichen. Da die Selbstverwaltung durch die Gesetzgebung und die Aufsicht der
Länder beschränkt ist, sind die Kommunen im staatsrechtlichen Sinne trotz ihrer bedeutenden
Stellung nicht als eigenständige Ebene anerkannt.
37
Nichtsdestoweniger kommt den Kommu-
nen und der kommunalen Selbstverwaltung eine große Bedeutung in der politischen Praxis
zu. Kommunen regeln die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen der sogenannten Da-
seinsvorsorge, führen etwa 80% aller Bundes- und Landesgesetze aus, tätigen etwa zwei Drit-
tel aller öffentlichen Investitionen und erledigen etwa 25% aller öffentlichen Aufgaben.
38
Wenn nun der Gestaltungsspielraum der Kommunen immer mehr von europäischer Rechtset-
zung beeinträchtigt wird, so ist die Forderung nach einer rechtlichen Absicherung der kom-
munalen Selbstverwaltung auch auf europäischer Ebene verständlich. Eine dem Grundgesetz
vergleichbare Bestimmung ist nämlich im europäischen Gemeinschaftsvertrag (EGV) nicht
enthalten.
39
Sie kann auch nicht als ungeschriebener Bestandteil des europäischen Rechts an-
gesehen werden, da die anderen Mitgliedstaaten keine kommunale Selbstverwaltung in ihren
Verfassungen verankert haben.
40
Kommunalpolitiker der Volksparteien CDU/CSU und SPD
haben immer wieder einhellig die ,,unersetzliche Rolle" der kommunalen Selbstverwaltung
34
Vgl. W. Orth (2004).
35
Vgl. O. Model / C. Creifelds (2000), S. 291.
36
Vgl. dazu A. Gasser (1943).
37
Vgl. R. Soldt (2005).
38
Vgl. Konrad-Adenauer-Stiftung (2001), Abb. 1.12.
39
EGV (2001); Hinweise auf den EG-Vertrag in dieser Arbeit beziehen sich auf den am 01.02.2003 in Kraft
getretenen Vertrag von Nizza.
40
So die herrschende Meinung, vgl. P. J. Tettinger (2002), S. 155, 156.

8
betont und auf die verbindliche Festschreibung in den Vertragswerken der EU gedrängt.
41
Mit
der Aufnahme einer entsprechenden Anerkennungsklausel in Art. I-5 Abs. 1 des Vertragsent-
wurfes über eine Verfassung für Europa
42
wurde diesen Forderungen zwar Rechnung getra-
gen. So wie die grundgesetzliche Regelung Eingriffe von Bund und Ländern in die kommuna-
le Selbstverwaltung aber nicht verhindern konnte, so dürfte auch die europarechtliche Absi-
cherung letztlich wenig an der vielgestaltigen Einflussnahme der EU auf die Kommunen än-
dern.
B. Der Einfluss der Europäischen Union auf die deutschen Kommunen
I.
Überblick über die ,,Europa-Betroffenheit" der Kommunen
Mit der Veröffentlichung des Weißbuches zur Vollendung des Binnenmarktes
43
1985 und der
Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA)
44
1986 stieg die Zahl der von der
Gemeinschaftspolitik betroffenen Akteure und die gegenseitigen Verflechtungen zwischen
den verschiedenen politischen Ebenen nahmen zu.
45
Die Politikfelder, in denen die Kommu-
nen seither von europäischem Handeln im Sinne einer Einwirkung auf die öffentliche Verwal-
tung betroffen werden, sind äußerst vielfältig und umfassen nahezu alle kommunalen Aufga-
benbereiche. Verschiedenen Schätzungen zu Folge beeinflussen 60% bis 80% aller Regelun-
gen, die auf europarechtlicher Grundlage beruhen, die kommunale Ebene oder müssen von
den Kommunen in Deutschland umgesetzt werden.
46
Ausgangspunkt können dabei sowohl
primär- als auch sekundärrechtliche EU-Bestimmungen sein.
Unmittelbare Wirkungen auf die Kommunen entfaltet zum einen das Primärrecht des europäi-
schen Vertragswerkes. Die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes nach Art. 14 Abs. 2 EGV,
der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital, schaffen einen Wirt-
schaftsraum, in dem die Kommunen in einem europaweiten Wettbewerb um die Ansiedlung
von Unternehmen stehen. Diese freie ,,Konkurrenz der Standorte"
47
wird ergänzt durch das
Verbot von wettbewerbsverfälschenden Beihilfen in Art. 87, 88 EGV, woraus eine deutliche
Einschränkung der Handlungsfreiheit im Bereich der kommunalen Wirtschaftsförderung re-
sultiert.
48
Weitere Einflüsse der EU ergeben sich aus europäischem Sekundärrecht. Zu nennen sind
hierbei die unmittelbar wirksamen Verordnungen (VO), die von den kommunalen Gebiets-
körperschaften direkt beachtet werden müssen, und das Instrument der Richtlinie (RL), wel-
ches die Mitgliedstaaten nach Art. 249 Abs. 3 EGV zur Umsetzung einer verbindlichen Ziel-
41
Vgl. dazu die Beschlüsse der KPV (2003) und der Bundes-SGK (2001).
42
EU-Verfassung (2004).
43
Europäische Kommission (1985).
44
EEA (1986).
45
Vgl. C. J. Schultze (1997), S. 38, 39.
46
Vgl. hierzu F.-L. Knemeyer (2000), S. 449; W. Leitermann / O. Mietzsch (1999), S. 19; R. von Ameln (1998),
S. 39.
47
H. Heberlein (1995), S. 47.
48
Vgl. C. J. Schultze (1997), S. 62.

9
vorgabe in nationales Recht verpflichtet. Dadurch wird Europarecht zum Bestandteil des
,,Rahmens der Gesetze", an den die kommunale Selbstverwaltung gebunden ist.
49
Die EU, die
selbst keinen eigenen Verwaltungsaufbau besitzt, der bis auf die kommunale Ebene reicht,
nutzt auf diese Weise die bereits vorhandenen Strukturen, um ihre Politik umzusetzen.
50
Diese
,,Europäisierung"
51
der Kommunalverwaltungen fördert einerseits einen dezentralen, bürger-
nahen Rechtsvollzug, führt aber andererseits zu einer personellen und finanziellen Mehrbelas-
tung der Kommunen, die die Gestaltungsfreiheit im selbstverwalteten Bereich einengen
kann.
52
Die Kommunalrelevanz europäischer Politik soll anhand einiger Politikfelder exemplarisch
veranschaulicht werden.
II. Binnenmarkt und kommunale Daseinsvorsorge
In den Mitgliedstaaten der EU gibt es sowohl terminologische Unterschiede als auch ver-
schiedene Traditionen, was das Verständnis der ,,Daseinsvorsorge" betrifft. In Deutschland
beinhaltet der Begriff den angestammten Kernbestand kommunaler Aufgaben, welche die
Dienste der Grundversorgung umfassen, wie etwa Wasser- und Energieversorgung, Nahver-
kehr, Raumordnung und Wohnungsbau, Sparkassen- und Postwesen, Abwasser- und Abfall-
entsorgung, öffentliche Sicherheit, Bildung und Kultur. Die Kommunen haben diese gemein-
wohlorientierten sozialen und materiellen Dienste ihren Einwohnern flächendeckend und dau-
erhaft, qualitativ hochwertig und gleichzeitig zu erschwinglichen Kosten zur Verfügung zu
stellen. Ausfluss der kommunalen Selbstverwaltung war seit jeher auch das Recht zu bestim-
men, ob diese Dienste selbst, durch den Einsatz eigener Unternehmen im Rahmen der Kom-
munalwirtschaft oder durch Vergabe an private Dienstleister, verbunden mit entsprechenden
Aufsichts- und Kontrollrechten, erbracht werden.
53
Die Europäische Kommission bezeichnet die Leistungen der Daseinsvorsorge als ,,Dienstleis-
tungen von allgemeinem Interesse". Darunter sind marktbezogene und nichtmarktbezogene
Tätigkeiten zu verstehen, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Be-
hörden mit spezifischen Gemeinwohlverpflichtungen verknüpft werden.
54
Die Kommission
gebraucht diesen Begriff einerseits in einem weiten, die Daseinsvorsorge gänzlich erfassen-
den, als auch in einem engeren Sinne, um ausschließlich die nichtmarktbezogenen Dienste zu
umschreiben und damit von den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse
zu unterscheiden.
55
49
Vgl. H. Heberlein (1995), S. 44.
50
Es ist aus europäischer Sicht unerheblich, welcher innerstaatlichen Ebene die Durchführung gemeinschafts-
rechtlicher Maßnahmen obliegt. Lediglich die einheitliche und effektive Anwendung ist in allen Mitgliedstaaten
sicherzustellen. Vgl. dazu EuGH (1970) und (1979).
51
W. Wessels (1996), S. 165.
52
Vgl. C. J. Schultze (1997), S. 40.
53
Zu Umfang und Art kommunaler Aufgabenerfüllung, vgl. R. Frey / C Brake (2005).
54
Europäische Kommission (2000), S. 42.
55
So bezieht sich etwa der kontrovers diskutierte Vorschlag für eine ,,Richtlinie über Dienstleistungen im Bin-
nenmarkt" nur auf Dienste, die eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellen; vgl. Europäische Kommission (2004a).

10
Während die Kommission vor allem das Ziel des vollständig liberalisierten Binnenmarktes im
Auge hat und auch im Bereich der Daseinsvorsorge das Primat des Wettbewerbs durchsetzen
möchte, befürchtet die kommunale Ebene, dass dadurch bewährte Strukturen zerschlagen
werden, die Qualität der Dienste leidet und sie sich letztlich zu einer reinen Kontrollinstanz
ohne Gestaltungsmöglichkeiten entwickelt.
Auch im EG-Vertrag ist dieses Spannungsfeld niedergelegt. So teilt Art. 16 EGV die Kompe-
tenzen für die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zwischen der EU
und den Mitgliedstaaten. Die Kommission wacht über den unverzerrten Wettbewerb, während
die Mitgliedstaaten für die Gemeinwohlverpflichtung der Dienste und dabei vor allem die
Versorgungssicherheit der Bürger einstehen. Nach Art. 86 Abs. 2 EGV können öffentliche
oder private Unternehmen mit besonderen oder ausschließlichen Rechten, die sie durch einen
öffentlich-rechtlichen Hoheitsakt erhalten haben, mit Dienstleistungen von allgemeinem wirt-
schaftlichem Interesse betraut sein, für die Ausnahmen von den strengen Wettbewerbsregeln
des Vertrags gelten. Dies gilt dann, wenn das Verbot staatlicher Beihilfen nach Art. 87 EGV
die Erfüllung der diesen Unternehmen übertragenen besonderen Aufgabe verhindert. Jedoch
sind im Sinne eines funktionierenden Wettbewerbs im Binnenmarkt wiederum nur punktuelle
Ausnahmen gestattet.
56
. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in der
Rechtssache Altmark-Trans
57
präzisierte in diesem Zusammenhang zwar, unter welchen Be-
dingungen öffentliche Leistungen an ein Unternehmen nur als bloße Ausgleichsleistung für
erbrachte Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und nicht als Beihilfe
einzustufen sind. Es bleibt jedoch bis heute weitgehend intransparent, welche Maßstäbe die
Kommission zur Messung der Binnenmarktrelevanz kommunaler Leistungen heranzuziehen
hat.
58
Die Kommunen hatten 2003 die Gelegenheit, ihre Interessen und Vorstellungen zur weiteren
Entwicklung der kommunalen Daseinsvorsorge im Rahmen des Konsultationsprozesses zum
,,Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse"
59
einzubringen.
60
Im 2004 veröf-
fentlichten ,,Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse"
61
zieht die Kommissi-
on Schlussfolgerungen aus der Konsultation und erklärt, dass sie, entsprechend der bisherigen
Praxis z.B. in den Sektoren Post und Telekommunikation, einem sektorspezifischen Politik-
ansatz den Vorzug gibt, d.h. keine die Daseinsvorsorge gänzlich umfassende Rahmenrichtli-
nie ins Auge fasst. Parallel dazu sieht der zwischenzeitlich vorgelegte Verfassungsvertrag in
Art. III-122 allerdings eine Ergänzung des bisherigen Art. 16 EGV um einen Satz vor, mit
56
Vgl. R. Geiger (2004), S. 429.
57
EuGH (2003a).
58
Vgl. M. Wohltmann (2003), S. 753.
59
Europäische Kommission (2003a). Grünbücher stellen politische Diskussionspapiere dar, mit denen die
Kommission erste Vorstellungen zu einem bestimmten Politikbereich publik macht und alle Betroffenen zur
Diskussion einlädt.
60
Die BVKS hatte in ihrer Stellungnahme vor allem den Aspekt der Subsidiarität betont und den Bestrebungen,
der europäischen Ebene mehr Kompetenzen in der Daseinsvorsorge zuzusprechen, eine Absage erteilt. Vgl. dazu
M. Wohltmann (2003), S. 747, 748.
61
Europäische Kommission (2004b). In einem Weißbuch werden - oft als Fortentwicklung von Grünbüchern -
schon politische Prioritäten gesetzt und konkrete Rechtsetzungsvorhaben angekündigt.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2005
ISBN (eBook)
9783832490652
ISBN (Paperback)
9783838690650
DOI
10.3239/9783832490652
Dateigröße
473 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin – FB 1 - Allgemeine Verwaltung
Erscheinungsdatum
2005 (Oktober)
Note
1,0
Schlagworte
europäische union lobbyarbeit interessenwahrnehmung kommune verband
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Titel: Lobbyismus als Instrument kommunaler Europapolitik
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